Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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Schluß

Der Winter kam und nahm wieder Abschied. Auf den Feldern reihte sich Furche neben Furche, die junge Saat sproßte auf, und die braune Heide begann aufs neue zu grünen.

Die auf der Getter bequemten sich den Dingen an, wie sie nun einmal lagen, schwer und traurig, aber mit Einsicht und der straffen, unbeugsamen Art der westfälischen Menschen.

Als man Bernd Travelmann, den Letzten seines Stammes, tief im Part neben seinem Vater beisetzte, schien es, als wollte die ganze Natur revoltieren. Ein Wetter stieg auf, marschierte gegen den Hof, spielte mit seinen Blitzen, wie mit Splittern und Funken, die von einem Amboß sprangen – und war doch ein Flammen und Leuchten wie niemals gesehen. Dazwischen rollten die Donner, prasselten die Schloßen, als wäre die längst erwartete Schlacht am Birkenbaum mitten im Gange, so regierte der Herr aus der Wetterwolke heraus mit seinen Posaunen und Orgelgeschützen, und so wurde der Freisasse wie ein Feldherr auf verlorener Walstatt zu Grabe getragen.

Und das nicht allein. Als die ersten Schollen auf die schwarzen Bretter niederpolterten, schlug der gewaltige Deckhengst seine Latierbäume wie Spreu auseinander, zerriß die eiserne Halfterkette und sprengte mit einer kühnen Lanzade zwischen die Pfosten der offenen Stalltür. Hier hufte er fest, angeschmiedet, die Nüstern geöffnet, mit gefältelten Flanken und die blutunterlaufenen Augen in das berstende Gewölk gerichtet. Dann ein scharfes Wiehern . . .

Es war kein Gewieher. Ein Schrei war's, ein langgezogener Pfiff, der durch Mark und Bein gellte und das Gesicht in den Nacken drehte.

Geraume Zeit hindurch konnten alle diesen Schrei, diesen Pfiff nicht vergessen.

Aber auch das gab sich. Die rührige Arbeit Hövelkamps und die der Knechte und Mägde, das vorbildliche und bedachtsame Schalten Frau Judiths brachte alles wieder in die rechte Verfassung, so daß mit dem kommenden Frühjahr Halt und Würde, Gesetz und Ordnung sich aufs neue zurecht fanden und das Heimchen wie in frühern Tagen geigte.

Um diese Zeit kam eine Mission ins Land. Drei Tage hintereinander predigte ein junger Missionar in der Kirche von Hiltrup, mit glutenden Augen und dem Gesicht eines Asketen. Er sprach von Tod und Leben, von der Auferstehung und der Anschauung Gottes. Über das Verhältnis zwischen christlichen Eheleuten redete er mit scheuer Betonung, immer willens, über eine Verfehlung die läuternden Ermahnungen der erhaltenden Nächstenliebe zu spreiten. Seine Worte waren wie Engelszungen und zuweilen wie flammende Schwerter, die ins Himmelreich wiesen. Er entschuldigte nicht, aber er verfluchte auch nicht. Bei ihm und Ludgerus Hölscher fanden Frau Judith und Hille Trost und Erbauung.

Von Emmerich hörte man nichts mehr, nur daß die Zeitungen erzählten, er habe die Professur in Tübingen ausgeschlagen und sei wieder in das Land der Hellenen gezogen, möglich auch weiter, gen Mesopotamien hin, um zwischen Euphrat und Tigris die Spuren untergegangener Kulturepochen und Reiche aufzudecken. Man sprach von Naru malki und dem Sandhügel Babil, auf dem einst die hängenden Gärten eine Blütenfülle entfaltet hätten, wie selbst die kühnste Phantasie sie nicht ausmalen konnte. Aber alles war nur Vermutung und eitel Kombination. Emmerich Dinklage blieb verschollen, war dort, wo die Schemen wohnen und keine Gemeinschaft mehr haben mit den Kindern des Lichtes. Sein Name wurde selten genannt; aber wenn es geschah, sagte Frau Hille mit feuchten Blicken: »Er trägt keine Schuld, oder mir soll das Wort auf den Lippen eintrocknen und zur Sünde werden. Mutter, und ich . . .!« und Frau Judith zog sie an ihre Brust und ließ die welken Finger sacht über den Scheitel der Ärmsten gleiten, war gütig zu ihr und konnte noch lächeln, wenn sie sich auch eingestehen mußte: »Ich selber bin wie ein unfruchtbarer Weinstock gewesen, obgleich ich empfangen und geboren habe; aber dieses Empfangen und Gebären hatte nichts auf sich, denn mein Sohn, der Letzte des Stammes, wurde eingescheuert wie ein Armvoll spärlicher Roggenähren. Und dieser Armvoll Roggenähren war noch mit dem Kornbrand behaftet. Es ist ein banges und langes Leben auf Erden. So bleibt mir nichts übrig, als zu warten, bis die große Müdigkeit kommt, und ich nicht mehr nötig habe, mit den Quasten meiner Gürtelschnur zu spielen.«

Die Ereignisse kamen und gingen wie die Erscheinungen des Himmels, die mit der Dämmerung aufsteigen und die das Morgengrauen wieder hinwegnimmt.

Für die verwaiste Försterstelle hatte sich längst ein andrer Bewerber gefunden. Von der Staatsanwaltschaft waren die Erhebungen eingestellt worden, vertagt oder auf unbestimmte Zeiten verschoben. Fritz Garke dahin, nicht aufzufinden . . . ein nichtiger Strohhalm, den der Wind hinweggefegt hatte, ein Fetzen Papier, von einem schwelenden Feuer in Asche verwandelt.

Das Freifräulein von Boeselager kam häufig von Darfeld herüber, und wenn sie erschien, drückte sie ihr Spitzentüchlein gegen die Lippen, irrte mit weißen Schläfenlöckchen durch die Parkgänge und nahm ihren Weg zu der Stätte der Abgeschiedenen. Leise wisperte ihr Reifrock. Der schwarze Schleier wehte im Wind. Ein stilles Leuchten folgte ihren einsamen Schritten . . . und jedes Mal, wenn sie heimkehrte, brannte eine Wachskerze, geweiht in der Gnadenkapelle zu Billerbeck, auf der Gruft des verunglückten Mannes.

Die Jahre sind vor dem Herrn wie ein Tag.

Einmal nach dem Tode Bernds hatte die Heide bereits geblüht; jetzt blühte sie wieder, aber sie tat es wie niemals zuvor. Niemals hatte sie einen solchen violetten Farbenzauber entfaltet, niemals waren so viele Bläulinge über Porst und Erika dahingezogen wie in diesem Spätsommer . . . überall die Augen der Annette von Droste . . .

Um diese Zeit geschah es, daß sich endlich ein Lebenszeichen von Emmerich einstellte.

Es war an Frau Judith gerichtet. Er erzählte von seinen Reisen, seinen Erfolgen, daß er in Paphos gewesen, in Tyros und Sidon, daß er die geheimnisvollen Trümmer von Byblos besucht und in den dortigen Labyrinthen nachgeforscht habe. Er sei jetzt in Athen, um das Weitere vorzubereiten. Den Winter wolle er hier verbringen. Er fragte nach allem und bat darum, die Stätte Bernds herzlichst zu grüßen. Hilles erwähnte er mit keiner einzigen Silbe. Er sehne sich danach, mehr heiße Sonne um sich zu haben. Er fröstele immer. Das kommende Frühjahr würde ihn in Sidi-Bu-Said oder im alten Kyrene an der Großen Syrte wiederfinden. Von hier aus wolle er in die libysche Wüste hinein, nach Kufra und den Oasenseeen. Was dann geschähe . . . und sie las mit harter Bewegung und trockenen Augen: »Obgleich ich hier unter der Akropolis träume und die Ölbäume mir zuwinken wie Mädchen in silbernen Kleidern, ich sehe, was kommen wird, gleichsam in der unheimlichen Scheibe eines Theurgen und Nekromanten. Eine Wand sandigen Staubes wandelt gegen mich an. Sie verstärkt sich mit jeder Minute. Immer näher kommt sie, immer zwingender und nachhaltiger schiebt sie sich vor. Schon glitzern vereinzelte Körner über mich hin. Das Rieseln wird dichter und schneidender. Der Samum erhebt sich, der heiße Odem, der daherkommt wie aus einem feurigen Ofen. Schwere Wellen sandigen Staubes fallen über mich her, hüllen mich ein . . . und ich denke dabei an die Heimat und an die westfälischen Eichen . . . und das tut weh . . . Aber es ist besser so, viel besser, denn alles drängt nach Erfüllung und Auferstehung. Endlich müssen die Osterglocken doch läuten, wenn es auch keine Glocken sind, die von Menschenhänden geläutet werden . . .

Sie wurde hart wider Willen.

Mit kalten Händen fuhr sie über das Schriftstück.

»Also das sagst du mir? Nicht das, was ich ersehnte und wollte? Denke daran: Ein Menschengeschick ging durch eigene Schuld frühzeitig dahin! Daran ist nichts mehr zu ändern. Nun aber willst du kommen und ein zweites, ein drittes wie eine tönernde Scherbe zerbrechen? Emmerich, du . . .?!«

Sie lachte bitter auf und ging Tage und Wochen umher, als wenn sie sich in einem dumpfen Traume befände. Sie suchte nach Ausgleich, nach Beistand, nach einem rettenden Balken, an dem sie sich anklammern konnte, bis eines Abends im Spätherbst ihre Lampe nicht zum Verlöschen kam und bis in den Tag hinein brannte.

Endlich legte sie die Feder beiseite.

Dann siegelte sie und richtete ihr Schreiben zur Weiterbeförderung an das preußische Konsulat in Athen.

Seit dieser Stunde war sie stiller und freier geworden.

* * *

Vorfrühling auf Getter!

Die Stachelbeersträucher setzten grüne Spitzen an, das Wasser blühte, und zwischen den Birken und dem hohen Stangenholz, wo ein warmer Odem nach feuchter Erde und verwesten Blättern sich durch die Schneisen wölkte, pistete bereits der Vogel mit dem langen Gesicht und den weit nach hinten geschobenen Augen. Mit leisem Pfuitzen strich er an den Lichtschlägen und den dunklen Quergestellen vorüber, den Stecher gesenkt, die Seher weit offen und die runden Flügel wohlig gebreitet.

Wie die Dämmerungen, so die sonnigen Stunden. Sie waren Geschenke des Herrn, voller Ahnungen und Hoffnungen, laulich und heiter und schon des öftern durch die Hymnen der ersten Lerchen verschönt, die gleich silbernen Schnüren durch die Lüfte zogen und von dort zu den Menschen herniederfielen, Gott zu Preis und Ehre, den Stillen im Lande zur Freude.

Am Tag Reminiscere, dem Tage also, wo sie in allen Kirchen nach dem Staffelgebet singen: »Gedenke, o Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Milde, die von der Welt her gewesen ist; gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretung; gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, um deiner Güte willen,« an diesem Tage nun, als bereits schaumige Rosenwölkchen am tiefen Horizont heraufzogen, stand Frau Judith Travelmann an der einsamen Stätte, wo der Helweg und die Straße nach Hiltrup sich kreuzten, wie immer schwarz gekleidet, das Samthäubchen auf den eisengrauen Haaren, den Krückstock vor sich gestemmt, aber noch ungebeugt, wetterfest und eingerammt wie der Fels Petri, der unbezwingliche.

Sie war nicht allein. Wollte es nicht sein. Sie stand Hand in Hand mit einem hochgewachsenen Mann, dessen Antlitz verriet, daß er lange Zeit in südlichen Breiten gewesen . . . hager und eingefallen, aber mit einem Ton umkleidet, der an Bronze erinnerte.

Ihr Begegnen war kein zufälliges, es war aus freien Stücken heraus und mit Überlegung geschehen.

»Emmerich,« sagte die Alte, »heute beten sie: Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend; gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, um deiner Güte willen. Ich erzählte dir alles und danke dir, daß du meinem Rufe folgtest, daß du diese Aussprache möglich machtest. Ludgerus Hölscher weiß darum. Er ist mir Führer und Berater gewesen. Ob mit Recht oder Unrecht, wird sich bald entscheiden. Einer wurde bereits zu seinen Vätern versammelt. Es ist nicht wohlgetan, das Unglück zu mehren. Menschenleben ist Menschenleben, ist etwas Unantastbares. Man soll kein zweites, kein drittes wie eine tönerne Scherbe zerbrechen. Du weißt, was ich meine?«

»Ich weiß,« versetzte er in großer Bewegung. Seine Blicke richteten sich fest und entschlossen auf die ihren.

»Dann habe ich dir noch dieses zu sagen. Es muß doch alles mal ein Ende nehmen im Unheil, sonst wäre es ein unfruchtbares Irren und Schreiten durch eine steinichte Wüste. Ich habe in all der schweren Zeit vieles durchdacht und hin und her erwogen und bin zur Überzeugung gekommen: am Gewesenen soll man das Heutige nicht bemessen. Aber Ausnahmen sind nicht von der Hand zu weisen. Ich meine: die Getter tut ihren ruhigen Atem – bis jetzt noch. Hövelkamp ist der Besten einer, denn wo seine Hand säet, ist dreißigfaltige Ernte, und wo sein Auge wacht, ist der Stern Gottes. Auch Knechte und Mägde tun ihre Pflicht. Selbst der widerköpfige Mensch mit dem Antilopengesicht hat sich bekehrt und ist glücklich mit der Rothaarigen geworden. Er braucht kein Heucheln mehr und hat es nicht nötig, strümpfig über die Dielen zu schleichen. Das alles wäre der Ordnung gemäß. Allein, in nächtiger Zeit, wo ich den Schlaf suche, aber vergebens, da ist es mir immer, als würde der Atem des Freisassenhofes kürzer und ängstlicher, als verlöre er an Kraft und Zuversicht. Und einer steht neben mir, ein Toter, und öffnet den Mund und redet: Die Herrenfaust fehlt. Suche sie, Mutter, und setze sie ein! So wird meiner armen Seele geholfen. Das Erbe der Travelmänner darf nicht vergehen. Emmerich,« und ihre Stimme nahm zu, »ich denke an dich. Du hast diese Herrenfaust, und wenn du willst, so folge mir bis zur großen Dielentür; sie steht dir geöffnet. Wenn nicht, bist du entgegengesetzter Ansicht, wende dich bei ihr ab und zieh' deines Weges. Ich grolle nicht und trage nicht nach. Ich bin keine von denen, die Übles wollen und die Hand wider dich heben. Vielmehr: ich will für dich beten und deine Tage noch segnen. Was du tust, das allein ist bindend und gültig. Sonst gar nichts. Komm' jetzt!«

Und sie schritten dem Hof zu, den Heckenweg entlang, durch Obstgärten, an der schweigsamen Gräfte vorbei, bis sie an die Stätte gelangten, wo Bernd Travelmann ruhte. Hier weilten sie eine Vaterunserlänge. Dann gingen sie weiter. Hand in Hand und erschüttert bis in die innerste Tiefe. Nicht lange mehr – und sie hatten den Ort der Entscheidung erreicht.

Judith erfaßte die Klinke.

Ihre Gestalt wurde größer, ihr Wort mächtiger, als sie jetzt sagte: »Prüfe dich und frage dich selber, ob es dein und Gottes Wille ist, was du jetzt vorhast. Ich sage noch einmal: Trittst du ein, so sei dein Eingang gesegnet. Wenn nicht, wende dich ab und zieh' deines Weges! Wie der Herr will, so geschehe es.«

Emmerich zuckte zusammen; aber er wandte sich nicht.

Da traten sie ein.

Hinter ihnen spielte der Westen mit Farben, die aussahen, als wenn sie aus dem Himmelreich kämen.

Die beiden schritten über die Diele, von hier aus über lange Flure und Gänge.

Bald darauf standen sie vor einer niedrigen Tür.

Judith öffnete mit leisen Fingern.

Er sah eine graue Tapete. Alte Kupfer hingen an den Wänden. Eine Vitrine, mit zierlichen Gegenständen bestellt, nahm die Schmalseite ein. Leberblümchen und Windröschen blühten in einer Vase, die auf einem vergoldeten Tische stand. Hinter diesem Raum befand sich ein zweiter, ein hellerer und lichterer.

»Tritt ein,« sagte Frau Judith, »es ist ihr Zimmer. Sie wartet.«

Hinter ihm schloß sich geräuschlos die Türe zu.

Unmittelbar neben dem Fenster, hinter dem Frau Hille ihre Tage verbrachte, spann eine Birke ihre lichtgrüne Frühlingsseide.

Eine Merle bäumte auf und jubelte ihr Abendlied. – – –

Just um diese Stunde saß Ludgerus Hölscher vor dem Harmonium in seiner kleinen Dechanei. Seine weißen Hände ruhten auf der Klaviatur. Er sah Ohm Gideon an, den ein Zufall hergeführt hatte.

»Hochwürden, ist es denn möglich . . .?« fragte der Paderborner und machte glückliche und verwunderte Augen. »Dann allerdings hätte er nicht mehr nötig, in die Wüste zu pilgern und dort Ziegel zu streichen.«

Ludgerus Hölscher gab keine Antwort, schmunzelte nur und begann leise zu spielen.

Die Töne nahmen zu, gewannen an Fülle und Wohllaut, bis das ›Lauda, Sion, Salvatorem‹ den Frieden des stillen Hauses durchbrauste.

Ohm Gideon wußte genug.

Über ein kurzes nahm er Abschied, ergriff seinen Bülow Krawallo und schritt dem Freisassenhof zu, der vergoldet im Abendlicht ruhte und nicht mehr herrenlos war.

 

Ende

 


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