Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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2

Sankt Hubertus! Der dritte November! Seit Menschengedenken hatte dieser Tag nicht so freundlich gelächelt, nicht so wohlig mit seinen Blättern geraschelt und niemals dem hochgemuten Weidwerk eine so köstliche Wildbahn gespreitet.

Kein Wipfel bog sich unter regenschwerem Rauschen, lag unter dunstigem Nebel. Der Buchenwald stand ernst und feierlich unter einem ehernen Himmel, war bis heute nicht zum Bettler geworden. Er trug noch immer sein volles Ornat, brüstete sich wie ein würdiger Kardinal und zog das abgeworfene Laub gleich einer köstlichen Schleppe hinter sich her.

Der Kardinal opferte. Goldene Schnüre, brennende Girlanden wirrten sich in frommem Schweigen durch den hohen Tempel. Das Opferfeuer blutete bis in das Herrenzimmer hinein.

Unter den Fenstern träumte das todstille Wasser. Es drängte sich dicht an die Grundmauern des Hauses und verlor sich in den purpurroten Schatten des nahen Gehölzes. Wildenten schwaderten hoch, strichen langen Halses feldeinwärts. Ein Gabelweih zog seine einsamen Kreise. Sie zerfaserten als schnurfeine Linien. Ein Kranz von verwaschenem, überständigem Rohr grenzte die flachen Ufer ab. Seitwärts davon streckte sich die braune, endlose Heide. Ein gelber Streifen pflügte sich kerzengrade hindurch, breit und zermahlen und von grotesken Pappel- und Weidenstümpfen begleitet. Wie eine fette, dickleibige Made kroch er dem tiefen Horizont zu. Der Helweg.

Das Herrenzimmer selber atmete Travelmannsche Einfachheit. Nur schlichtes Mobiliar und kahle Wände. Außer des Hermann von Kerßenbroich Chronik von Münster, in der viel des Erschrecklichen über den Wiedertäuferkönig Jan van Leyden, Knipperdolling, Krechting und die schöne Elisabeth Wandscher erzählt war, gab es nur wenige Bücher. Die Travelmänner lasen nicht gerne. Das einzige Schmuckstück: ein alter Gewehrschrank, mit trefflichen Waffen bestellt, darüber kapitale Hirschgeweihe, deren Träger einst in toller Brunft die unheimliche Dawert durchröhrt hatten. Und dann noch . . . seitlich davon: das Bildnis einer Dame in schwarzem Ebenholzrahmen.

Am Fenster stand Hille. Das märchenschöne Glühen, das vom nahen Buchenwald ausging, legte einen Scharlach um ihre hohe Gestalt und machte ihr schmales Gesicht aufleuchten.

Ihre hellen, insichgekehrten Blicke waren auf den Helweg gerichtet. Langsam und selbstverloren breitete sie die Arme und kreuzte sie wieder. Ab und zu flüsterten ihre Lippen unverständliche Worte. Die Augen gaben zurück, was ihre Seele bewegte. Sie kam von dem verrufenen Wege nicht los, und wie sie auch versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, Lichtes zu sehen und heitere Bilder zu finden, immer wieder wurde sie in den Bann des gelben, öde dahinkriechenden Streifens gezogen. Eine drängende Unruhe ging über sie hin, und dennoch war sie wie geistesabwesend. Regungslos stand sie. Immer tiefer und tiefer versank sie in ein bedrohliches Sinnen, als hätten die Worte sich an sie geworfen: »Von Erde bist du, und zur Erde sollst du wieder zurück,« und nur das Auf und Nieder ihrer jungen Brust deutete an, daß sie lebte.

Eine geheimnisvolle Starrheit erfüllte ihr Wesen, machte die Wangen blutleer und die Augen zu Totenlampen, die in die Ewigkeit schauten. Und doch war es kein irdisches Sehen. Scheinbar sah sie nicht und hörte sie nicht. Sie hörte es nicht, wie der Krückstock der Alten die langen Korridore durchhallte, zeitweilig innehielt, um dann wieder in abgemessenen Pausen weiter zu tönen. Es war ein knochentrockenes Klingen und Schreiten, unwirsch und aufdringlich. Aber unbemerkt ging es an ihrem Ohr vorüber, als wäre es gar nichts gewesen; auch hörte sie nicht, wie die Klinke rückte und die Türe sich geräuschvoll auftat.

Judith Travelmann war ins Zimmer getreten.

Dicht hinter der Abwendigen machte sie halt; dann sagte sie leise, fast scheu und mit dem Unterton einer verhaltenen Trauer: »Ich möchte dir meine Liebe in goldenen Schalen reichen. Alles um mich verschwindet, ist nicht vorhanden für mich, hat mir nichts mehr zu sagen. Ich sehe nur dich. Sonst nichts mehr, und wie eine Heilige stehst du.«

Sie legte ihr die Hand auf die Schulter.

Die Überraschte warf sich herum.

»Mutter, wie kommst du darauf?«

»Weil es mir eine zwingende Macht also gebietet. Ja, wie eine Heilige stehst du. Ich kann es nicht ändern und lasse mir den Glauben daran nicht nehmen. So sah ich dich, Hille, damals auf Darfeld, als dein Vater in Not war und der rote Spiegel erschien, um ihm die bleiche, gierige Faust an die Kehle zu legen. Es war ein ernster Tag und eine wehe Stunde. Ein bitteres Leid. Aber dieses Leid machte dich einer Blutzeugin ähnlich. So sah ich dich stehen, als mein Sohn und ich vorsprachen, um dieses Leid von Darfeld zu nehmen. Wir alle sind zu Gottes Füßen, aber es war doch ein Glück, daß wir kamen. Dann später . . . so sah ich dich stehen, als die Sterbelaken niederfielen und dein Vater hinwegging. So sah ich dich, Hille . . .«

Sie suchte nach Atem.

»Ja,« fuhr sie fort, »so sah ich dich, Hille, als du nach kurzem Besinnen meinem Jungen die Hand reichtest, die letzte ihres Stammes dem letzten der wilden Travelmänner, und das danke ich dir bis zum heutigen Tage, denn mit deinem Einzuge brannte das Herdfeuer freundlicher, kam Ordnung in die Knechte- und Mägdekammern, verlor sich die Wolfszeit auf Getter. Du schüttelst den Kopf, aber es ist so. Lasse mich nur aussprechen, Hille! Ich fühlte deine gütige Hand und gewahrte, wie alles seinen regelmäßigen und freundlichen Gang nahm. Deine Heiterkeit blieb, und nur dein Wandeln zwischen Himmel und Erde, die dunkeln Kräfte, die auch die ›Blassen‹ im Lande an sich haben, wurden von dir genommen. Ich wähnte dich glücklich, und nun muß ich sehen . . .«

Das junge Weib verfärbte sich.

»Und ich sage dir, Hille, lieber die alte Wolfszeit zurück, als dies Grübeln und Suchen, denn solches ist schlimmer als alles und dreht einem das Gesicht in den Nacken.«

»Mutter . . .

Die Gutsherrin straffte sich hoch. Sie war noch bleicher denn vorhin geworden. Ihre Finger krampften sich ein und lösten sich wieder.

»Mutter, was heißt das? Willst du mich trösten, oder bist du erschienen, mir diese Stunde noch herber zu machen?«

Judith Travelmann winkte ab.

»Dich trösten? Nein du, ich will dich nicht trösten. Auch das andere nicht. Ich will keines von beidem. Wie kommst du darauf?« Sie lächelte bitter. »Ich bin eine Mutter, und du solltest mich kennen. Wer so viel des Grames durchmachen mußte wie ich, dem steht es nicht an, nur tröstliche Worte zu bieten. Solche Worte sind wie ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Sie führen nicht weiter und legen keinen Balsam auf geschlagene Wunden. Wer so wie ich das Unheil kommen sah . . . damals vor Jahren . . . wie es mit hartem Knöchel an die Fensterladen pochte und mir gebot, an die Mergelgrube zu treten . . . Wer so wie ich . . . und als ich dann an das entsetzliche Wasser herantrat und die blutige Klinge mir zugrinste: Stein, Strick, Gras und Grein . . . Wer so was geschaut, der hat auf Jahre hinaus das Lachen verlernt und trägt andermanns Leid doppelt und dreifach. Das solltest du wissen, denn deine Liebe ist größer und deine Sinne sind feiner als die Liebe und die Sinne andrer Menschen. Sie sind wie zarte Nebel, die alles mit ihren weißen Schleiern umspinnen, und ich sollte drum meinen . . . Nein du, meine Arme sind gebreitet nach dir, und meine Seele möchte dich einhüllen in den Mantel des Friedens und der ewigen Freude.«

Ein Schluchzen war bei ihr.

Hille wandte sich ab.

Judith war dicht an ihre Seite getreten.

Sie legte den Arm um sie her: »Komm', setze dich hin; dann läßt sich alles besser bereden,« und sie führte sie zum nächststehenden Sessel, um sie sacht in die Kissen zu drücken. Auch sie nahm Platz und stellte den Krückstock neben sich und tat die Hände zusammen, die Hände, die schmal und welk waren und an die reinen Hände eines Priesters erinnerten.

»Hille, ich habe mit dir in aller Ruhe zu sprechen, in aller Ruhe, und so, daß es Unberufene nicht hören. Es gibt Dinge, die vertragen kein lautes Geräusch, noch weniger den Lärm des Tages. Sie sind wie Schmetterlingsflügel, haben die Eigenschaft, leicht ihren Schmelz zu verlieren. Sie sind wie ein verschwiegenes Wasser. Man darf sie nicht stören. Sie wollen die gütige Pflege einer Barmherzigen. Nur so ist Heilung zu hoffen. Nur so werden dir und mir die Sorgen und Ängste vom Herzen genommen, wird es uns gelingen, ein innerliches Behagen zu finden. Das ist unsere Bestimmung. So und nicht anders, denn wir wollen doch nicht mit dem rostroten Sterbezug der jetzigen Tage dahinschreiten, sondern der Zukunft gedenken, der Hoffnung und Auferstehungsfreude.«

So redete sie, während ihre Blicke die Gestalt ihrer Tochter umfaßten.

Ihre Lippen preßten sich fest gegeneinander. Sie schwieg, und eine tiefe, leidvolle Falte stellte sich auf zwischen ihren stahlgrauen Augen.

Keiner sprach mehr. Niemand wagte es, die unfreiwillige Stille zu scheuchen. Nur draußen . . . im Ried war Bewegung, und drüben: der stille Wald begann plötzlich zu rauschen. Große Fetzen wurden aus seinem Purpurmantel gerissen. Sie flatterten hoch und schaukelten ziellos ins Ungewisse hinein, um sich irgendwo in der Heide niederzulassen, wesenlos und ohne Wiederkehr. Gleichzeitig hoben sich dunkle Krähenvögel aus den roten Kronen. Grau in grau und mit heiseren Stimmen, so trieben sie der gelben Made zu, die unaufhörlich ihres Weges dahinkroch, schnurgerade fort, öde und trostlos und wie das unheimliche Schleichen des Schicksals.

Die beiden lauschten hinaus.

Das Rauschen war eindringlicher und das Lärmen stärker geworden.

Da sagte die Alte: »Das bedeutet nichts Gutes. Die Luft ist stickig geworden, als wäre sie mit Unheil belastet. Auch der Wind tut sich auf. Das haben die Krähenvögel nicht gerne. Überhaupt diese Vögel! Ich liebe sie nicht und liebe die jetzige Zeit nicht. Allerheiligen und Allerseelen sind traurige Feste. Sie liegen hinter uns, aber ihre bangen Eindrücke wirken noch nach. An solchen Tagen heben sich die Gesichte am Helweg.«

Die junge Frau horchte auf.

»Am Helweg . . . wo Dinge geschehen . . .« sprach die Alte unbeirrt weiter, aber mit zerdrückten Worten und ohne die Augen zu heben, »wo Dinge geschehen, die nicht von dieser Welt sind, seltsame Begebenheiten, so die Seelen ängstigen, sie in eine gesteigerte Erwartungsspanne versetzen, um sie schließlich elend zu machen. Doch später hiervon, und wenn es auch hart wird, darüber zu sprechen, es muß klar zwischen uns werden, sonst kann ich meine richtige Besinnung nicht finden.«

Mit einem schmerzlichen Laut brach sie ab. Der Schmelz eines feinen Seidenfadens spielte durch die halbgeöffneten Lider.

»Zuvor habe ich dir eine Erklärung zu machen.«

»Du – mir?«

»Ja du – Emmerich Dinklage ist wiedergekommen.«

Hille drückte sich scheu in den Sessel. Ihr Blut stürmte. Mit aller Willenskraft hielt sie es nieder.

»Emmerich?!« fragte sie tonlos. »Der ist doch in Leukas, seit zwei Jahren in Leukas, und wollte dann nach Mykenä. So hieß es doch früher.«

»Ja, Hille, so hieß es. Er ist auch in Mykenä gewesen. Aber nicht lange. Westfälisches Blut ist heißer als das Blut andrer Menschen, wenn auch zäher und dicker. Das gefällt sich nicht unter der griechischen Sonne. Das wußte ich lange. Das will in die einsame Heide zurück und in den geheimnisvollen Duft, den die Frauen zwischen Ems und Lippe an sich haben. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und dennoch sind sie nur ein Tag vor dem Herrn. Wir alle bringen unsere Jahre zu wie im Traume, und im Traume wachsen böse Gedanken.«

»Wie meinst du das, Mutter?«

»Das mußt du schon mir überlassen. Ich weiß nur: er ist wieder in Münster. Was er früher schon wollte, das tat er. Er habilitierte sich dort. Die nächste Professur ist ihm sicher. Bernd traf ihn vor wenigen Tagen und lud ihn zur Jagd ein. Er wollte dir eine Überraschung bereiten, eine Begrüßung auf Getter, und wenn ich mich auch innig freue, ihn wieder zu sehen, ich glaube, eine andere Lösung hätte manches beglichen. Nicht etwa . . .« und ihre Stimme erhob sich: »Wer die Hand wider ihn aufhebt, dem soll die Hand verdorren, denn er gehört zu unsern Getreuen, und sein Herz ist wie das eines Kindes, wenn auch fest und stark, frei und bodenständig wie das Eisen in unserer Erde. Aber ich meine: nur ein paar Jahre vielleicht, nur noch ein paar lumpige Jahre . . .«

Die letzten Worte vergingen in einem kaum hörbaren Sprechen, als wenn sie sich scheuten, die letzten Konsequenzen zu ziehen.

»Und nun?« fragte Hille, die Augen starr auf die Alte gerichtet.

»Kind, was soll ich weiter noch sagen? In dem Angedeuteten ist bereits alles enthalten, was sich wie graue Schatten an mich drängte. Und in diesem Schatten sitzt das Frösteln. Hille, er ist wiedergekommen. Die alte Sehnsucht fiel über ihn her. Er mußte heimwärts. Die westfälischen Menschen sterben an Heimweh und sterben an Liebe. Und wenn sie nicht wollen, wenn sie sich dagegen sperren, müssen sie zurück in das Land ihrer Väter. So auch er. Spiegelungen und Spiegelbilder. Sie reihen sich aneinander wie stille Geschichten. Nur darf unter diesen stillen Geschichten nicht ein Dritter verkümmern. Diese Spiegelungen und Spiegelbilder, sie stecken einem wie fremde Körper im Blut, sehen einen mit verweinten Augen an und machen längst zermürbte Erinnerungen wieder lebendig. Sie kriechen einem nach wie treue Hunde, die man von sich gewiesen, und da geht das nicht anders, schon um der Barmherzigkeit willen: man gibt ihnen aufs neue die frühere Liebe zu kosten. Ich kenne das, Hille. Die Zeiten, die über mich fortgingen, machten mich wissend. Hof und Herd sind mir teuer. Ich halte sie fest wie mit eisernen Klammern. Irgend eine Entweihung daran entweiht meinen Körper. Wir, die Travelmann, werden die ›wilden‹ geheißen. Das weißt du, und wir sind stolz auf den Namen. Aber in dieser Wildheit wohnt auch die Arbeit des Stiers und das Schlummern der Vertrauensseligkeit. Besonders in Bernd. 'ne Portion Leichtsinn ist in ihm, aber nichts Arges. Er geht stur geradeaus und hat kein Verständnis für die feinen Sächelchen einer subtilen Lebenskunst. Das ist gut und doch nicht gut. Dann ferner. Eine innige Freundschaft verbindet ihn mit Emmerich. Auch das muß ich loben. Alles zu seiner Zeit. Aber diese Freundschaft könnte brüchig werden. Ich denke dabei an die gemeinsam verlebten Stunden auf Darfeld. Gründe fehlen hierfür, allein ein seltsames und vages Empfinden . . . Das gibt mir Rätsel auf, Rätsel, die noch der Auflösung harren und die mich mit kalten Fingerspitzen berühren. Ich mag mich irren darin. Allein ich sage mir wieder: Bernd kann seine Stunde verpassen. Die zarten Schwingungen, die nötig sind, die Irrungen und Wirrungen eines Menschenherzens auseinander zu legen, sind niemals seine starke Seite gewesen. Indessen, eine Mutter sieht tiefer, und da dachte ich, Hille . . .«

»Mutter . . .

Das war Hille Travelmann nicht mehr. Mit einem jähen Ruck war die Gutsherrin in die Höhe gefahren. Ein Blitz zuckte in ihrem Auge, und eine dunkle Blutwelle schlug ihr bis unter die weizenblonden Haare.

Was war das nur? Saß eine Richterin vor ihr? War da eine gekommen, gewillt, ihr die Reinheit des Leibes und ihres tiefen Empfindens zu nehmen? Tat sich da ein irregeführter Mund auf, um Falsches aus den Blättern ihres Lebensbuches zu deuten? Sie wähnte in einen blutroten Nebel zu sehen, und dieser Nebel hüllte alles ein, was ihr noch freudig erschien, begehrenswert und wie ein heiliges Singen am Tage der Auferstehung.

Nein, das war Hille nicht mehr, nicht mehr die gütige Frau in ihrer feiertägigen Andacht und Würde, die Reine und Hohe, die ihre lichte Flechtenkrone trug wie ein Geschenk des Herrn. Diese feiertägige Andacht war jetzt von ihr genommen. Sie hatte ihr nichts mehr zu bieten. Ihr Wesensinnere fiel von ihr ab. Sie wandelte sich. Ihr mildes Antlitz war wie graue Erde geworden. Die starren Hände auf die Brust gepreßt, stand sie, als würde sie verzehrt von einem gierigen Feuer. Aber dieses Feuer verbrannte sie nicht, vereiste sie nur und machte ihre Züge kalt und gefühllos.

»Emmerich Dinklage! Was soll dieser Name? Warum bringst du ihn mit mir in Verbindung? Mit mir und Bernd und meinen früheren Tagen? Ja, wie die Dinge nun liegen, es wäre mir lieber gewesen, ich hätte ihn niemals gesehen, er wäre mir niemals begegnet im Leben, denn wie ich jetzt annehmen muß: aus diesen Spiegelungen und Spiegelbildern scheinen sich häßliche Vorstellungen und Wahnbegriffe zu heben. Ich habe nichts zu verhehlen und nichts zu verheimlichen. Weder er, noch ich. Nur, ich kann in seine Seele nicht schauen. Aber ich hafte für ihn. Wir haben weder das Licht des Tages, noch das der Sterne zu fürchten. Also weshalb diese Kränkung? und wenn sie auch aus banger Sorge heraus und aus lauterem Herzen geschah, es ist immer eine Kränkung gewesen. Und diese Kränkung – ich weise sie von mir.«

»Du . . .!« rief die Alte.

Judith stand vor ihr. Ihren Stock stellte sie fest auf den Boden, fest und energisch, als sei ihm geboten worden, dort Wurzeln zu schlagen, um zu einem stattlichen und sparrigen Baum zu werden, ein Zeichen der Stärke und ein Schirm und Schutz des Freisassenhofes.

»Wie kommst du mir vor? Lehnst du dich auf gegen die Mutter? Du scheinst vergessen zu haben, was du mir schuldest. Früher: ich bin die Herrin von der Getter gewesen. Jetzt bist du es geworden, und dennoch: vor einem grauen Haupte sollst du Achtung besitzen, um ihm die Jahre leichter zu machen.«

»Das tu' ich, aber das, was du sagtest . . . Ich habe Bernd doch alles gegeben, und nun willst du mich zermürben und klein machen. Das war nicht wohlgetan. Wer hebt den Stein wider mich auf! Er möge kommen. Ich harre des Steines, denn ich bin eine Darfeld.«

»Das warst du.«

»Und ich bin es noch immer. Das sollte dir Bürge sein. Aber wenn du diese Bürgschaft nicht annimmst« – und sie streckte sich, als habe sie eine Kugel getroffen – »Mutter, Mutter, Mutter! um deinetwillen ersticke ich das Blut der Darfeld in mir. Dir zu Liebe – ich will nicht anders sein und scheinen, als was du mich hießest. Mutter!« – und ein wilder Schrei flog gegen sie an – »so verstehe mich doch, so begreife mich doch! So wahr mir Gott helfe: trotz des Blutes in mir – ich bin eine Travelmann, Mutter! Jetzt und für immer und bis zur Stunde des Todes.«

Sie warf sich herum.

»Hille, mein Kind – du!« und ein schluchzendes Weib ruhte an der Brust einer Greisin, wie vom Sturme in einen sicheren Hafen verschlagen, und siehe: Schulter an Schulter, die Arme um den Leib ihrer Tochter geschlungen, begann die Alte leise zu sprechen, leise und heimlich, so wie der Wind es tut, wenn er nach einer heißen Sonne heraufzieht, um die verängstigten Halme sanft auseinander zu strählen und ihnen Trost und Segen zu bringen. »Nun ist alles von mir gefallen, aber auch alles, und was du ›Kränkung‹ nennst, ist keine Kränkung gewesen. Wie sollte ich auch? Eine, die gewillt ist, dir ihre Liebe in goldenen Schalen zu reichen, kann dich nicht kränken. Es war ein Quälen für mich, ein Zergrämen um das Glück meines Hauses! und nun muß ich sehen: es ist alles eitel und nichtig gewesen und ein Nichts unter dem Himmelreich. In dir ist die Majestät des Weibes verkörpert. Kannst du vergeben? Jetzt weiß ich: du bist eine Travelmann, Hille, und doch eine Darfeld. Gott segne die Darfelds. Kind du, mein Kind – du! O wie ich dich liebe! Lieben ist wie Sterben, und Sterben heißt glücklich werden, denn durch die Umarmung des Todes werden wir der Anschauung Gottes teilhaftig.«

Und dann lächelte sie durch ihre Tränen hindurch, und dieses Lächeln war ein befreiendes Lächeln, ein Gruß an die Zukunft. Allein ihm war keine lange Dauer beschieden. Die schmale, tiefe Falte steilte sich wieder zwischen den Augenbrauen. Irgend etwas Unbegreifliches und Schattenhaftes hob sich drüben auf dem verwunschenen Helweg, schien aus dem Boden zu wachsen, wandelte näher heran und sah durch die Fenster – ein Gesicht, als hätte sich darin die Not Gottes verewigt. Und dieses Schattenhafte trat durch die Wände wie durch eine Gardine hindurch, fahl und verdämmert und in toter Beleuchtung – und wandte sich, und da sagte die Alte: »Hille, die dunkeln Vögel fliegen noch immer. Überhaupt diese Vögel! Ich liebe sie nicht und liebe die jetzige Zeit nicht. Allerheiligen und Allerseelen sind traurige Feste. An solchen Tagen heben sich die Gesichte am Helweg . . .« und ihre Stimme nahm wieder einen stählernen Ton an: »An solchen Tagen . . . Hille, du bist auf dem Helweg gewesen.«

Das saß wie ein Peitschenhieb.

Ein weher Ton rang sich aus der Brust der Gepeinigten.

»Mutter, du hast mich gesehen?«

»Ich nicht, sonst – ich wäre gekommen, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Aber einer sah dich, wie du den Geschehnissen folgtest und das Übernatürliche suchtest – ein minderer Mann und einer von denen, die selber gezwungen sind, ihr Fernempfinden wie eine Bürde der Vorsehung zu tragen . . . und er durfte nicht vor dich hintreten und sagen: Komm' mit mir! Es ist nicht gut, am Tage Allerheiligen zwischen Himmel und Erde zu suchen und Zukünftiges sehen zu wollen. Er wäre sündig geworden an seiner eigenen Mission und seiner eigenen Sendung. Hille, und dieser . . .«

»Hövelkamp . . .

Sie machte sich frei, trat rücklings, und zwei wissende Augen waren stier und glanzlos auf Judith gerichtet – wie im Entsetzen.

»Ja, ich bin auf dem Helweg gewesen. Ich mußte. Das alte Verhängnis trieb mich hin, hielt mich fest und gebot mir, Fernem zu lauschen und verlorene Stimmen zu hören! Seit Jahren zum erstenmal wieder, und ich dachte schon: der Herr ist mit dir und hat die Gesichte für immer gestundet.«

Ihre Worte zerfaserten, gingen unter in einem dumpfen Schweigen, und in dieser dumpfen Qual und Marter durchlebte sie die Dinge noch einmal, alle die Dinge, die sie sehen mußte und doch nicht sehen wollte, all' die Geräusche, die sie von sich wies und doch nicht abweisen konnte . . . aber nur für eine Augenblicksspanne . . . in der raschen Flucht von Sekunden . . . gleichsam als würden die Bilder von einer unsichtbaren Geißel gepeitscht und vorübergetrieben.

Die Hände gefaltet, wie verlähmt, sagte sie von einem innern Grauen gepackt: »Und ist doch nicht von mir genommen – das furchtbare Sehen. Mein Gott und mein Heiland!« und ihre Arme hoben sich flehend: »Warum das, warum das?! und da sagen die Menschen: es ist ein Geschenk des Himmels. Wenn auch – so ist es doch eine traurige Gabe, ein Schauen der Lebendigen und Toten, ein Schreiten durch eine endlose Nacht ohne Andacht und Sternenfeuer . . . und ich muß immer dran denken: ich trage meinen Leib und mein Geschick wie eine Mondsüchtige, wie es die Ruhelosen und Gezeichneten tragen. Mutter, Mutter . . .

Matt sanken ihre Hände herunter.

»Und deine Wahrnehmungen, Hille? Was sahst du?«

Atemlos war die Alte an ihre Seite getreten.

»Nur flüchtige Schemen. Vom Vorwerk kam es . . . langsam und in breiten, gemächlichen Schritten . . . am Wasser vorüber . . . und trat in den Hausflur . . . und dann: eine Stunde später wurde etwas Langgestrecktes vom Hofe getragen.«

»Was war es?«

»Ich weiß nicht. Ein Tuch war darüber gespreitet.«

»Und sahst du das Wappen, das Wappen der Travelmänner?«

Ein stoßweises Ächzen: »Das Wappen, das Wappen!«

»Das nicht. Ein Laken nur, ein einfaches Laken. Es wandelte still seines Weges . . . fünf Schuh über dem Boden . . . und waren Geräusche dabei . . . ernst und feierlich . . . ohne Aufhören . . . wie das monotone Hersagen von Gebeten bei einem Leichenbegängnis . . . und waren doch Stimmen des Herrn. Und diese Stimmen! heilig sind sie, ewig, ohne Anfang und Ende, und wer sie vernimmt, dem ist so, als säße er auf einem Stein und müßte die Sandkörner zählen, die nötig sind, um eine Hand mit Kirchhofserde zu füllen. Und ich kann es nicht ändern, ich muß selber zählen, immer nur zählen . . .«

Sie taumelte.

Die Arme der Greisin hielten sie auf.

»Hierhin gehörst du!« und der Krückstock machte eine stracke Bewegung, drohte zum Helweg hinüber, als geböte er ihm, nicht mehr den Frieden und die Freude des Hauses zu stören. Und die Droherin selber . . . sie ging über sich fort. Ihre Zunge wurde befehlend, scharf und brüchig, als sei sie gewillt, die Stunde herauszufordern.

»Herr,« begehrte sie auf, »wer bist du? Was willst du? Bist du gekommen, mir das Brot des Lebens zu nehmen? Herr, sei doch ein barmherziger Gott und keiner von denen, die gebieten, mit den Toten zu hausen.«

Ein wehes Aufschluchzen.

»Ach Mutter – du versündigst dich ja!«

»Nur keine Sorge. Mein Erlöser weiß, was ich rede. Er weiß auch: wir, die Travelmänner, sind ein wildes Geschlecht. Sie beten nicht häufig, und wenn sie es tun, dann ist es ein Beten aus der Tiefe heraus und mit 'nem Strick um den Nacken. Ich selber, Judith Travelmann, bin aus dem nämlichen Holze geschnitten und bete, wie die Travelmänner es machen. Aber in dieser Wildheit« – und immer fester und inniger zog sie die Tochter an sich – »in dieser Wildheit liegt auch der Wille zur Kraft und der der Vollstreckung. Und dieser Wille weiß dich zu schützen. Ich will, und was ich will, das erzwinge ich auch. Ja du – ich werfe mir ein armseliges Gewand über und zieh' mir die Schuhe herunter. Und so gekleidet, barfuß und straffen Rückens, pilgere ich in die Kirche von Hiltrup, mir gleich, was sie sagen: Gläubige und Ungläubige, Juden und Christenmenschen, und führe alles zu einem glücklichen Ende. Und in Kraft dieses Willens: den hölzernen Christus, ich bete ihn vom Kreuze herunter und befehle dem Heiland: Komm' mit mir, sei ein barmherziger Richter und keiner von denen, die das Leben zerbrechen. Ich bringe ihn mit und veranlasse ihn, dir die große, heilige und doch unselige Gabe aus den Augen zu nehmen, und sage ihm glatt vor die Stirne: Spreite die Hände, auf daß sie gesunde. Ich lasse dich nicht, du erhörtest mich denn!«

»Mein Gott, mein Gott!«

»Also geschieht es, denn sonst wäre ich wert und würdig, ins Elend zu fahren, darin sich weder Werk, Kunst und Vernunft, noch Weisheit befindet. Und siehe: er tut es, er muß; denn über ein kleines wirst du niederknien und sprechen: Ich bin gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht meines Leibes.«

Die so Angeredete schien einer Verstorbenen ähnlich; nur ihre Blicke waren voller Licht und Glanz und wie der frühe Tag über den Wäldern.

»Gebenedeit unter den Weibern! Das ist es! sonst: unser Geschlecht stirbt aus wie die stolze Sippe der Adler auf den Tiroler Bergen. Das kannst du nicht wollen. Von Gott begnadet und gebenedeit unter den Weibern . . . und der Herr wird nicht mangeln . . . Und ist es so weit: unter der Mutterschaft – deine Ruhe kommt wieder.«

»Ach du, du . . .

»Ja, deine Ruhe kommt wieder. Das will der Herr so, denn mein Gebet kann Berge versetzen und den Heiland vom Kreuze holen . . . und ist es so weit . . .«

Da sah sie: Der Glanz in den Augen der wie aus einem Traum Erwachten war zu einem leuchtenden Feuer geworden.

Judith prallte zurück.

»Hille, ich sehe und wenn es so ist« – und ihre Stimme flackerte auf wie eine helle Freudenflamme in der Osternacht – »dessen zum Zeichen: ich nehme den Travelmannschen Schmuck aus der Lade, und dann –« und ihre Rechte wies auf die Dame im schwarzen Ebenholzrahmen – »tragen sollst du ihn am heutigen Abend, wie ihn Gudula Elitza Travelmann trug, die Frau Wilderichs, des Aufrechten, der mit gekrempelten Ärmeln unter die Herren des hohen Kapitels trat und ihnen die Worte zwischen die Schläfen hämmerte: Wappen und Schild werfe ich von mir, aber das sage ich euch: um so freier und stolzer schlägt das Edelmannsherz unter dem Bauern- und Freisassenkittel. Dies mein Gelöbnis, ihr Pfründenträger und Pfaffen, von jetzt an bis in alle Ewigkeit, Amen! Und diesen Schmuck – tragen sollst du ihn am heutigen Abend. Nur ein Zeichen für mich. Keines für Bernd. Erst später. Es sei sein Weihnachtsgeschenk.«

»Du Liebe, du Gute!«

»Ich warte darauf. Und den Schmuck – Hille, soll ich ihn schicken?«

Keine Antwort erfolgte. Nur ein glückliches Lächeln spielte um den Mund der Gutsherrin.

Judith Travelmann nickte.

Erhobenen Hauptes verließ sie das Zimmer.

 


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