Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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18

Die beiden Schwalbenpärchen, die sich alljährlich im Balkenwerk der großen Dielentür ansiedelten, kehrten nicht wieder. Ihr Mörtelwerk zerbröckelte, verwehte die Zeit. Dafür baute ein anderes im Fensterrahmen von Hövelkamps Schlafgelegenheit, unter hellem Zwitschern und emsigem Zufliegen, dicht über dem Sims, auf dem das fleißige Lieschen jetzt paradierte, als hätte der Herr ihm geboten: »Du sollst noch regsamer sein denn sonst, noch mehr deine Knospen entfalten, noch lieblicher duften, auf daß sich das Herz des Mannes erfreue, der dir seine Pflege angedeihen läßt, denn er ist der Gerechtesten einer . . .« und das tat auch das fleißige Lieschen, schmückte sich mit jedem jungen Morgen schöner und freundlicher und pries den Schöpfer und lobete ihn in seiner vielfältigen Anmut und stillen Genügsamkeit.

An der großen Scheune stand der schwarze Flieder hoch im laulichen Wind, überschneit von tellergroßen, schneeweißen Dolden. Im Krautgärtlein entfalteten die Zentifolien ihre ganze Pracht. Ihre Blüten leuchteten in den hellen Sommernächten gleich Rubinen und dufteten, wie ihre Schwestern es taten, als sie mit ihren Wohlgerüchen die Gegend von Saron und die von Jesreel erfüllten. Der Flachs hatte seine himmelblauen Sternchen verloren. Die Roggen- und Weizenschläge verstreuten ihren Weihrauch, wellten sich in ihrem Liebesspiel sacht gegen den Horizont an und erschauerten unter dem seligen Genuß der Befruchtung, klingelten mit ihren Grannen und Spelzen und harrten erwartungsvoll dem wundersamen und rhythmischen Sirren der Sensen entgegen. In den Vorgehölzen sang der Vogel Bülow, versteckte sich scheu in den satten Laubmassen, um sich von Zeit zu Zeit wie ein gelber Federball von einem Baum zum andern zu wiegen.

»Vogel Bülow! Vogel Bülow!«

Weithin tönte der Jubel des märchenhaften Sängers, von allen herbeigesehnt, von allen geliebt, aber nur von wenigen aus nächster Nähe gesehen, so trefflich verstand er es, sein Safrangewand unauffällig zu machen und ins Nichts zu verschwinden.

»Vogel Bülow! Vogel Bülow!«

O dieser Ruf, dieses Sehnen und Suchen!

Seit dem Tag, wo eine große Hoffnung dahinging, die sechs Brettchen eingesenkt waren und der Travelmannsche Schmuck sein Leuchten eingebüßt hatte, schien der Hof seinem Schicksal verfallen. Dem war nicht so. Frau Judith wuchs sich aus zu einer Gigantin. Trotz ihrer Jahre, trotz aller Prüfungen und Heimsuchungen, die sie erduldet – ihre Lebensenergie regte sich in ungeahnter Weise. Sie beugte sich nicht. Mehr als sonst hielt sie stand, strich ihre eisengrauen Strähnen zurück und biß die Zähne zusammen. Sturm war um sie. Aber aushalten unter jeder Bedingung. Nicht um Haaresbreite änderte sie ihren Kurs, wich nicht und wankte nicht und verfolgte ihr Ziel mit der Willenskraft einer Verzweifelten, der nichts übrig blieb, als Land zu gewinnen oder unterzugehen. Wie ein Kapitän auf gefährdeter Kommandobrücke, dem die graue, aufgewühlte See Schiff und Atem absprechen wollte, gab sie ihre Befehle, traf sie ihre Maßnahmen, verstand sie es, die Wogen zu glätten und in stillere Bahnen zu lenken. Diese Lebensenergie redete mit harten und unbarmherzigen Zungen, blieb keinem etwas schuldig, selbst Bernd nicht, war wie der Klang einer Wetterglocke, die Not und Gefahr ansagte und es dennoch verstand, den ›Engel des Herrn‹ in bedrängte Menschenherzen zu läuten.

Und Frau Hille vernahm dieses Läuten, das von Liebe erzählte, von den Geboten Gottes und denen der Kirche und immerzu mahnte: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern . . .« und da neigte sie ihr Haupt, gedachte mit nassen Augen der schweren Heimsuchung und legte die Hände zusammen.

Auch Stephanie schrieb ihr: »Neue Wünsche und Erfüllungen wachsen auf Gräbern. Wer da Leid duldet um der Gerechtigkeit willen, der soll ausharren, bis sich die Stunde der Einkehr erfüllet. Trage Deine Dornenkrone in Einfalt und christlicher Demut, ihr werden die Dornen genommen werden, und was Dich auch bedrängt: es ist nicht wohlgetan, das eigene Weh unter die Menschen zu bringen, denn was sie Dir bieten und zu sagen haben, ist nicht besser als der Rat eines Narren, der dazu noch mit seiner Schellenkappe klingelt. Die Lippen sprechen anders denn die Herzen es aufnehmen. Ich kenne die Menschen. Nur wenige gibt es, die mit den Leidenden leiden, sich mit den Glücklichen freuen, ohne Neid zu empfinden. Das eigene Selbst allein ist der zuständige Richter und Sachwalter und wird Dir sagen: Gehe an der Seite Deines Mannes wie in frühern Tagen, unbekümmert um das Gerede der Salbungsvollen und Böswilligen und spreite den Mantel des Vergessens über das, was Dir unselig war und nicht wußte, wohin es seine Blicke wenden sollte. Besser eine Handvoll Nachsicht als mehrere Hände voll von Bitternis und verhaltenem Groll. Bitternis und Groll sind üble Gesellen und Ohrenbläser. Heiße sie nicht willkommen. Nur das nicht. C'est le commencement de la fin. Und das kannst Du nicht wollen. Deine Wunden sind wie Brandwunden. Sie heilen schwer, aber sie heilen doch schließlich.« So schrieb sie, und Ludgerus Hölscher sprach in ähnlichem Sinne. Öfters kam er zur Getter, fand innige Worte der Versöhnung und Liebe und verstand es in Gemeinschaft mit dem zuversichtlichen Walten Judiths, die schwersten Unebenheiten aus dem Wege zu räumen und die Gemeinschaft der Eheleute wieder ersprießlicher zu machen.

So vergingen die Tage, die Wochen.

Das schlichte Försterhaus am Hasenfang hatte längst seinen eigenen Rauch. Auch hier hatte Ludgerus vermittelt und das getan, was erforderlich war, ein böses Gerede zum Schweigen zu bringen und gewisse Zugeständnisse des Gutsherrn zu ermöglichen. Aber nicht im eigenen Kirchspiel, sondern in der Heimat Garkes waren die beiden zusammengegeben, um nach längerer Abwesenheit die Rückfahrt anzutreten, sich einzurichten und in der Ungewissen Zukunft vor Anker zu gehen. Anfangs blieben die Nachbarn zurückhaltend, prophezeiten nichts Gutes und ließen allerlei geheimnisvolle Brocken unter den Tisch fallen. Als aber mit jedem jungen Morgen der Rauch lustig am Hasenfang aufwirbelte, Mann und Frau einträchtiglich zur Kirche gingen, Garke in aller Kraft und Selbstgefälligkeit seinen Verpflichtungen nachkam und an laulichen Sommerabenden das üppige Weib mit schmantweißen Armen im Fensterrahmen lehnte, sich allzeit gefällig erwies und den Vorübergehenden freundlich zunickte, ließen auch sie ihre Bedenken abwandern, gaben zurück, was man ihnen bot, und sahen nicht ein, warum man nicht genau so wie früher sein Partiechen ›Napoleon‹ oder ›Schafskopf‹ mit dem Förster im Heidekrug spielen sollte, um die etwas gelockerten Fäden des Verkehrs aufs neue zu strammen. Trotz der fatalen Rehbockgeschichte, die mitunter seine Stirn umwölkte, schlug er herzhaft in die dargebotenen Hände und machte den Eindruck eines Mannes, der mit sich zufrieden war und nichts mehr zu wünschen hatte. In diesem Sichselbstbegnügen unterließ er es auch, sich an die Gerichte zu wenden, seine Drohung wahr zu machen und Bernd Travelmann vor die Schranken zu fordern, obgleich er im Krug das große Wort führte und durchblicken ließ, eines Tages würde die ganze Gesellschaft große Augen machen und hellsichtig werden. »Nimmt der Kerl den Eid auf die Gabel,« mit diesen Worten beschloß er jedesmal seine donnernde Philippika, »dann müssen ihm die Finger verdorren,« vermied es jedoch, irgendeinen Namen zu nennen und den geringsten Anhalt zu geben, wem die angekündigte Vorladung eigentlich aufs Dach schneien sollte. Nur das Schwadronieren hielt an. Mit der Zeit gab sich auch dieses, wodurch der Mißbrauch der ›amtlichen‹ Posten und Schrote seine endgültige Erledigung fand. Er erklärte, großzügig vergessen zu können. Nur eins vergaß er nicht: die schnöde Behandlung nicht, die ihm die letzte Unterredung mit dem Freisassenhöfer eingebracht hatte. Das ging noch über den Schellenkönig und war rein dazu angetan, aus der Haut und dem Tempel Gottes zu stolpern. »Kreuzmillionen und heiliges Himmelgewitter! das mit den Hunden . . . aber vor allen Dingen: Hand von dem Weibsbild . . . kein gemeinsames Bett mehr . . . wenn's auch nur Roggenstroh wäre . . . oder ich vergäße mich und spräche 'nen Menschen für 'nen Bock an. So 'ne Kugel tut alles, und da kann's immer passieren . . . Höhö! Wildbret ist Wildbret!« und dabei gingen seine stechenden Blicke über das Meer der Halme, das zwischen dem Hasenfang und dem Freisassenhof auf- und niederwogte, jetzt bereits falb und blond und von der Glut angehaucht, die immer heißer und nachhaltiger vom Himmel züngelte.

Die Wiesen waren niedergelegt, ihre reichen Erträgnisse zu Schobern gehäufelt. Ein warmer Ruch nach Salbei, Gretel im Busch und Bienensaug gesellte sich dem Duft nach frischem Heu, während die Ähren der benachbarten Roggen- und Weizenparzellen sich vor dem Sonnenfeuer duckten und bereits daran dachten, in die behagliche Kühle der verdämmerten Tennen geschaukelt zu werden.

Noch vierzehn Tage, und der erste Schnitt konnte beginnen.

Fast senkrecht stichelte das Tagesgestirn aus seiner weißglühenden Kuppel herunter. Die Wälder lagen dunstig-blau in der Ebene, zu bequem, nur ein Säuseln von sich zu geben. Die Fernen zitterten, als wären sie mit flirrender Gaze übersponnen. Nichts regte sich. Selbst die sonst so muntern Heupferdchen hatten ihr Geigen eingestellt. Dem gelben Wundervogel jedoch paßte die Sache. In goldenen Wellenlinien streifte er den Rand der Vorgehölze ab, tauchte in den bleischweren Laubmassen unter und ließ von hier aus unentwegt seine Zauberflöte ertönen.

»Vogel Bülow! Vogel Bülow!«

Nur wenige Lebewesen hörten darauf, denn die Hitze war unerträglich geworden. Was auf den Feldern zu tun hatte, schaffte im Schweiß seines Angesichtes, mit gekrümmtem Rücken, ohne Gefühl für den freien Wildgesang und einzig von dem Wunsche beseelt, sich im wohltuenden Schatten strecken zu können.

Dem Freisassen hatte der lodernde Gischt gar nichts zu sagen. Bronzefarbenen Angesichtes, ohne von der brütenden Schwüle behelligt zu werden, schritt er durch die glutheißen Korngassen, ließ Grannen und Ähren durch seine Hände gleiten, prüfte die Härte des Korns und konnte sich nicht genug daran tun, immer zu sichten, zu sondern und die einzelnen Parzellen auf ihre Schnittreife anzusprechen.

Zwei geschlagene Stunden gebrauchte er, seinen Besitz zu umkreisen.

Endlich war er damit fertig geworden.

»Hövelkamp hat recht; in vierzehn Tagen kann's losgehen.«

Er sah schon den immensen Wald der Halme niedergleiten, ihn zu Feimen und Mieten gestapelt, die endlosen Fuhren nach dem Hof schwanken und die Röcke der Weiber beim Erntefest um die prallen Schenkel wirbeln. Ein Geruch nach Erde und frischem Brot zog ihm in die Nasenflügel hinein, machte ihn trunken, bestärkte ihn aufs neue in seinem Freisassentum, das ihm in unlautern Armen mehr oder weniger abhanden gekommen war – jetzt wieder der Genesene, der Mann der roten Erde, der seine Scholle und ihre Eigenart liebte wie der Eichenrecke den Waldessaum, um so freien Odem zu haben und die sparrigen Äste besser strecken zu können.

Gesättigt von Luft und Sonnenfeuer, zog er heimwärts, ohne wegmüde zu sein, sich sehnend nach einer sprudelnden Quelle. Dabei mußte er an Ohm Gideon denken, der jetzt durch kühle Alleen pilgerte, zwar noch immer humpelnd, aber doch wiederbelebt von der heilsamen Frische des Sankt Bonifaziusbrunnens . . . und er erinnerte sich mit einem gewissen Unbehagen, daß er dessen Briefe und Lamentationen unbeantwortet gelassen, um so mehr, als er auf seinem Zimmer wiederum ein versiegeltes Schreiben des biedern Paderborners vorfand, unverkennbar, dickleibig und mit der krakelfüßigen Adresse behaftet: »Herrn Bernd Travelmann, hochwohlgeboren, in Kraft eigener Machtbefugnis schild- und wappenlos, aber regierender Herr auf und zu Getter bei Hiltrup, im Regierungsbezirk Münster gelegen.«

Lachend erbrach er das Kuvert, machte sich's bequem und begann fröhlich zu lesen:

»Bernd, Freund, Mensch und Gesinnungsgenosse!

An der Quelle saß der Knabe . . . (Schiller), leider verursacht durch die Fahrt in den Trasimenischen See, denn sie war schuld daran. Also eigentlich Du, wenn's auch 'ne pläsierliche und köstliche Tour war. Bald ist Sankt Urbans Pein und Plage überwunden. Dann heißt es: Auf nach Valencia! ins gelobte Land der dicken Bohnen und Pumpernickel, wenn auch geschrieben steht: Westfalus est sine pi, sine pu, sine con, sine veri, was ich als guter Lateiner, Kadett und ehemaliger Schüler des Paulinums folgendermaßen übersetzen möchte:

Wer ein Westfale ist, hat keine Frömmigkeit intus,
Ebenso mangelt es ihm an Scham, Gewissen und Wahrheit.

Indessen, wer diesen westfälischen Spruch aufbrachte, verdient es, wie Knipperdölling geschunden oder nach frommer Sitte gewisser Nonnenklöster eingemauert zu werden. Ich würde selber Mörtel und Kelle zur Hand nehmen, um die Angelegenheit promptestens zu besorgen. Aber Spaß beiseite. Ich habe ein langes Promemoria niederzulegen, denn meine althergebrachte Devise, die ich vornehmlich in betracht der Briefe zur Anwendung bringe:

Meines Lebens ganze Würze:
Militärisch-stramme Kürze,

verfängt heute nicht, wird zu den Akten gelegt, hat Mauke und Steingallen. Mache Dich daher auf eine Unsumme von Erfahrungen, Vorstellungen, Fragen und Wünschen gefaßt. Eskadron – Te–r–a–a–ab! Schwadronsweise ziehen sie an Deinem Feldherrnauge vorüber, und wenn Du Kritik abhältst, gehe nicht ins Gericht mit dem armen Sünder und Büßer an den Wassern der Sankt Bonifaziusquelle in Salzschlirf. Wasser, immer nur Wasser! Prrr! Also zum ersten. Abgesehen von Deiner generösen Ader, die mich bis zum letzten Atemzuge verpflichtet und mir gestattete, den Wundersprudel aufzusuchen, bin ich Dir dankbar für Deinen, wenn auch nur kurzen Besuch zu Beginn meiner Leidensaffäre. Dann aber, ich schrieb – Du schwiegst. Ich schrieb zum andern – derselbe negative Erfolg. Nochmals tunkte ich die Feder ein, schwergelenkig und mit eingewickelten Knien – keine Sterbenssilbe. Na – und? wie soll ich das deuten? Herr Jeses! bin ich denn durch die Gunst eines Hausknechtes zu einer Stallschönheit ins Dasein gerufen und auf dem Mistus geboren? Ich denke nicht dran. Lieber färbe ich die Fingernägel mit Henna; gehöre auch nicht zu denen, die gleich zur Retraite blasen und sich in einen Schmollwinkel zurückziehen. Strecke vielmehr die Hand und sage: Er hat viel gelitten, und ihm muß viel vergeben werden, hoffe indessen zur heiligen Dreifaltigkeit, daß die Heimgesuchte bald in der Lage sein werde, abermals den Schmuck der Travelmänner anzulegen, um den an Geist und Seele Schwerblessierten wieder die Stirne zu heitern. Sakral! Sakral! Alles Wohlergehen für den Freisassenhof! und kannst Du mich dann in die Patenschaft aufnehmen, ich bin nicht abgeneigt, das schwere und verantwortungsreiche Amt mit Würde zu tragen. Zum zweiten. Jammer, Dein Name ist Gideon, Freiherr von und zu Hasenklever. Erbarme Dich meiner! Jetzt geht's ja wieder. Mein Bülow Krawallo sehnt sich nach Marschfreiheit. Ich dito desgleichen. Ich denke, so in vierzehn Tagen herum kann's losgehen. Aber was ich erduldet! An den Bächen Babylons saßen sie und weinten. Ich tat mehr, betrachtete meine dicken Zehen und sah: sie hatten weingrüne Gesichter und den Umfang von jungen Nilpferden. Das ging noch über den Schmerz der Hebräer, als sie ihre Klagelieder verfaßten, sich nach Schalet und Knoblauchsauce sehnten und Sions gedachten. Die Steinträger bei den Pyramiden hatten es besser als ich, bis der heilige Bonifazius zur Einsicht gelangte, die weingrünen Visagen scheuchte und die jungen Nilpferde wieder in menschenwürdige Fußanhängsel verwandelte. Jawoll, ja. Bis zu meinem Eintreffen auf Getter hat's indessen noch gute Weile. Gleich nach meiner Ankunft im Krummen Timpen zu Münster bin ich zum Grafen Westerholt und dem Edlen von und zu Schmising geladen, um mit meinen Abschätzungstabellen und Kenntnissen Sinn und Verstand in die etwas verluderte Holzungswirtschaft zu tragen. Dann aber, wenn die Hirsche begehren und, die Lichter am Boden, durch die Hohe Fuhr trollen . . . Bernd, Herzensjunge und Waffengefährte! – Doch später hierüber noch ein entsprechendes Wörtchen. Alles sachlich und der Reihenfolge gemäß. Zum dritten. Bei euch scheint manches verändert. Die Blume der Prärie, die Tochter Montezumas des Prächtigen, hat jetzt wohl ihren eigenen Wigwam bezogen? Gut so, gut so für vieles, denn bei Lichte besehen: diese edle Reineclaude, nein: Pflaume . . . diese Pflaume, so schön und lieblich sie auch anzusehen war, begnadet als Inhaberin der hesperidischen Äpfelchen, dürfte doch mehr oder weniger mit Wurmstich behaftet sein. Ebenso der Mann, der sie schüttelte und heimführte. Bernd, dieser Forstrat ist mir von jeher ein Dorn im Auge gewesen. Ich sprach es leider nicht öffentlich aus, allein ich dachte mir immer: der Kerl ist ein Flegel, ein Lümmel mit Eichenlaub und Schwertern am Ringe. Sapienti sat. Meine Akten über diese beiden niedlichen Pflanzen sind hiermit geschlossen. Aber nicht die über Emmerich Dinklage. Ich weiß, Du bist gegenteiliger Ansicht und singst mit Gitarrenbegleitung: Wenn der Topf aber nun ein Loch hat, lieber Heinrich, lieber Heinrich . . . und dennoch möchte ich Dich dringlich ersuchen: mache Deinen Frieden mit ihm und lasse Deine Sonne wieder scheinen über Gerechte und Ungerechte, denn seine Tage sind gezählt. Er rüstet zur Abfahrt, gesonnen, in die hellenischen und assyrischen Gräber und Grüfte zu steigen. Auch ein Fimmel, aber wer wäre von uns nicht mit einem solchen, wenn auch anders gearteten Fimmel behaftet? Beuge Dein Haupt, stolzer Niedersachse, und ziehe die Versöhnungshand aus der Paletottasche. Wer weiß, ob er aus seinem multrigen Wühlen heraus wieder die Heimat findet, und dann ist Holland in Nöten. Wenn die Hirsche schreien, läßt er die westfälische Metropole im Rücken . . . und damit bin ich auf das eigentliche Krachen meiner anzupräsentierenden Nuß geraten.

Bernd, wenn die Hirsche schreien . . .!

Dabei fällt mir Stienen ein, der bedeutsame Joseph Stienen, domiziliert im Lottergäßchen hinter dem Rathaus. Charles, zwei Lafitte, mild temperiert, für Herrn Travelmann, hochwohlgeboren. Großartiger Mann das, der subtilste Niederschlag aller Restaurateure im Bannkreise Münsters, Herr und Gebieter über die feinsten Phiolen, die verkörperte Straßburger Gänseleberpastete. O dieser Dalai-Lama im Reich gastronomischer Freuden, würdig und wert, von einem Petron besungen zu werden! und lebte der göttliche Trimalch noch heutigen Tages, dieser Schlemmermeister aller Zeiten und Völker hätte nur bei Joseph Stienen gewirkt, gegessen und sich die Nase begossen. Das kann ich so recht am hiesigen Bonifaziusbrunnen ermessen. Joseph Stienen und der sprudelnde Heilige – welche Kontraste! Bei jenem saftige Entrecôtes mit Sauce Bearnaise, an der hiesigen Tafel lediglich ein Herz Jesu-Süppchen, worin Lazarettpflaumen gondeln. Drüben die hohe Jagd auf die Gewächse von Garonne und Dordogne, hier nur ein Bauerntreiben auf harnsaure Salze. C'est tout. Gewißlich: Bonifazius ist gar nicht so ohne, aber Joseph Stienen ist dreitausendmal besser, und diesem Heros bin ich bis in die Stiefelschäfte hinein verpflichtet. Kurz, ich habe dem Gentleman die Trophäe von 'nem Sechzehnender versprochen, und wo diese zu finden ist, ist Deiner Noblesse anheimgegeben. Also, mein Junge, wenn die Hirsche suhlen und röhren, dann bist Du so freundlich. Ich kann unsern Freund doch nicht in der Ungelegenheit lassen, kann doch nicht wortbrüchig werden. Er hat so'ne feine Stelle über der Anrichte, und singen und sagen wird er: Nur 'rein in die Gute Stube! wenn ich vor ihn trete und ihm die kapitalen Stangen behändige. Weiter kein Wort. Er wird es zu danken wissen. Wenigstens fünfzehn mild temperierte Bouteillen werden Hals geben müssen, uns beiden zum Wohlsein. Das Sonstige gar nicht gerechnet. Ich harre der Dinge und Deiner freundwilligen Antwort. Die Kugel ist schon gegossen, die den Waldkönig umlegt. A rivederci, und grüße die Deinen. Ich persönlich verharre unter dem Devotionsstrich als Dein getreuer und nie erkaltender

Gideon Hasenklever,
zurzeit noch in Salzschlirf und an den Quellen des heiligen Bonifazius büßend. Amen.«

Bernd sprang auf und legte die einzelnen Blätter zusammen.

»Bravo! dieser getrommelte Unsinn. Aber dem Mann kann geholfen werden. Die Trophäe soll er haben, heißt das, wenn der Kapitale die Liebenswürdigkeit hat, sich vor Ohm Gideons Büchse zu stellen. Weidmannsheil! ich gönn's ihm. Aber das mit Emmerich . . .«

Er trat ans Fenster und sah in den Abend hinaus.

Das Tagesgestirn glutete wie eine rote Kugel am tiefen Horizont. Langsam versank es in das endlose Meer der eben aufblühenden Heide.

* * *

Die Hitze nahm zu. Der lechzende Boden bekam klaffende Rillen und Spalten. Kesselblanke Wolkengebirge tauchten im Westen auf und verloren sich wieder. Unermüdlich brodelte das heiße Licht wie aus einem glühenden Ofen hernieder. Die von der Getter waren in voller Ernte begriffen. Vom frühen Morgen bis spät in den Abend hinein sangen die sichelförmigen Schneiden, glitten über den Boden, um sich immer gieriger in die gelbe See der unbeweglichen Ähren hineinzufressen.

Gegen alle Satzung begannen jetzt schon die Wälder, die die weite Feldmark umgrenzten, zu falben. Strichweise glänzte es rot zwischen den Ästen. Das versengende Feuer lag schwül auf den Baumkronen.

Kein Rascheln und Raunen, keine Brise lispelte über die durstige Erde. Regungslos, wie Grenadiere in Paradestellung, erhoben sich die Chausseepappeln in das eherne Firmament; keine Faser zuckte an ihnen, kein Blättchen wagte es, dem andern ein Wörtchen ins Ohr zu flüstern.

Das Heer der Schnitter und Binderinnen bewegte sich in einem halbkreisförmigen Bogen vom Herrenhaus gegen das dunkle Band der Hallüh. Schon seit etlichen Tagen war es im Anmarsch, unermüdlich, mit dem unaufhaltsamen Vordringen einer gleitenden, wispernden Schlange. Hinter ihm blieben die Stoppeln zurück, würgten die Strohbänder, reihten sich Garben an Garben, taumelten die schwerbefrachteten Leiterwagen auf den knochenharten Kommunalwegen den Scheunen und Schobern zu. Vor ihm brannte die See des noch umzulegenden Getreides, lichterloh, in die Augen stechend, als erhöbe sich auf jeder Granne ein heißes, sprühendes Kerzchen. Millionen und aber Millionen von weißen Flämmchen!

Acht Tage vergingen.

Der Waldrand der Hallüh rückte näher.

Schon konnte man sein schwermütiges Säuseln vernehmen.

Noch immer brütete die Schwüle zwischen den Korngassen, auf Wegen und Rainen.

Heute besonders.

Kurzgedrungen, wie mit der Schere aus einem violblauen Papierbogen geschnitten, liefen die Schatten neben den sensenden Männern.

Ihre Schläfen hämmerten, ihr Blut kochte, aber breitspurig, ohne inne zu halten, zogen sie ihre rhythmischen Bahnen.

Der Gutsherr selber tat es allen voran.

Bernd Travelmann war unter die Knechte und Weiber gegangen.

Die Luft dunstete nach ihnen.

Wie ein Stier im Joch und doch der Befehlende von altem Schlag und Lot, der seine überschüssige Kraft in Tätigkeit umsetzte, hantierte er auf dem äußersten rechten Flügel, sein eigener Anwalt und der erste Diener seines weitverzweigten Anwesens. Den Leinwandkittel abgelegt, mit offenem Hemd und schweißbeperlter Brust, schaffte er als der Geringsten einer, dengelte er, ließ er mit weitausholenden Armen die mondförmige Sichel durch das Ährenfeld rauschen, alle aneifernd, alle mit sich fortreißend, so daß Hövelkamp, der die Mitte des Halbbogens führte, öfters den Kopf nach dem rechten Flügel drehte, um sich an der herben Arbeitsfreudigkeit seines Herrn zu erbauen.

Wo waren da Wappen und Schild geblieben? Wo der Glanz und die Pracht des Travelmannschen Hauses, wenn bei frohen Gelegenheiten die Hirschgeweihkrone die weißgespreitete Tafel umglänzte, die Kristallgläser gleich böhmischen Granaten aufleuchteten und helles Gelächter die weite Diele erfüllte? Nichts mehr von allem. Nur schlichte Einfalt, die Umwertung des Festlichen in das Werktätige, die ungebändigte Kraft eines freien Westfalen, der nichts anders sein wollte als ein bodenständiger Bauer, ein Könner und Zupacker, verwachsen mit der eigenen Scholle, sich in den Hüften wiegend und dampfend, horchend auf den Zisch des scharfen Messers wie auf den fernen Ruf einer großen Offenbarung. Die Herrenfaust wirkte vorbildlich, büschelte eine elektrische Macht aus. Alle Fäuste taten's ihr nach. Selbst die Halme hatten ihre Freude daran, legten sich singend nieder, breit und körnerschwer, durchstickt von rotem Mohn und den violetten Näpfen der Kornraden.

Hövelkamp machte eine Pause, um sich besser strecken zu können, rückte den Strohhut in den Nacken und wischte den Schweiß von der Stirne.

»Christus!« sagte er froh vor sich hin. »Der kann immer noch werden. Dat Nigge klingelt, dat Olle rappelt. Immer man weiter geklingelt. Es wäre ein Segen und ein Geschenk des Herrn. De Hiärgott hiät de Welt in seß Dagen makt. Der schafft sie in dreien. Sanktus, sanktus!«

Dann mähte er weiter.

So ging es auch an den folgenden Tagen.

Bernd Travelmann immer voran.

Am letzten der Woche, gegen Vesperzeit zu, als bereits der heiße Dunst die Fernen umhüllte, hatte man sich nahezu bis an das Vorgehölz der Hallüh herangesenst. Ringsumher eine einzige Öde, ein gähnendes Nichts, Stoppelfelder an Stoppelfelder, hier und da die Kegel aufgerichteter Garben, die aber immer weniger wurden und langsam abwanderten.

Nur noch wenige Weizenparzellen harrten des Schnittes.

Von Hiltrup ertönte die Glocke, die Rast und Verschnaufen ansagte.

Mäher und Binderinnen ließen ihre Arbeit ruhen und suchten ein Plätzchen auf, wo sie sich vor den flimmernden Wellen zu schützen vermochten.

Totmüde sanken sie nieder, sich des Abends freuend, den sie mit heißen Sinnen herbeisehnten.

Bis dahin konnte noch das Letzte eingebracht werden.

Auch Bernd hatte sich abseits gelagert, am Waldsaum, in einer bequemen Mulde, überschattet von dem Nadelschirm einer alten Kiefer, deren Stamm sich gleich einer mächtigen Porphyrsäule emporsteilte.

Drüben am Hasenfang duckte sich ein niedriges Häuschen mit grüngestrichenen Läden zwischen Feuerbohnen und etlichen Obstbäumen. Über dem roten Ziegeldach stand ein blaues Wölkchen, das sich allmählich zerzwirnte.

Bernd verfolgte es mit blinzelnden Augen.

Seine Brust hob und senkte sich unter langen und behaglichen Atemzügen.

Die kochenden Tropfen der Erschöpfung sickerten ihm am Leibe herunter.

Die Ausspannung tat ihm wohl. Wandelbilder zogen an seinen geistigen Blicken vorüber. Immer neue kamen, wechselten wie die bunten Steinchen und Splitterchen in einem Kaleidoskop. Halb auf der Seite liegend, sah er in die ausgestorbene Landschaft, in der alles so müde war wie auf einem Gottesacker. Nur das kaum hörbare Harfen der benachbarten Hallüh und Hohen Fuhr unterbrach die unendliche Weltvergessenheit.

Über ihm zerging das eherne Blau und nahm einen resedafarbenen Ton an. Ein kühleres Lüftchen wehte herauf, obgleich der Himmel noch sengte und siedete und die halbvertrockneten Gräser kaum zu atmen wagten.

Mit gesenkten Wimpern, die nur einen schmalen Spalt der Augen frei ließen, sah er alles durch ein Gitterwerk: die madengelbe Chaussee, die sich mit ihren verstaubten Apfelbäumchen müde nach Hiltrup schleppte, die geschorenen Äcker, das abseits gelegene Häuschen, in dessen Krautgarten ein helles Kleid auftauchte, das sich unvermittelt weiter bewegte. Ihm war so, als käme es näher, als verschwände es in der nahen Fichtenschonung, um plötzlich wieder in die Erscheinung zu treten.

Er war zu abgespannt, sich vom Boden zu heben, zu lethargisch, die Glieder zu regen. Die Lider senkten sich langsam, und hinter den geschlossenen begann es zu dämmern, zu träumen und allmählich zu dunkeln. Ein verhaltenes Lustgefühl erregte die verstörten Sinne. Er sehnte sich nach der Nähe des Weibes, nach seiner Umarmung. Das weltferne Harfen und Säuseln verstärkte sich. Er wähnte den scheuen Laut von ängstlichen Schritten zu hören, das kaum wahrnehmbare Rascheln eines Kleides, das Pochen eines verschüchterten Herzens.

Ein dunkler Strom glitt über ihn fort.

Wie lange schon ruhte er so?

Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben.

Wie spät war es?

Er wußte es nicht.

Alles schlief um ihn: die Föhren, ihre Nadeln, Himmel und Erde.

Nur eines wußte er. Etwas Ungewöhnliches nahte sich ihm, irgendetwas, das ihn bis in die letzten Fibern erregte.

Er vernahm ein Seufzen dicht neben sich, ein unterdrücktes Atmen.

Aus seiner Traumwelt heraus, ohne fähig zu sein, Geist und Gedanken zu ordnen, fragte er stammelnd: »Woher kommst du?«

»Von dorther, wo ich mich unglücklich fühle.«

»Wer bist du?«

»Eine, die du kennst.«

»Was willst du?«

Keine Antwort erfolgte.

Nur das Weib war bei ihm, eigens geschaffen, ihn noch mehr zu betören.

Die tiefe Erschlaffung, die ihn mit dunklen Schwingen umwuchtelte, verstattete ihm nicht die geringste Bewegung.

Er lag wie gebahrt, von einem schwülen Weihrauch umnebelt. Und dennoch: mechanisch drängte sich wieder ein Spalt zwischen die Wimpern.

Ein geschmeidiger Frauenkörper beugte sich nieder, im Schmuck blauschwarzer Flechten, das dünne Kattunleibchen halb geöffnet, sich wie auf ein stummes Geheiß weiter erschließend. Er glaubte ein Wunder zu sehen, und er kannte das Wunder. Es kam ihm zuerst, als das spärliche Licht in der verbotenen Kammer dem Erlöschen nahe war. Willenlos, ohne sich dem herrischen Zwang entziehen zu können, tauchte er in eine purpurblaue Tiefe, die weder Anfang noch Ende hatte. In dieser Purpurbläue standen zwei zierliche Kuppeln, hart und mit dem blonden Hauch reifer Weizenähren umgeben. Er sah sich trunken daran, ohne die Kraft zu haben, die Arme zu strecken.

Ein gieriger Mund preßte sich fest auf den seinen.

In der Luft war ein Klirren und Klingen, tönte die Zauberflöte des gelben Wundervogels.

Aufs neue vernahm er das Näseln der Sensen, das Holpern von abfahrenden Leiterwagen. Dann nichts mehr.

Als er erwachte, stand der Westen in seiner letzten Glorie.

Von Hiltrup rief ein Glöckchen herüber.

Die geschorenen Äcker waren ohne Leben und Arbeit. Zwischen den Feuerbohnen jedoch schien wieder etwas Helles zu glänzen.

Bei seinem Erheben sah er neben einem Sträußchen von blauen Kornblumen ein gefaltetes Zettelchen liegen.

Er nahm beides und las . . . und wiederum sehnte er sich nach der Nähe des Weibes und seiner Umarmung.

Das Sträußchen und den Fetzen Papier steckte er zu sich.

Ohne sich weiter umzusehen, betäubt und von einem sündigen Verlangen durchschauert, trat er den Heimgang an.

Die Betäubung verlor sich, aber das sündige Verlangen nahm er mit in die kommenden Tage.

Seine Nächte waren meist schlaflos, und in einer solchen Nacht glaubte er einen matten Schuß fallen zu hören.

Er kam aus der Richtung des Hasenfanges.

Es war um die Zeit, als der Hafer geschlagen wurde.

Vierzehn Tage später erhob sich im Königlichen ein dumpfes Schreien und Röhren.

Da schrieb er an Ohm Gideon: »Paderborner, die Hirsche orgeln. Mache dich fertig! Ich erwarte dich baldigst. Weidmannsheil und ein fröhliches Weidwerk!«

 


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