Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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1

Ich will sachlich berichten . . . so wie es anhub und sich fortspann, um dann mit einem wehen Laut und doch mit einem Klang der Freude darin in der münsterischen Heide zu verzittern.

Ich sah diese Heide als Kind, ich sah sie später, als ich in die Jahre gekommen, und sah sie, als Deutschland seine tiefste Schmach und Schande erlebte und nahe daran war, an Gottes Einsicht und Barmherzigkeit zu zweifeln und sein eigenes Geschick zu verfluchen. Aber immer, wenn ich sie sah, gleichviel, ob sie blühte oder sich bräunte, gleichviel, ob Schatten über sie hingingen oder in stillen Sommernächten ein Gewirr von goldenen Bienenschwärmen über sie fortzog – ich entwirrte Rätsel bei Rätsel und Wunder bei Wunder . . . und gewahrte einen stolzen Freisassenhof, von einem stillen Wasser und alten Buchenständen umgeben . . . und hörte die gütigen und anheimelnden Worte: »Ick gröte Ju, leiwe Mann!« . . . und sah die ›Blassen‹ im Lande . . . und sah am Helweg die Bläulinge fliegen. Und wenn sie über Porst und Erika hingaukelten, dann war es mir so, als wären es die blauen und gespensterhaften Augen der Annette von Droste-Hülshoff gewesen, der stillen Annette, die auch zu den ›Blassen‹ gehörte und Gesichte hatte, wie sie die anderen Menschen nicht hatten, und einsam ihres Weges ging, um tiefe und eigenartige Gedanken und Bilder zu finden.

O, diese münsterländische und endlose Heide!

Von ihr und dem stolzen Freisassenhof mit dem verschwiegenen Wasser, von den frohen und traurigen Begebnissen, die sich mit diesem Anwesen verknüpften, von einer bitteren Dornenkrone und dem Klingeln einer übermütigen Schellenkappe will ich erzählen, in meiner Art und Weise und mit dem Gehaben eines kundigen Sinnierers. So hört denn!

* * *

Es war um die Mitte der sechziger Jahre.

Die Heide hatte längst ihren Blütenschmuck verloren, und was droben gejubelt: die Kirchenmusik der Lerchen war vom Himmel genommen. Dafür lärmten die Häher um so emsiger, und der Wald stand wie ein einsamer König, wie ein König im Purpur.

Ein Schuß fiel.

Ein zweiter, ein dritter.

Dann wieder Stille.

Durch die massigen Baumkronen zwirnten pulverblaue Rauchwölkchen ihre zierlichen Netze, rieselten in feinen Spiralen hierhin und dorthin, um bald darauf in ein Nichts zu vergehen.

Der hohe Buchenforst schien zu brennen, so rot war er, so blutrünstig, so mit flammender Lohe gesprenkelt. Sein Feuermantel schob sich bis dicht an den stolzen Hof, an den alten Edelmannssitz, der seit Jahrhunderten den alten Travelmännern gehörte.

Haus Getter lag mit seinen gestaffelten Giebeln, seinen Bindern und Steingurten und vermoosten Ziegeldächern wie ein breites Untier am Boden, eigenwillig, quer- und sturköpfig, als sei es gewillt, seine Klauen noch weitere Jahrhunderte hindurch in die westfälische Erde zu schlagen und sich in dem tiefen Wasser zu spiegeln, das wie ein Zyklopenauge aufwärts glotzte und drei Seiten des weitläuftigen Gebäudes umgurgelte . . . und diesem Untier gebot Bernd Travelmann, der letzte seines Stammes, eine Kraftnatur, einer von denen, die das Fürchten nicht kannten und denen die nachthungrigen Weiber aus den Händen fraßen wie gierige Hühner.

Haus Getter – ein Edelmannssitz und dennoch ein Freisassenhof! Und das war also gekommen.

Anno Domini 1557.

Um diese Zeit hatte der päpstliche Stuhl eine erledigte Dompräbende dem aus dem adeligen Erbmännergeschlecht herstammenden Dethmarus von Travelmann übertragen. Das Domkapitel selber tat Einspruch, weil es ihm eine der Vorbedingungen für den Eintritt in ihr Kollegium, die Ritterbürtigkeit, absprach. Dieser Entscheid funkte in die Erbmännerfamilien hinein wie eine Petarde. Der Abgewiesene nicht, aber die Droste und Bischkoping, die von der Tinnen und Clevorn betraten den Rechtsweg, um ihr angefochtenes Diplom aufs neue zu erkämpfen und verbriefen zu lassen. Nach langjährigen Verhandlungen, die 1557 und in den folgenden Jahren bei der Rota, dem päpstlichen Gerichtshof in Rom, 1647 bei den auf dem Friedenskongreß zu Münster anwesenden Reichsständen, später beim Reichskammergericht in Speyer geführt wurden, bestätigte Kaiser Leopold im Jahre des Herrn 1685 das Urteil des Reichskammergerichts, wonach die Geschlechter der Erbmänner ›rechten alten Adeligen und Ritterbürtigen Standes‹ erklärt und ›gleich anderen deß Stiftes Münster Rittermäßigen vom Adel zu halten seyn‹ . . . und trotzdem: die Herren des Domkapitels sperrten sich weiter, doch endlich, als zwölf Jahre später ein abermaliger Reichsschluß wiederum zugunsten der Erbmänner entschied und ihre volle Gleichberechtigung anerkannte, hatten sich auch die widerhaarigen Pfaffen zu fügen und ihren Nacken zu beugen. Sie taten's gequält und hohnlachenden Mundes.

Da aber – Wilderich Travelmann gehörte zu denen, die gern gewalttätig wurden . . . und war ein sehniger Mann, verwitterten Ansehens und mit scharfer Adlernase. Der nun – mit aufgestrammten Ärmeln, einen Bauernkittel um die harten Knochen geschlagen, die Hosen in den Stiefelschäften und die seidene Schirmmütze im Nacken, also ausstaffiert trat er in die Kapitelgemeinschaft und hielt den verdutzten Würdenträgern die Faust vor die Stirne.

»Oho! ihr Gaukler und Narren, ihr Fettlummen und Kanzelschreier, wie die räudigen Füchse gedachtet ihr uns aus unsern angestammten Gerechtsamen und Ehren zu schwefeln. Die Knochen hätte man euch brechen sollen im Leibe, euch Bettelvögten und Schmarotzern am Kadaver der alleinseligmachenden Kirche, und hätte ein löbliches Kammergericht mich zum Vollstrecker aufgerufen, ich hätte mich erbötig gezeigt und wäre euer Henker geworden.«

Eine grimmige Lache folgte.

»Ja, so wahr ich hier stehe – euer Henker und Peinmann, denn wir Travelmänner haben noch Humor und unsre besondern Launen, und weil wir sie haben, verkünde ich hiermit: Nicht, weil ihr es also gewollt, sondern aus freien Stücken heraus und weil es mir Spaß macht: ich schwefle mich selbst aus und verstänkere damit euern pfäffischen Hochmut! Holla, merkt auf und versteht den Witz von der Sache! Wappen und Schild werfe ich von mir, aber das sage ich euch« – und seine gestreckte Faust wurde wie Stein – »um so freier und stolzer schlägt das Edelmannsherz unter dem Bauern- und Freisassenkittel. Dies mein Gelöbnis, ihr Pfründenträger und Sudelköche, von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Amen!«

Die Faust sank herunter, die Faust, die wie ein unbarmherziger Wackerstein aussah. Wilderich Travelmann, der sich in Kraft eigener Machtbefugnis aus dem rittermäßigen Stand in den der Freisassen und geringen Leute versetzte, sah in kalkige Gesichter.

Dann wandte er sich und stülpte die Ärmel herunter.

Straffen Nackens verließ er das hohe Kapitel.

So geschehen 1709 und am Tage, da der Stern von Bethlehem begann über Münster zu scheinen.

Genau wie der Ahn, so der Nachfahr, der jetzt auf Getter regierte, wie ein Ritter im Sattel saß, um gleich darauf mit einem Doppelgespann den Acker zu brechen. Getreu dem Gelöbnis seines Altvordern, gefiel er sich im Bäuerlichen und war dennoch eine Herrennatur mit kindlichen Augen, den Weibern nicht abhold, wie alle Travelmänner, und genau wie sein Vater, den man in den besten Jahren, eines Liebeshandels wegen, neben der großen Mergelgrube gefunden, die Male der heiligen Feme am Leibe: ein blankes Messer, darauf die eingeritzten Buchstaben standen: »S. S. G. G.«, was andeuten sollte: Stein, Strick, Gras und Grein – die Zeichen eines nur noch schattenhaften Daseins aus verklungenen Tagen. So fanden sie ihn, hingewürgt von dem Rächer seiner gemordeten Ehre, aber ruhig und friedlich und noch ein Lächeln um die kantigen Mundecken.

Draufgänger waren die Travelmänner von jeher gewesen, und der tollste von ihnen: der letzte des Stammes, ein Mann wie geschaffen, Blöcke zu wälzen und eine Zinnassiette mit den Händen zusammenzurollen; wenn's not tat, die Pflugschar ins Erdreich stoßend, ein Knecht unter Knechten, nach alter Sitte und der Satzung gemäß mit der betagten Mutter und seinem jungen Weibe die Tafel des Gesindes teilend, Schulter an Schulter mit Kostgängern und Mägden, gefügig wie ein Stier im Joch, um dann wieder, wenn die Wälder zu flammen begannen und die Heide sich bräunte, das Edelmannsblut herauszukehren, den Kavalier zu spielen und in seinen reichen Feld- und Holzbeständen das Horn klingen und die Büchse knallen zu lassen. Horrido und kein Ende!

Und so auch heute.

Über die münsterische Heide . . . ab und zu rief ein Schuß aus weiter und verlorener Ferne herüber.

Ein Sterben und Falben, und doch war der Spätherbst voll silberigen Lichtes, ein Blinkfeuer, das keine Wärme mehr hatte und sich anließ wie das Lächeln der Beschläge auf einem Sargdeckel. Und dieses silberige Licht fiel durch niedrige Fenster in die mächtige Diele des Freisassenhofes, um die sich die übrigen Räume des weitverzweigten Hauses gruppierten.

An der einen Schmalseite knisterte ein lohes Kaminfeuer, eine hohe Kastenuhr tat ihren ebenmäßigen Gang, während von links aus der Tiefe das mahlende Wiederkäuen der Rinder und das einschläfernde Klirren der Halfterketten herübertönten.

Unter den tiefhängenden Balken war geweihte und heilige Erde. Hier wurden Knechte und Mägde in Verpflichtung genommen, die Ringe gewechselt, die Toten gebahrt und die Feste des Jahres in gemeinsamer Feier begangen, und was die Hauptsache war: die alte Überlieferung brachte Freisassenleute und Dienerschaft an die nämliche Schüssel, ohne Ansehen der Person, ohne Nebengedanken und von dem Grundsatz beseelt: den dreschenden Ochsen soll man ehren und ihm das Maul nicht verbinden, auf daß Werktätigkeit atme und ein fröhliches Hantieren die Scheunen fülle und die Wohlfahrt des Hauses mehre. Nur an Sonn- und Feiertagen und bei opulenten Gelegenheiten wurden für die Herrschaft und Gesinde gesonderte Tische in gesonderten Räumen hergerichtet. Sonst niemals. Gemeinsames Brot, gemeinsame Tafel. So und nicht anders, und das blieb Gesetz bis zur heutigen Stunde . . . und da Mittagszeit war, saßen zwanzig bis fünfundzwanzig Leute in langen Reihen sich schräg gegenüber, still und sittsam und übersponnen von dem kühlen Herbstlicht.

Eine Viertelstunde später legten sie Gabel und Messer beiseite.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.«

Eine laute und wohlklingende Stimme hatte gesprochen, und siehe: eine hagere Frau, die in die siebzig hineinging, ganz in Schwarz gekleidet und ein enganschließendes Samthäubchen auf den eisgrauen Haaren, erhob sich an der Kopfseite des Tisches, bolzengerade, mit hartem Gesicht und stahlgrauen Augen.

Gleichzeitig griff sie nach dem schweren Krückstock, der an ihrem Polsterstuhl lehnte.

Darauf stützte sie sich, um dabei noch größer und ranker zu werden.

So stand sie, Ehrfurcht gebietend.

Judith Travelmann war wie aus einer Legende oder aus einem alten Heldenliede genommen.

So scharf ihre Züge auch schienen, so sehr sie auch an starres Metall erinnerten und ihre gesunden Zähne an die eines Raubtieres gemahnten, ihre Blicke waren voller Güte und Warmherzigkeit, wenn sie auch aufbegehren konnten wie die angestauten Wasser in einem Schleusenwehr . . . und diese Blicke gingen über den Tisch fort, von einem zum andern, und dabei sagte sie nochmals: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Gesegnete Mahlzeit! und nun« – und sie wandte sich an einen vierschrötigen Mann, dessen Haare aussahen, als wären sie durch lehmiges Wasser gezogen, und meinte in ihrer ernsten und bedachtsamen Weise: »Jans Schwarte, der Herr ist zur Jagd, und ich habe zu fragen: Was ist deine Arbeit für die Nachmittagsstunden?«

»Die Blässe ruft nach dem Bullen,« versetzte er ruhig.

»Dann führe sie hin, gib aber Obacht, daß sie ihn ordentlich annimmt, sonst ist das Sprunggeld für gar nichts gewesen. Vergeudete Kraft ist ein Greuel vor dem Schöpfer.«

»Wollen's besorgen, Madam.«

»Merci, und du?« und ihre Augen blieben an einem haften, der unmittelbar neben dem Vierschrötigen saß und just dabei war, sein dürftiges Lippenbärtchen in die Höhe zu zwirbeln. Seine Haut war wie brüchiges Leder, und sein Gesicht erinnerte an das einer Kuhantilope. »Und du, was ist deine Arbeit für heute?«

»Ich habe mit den Mägden die letzten Kartoffeln zu mieten.«

»Tu's und halte deinen Heiland vor Augen! Sieh auf die Kartoffeln und nicht auf die Mägde!«

Ihr Stock klirrte auf den Estrich.

»So lebst du im Herrn,« fuhr sie unbeirrt fort, »und bist nicht durch Sünde gegangen.«

Am unteren Tisch verfärbte sich eins der Weibsbilder, ein blutjunges Ding mit brandroten Haaren.

Ein bedrückendes Schweigen machte sich geltend.

Da warf die Alte den Kopf herum, sah den Oberknecht an und fragte: »Hövelkamp, und wie habt Ihr disponiert?«

»Fünf Gespanne haben die Stoppeln zu brechen. Zwei an der Mergelgrube und drei bei der oberen Wegscheid. Es können auch sechs werden, wenn's not tut. Immer schlankweg und mit allen Schikanen. Vor Abend haben die Schollen zu liegen. Der Herr hat's befohlen.«

»Gott helf' Euch, und jetzt an die Arbeit!«

Da streckten sich alle, rückten die Binsenstühle zurecht und verließen die Diele.

Unmerklich hatte sich neben der Alten eine hohe Frauengestalt erhoben, die bisher den weisen Lehren und Ermahnungen lächelnden Mundes gefolgt war. Als hätte sich alles Licht der Mittagsstunde auf ihrem Scheitel gesammelt, so eigenartig rieselte es ihr über Schultern und Arme. Unter ihren Brauen stand eine brennende Marter, die trotz ihres Lächelns nicht zum Schwinden gelangte. Ihr Schattenriß war von einer Ebenmäßigkeit, wie nicht mehr zu finden . . . und trotz dieser brennenden Marter – schön war die Hausfrau des Herrn von der Getter, schön wie ein Sommertag und anbetenswert in ihrer kirchenstillen Ruhe und Würde. Den jungen Leib und die weizenblonde Flechtenkrone trug sie wie ein Geschenk des Herrn, bescheiden und in fraulicher Reinheit.

Sie wandte sich zum Gehen.

Da wurde ihr Name gerufen.

»Hille!«

Die Alte nickte ihr zu. Ihre Linke tastete nach der Hand ihrer Schwiegertochter.

»Hille, ich möchte dich sprechen; im Herrenzimmer, wenn es dir recht ist.«

»Und wann befiehlst du, Mutter?«

»Befehlen? Ich habe nichts zu befehlen. Nur, ich trage Sorge um dich und möchte diese Sorge gern fortgewischt haben.«

»Aber Mutter . . .

»Ja, Hille, so ist es, wenn du auch lächelst und diese meine Sorge als Laune ansprechen möchtest; es ist nur um deinetwillen, daß ich so rede.«

Ihr Atem ging schwer. Sie gab die Hand des jungen Weibes frei, stützte sich auf die elfenbeinerne Krücke und reckte sich wieder. Ihre weiten Augen leuchteten wie Mondsteine.

»Hille, und nochmals gesagt: Nein du, ich habe dir nichts zu befehlen. Wie sollte ich auch? Das ist niemals bei mir Mode gewesen; denn eine geborene Darfeld kann lassen und tun, was sie will. Sie ist Herrin auf Getter, obgleich ich, die alte Travelmännin, noch lebe und noch lange zu leben gedenke. Und wenn ich auch zeitweilig unter Knechten und Mägden regiere, dieses und jenes betreibe und hinter den Säumigen her bin, so geschieht es nur deshalb, um dir das Dasein erträglicher und leichter zu machen. Erst allmählich kann man sich in das Schaffen und Wirken dieses Hofes hineinfinden. Hier fallen gröbere Späne als auf einem Edelsitz. Alles will seine Zeit haben. Das soll hiermit gesagt sein.«

»Ich danke dir, Mutter.«

»Keine Veranlassung, Hille. Aber ich möchte dich bitten. Ich habe so meine wehen Gedanken. Früher . . . ich habe sie schon einmal durchkostet. Dann gingen sie von mir, um irgendwo im Moor zu verquiemen. Aber wie lange? Geschrieben steht: Gestorben, begraben, abgestiegen zur Hölle, am dritten Tage jedoch wieder auferstanden von den Toten. Die alte Geschichte. Was tot war, kann sich aufs neue beleben. Man braucht nur die Grasnarbe abzustreifen. So auch das, was mich ängstigt. Seit gestern ist es wiedergekommen, hat sich an mich geworfen wie gierige Schmeißfliegen und will mir meine Ruhe nicht lassen.«

»Was hast du denn, Mutter?«

»Was ich habe? Ganz einfach: den sehnlichen Wunsch, Klarheit zu schaffen und den unheimlichen Vorstellungen das Genick abzudrehen. Je eher, je besser. Also bis gleich denn. Zuvor jedoch: ich habe noch mit der da zu reden.«

Sie sah über die Schulter und hob ihren Krückstock.

In der halbgeöffneten Dielentür, die geradeswegs in den Hof hinausführte, stand eine ranke Dirn in der ersten Herbe des Frühlings. Die Rechte hielt noch die Klinke umgriffen. Das Gesicht war kantig, unregelmäßig, wie mit einem harten Meißel gebildet, erschien aber trotzdem unter dem Zauber einer wilden und erregenden Schönheit. In schweren Zöpfen lag das blauschwarze Haar um die wächsernen Schläfen. Sie trug städtische Kleidung, nur war diese Kleidung fadenscheinig und splissig geworden, ließ aber das Geheimnis ihrer straffen Brust und die Linien ihres wohlgebildeten Leibes sattsam erkennen.

Die aufgerissenen Blicke kamen der Greisin flackernd entgegen. Sie waren wie unruhige Kerzen in einer Sterbekapelle.

Hille achtete nicht darauf.

»Mutter, nun kann ich wohl gehen?«

»Tu' das, mein Kind, und erwarte mich später!« und als Hille Travelmann die Diele verlassen hatte, gebot Judith der Fremden: »Tritt näher, Johanna!«

Langsam kam die Angerufene heran, langsam und mit zögernden Schritten.

Dicht vor der Alten hielt sie den Fuß an.

Zwei Sekunden hindurch stand Auge in Auge, nur zwei Sekunden hindurch, aber so, als wenn der eine Blick den andern ausforschen wollte. Und sie sahen sich wechselseitig bis in die innerste Seele.

»Ich ließ dich rufen, Johanna.«

»Das weiß ich. Drum bin ich gekommen.«

Der harte Glanz ihrer tiefblauen Augen wurde metallisch.

»Warum ich dich rufen ließ, wird dir gesagt sein?«

»Nein, mir wurde gar nichts gesagt.«

»Dann sollst du es hören. Knechte und Mägde sind vollauf beschäftigt, und wir können Hände gebrauchen. Helfen sollst du nachher, wenn die Herren vom Jagen zurück sind. Ich werde dir Dank wissen.«

Die Fremde schwieg. Die Blicke umschleierten sich, und ihre schmalen Finger flochten sich krampfhaft zusammen. Um ihre blaßroten Mundecken spielten unwirsche, fast höhnische Fältchen.

»Gib Antwort, Johanna, oder kannst du die Worte nicht finden?«

Die Angeredete lächelte mühsam.

»Warum sollte ich die Worte nicht finden?« fragte sie bitter. »Um solche bin ich niemals verlegen gewesen.«

»So sprich auch und lasse alle Redensarten beiseite. Auf Getter wird nicht lange verhandelt. Also willst du kommen und beim Schüsseltreiben die Herren bedienen, oder ziehst du es vor, auf deinem verwahrlosten Kotten zu bleiben?«

»Das letztere nicht; ich muß schon das erstere wählen.«

»Du mußt schon? Keiner muß müssen. Jeder hat Anwartschaft auf seine persönliche Freiheit. Daran hat keiner zu rütteln. Auch ich nicht. Jedem das Seine. Das ist preußisches Recht und westfälische Satzung, oder aber« – und sie musterte das hochgewachsene Mädchen mit erstaunten und fragenden Blicken – »soll das etwa heißen, Johanna . . .

»Ja, das soll heißen . . .«

Durch die herbe Gestalt lief ein Zittern und Aufbegehren. Das Antlitz schien blutleer geworden. Ihre Brust hob und senkte sich stürmisch.

»Sie müssen nämlich wissen, Frau Travelmann, ich wurde bei den Ursulinerinnen in Dorsten erzogen, und da sollte ich denken . . .«

Eine unwillige Geste.

»Ich weiß, ich weiß! Du bringst mir nichts Neues. Also im Klosterfrieden der ehrsamen Nönnchen erzogen? Auch eine Wohltat, aber nicht jedermanns Sache. Und wie lange, Johanna?«

»Zwei Jahre bin ich in Dorsten gewesen.«

»Und wann hast du retour gemacht?«

»So um Pfingsten herum.«

»Und hast alles zu Hause beim alten gefunden?«

Verlegen senkten sich die langen Wimpern herunter.

»Nein, Frau Travelmann, es hat sich vieles geändert.«

»Gut, lassen wir das, aber ich sage dir hiermit« – und der Krückstock stieß etliche Male auf den hallenden Estrich – »es wäre besser gewesen, du wärest nicht nach Dorsten gegangen.«

»Frau Travelmann . . .

»Ja du – es wäre besser gewesen, denn seit dem Tage hat alles bei euch den Krebsgang genommen. Was ist aus deinem Vater geworden, aus seinen Äckern und Hutungen? Solch prächtige Parzellen waren kaum bei einem Heidegänger zu finden, so mastig und fett waren sie und wohlgeeignet, ihren Mann doppelt und dreifach zu ernähren. Aber was tat der Besitzer? Frage im Krug an. Dicht an den Herrgott sine Kerke hett de Düwel sin Kapellken gebaut, wo se mit gläsernen Klocken lüet. Da sitzt er beim Schnaps und kartelt, bis der Morgenwind die rußige Lampe auspustet.«

»Na – so was!«

»Ja du – oder er hockt in den Bülten auf Anstand, um einen Travelmannschen Rehbock niederzuknallen; aber Hand an den Pflug zu legen und vor Tau und Tag Furche bei Furche zu ziehen, das gibt's nicht. Nicht rühr' an die Sache, und so was will leben, und so was will den ehrlichen Namen ›Zinsbauer‹ führen?«

»Frau Travelmann, er ist immer mein Vater.«

»Schweige, Johanna! Kindeslieb ist gut, aber Affenliebe ist von jeher vom Übel gewesen. Es bleibt dabei: der Mensch ist reif, koppheister zu gehen. Das kann alle Tage passieren. Er sät nicht und erntet nicht und begnügt sich damit, andermanns Fische aus den Reusen zu mausen und andermanns Wild auf die Decke zu legen. Noch neulich . . . das mit dem Revierförster . . . mit Fritz Garke aus Hiltrup . . . Und wäre mein Sohn nicht dazwischen geraten und hätte nicht Gnade vor Recht ergehen lassen – dein Vater säße hinter eisernen Traillen. Ja du – hätte deine verstorbene Mutter nicht wie 'ne Turteltaube gegurrt, wärest du nicht nach Dorsten gegangen, er wäre ein ehrlicher Zinsbauer und Kötter geblieben, frei und nicht mit Schulden belastet. So aber: der Jude gerbt ihm das Leder, und der Fusel treibt ihm den Verstand aus dem Hirnkasten, und jetzt, wo ich die Hand strecken will, um wenigstens dich aus dem Elend zu ziehen, aus dem Gröbsten herauszubringen, da kommst du und sagst mir: Ich bin bei den Ursulinerinnen gewesen, habe das Meine gelernt, und es wäre bitter für mich, andermanns Brot zu essen und meine Schuhe unter andermanns Tischzeug zu stellen. Ja oder nein – das wolltest du sagen.«

»Ja, Frau Travelmann, das wollte ich sagen.«

Unter den Wimpern der Ärmsten blitzte es auf. Aber nicht lange. Das Blitzen verlor sich, und ihre Stimme war fahrig geworden.

Die Alte zuckte erregt.

»Ja so!« sagte sie schartig, »du mit deinen verfluchten Klostergeschichten; aber denke daran: der Zinsbauer Barthlemes Altrogge kam auf die Rutschbahn und ist durch eigenes Verschulden zum Bettler geworden. Und du, seine Tochter . . .«

Drohend stand Judith Travelmann vor dem geängstigten Mädchen. Ihre schwarze Gestalt drängte sich an die Balkendecke heran.

Ein verhaltener Aufschrei.

»Ich will ja!«

Dann Totenstille. Schatten gingen über die Diele, und aus diesen Schatten heraus wuchs das Einsehen, ließ sich das dumpfe Muhen der Wiederkäuer und das sanfte Klingeln der Halfterketten vernehmen.

Die große Stille hielt an, und in dieser greifbaren Stille: die Alte trat näher.

Da plötzlich . . . sie legte den Krückstock beiseite und streckte die Hände, die schlanken Hände, die rein und weiß wie Hostien waren.

»Komm' her – du!«

Und diese Hände, sie packten zu und legten sich sorglich um zwei gerundete Schultern.

»Gut Ding, was sich ändert, und gut, daß es also gekommen; denn ich will nur dein Bestes.«

Judith beugte den geschmeidigen Körper Johannas langsam zurück und sah ihr tief in die Augen.

Fünfzehn Herzschläge vergingen.

Über ihre Züge lief ein feierliches Glänzen, und ihre Stimme wurde gütig und weich, als sie sagte: »Es ist ein wirres Leben auf Erden, nicht ernst und nicht weise; das wirrste aber hat sich an dich und deinen Kotten geworfen. Da möchte ich helfen. Deinem Vater nicht mehr. Der pulverte seinen ehrlichen Namen und alles, was sein war, mit Strunk und Stiel auseinander. Da müßte schon ein Apostel erscheinen oder sonst ein Gesalbter des Herrn; und Wunder sind heute so rar wie sittsame Mägdekammern. Aber dir möchte ich beistehen, dich aus der frierenden Einsamkeit holen, um dir etwas Wärme zu geben. Du mußt nämlich wissen: ich sah dich als Kind, als deine unselige Mutter noch lebte, dann später in der Kirche zu Hiltrup. Da trugst du das Kommunionskränzlein im Haar, zum erstenmal, und deine Augen waren niedergeschlagen. Das gefiel mir, Johanna. Hierauf sah ich dich noch dann und wann im Grasgarten. Dann nicht mehr. Es kam eine große Leere, und die Leute sagten, du wärest nach Dorsten gegangen. Das war übel getan und übel bewerkstelligt, denn was vom Bauern abstammt, gehört in die Wirtschaft und nicht in den Klosterfrieden der ehrsamen Nönnchen, zumal da deine mit Tod abgegangene Mutter ihr Bestes vertan hatte und der Vater bereits abfällig wurde. Du hättest das Malör aufhalten können. Daran ist nichts mehr zu ändern. Die Klosterfrauen in Ehren, und man kann dennoch der Meinung sein, daß im Weinberg des Herrn manch übles Gesäme wuchert. Das klingt widersinnig und ist trotzdem auf dem richtigen Acker der Erkenntnis gewachsen, denn geschrieben steht: Man soll kein Bauernkraut in städtische Krumen verpflanzen; da geilt es zu stark und gibt mißliche Triebe. Im übrigen: ich sehe« – und ihre Rechte glitt sacht und schmeichelnd über das schwarzblaue Haar der Verängstigten – »du bist schön geworden, Johanna. Aus der wilden Heidehummel wurde ein Falter. Ein Geschenk des Herrn, ein großes Geschenk, nur mußt du dich hüten, es auffällig zu tragen, es aller Welt wie auf 'ner Assiette zu zeigen und anzupräsentieren. Halte Gott vor Augen und bewahre deinen Leib wie ein Tafeltuch, von dem sie die geweihten Brote verteilen. So wird dir's an Segen nicht mangeln . . . Und wenn du dich anstellig zeigst: Haus Getter kann ein tüchtiges Frauenzimmer gebrauchen.«

Sie gab die Schultern frei und nahm wieder den Krückstock.

Ihr Antlitz war bleich geworden, hart und bleich und von einer gesättigten Ruhe.

»Du kannst jetzt gehen, und komme bald wieder! Also bis später, Johanna.«

Sie ließ die schweren Lider herunter.

Als sie die Augendeckel aufs neue emporhob, war sie allein auf der Diele.

Noch lange stand sie mit weiten Blicken in der silberigen Helle, geistesabwesend und dennoch sinnierend. Dann ging sie zur Küche, um für den heutigen Abend die nötigen Befehle zu geben.

Den Mägden gebot sie, die Tische zu richten, die Tafeltücher zu spreiten und frische Tannenzweige zwischen die Gedecke zu legen. Sie sprach langsam und eindringlich, begleitet von dem melancholischen ›Kri-Kri‹ eines geigenden Heimchens. Als sie damit fertig geworden, trat sie ins Freie, schritt über den Hof und stellte sich neben die breite Einfahrt hin, von wo aus der Blick ins Unermeßliche reichte. Heideland und Äcker.

Unbeweglich blieb sie hier stehen.

Auf den nahen Feldern ging die Arbeit über dampfende Schollen. Fünf Gespanne waren dort in voller Tätigkeit. Sonst ringsum Mittagsstille.

Darüber hinaus lag Münster, die Wiedertäuferstadt, die lindenumsäumte, die Stadt mit dem sonoren Glockengeläut – im feinmaschigen Dunst, wie in einem blauen Duft von Weihrauch und Myrrhen. Einzelne Türme waren deutlich erkennbar. So die prächtige Krone des heiligen Ludger und der Helm von Lamberti.

Und weiter zur Linken . . .

Wieder begann es zu knallen, fielen vereinzelte Schüsse. Ein Hornruf dazwischen.

»Haha!« sagte die Alte, »jetzt jagen sie auf der Uhlenbrinker Gemarkung. Weidmannsheil und fröhliches Schüsseltreiben!«

Ihr Blick pilgerte weiter.

Alles, was sie sah, war Freisassengut und Travelmannsch Eigen. In den nächsten Äckern schlummerte bereits die Saat, Weizen und Gerste, und hier und dort begann schon der Winterroggen zu grünen.

Sie dachte dabei an ein schöneres und edleres Saatkorn. Sie dachte an Hille und den jungen Erben, den sie mit allen Fasern und Masern ihres reichen Herzens ersehnte. Wenn er doch käme!

Bald darauf wandte sie sich und ging gemessenen Schrittes dem Herrenhause zu.

Hier stieß sie auf den Oberknecht, der vom Felde gekommen war, um das sechste Gespann aus den Ställen zu ziehen.

»Hövelkamp, auf ein Wort! Ich komme nochmals auf die alte Sache zurück. Ihr habt doch richtig gesehen?«

»Ich weiß nicht, Madam, wo die Frage hinaussoll?«

»Ich meine das von wegen der Herrin.«

»Ja, Madam, ich habe richtig gesehen.«

»Und sie ist auf dem Helweg gewesen, und Ihr könnt Euch nicht irren?«

»Nein, ich kann mich nicht irren.«

»Hövelkamp, ich frage noch einmal!«

Ihre Stimme stellte sich auf.

»Madam, so wahr mir Gott helfe – sie hat auf dem Helweg gestanden.«

»Wie lange wohl?«

'ne Stunde vielleicht.«

»Und habt mit keinem darüber gesprochen?«

»Mit keinem.«

»Und Ihr schweigt gegen jeden?«

»Eher in die schwarze Lake dahinten.«

»Ich danke – und nun: gute Verrichtung!«

»Merci!«

Drei Minuten später ging ihr Krückstock fest und tönend durch die weißgekalkten Gänge des Freisassenhofes.

 


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