Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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4

Es war mittlerweile dunkel geworden.

Über den Hof, den stummen Wald und die lautlose Heide zogen die goldenen Mirakel herauf, Lichter bei Lichter, ein Gewirr von flinzenden Splitterchen die mit zierlichen Füßchen unter dem Himmelreich trippelten.

Droben die ewige Ruhe, das gebieterische Walten eines Mächtigen, das ernste Schaffen der Vorsehung und der lautlose Schritt des Unfaßbaren, während unter der schweigsamen Kuppel Sankt Huberti Weidwerk spektakelte und nicht Stimmen genug hatte, den glücklichen Ausgang des Jagens zu begehen.

Bracken und Schweißhunde läuteten, rote Bänder knisterten hoch, grobe Nägelschuhe lärmten durcheinander, und dazwischen wetterte Fritz Garke, der Revierförster von Hiltrup und Amelsbüren, seine ›Malefizkerle‹ und ›Kreuz-Millionen-Gewitter‹ in die Treiber hinein, die er unter Beihilfe Hövelkamps ablohnte und anwies, die heimgebrachte Strecke zu richten.

Jans Schwarte und der Mensch mit dem borkenrissigen Gesicht bedienten die Feuer: Jans Schwarte das rechte und der Mann mit der Kuhantilopenvisage das linke, brachten immer neue Kloben zu und ließen die Scheiter aufleuchten wie die Lichterpyramiden am Abend des heiligen Lambertus.

Unter dem Geflacker schienen die alten Mauern zu brennen, lag der Gutshof wie unter einem blutigen Teppich, kletterte eine unruhige Helle von Geschoß zu Geschoß, um von den Giebelfirsten aus schemenhaft in das sternenübersäte Dunkel zu fließen.

Schnurgerade und in folgerechten Abständen war bald darauf die Strecke gerichtet, sorglich eingebettet zwischen Fichten- und Kiefernbrüchen: Hasen, Fasanen, Füchse und etliche Rehböcke . . . Weidmannsheil! und Knechte und Mägde drängten aus Ställen und Wirtschaftsgebäuden vor, um begierig das stolze Resultat des Tages bewundern zu können.

Nur eines von ihnen, ein blutjunges Ding mit brandroten Haaren, dasselbe rassige Frauenzimmer, das sich beim Mittagstisch über und über verfärbt hatte, kümmerte sich den Kuckuck um Weidwerk und Jägerei, schnürte sich vielmehr an das linke Feuer heran und stieß den dort Beschäftigten in die unteren Rippen.

»Du,« sagte sie heimlich und mit leisem Kichern, »heute um zehne. Die Alte hat alle Hände voll zu tun. Ich warte. Die Luft ist rein und die Kammer dito desgleichen. Aber verstehst du – auf Socken.«

Ein behagliches Grunzen.

»Ösiges Wicht – du!«

Er wollte noch mehr sagen, aber die Kleine war bereits wie ein rasches Wiesel verschwunden.

Da kniff er das linke Auge ein und zwinkerte fidel mit dem rechten. Seine stumpfe Seele schweifte in libidinöse Gefilde. Die Geheimnisse und Mysterien der eleusinischen Feste schienen unter der verwehten Schädeldecke aufzuzüngeln wie das verschwiegene Öllämpchen im Allerheiligsten über dem Kälberstall. Aber es winkte schön und anheimelnd und wie eine große und stille Vorfreude.

»Also auf Socken!«

Er spann den Gedanken nicht weiter.

Seine Sinne brannten.

Um seine überschüssige Kraft vorderhand auszuschalten, nahm er ein mächtiges Buchenscheit und warf es zu den übrigen.

Funken spritzten, glühende Vögel prasselten auf, Falken und Stößer, und rasten durch das Gesichtsfeld des Glücklichen, als gölte es, das dürftige Gehirn schon jetzt mit der Taumel- und Liebesfackel des kommenden Geschehens zu illuminieren.

»Um zehne . . .

Und in das Feuerspritzen und Prasseln klang eine helle Fanfare: der Jagdschrei.

»Achtung!«

Ein leichter Wagen karriolte in den Hof, dem sechs oder sieben Herren entstiegen, darunter Bernd Travelmann, ein Eigenwilliger, schon leicht ergraut an den Schläfen, das Kinn energisch vorgestoßen, die Adlernase geflügelt, das Gesicht wie aus hartem Granit gemeißelt und dennoch gewinnend und mit einem jovialen Zug um die Lippen. Man sah es ihm an, er war zum Befehlen geboren, aber auch fähig, den Genuß auf den Kopf zu stellen und den heiligen Feiertag zum Fasching zu machen.

Bei seinem Erscheinen verstummte das Läuten, das Belfern und Bellen, just als wollten Bracken und Schweißhunde ihm ihren Respekt und ihre Reverenz erweisen. Kein Schuh knarzte mehr, die Fanfare brach ab. Nur die Scheiter begannen froher und lichter zu brennen.

Die ganze Szene war mit Blut übergossen.

Die Teutonengestalt des Gutsherrn reckte sich auf.

»Herr Garke!«

»Befehl . . .!« und der Revierförster von Hiltrup, mit Wild und Heide verwachsen wie Quarz und Kiesel, schnittig und das gebräunte, nicht unschöne Gesicht mit einem kurzverschnittenen Spitzbart umgrenzt, warf die Hand an den verwitterten Filz.

»Brav geführt. Keine jüdische Hast. Nur ein leichtes Vertaddern zwischen den infamen Schilfkaupen.«

»Herr Travelmann, ich möchte gehorsamst bemerken . . .«

»Ich weiß, ich weiß. Kann jedem passieren. Tut nichts. Nur schade: der kapitalste Bock in der Uhlenbrinker Gemarkung ist uns heidi und flöten gegangen.«

»Kommt morgen zur Strecke.«

»Nehmen wir an. Im übrigen: flotte Jägerei. Ich danke. Und nun die Strecke, Herr Garke.«

»Ich bitte die Herren.«

Von Fritz Garke geführt, setzten sich alle in Bewegung. Links vom Gutsherrn, wie Bruder an Bruder, gleich an Größe und Aussehen, nur die grauen Augen tiefer und von dunkeln Ringen umgeben, als hätte sich dort eine niedergerungene Leidensgeschichte verewigt, schritt einer, der das eingebettete Wild kaum beachtete: Emmerich von Dinklage – rechts von ihm ein rollendes, schiebendes Etwas auf putzigen Beinchen, prustend und stampfend und mit dem fidelsten Gesicht von der Welt, dessen Burgunderfarbe mit dem roten Geleucht der Buchenkloben wetteiferte: Gideon Hasenklever, in Pelz und Jagdmuff und seinen Bülow Krawallo in der Rechten führend.

»Halt!« rief er munter, als sie zu den Fasanen gekommen.

Er streckte die Hand aus, die wohlgepflegte Hand, an deren Mittelfinger ein schwerer Ring mit einem Lapis lazuli protzte. Dabei schnickte er den Eierkopf mit dem schmalrandigen Hütchen, von dem sich eine riesige Spielhahnfeder aufstelzte, wie ein Kiebitz in die Höhe.

»Majestätische Strecke . . . majestätisch . . . allerdings . . . gar nicht zu zweifeln. Jawoll, ja. Allerhand Achtung! Aber offen gestanden: zwei Drittel davon ist auf mein Konto zu buchen, ohne mich dabei einer Übertreibung schuldig zu machen.«

»Oho!«

Der Jagdherr wandte sich.

»Kannst du das Renommieren noch immer nicht lassen?«

Gideon stutzte. Die scharfen Lichter in seinen kreisrunden Augen begannen bengalisch aufzumucken.

»Renommieren?! Ich renommieren? Erbsassenhöfer, für mich ist deine Behauptung ein Ding ohne Inhalt. Ein leeres Phantom. Menschenskind, du weißt doch schon lange, seit Methusalemszeiten: Krumme umzulegen, Fasanen und die pistenden Vögel mit den langen Gesichtern reihenweise aus der blauen Luft zu pulvern, das geht mir noch besser von der Hand, als Festmeter abzuschätzen und Bouteillen die Hälse zu brechen. Jawoll, ja. Bernd, feixe nicht so. Es geniert ja nicht weiter . . . aber gewissermaßen doch – ja . . . Mein Wahlspruch: Immer aufs Ganze. Ventre à terre. Kolossale Vehemenz, wenn mein Finger an den Hahn schleicht. Des zur Bekräftigung rufe ich unsern gemeinsamen Freund Emmerich als Zeugen an. Emmerich, wie war's? Offen und ehrlich. Schwurfinger hoch. Gib Antwort, oder aber« – und der quecksilberige Junggesell, Gideon, der Unwiderstehliche, der Paderborner Husar, Gideon mit den fadigen Schnurrbartspitzen, suchte sich um etliche Zoll größer zu machen und schlug den Angerufenen derb auf die Schulter –« oder aber, werter Freund und Kupferstecher, ist dir alle Bewertung jagdlichen Könnens und teutonischer Schießleistung in deinen klassischen Gefilden abhanden gekommen? Dann sag's nur. Ich warte auf Antwort.«

Er suchte nach Atem. Sein Bäuchlein schwappte.

»Keineswegs. Deine Flinte war brav.«

Gideon prallte zurück. Sein Antlitz vereiste. Nur die Burgunderfarbe war wie die der böhmischen Granaten geworden.

»Wa . . wa . . . was!« rief er aus. »Diese Mißachtung, diese Verkennung objektiver Wahrnehmung! Jawoll, ja. Kathederweisheit, um nicht Kadaverweisheit zu sagen! Lasse dich anlächeln, Jüngling. Bloß brav, du Griechenmann, du Träger des Lichtes, du Liebling der Grazien und der ausgebuddelten Scherben?! ›Brav‹ hat mit ›leidlich‹ 'ne verfluchte Familienähnlichkeit, und das ist verheerend. Da müßte ja mein Bülow Krawallo . . . O, o, o! das durfte nicht kommen,« und die Stimme des Kurzbeinigen wurde flaumweich und lau wie das sanfte Säuseln von Kiefern: »Gehe hin und streiche Ziegel in der Wüste, aber beurteile fernerhin nicht die Bravour einer Freiherrlich Hasenkleverschen Knarre mit kleinlichen Expektorationen. Sie hat mehr zu bieten, ist außer Wettbewerb, und ich sage dir, Emmerich –« und seine Worte machten Nägel mit Köpfen – »ich sage dir, Emmerich, und zwar voll und ganz und im edelsten Sinn meiner Empfindung: Großartig war sie, nicht zu überbieten, voller Verständnis und Taktgefühl, 'ne Nummer für sich, die beste Flinte im Regierungsbezirk. Jawoll, ja. Wer's nicht glaubt, soll verdammt sein, wie Knipperdölling vom menschenfreundlichen Bischof Franz von Waldeck geröstet und gebraten zu werden. Oder mein Bülow Krawallo . . . Was zu beweisen war.«

»Genehmigt!« warf sich der Jagdherr dazwischen, um allen Weiterungen in die Parade zu fahren. »Gideon, dein Vaterunser kann Berge versetzen und Krickenten in Trappen verwandeln. Das wissen wir alle. Also abgemacht. Die Tatsache steht fest: zwei Drittel der totalen Strecke ist auf dein Konto zu setzen.«

»Merci!«

»Herr Garke!«

»Herr Travelmann!«

»Den Fichtenbruch!« und keine fünf Minuten vergingen, da prangte das waldfrische und harzige Grün neben der steilen Spielhahnfeder, als wenn es dort predigen müßte: »Von Rechts wegen, Ehre, wem Ehre gebührt. Mein ist der Bruch, und mir gehört er zu!«

»Weidmannsheil!«

»Weidmannsdank!«

»Und nun, meine Herren« – und Bernd Travelmann wandte sich an einige Gutsnachbarn, die weiter zurückstanden – »in 'ner kleinen Stunde zu Tisch. Auch Sie, Herr Garke, sind freundlichst gebeten. Aber ich bitte mir aus . . . für alle Fälle und im allgemeinen gesprochen . . . Soeben wurden etliche Gepäckstücke ins Haus getragen. Ich möchte ergebenst bemerken: hier ist ein Bauernhof und keine Edelmannsklitsche. Soll es nicht sein, ist es niemals gewesen. Frack und weiße Binde finden keine Gnade auf Getter; auch Lackstiefel nicht. Dies zu deiner Orientierung, Emmerich. Man kann vieles im Leben vergessen. Dann weiter: du beziehst das Erkerzimmer, und Gideon, du – na, du kennst deine Bude.«

»Kenn' ich.«

»Außerdem: das mit dem Frack und der weißen Binde möchte ich auch an deine Adresse gerichtet haben.«

Der Paderborner klappte die Absätze zusammen und legte zwei Finger an den Hutrand.

»Wie du befiehlst. Mir ganz aus der Seele gesprochen. Keine Umstände. Immer das Beste. Man bloß mit dem Kopp in die Schüssel, und der Heros ist fertig. Aber noch eins, mein Gestrenger, und nur für deine Lauscher bestimmt. Ich meine: so nach Tisch . . . wenn die Damen sich gewissermaßen heimlich verduften und die dicken Zigarren und Schnäpse aufmarschieren . . . ich hoffe, dann läßt du doch so'n kleines Tempelchen auflegen . . . meine Tante, deine Tante . . . oder wie die niedlichen Spielchen so heißen.«

»Alter Roué!« lachte der Gutsherr.

»Also denn nicht. Wird auch akzeptiert, wenn auch wehen Hauptes. Jawoll, ja. Also bis gleich denn.«

»Aber pünktlich, Gideon, und wahre die Würde des Hauses. Du weißt ja.«

»Ja so! Von wegen . . . mir sang ein Vögelein: Laß' ab von der Liebe . . . oder so 'ne ähnliche Schose. Kennen wir. Nicht mehr zu machen. Schon aus Gründen der Ritterlichkeit und Pietät: ich weiß, was sich schickt. Jawoll, ja. Alles andre wäre als hyperbolisch und deplaziert zu bezeichnen. A rivederci! und Kopp in die Schüssel. Ich habe die Ehre.«

Er schwenkte sein Vivathütchen.

Tannenbruch und Spielhahnfeder glühten wie feurige Pyropen.

»Ein Horrido dem Jagdherrn!«

»Horrido! Horrido!«

Noch einmal setzte der weidmännische Spektakel ein. Neue Funkengarben stoben in den nächtigen Himmel, kerzengerade, mit krausen Federbüschen, um hoch über dem stattlichen Anwesen in sprühenden Kaskaden niederzugleiten. Die Scheiter krachten. Unter schmetterndem Hornruf, dem Geläut aller Hunde und dem ohrenbetäubenden Lärm der Treiberklappern führte Bernd seine Gäste dem altertümlichen Hause zu.

Hier empfahl er sich, schob aber den Arm in den seines Jugendgenossen und sagte: »Komm', ich werde dich auf dein Zimmer geleiten.«

»Gut, wie du willst.«

Sie wandten sich links in der Diele, bogen dann ein und verfolgten einen langen, weißgekalkten Korridor, dessen schmucklose Balkenlage fast die Köpfe berührte. Massig stellten sich etliche Pfeiler nebeneinander, von deren Gurten tropfende Wachskerzen eine angenehme Helle verbreiteten. Trotz der gesuchten, nahezu aufdringlichen Schlichtheit – überall wehte ihnen die Kultur und das Behagen eines westfälischen Edelsitzes entgegen. Alte Kupfer, Szenen aus Holz und Feld und der edlen Jägerei wiedergebend, grüßten von den Wänden herunter. Dazwischen liebe Erinnerungen, Trophäen von Flinte und Büchse: ein Wald von zackigen Geweihen und Stangen, Gamskrucken und Auerhahnbälgen mit ausgebreiteten Fächern, jedes Stück auf Schild oder Schale mit der entsprechenden Legende versehen, und weiter dahinten . . . ein Prachtexemplar: ein kapitaler Zwölfer mit schwarzen, breitausgelegten Eis- und Mittelsprossen, darunter die Inschrift: »Düstermoor, Anno Domini . . .« Das weitere verschwand unter dem Laubwerk eines vertrockneten Buchenkranzes.

Der Gutsherr wollte eiligst vorüber.

Emmerich aber blieb stehen. Die Hand fuhr schwer über die Stirne, dann sagte er verweht vor sich hin: »Von Hille gestreckt, bei den drei Eichen, als er vom Düstermoor ins Korffsche überwechselte.«

»Und das weißt du noch heute?«

»Als wäre es gestern passiert, und wenn ich dran denke . . . Ein Abend, wie wir ihn heute durchlebten. Damals: die Welt stand in Lohe, jedes Blatt war ein wundes Herz, Forst und Heide ein flammendes Totenmal; da krachte ihr Schuß, und ein königlicher Waldgänger lag zwischen den Latschen. Rot die Latschen, rot der Windfang und ein blutendes Rot mir vor Augen. Ich kann's nicht vergessen.«

Ein trockenes Hüsteln.

»Ich wollte, das Blei hätte 'ne andere Richtung genommen.«

»Komm', Emmerich. Keine Sentimentalitäten. Wie Todesahnung, Dämmerung deckt die Lande. Unsinn! Zieh' einen Pelz über deine fröstelnde Seele. Das wärmt und macht frohe Gedanken. Nur keine Kramerei in alten Erinnerungen, in vergilbten Briefen und ähnlichen Nichtigkeiten. In 'nem soliden Sterberegister wird nichts mehr lebendig.«

»Bernd, du verstehst mich nicht oder willst es nicht können.«

»Ich tu's zur Genüge, und weil ich es tu': Grüß' Gott, tritt ein, bring' Glück herein!«

Er drückte die niedrige Tür auf, die ins Erkerzimmer führte.

Auch hier eine einladende Helle und ein stilles Behagen. Zwei Metalleuchter warfen ihr freundliches Licht über verblichene Tapeten, Schildereien und Möbelstücke und reflektierten in einem großen Spiegel, der fast die ganze, zwischen zwei Fenstern gelegene Wandfläche einnahm. Im Kamin plauderten verlorene Stimmen. Irgendwo geigte ein Heimchen.

»Dein früheres Reich aus der Zeit meines Junggesellentums. 'ne mollige Bude, so recht dazu angetan, die abstrapazierten Ständer mit Wonne zu strecken. Mach's dir bequem, und da bis zum Schüsseltreiben noch rund 'ne Stunde hingehen dürfte, vielleicht 'ne kleine Rotspon gefällig?«

»Ausgeschlossen.«

Der Gutsherr lachte und befreite den Gast von Rucksack und Schrotbeutel.

»Unnütze Frage. Natürlich! Du als Griechenmensch . . . Die alten Olympier, was die tranken, das haben wir nicht. Aber dennoch und trotzdem« – und die Hände Bernds umgriffen die seines Freundes – »nach langen, unerträglichen, stumpfen zwei Jahren: herzlich willkommen auf Getter!«

»Ich danke dir vielmals, aber offen gestanden: ich atme schwer zwischen deinen vier Pfählen.«

»Na – und?!«

»Nimm's mir nicht übel, aber ich möchte dir und mir keine Ungelegenheiten bereiten; kurz, ich habe das Gefühl, ich könnte hier stören.«

Bernd sah ihn sprachlos an. Dann versetzte er ihm einen leichten Stoß gegen die Herzgrube.

»Bring das erst zur Ruhe und werde vernünftig. Man bläst doch nicht in leere Eierschalen hinein. Sie geben einem nichts, nicht das Geringste, und da kommst du mit solchen Redensarten? Menschlein, sei weise! Stören? Du stören?! So was spricht man nicht aus, schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil einem dabei die Narretei auf der Zunge klebt. Stören? Weshalb denn? Bist du denn von Gott und allen guten Geistern verlassen? Freund, Herzensbruder und alter Waffengefährte . . .

Mit beiden Fäusten packte er zu, umgriff die Schultern des Insichgekehrten und drückte ihn rücklings. Dabei sah er ihm tief in die Augen.

»Du – es gibt 'ne alte Legende. Sie spielt nicht auf roter Erde, nicht zwischen Eichkamp und Wallhecken, sondern am Rhein . . . bei den Sieben Bergen . . . in Heisterbach . . . und handelt von einem Mönch, der anfing zu grübeln. Drin heißt es: Und tausend Jahre sind vor dem Herrn wie ein Tag. Schön bemerkt und mit Anstand wiedergegeben. Aber es paßt nicht für alle Fälle. Bei mir wenigstens nicht. Für mich ist hier das Gegenteil Trumpf in der Karte. Diese zwei Jahre, die du da drüben verbrachtest, auf den Gräberfeldern, zwischen abgetakelten Säulen und Metopen sind mir wie tausend Jahre erschienen. Und nun wieder daheim. Endlich! auf unsern Kämpen, im Banne des Pumpernickels, zu Hause, wo die Menschen westfälisch küren und das Eisen wächst . . . Herrgott, diese Freude!«

Er ließ die Arme herunter.

Über Emmerichs Züge lief ein schmerzliches Zucken.

»Ich danke dir, Bernd . . . aber weißt du . . . die alten Geschichten . . .«

»Was für Geschichten?«

»Denke an Darfeld! Ich muß offen und ehrlich sein bis in die innersten Knochen, offen und ehrlich, und das gerade dir gegenüber, sonst: ich könnte den heutigen Abend nicht auf Getter verbringen, käme mir vor wie eingeschlichen in deinen Besitz, in dein Heiligtum, in das, was wir mit der sakrosankten Stätte des Herdfeuers bezeichnen.«

»Bist du von Sinnen? Ich hab' dich doch selber in optima forma geladen.«

»Kein Zweifel, aber ich wiederhole zum andern: Denke an Darfeld! Ich habe mit Bildern zu kämpfen, die zwischen schwarzen Lebensbäumen auftauchen, sich heben und senken, um wieder in eine rätselhafte Tiefe zu gleiten. Nicht alle. Einige bleiben an der Oberfläche haften und sehen mich an, glanzlos und mit erloschenen Augen.«

Der Gutsherr machte eine unwirsche Bewegung.

»Mensch, ich kann dir nicht folgen. Unmöglich. Du redest wie'n Royalist unter der Guillotine, der gezwungen wird, in den Hanfsack zu niesen. Nein, ich kann dir nicht folgen. Dazu reichen meine Illusionen nicht hin. Bitte, nimm tieferen Flug, bleibe bei einer realen Bewertung der Dinge. Harren wir unter der erprobten Fahne aus, bei der nüchternen Wirklichkeit allen Geschehens. Fort mit den wächsernen Flügeln. Sie schmelzen weg und bringen nichts Gutes. Auch dir nicht. Du und ich – westfälische Kerle wie wir sind, wir sollten nicht auf den Gedanken verfallen, im blauen Nebel herumzurudern. In Wolkenkuckucksheim werden nur Grillen gezeitigt, und Grillen machen dickfadiges Blut. Also . . .«

»Ganz meine Ansicht. Nur, ich komme über gewisse Dinge nicht fort. Heimat?! Ein wunderseltsames Wort. Westfälische Erde und der Zauber der münsterischen Heide: alles das läßt die Hände falten und gebietet einem, in die Knie zu fallen. Ich hab's drüben erfahren, beim ewigen Plätschern des Meeres und dem melancholischen Rauschen der trostlosen Ölbäume. Selbst die Flöte Pans, die noch immer um die Myrrenhügel geistert, macht die Brust nicht heiter. Sie sehnt sich und sehnt sich . . . und so kam es denn auch: ich folgte dem Sehnen, um wieder die alten Glocken zu hören und den Eichenkamp im Haarrauch schwimmen zu sehen. Mich hielt nichts mehr zurück. Nirgendwo ruft die Merle so schön wie hier, nirgendwo ist mir das Wort ›Sei Mensch unter Menschen‹ so verständlich geworden. Aber was hilft mir das alles? Ich hätte nicht kommen sollen. Ich durfte nicht auf Getter erscheinen. Diese Stunde belastet mich und fällt mir schwer auf die Seele. Ein Begegnen mit ihr . . .«

»Mit Hille?«

»Ja du – mit Hille.«

»Herr Jeses! Keine Lamentationen, keine Sentiments, wenn ich bitten darf. Ich weise sie ab. Was hat sie dir auf die Seele zu fallen? Bist du denn rein des Satans geworden? Du mußt doch wissen: ein Keil hat sich zwischen das Früher und Heute geschoben; der hält und rückt nicht um Haaresbreite. Haben wir unser gegenseitiges Ich nicht in den Fäusten gehalten? Und was nicht parieren wollte, wurde einfach totgeschlagen und eingesargt. Ab nach Kassel. Erinnerungen?! Lumpige Fetzen! Lasse dir sagen: alles ist zum besten geregelt. Hille hat sich gefunden, ist glücklich, fühlt sich als die geborene Herrin auf Getter. Na, und wir beide? Sind wir nicht die alten geblieben, sans peur et sans reproche? Das steht wie im Schraubstock. Also was willst du noch weiter? Bringe mir keine weinerlichen Schäferidyllen auf Getter. Das liegt dir nicht und hat dir niemals gelegen. Früher brannte helles Feuer in dir. Ich hoffe, keine tote Asche zu finden. Basta! Und schließlich . . . wie alles so kam . . . Erinnere dich! Die damaligen Ereignisse auf Darfeld sind mit deinem Wollen und Wissen geschehen. Keine Hinterhältigkeit meinerseits. Das kann ich mit allen Fingern beeiden. Nicht du, sondern ich habe die Attacke geritten und bin Sieger geblieben. Das heißt, wie man's nimmt: ich beim Weibe und du als Sieger auf Leukas, der Beschwörer der Toten und Lebendigen.«

Ein leises Zustimmen.

»Allerdings.«

»Nur allerdings?«

Eine Pause entstand. Die Kerzen schienen trüber zu brennen, die Dochte mit ihrem Knistern innezuhalten. Die Atemzüge der beiden Männer standen sich hart gegenüber.

Endlich brach Bernd das qualvolle Schweigen.

»Emmerich, ich warte auf Antwort.«

Der junge Gelehrte sah ihn eindringlich an. Die Bronzefarbe seines Gesichtes war um eine Nüance fahler geworden. Seine Blicke irrten ab, bohrten sich in eine Ecke des Zimmers und gingen von hier aus durch das verhangene Fenster in den Abend hinaus, wo noch immer die Funken spielten und wie rote Schneeflocken auf und nieder gespensterten.

»Auf was für 'ne Antwort?« fragte er schließlich.

»Ich bin doch deutlich gewesen. Meine aufgestellte Prämisse ließ eigentlich keinen Zweifel aufkommen, und es wäre mir nicht eingefallen, Vergangenes auch nur anzuhauchen, wärest du nicht selber auf die alten Scharteken verfallen. Nun, da sie angeschnitten sind, muß das Messer auch in die Tiefe hinein. Verzeih' mir daher, wenn ich dich nochmals um Antwort ersuche. Unausgesprochenes schafft Öde und Leere, ist wie 'n angeschweißter Bock, dem man die Läufe zerflederte.«

»Nicht weiter! Höre mich, Bernd!«

»Ich höre.«

»So wisse: auf meiner Heimreise rief ich in Rom an. Bei dieser Gelegenheit besuchte ich die Montana di Trevi, das schäumige Wasser, von dem die Sage geht: wer von ihm trinkt und einen Soldi hineinwirft, den zieht es immer in das alte Träumen zurück, wer aber den Mut findet, den Zauberbrunnen außer acht zu lassen, wer stark bleibt, nicht aus dem Quell zu schöpfen, noch ein Geldstück in die Fluten zu werfen, hat halbgewonnenes Spiel und die Anwartschaft, vergessen zu können.«

»Und du hast keinen Soldi geopfert?«

»Nein.«

»Und nicht aus dem Wasser getrunken?«

»Auch das nicht. Was war, mit dem haben wir uns abgefunden für immer: du als der Glückliche, als der Gebieter über des Weibes Wonne und Weh, ich, wie du es zu nennen beliebst, als der Sieger auf Leukas, der Beschwörer der Toten und Lebendigen. Daß ich zurückkam, war nötig. Die Errungenschaften zweier Jahre rufen nach stillen und beschaulichen Arbeitstagen. Ich hoffe sie in Münster zu finden, in abgesondertem Schaffen, erdabseitig, angeheimelt von dem Hauch versunkener Welten. Das ist mein Ziel. Weiter nichts. Jeder ist sich selber der Nächste. Du auch. Das Begegnen mit Hille wäre nicht das Schlimmste und noch zu ertragen gewesen, denn ich opferte nicht und meine Hand schöpfte nicht aus dem Brunnen der ewigen Stadt. Aber du . . .«

Bernd fiel ihm ins Wort.

»Und das mit dem Blei, was eine falsche Richtung genommen?«

»Lassen wir das. Aber du . . .und das rundweg gesagt: um deinetwillen . . . ich könnte etwas wecken in dir . . . etwas beschwören . . .«

»Du – mir gegenüber?«

»Ja. Niemals bin ich dieser Erkenntnis näher gekommen als heute.«

»Du denkst also . . .

»Ja, ich denke, ich denke . . .«

»Also das ist es? O du mein Österreich!« und Emmerich fühlte sich mit elementarer Gewalt an die Brust des blonden Teutonen gerissen, der ein Edelmann war und doch nur 'nen Bauer vorstellen wollte. »Schluß, Clavigo! Licht! Licht! – ich purzele in eine Fülle des Lichtes: in das Licht eines schiefen Reflektors. Also du denkst . . .?! Nein, du, zieh' wieder getrosten Mutes nach Rom, wirf deinen Obulus in die Fontana di Trevi, trinke dich satt und genug aus der Sprudelzisterne. Selbst wenn du es tätest: ich habe keine Lust, mich auf den Spuren des Eifersüchtigen ertappen zu lassen. Ich glaube an dich wie an die Auferstehung des Fleisches. Gebiete nur – und des zum Zeichen: hier diese Fäuste, sie biegen ein glühendes Eisen zu einem köstlichen Ringlein, tauchen in siedendes Öl. Gottesurteil! Ordal! Auge um Auge, Stirn gegen Stirn. Deine Treue meine Treue, dein Leben mein Leben!«

Er gab ihn frei, packte dafür aber seine Rechte.

»Ist es so, Emmerich?«

»Es ist so, und ich danke dir nochmals. Aber mein Dasein – was ist es? Etwas Fortdämmerndes, angefüllt mit welken Blumen, toten Hoffnungen und abgestorbenen Wünschen. Nichts weiter.«

»Richtig! Wie überhaupt der ganze irdische Bettel. So meinst du. Ihr seid komische Menschen, ihr Schriftgelehrten und Forscher. Vor lauter Sonne seht ihr die Welt nicht, nicht die üppigen Weiber. Hurra, es lebe das, was die Stunde uns bietet! Das solltest du vor allen Dingen begreifen. Im herzlichsten Lachen muß es dir aufgehen. Schluß mit den Aeolsharfen, 'raus aus dem Trauerflor, 'rin in den Freudenkittel! Heute ist Festtag im Hause. Der verlorene Sohn wurde wiedergefunden. Wenn auch kein Kalb, aber 'ne Sau wurde ihm zu Ehren geschlachtet. Emmerich, Grünkohl und 'ne Westfälische Mettwurst! Besser als gebackene Wachteln in Öl und Zwiebelgemüse! Hie Getter, hie Leukas! Wähle, und du wirst dich nicht lange besinnen. Getter bleibt Trumpf. Eviva! Sie wird Augen machen, die Hille. Zwei Jahre wollen überbrückt sein, aber sei überzeugt: sie wird dich mit offenen Armen empfangen.«

»Das glaubst du?«

»Ich weiß es.«

»Und sie ist die alte geblieben?«

»Du wirst sie ja sehen. Alles wie früher. Den schönen, lichten Madonnenschein trägt sie noch immer.«

»Und du . . .

»Ich bin ihr Bewunderer. Ich könnte sie mit einem Purpur umkleiden, sie auf einen Königsstuhl heben . . . Und wenn es jemandem beikommen sollte, ihr nur ein Splitterchen aus der Krone zu brechen: ich würde zum Tamerlan, zum Samson, dem Vollstrecker des blutigen Revolutionstribunals, um ihm den Kopf aufs Pflaster zu legen.«

Er lachte.

»Verstehst du?«

»Das tu', denn du hast ein Menschenwunder im Hause.«

 


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