Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

»Nein, Herr Travelmann, mich jagt keiner ins Bockshorn. Ich habe keine Veranlagung dazu, den Hasenfuß zu spielen und mich einkesseln zu lassen. Bis zum letzten Hubertustreiben war alles im Lot. Da hieß es, Herr Garke hier, Herr Garke da. Jetzt aber . . . Lassen wir das. Indessen: Sie sind noch nicht fertig. Blatten Sie weiter. Ich höre. Nur – Sie haben mir keinen Stuhl angeboten. Ich bin so frei und besorge das selber. Dann faßt man alles kommoder auf, kann die Sache besser verfolgen.«

Er warf seinen Filz auf den Tisch, legte seinen Ziegenhainer daneben und drückte sich in den nächsten Sessel hinein.

Der Gutsherr, der an seiner Schreibkommode lehnte, glaubte nicht richtig gehört zu haben. Unwillig tätschelte er die Ledergamaschen mit der Reitgerte.

»Garke, wollen Sie sich nicht eines andern Tones bedienen?«

»Die Geschichte vom Wald und vom Echo. Die hat das so an sich, besonders wenn einem klar wird: du hast bei den Bückeburgern als Oberjäger gestanden und bist jetzt als Revierförster in Stellung. Man hat auch seine Ehre. Überhaupt, sich so invitieren lassen zu müssen: per Jans Schwarte . . . durch 'nen offenen Wisch . . .«

»Es ist in Eile geschehen.«

»Wenn auch. Früher hat's anders geheißen. Da hatte man seine Estimierung, seine Freude an Jägerei und Feld, da war's 'ne Lust, unter 'nem Travelmann zu dienen, um Holz und Wild in Ordnung zu halten, bis die Verschandelung der eigenen Person einsetzte und einem klar gemacht wurde: du bist überflüssig geworden.«

»Das haben Sie selber verschuldet.«

»Ich?«

»Ja, Sie, denn ein ehrlicher Kerl läßt die ihm übertragenen Werte nicht im Stich, sondern hält sie, als wenn sie ihm selber gehörten.«

»Schon richtig. Erst dachte ich auch: Tu's, und ich habe wochenlang die Arbeit geleitet. Bis vor wenigen Tagen noch. Dann aber kam's über mich. Ich hab's dem Sägemüller in Bestellung gegeben. Sie möchten sich 'nen andern suchen.«

»Unsinn, verfluchter. Er ließ sich nicht sehen.«

»Mir soll's egal sein. Ich stecke nicht in der Schwarte des Müllers. Aber gesagt ist gesagt.«

»Warum seid Ihr denn nicht selber erschienen?«

»Ich? Bei Ihnen! Wie käm' ich dazu? Wer 'nem Gaul, der in 'nem Tilbury geht, die Kandare unmenschlich anzieht, der darf sich nicht wundern, wenn so'n Bock sich weigert, in ein und der nämlichen Schere zu laufen.«

»Wo soll das hinaus?«

»Ganz einfach. Bei der Vermessung fing's an. Erst auf dem Hof, als die Futterage gebracht wurde, dann in der Hallüh, als es nach Haus ging. So was kann selbst der gutmütigste Hammel nicht fressen.«

»Herr Garke . . .

»Ich bleibe dabei, und Sie wollen noch reden, wo Sie mich vor der Mamsell und später vor dem Paderborner blamierten? Auch das soll nicht gelten? Das wäre das neuste. Nein, Herr Travelmann, das sitzt zwischen den Rippen und läßt sich nicht fortdisputieren. Wo'n Weiberrock flattert, da kommen Herr und Knecht auseinander. Doch später hiervon. Aber glauben Sie ja nicht, daß Ihr Zettel und Jans Schwarte mich hergebracht hätten. Ich wäre auch aus freien Stücken gekommen. Ganz aus freien Stücken heraus. Auch daran läßt sich nichts fortdisputieren. Wenn Sie ausgesprochen haben, komme ich an die Reihe.«

»Wie so das?«

»Ich meine man bloß. Keine Eile für mich. Ich kann immer noch warten. Ihre Sache geht vor, denn Sie sind der Herr, wenigstens jetzt noch.«

Die Gerte klatschte gegen die Ledergamaschen.

»Wenigstens jetzt noch? Soll es hart auf hart stoßen zwischen uns beiden?«

»Das steht bei Ihnen. Wie der Ruf, so die Antwort.«

»Was – Sie?! Ich muß mir ernstlich verbitten . . . Hat Sie der Satan geritten, oder sind Sie unter die Volksbeglücker gegangen?«

»So'n bißchen. Man muß sich belehren, Herr Travelmann. Das bringen die Zeiten so mit sich. Daran können auch die obern Zehntausend nichts ändern.«

»Tragen Sie mir keine roten Ideen ins Haus. Ich mache kurzen Prozeß. Karnickel und solche, die mir über den Weg hoppeln und meine Ansicht verstänkern, wissen, wie die Travelmannschen Schrote und Posten pfeifen. Was haben Sie sonst noch?«

»Ich? In dieser Angelegenheit eigentlich gar nichts. Das mit dem Sägemüller ist erledigt für mich, zu meinen Gunsten erledigt. Was ich noch zu sagen habe, kommt später. Aber so viel ich beurteilen kann, habe ich noch weiter das Karnickel zu spielen und noch auf 'nen andern Vorwurf zu lauern.«

»Allerdings!«

»Dann möchte ich bitten.«

Dem Gutsherrn stieg eine heiße Blutwelle zu Kopf. Er ging ans Fenster.

Draußen begann es schummerig zu werden. Graue Fäden krochen ins Zimmer, nisteten sich in den Ecken ein, legten sich über die Schildereien an den Wänden und ließen das Gegenständliche verschwimmen.

Bernd trat zurück, durchmaß die Dielen mit lauten Schritten, warf sich in eine Sofaecke und schlug die Beine übereinander.

Seine Wut war niedergekämpft.

»Allerdings,« sagte er so ruhig wie möglich. »Wo ist der schwarze Rehbock geblieben?«

»Wie meinen Sie, Herr Travelmann?«

»Ich spreche doch deutlich. Wenigstens glaube ich, deutlich gesprochen zu haben. Ich meine den, den wir am dritten November verpaßten.«

»Ach der! Warum diese Frage? Hat seinen Wechsel. In die Dawert oder ins Königliche hinein. Das haben die Böcke so an sich und kann nicht weiter verwundern.«

»Ich wundere mich aber, weil Sie sich nicht wundern. Vor vierzehn Tagen etwa, so morgens um zehne herum, da hielt er noch zwischen den Kaupen, abgefegt und mit kohlschwarzem Windfang.«

»Alles schon möglich. Das schließt aber nicht aus . . .«

»Warten Sie ab. Zwei Stunden später . . . ich stand just am Birkengatter . . . Da ein Schuß, ein scharfer, infamer . . . und ein blaues Wölkchen über dem Dickicht . . . Ich also hin . . . hatte auch nicht lange zu suchen . . . hellrote Blasen im Moos, und dicht daneben das Gescheide unter 'ner Kiefernlatsche . . . Also, Herr Garke?«

»Bin ich der Hüter des Bockes?«

»Wer denn andes als Sie.«

»Der Kuckuck vielleicht. Ich für meine Person lehne das ab, denn seit dem Vermessungstag ist mir Wald und Wild des Freisassenhofes wurschtig und vollständig schnuppe geworden. Pirschen Sie sich anderswo an. Vielleicht hat so 'n verfluchter Hiltruper Kötter . . .«

»Lassen Sie sich auslachen, Mann.«

Der Gutsherr stieß einen trockenen Laut aus und dann ein Gewieher.

»Kreuzgewitter und kein seliges Ende! Was gäben Sie mir, wenn ich diese Bauernknarre als 'ne amtliche Flinte ansprechen würde?«

»Als 'ne amtliche Flinte?«

»Die amtliche Posten verpulvert.«

»Herr Travelmann, das soll doch nicht heißen?«

»Genau das, was Sie denken.«

»Und daß ich in Person . . .«

Ein heiseres Keuchen.

»Daß ich in Person den Finger krumm gemacht hätte?«

»Nichts weiter. Ich werde nachforschen lassen. Also, Herr Garke?«

»Himmel verdammich!«

Das Gesicht des Angegriffenen war fahl wie lehmige Erde geworden. Die Augen schlossen sich bis auf rissige Spältchen. Nur das Gelbe blieb sichtbar.

Wie ein angeschossenes Tier fuhr er auf, ergriff seinen Filz und knallte ihn mit einem Fluch auf den Tisch zurück.

»Das mir?! Mir das unter die Drossel zu stoßen! Mir, dem beeideten Beamten und Forstmann! Herr Travelmann« – und Garkes Faust rückte vor, war direkt auf die Stirn des Gutsherrn gerichtet – »was denken Sie sich?«

Bernd trat ihm entgegen.

»Faust herunter oder 'ne Travelmannsche Kugel . . .«

»Mir soll's egal sein. Wo das Honnör zum Teufel gegangen, mag auch der Kerl verludern. Aber das sage ich Ihnen« – und die Stimme sprang in die Fistel hinüber – »das riecht nach 'nem gerichtlichen Nachspiel. Ein Mordio gibt's, 'nen Hundespektakel. Dann wollen wir sehen, ob Sie oder ich . . .

Wie ein Betrunkener taumelte er auf den Lehnstuhl zurück. Die Blicke am Boden, das Kinn auf die Rechte gestützt, mahlte er zwischen den Zähnen: »So verschandelt zu werden! Aasjägerei, Wilddieb und Heckenschütze! Und so'n Freisassenhöfer . . .

Ein grimmiges Lachen.

»Hallo! abgesehen von dem gerichtlichen Nachspiel, jetzt ist meine Affäre an die Reihe gekommen . . . meine Affäre . . . denn wo so'n Weiberrock flattert . . .«

Seine Worte verliefen im Sand.

Herrischen Schrittes begab sich der Gutsherr zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.

»Als geschiedene Leute haben wir nichts mehr gemeinsam. Ich bitte, Herr Garke!«

Der Angerufene hob langsam den Kopf. Mit häßlichem Grinsen setzte er den Daumen auf die Brust und stammelte taumelsüchtig: »Ich – an die Luft? Mit andern Worten: ich soll ausgeklinkt werden? ich, der bei den Bückeburgern gedient hat? und das jetzt . . . in dieser Stunde . . . in diesem Momang . . .? Nee, Herr Travelmann, das läßt sich dem alten Garke sein Sohn nicht gefallen. Ums Verrecken nicht, und wenn ich hier Schweiß geben müßte.«

»Wir beide sind fertig.«

»Ich aber nicht. Mag's anstehen: der Rehbock läuft weiter, darüber hat das Gericht zu befinden, aber meine Geschichte . . .«

Ruckweise erschlossen sich die stechenden Blicke. Das Gelbe war blutunterlaufen.

»Was Sie mir zu sagen hatten, haben Sie mir aufs Brot geschmalzt, doppelt und dreifach, drum wollen Sie auch gütigst erlauben . . . Der Rehbock nicht und das mit der amtlichen Flinte auch nicht, aber das, was ich vorzubringen habe, muß jetzt seine Erledigung finden, sonst springt es Sie an und bricht Ihnen den Nacken.«

»Kein Wort mehr!«

»Herr Travelmann, Ruhe, oder die Wände des Hofes bekommen Augen und Ohren. Es ist besser, wir verhandeln schon in aller Güte zusammen. Zu laut Beschrienes fällt egal auf die Butterseite und bringt für den einen Molesten, die er lieber im Totenmoor sähe. Ein Esel, der die Grabnarbe wegfüttert, wo er seinen eigenen Mistus verscharrte.«

Was war das?

Der Gutsherr schien um eine Tönung fahler geworden.

Er ließ den Drücker fahren.

»Was wollen Sie noch?«

»Herr Travelmann, vor einigen Tagen . . . ich bin beim Dechanten gewesen, in meiner Affäre. Aber wie die Pfaffen so sind: was sie hören wollen, das nehmen sie auf, hingegen, was ihnen unbequem ist, dem setzen sie ihren Schuh ins Genick und lassen's elend verquiemen. Auf der Kanzel die Milde selber. Da ziehen sie den lieben Herrgott an den Füßen vom Holzstock und tun so, als hätten sie in seinem Namen zu predigen, allen in seinem Namen Segen und Trost zu geben. Zu Hause jedoch, da schlägt die Karte 'ne verteufelte Volte, heißt das: für Leute, wie wir sind. Für solche hingegen, die mit Spickgänsen und einigen Bouteillen aufwarten können . . . Überhaupt so 'ne Pfaffheit! Kurz, ich habe bei ihm kein richtiges Verständnis gefunden, wenigstens das nicht, was ich gebrauchte. 'ne Vermittlung wies er zwar nicht rundweg ab, aber sie war auch danach. Und da dachte ich mir: wendest dich besser an die zustehende Adresse, und da bin ich auf die Getter gegangen.«

»Also zu mir?«

»Ganz richtig.«

»Große Ehre für mich. Nur, was habe ich überhaupt mit Ihnen zu schaffen?«

»Vieles, Herr Travelmann, denn es geht auf Ihr eigenes Konto. Ich rate zum Guten. Knallen Sie die böse Geschichte wie ein schädliches Stück Wild über den Haufen, und Gott und alle Welt kann uns den Rücken besehen. Den schäbigen Rest nehme ich auf meine Kappe, sorge für Maulhalten, und wehe dem, dem es beikommen sollte, mir 'nen Knüppel zwischen die Knochen zu pfeffern. Das übrige ist dann Sache des Standesamtes. Aber alles nur unter einer Bedingung.«

Rabiat fuhr er auf.

Seine Rechte strählte den Spitzbart.

Kaum waren noch die beiden zu sehen, so dunkel war es mittlerweile geworden. Die Gesichter erschienen wie kalkige Lappen.

»Aber nur unter einer Bedingung und an Euer Hochwohlgeboren gerichtet. Mit dem heutigen Tag aus mit Johanna . . . Hand von dem Weibsbild . . . kein gemeinsames Bett mehr . . . oder was sonst es auch sei. Selbstverständlich: das erforderliche Draufgeld ist nötig, um anständig leben zu können. Einverstanden, dann gut. Sie wird als ehrliche Hausfrau meine vier Pfähle beziehen. Wenn nicht . . .«

Bernd lief es kalt über den Rücken.

Er griff nach der Klingel.

»Was haben Sie vor?«

»Johanna soll kommen.«

»Hat keine Not nicht. Seit 'ner Stunde über Hecken und Hägen. Die hat Witterung bekommen und ist beim Krugwirt untergekrochen.«

Die ausgestreckte Hand zuckte zurück.

»Also Komplott?!«

»Gott bewahre. Nur 'n ehrlicher Kontrakt, 'ne kleine Verschreibung unter vier Augen. Wir brauchen keine Zeugen und gar nichts. Ihre Handschrift genügt mir. Trotz aller Anrempeleien, ich bin noch immer bereit, das böse Rencontre zu regeln und Frieden zu machen. Keine langen Umstände. Je eher, je besser; bin ich doch allzeit ein Freund von kurzen und sachlichen Entschlüssen gewesen. Sehen, Kolben angebackt und 'ran an den Drücker. Sie, die Mamsell, scheidet aus. Wir brauchen sie nicht weiter zu fragen. Ich habe Prokura. Allerdings, 'ne marode Jungfernschaft läßt sich nicht flicken, wie 's 'n Rastelbinder mit 'nem irdenen Topf macht. Aber ich nehme sie hin, so wie sie ist; denn ich habe die Erfahrung für mich: Scherben bringen Glück, und junge Betschwestern sind nicht immer die besten Frauen geworden. Also! propere Bahn muß ich haben. Scharfe Trennung in den Revieren. Hie Forsthaus, hie Getter. Sonst nicht. Und dann noch, was ich eben schon sagte: 'ne gewisse Abfindungssumme . . .«

Er griff nach seinem Filz.

»Herr Travelmann, das wäre wohl alles.«

Über Bernd fiel es her wie ein kreisender, tosender Steinschlag, und aus diesem Steinschlag heraus: »Und wenn ich nicht wollte?«

Er zitterte vor Wut, suchte die dunklen Wände ab, bis er den Gewehrschrank gefunden hatte. Hier bohrten sich seine Blicke ein wie gierige Lanzenspitzen.

Garke zuckte die Achseln.

»Herr Travelmann, was kann ich da weiter sagen? Wenn Sie sich wohl in Ihrer Jacke befinden, mir soll's recht sein. Ich will Ihnen Ihre Jacke nicht nehmen. Wie man sich anzieht, so kleidet's einem. Wenigstens wird so was von den meisten behauptet. Ob's wahr ist, möchte ich bezweifeln, und ich rate Ihnen daher in Ihrem eigenen Interesse, meinen wohlgemeinten Vorschlag nicht in die Binsen zu pfeifen. Geschieht's – ich kann Ihnen nicht helfen. Es kann immer passieren . . . so'n Kirchspiel hat verfluchtige Lauscher und ein weites Maulwerk. Das schreit wie'n Hirsch in der Brunftzeit. Wir aber hier unter uns . . .«

»Schnauze halten!«

Der Gutsherr bäumte sich auf. Für eine Augenblicksspanne hatte er Bilder vor Augen. Er sah ein bleiches Weib vor sich stehen – und das war sein Weib. Er sah Tränen fallen – und das waren ihre Tränen. Er sah eine Herdflamme langsam verlöschen – und das war sein Herdfeuer . . . und trotzdem – mochte kommen, was wollte: hinaus mit dem Kerl. Er machte eine Bewegung wie um an den Schrank zu gelangen. Hielt aber inne.

»Nein,« knirschte er haltlos. »Meine Hand ist zu schade und 'ne Kugel zu gut für diesen Lumpen. Das können andre besorgen. Saukerl, verfluchter!«

Mit einem wilden Sprung war er am Fenster, hatte geöffnet und einen hellen Pfiff durch die Zähne gestoßen.

Aus weiter Ferne kam ein Winseln und Belfern.

Dann verstummte es wieder.

Ein zweiter Pfiff gellte, scharf wie der einer Lokomotive auf gefährdeter Strecke.

Dann ein Ruf: »Griesgram und Grau!«

Da kam es gestoben . . . vom Obstgarten her . . . um die Gräfte herum . . . mit Gekläff und Heulen . . .

»Herr Travelmann, was sollen die Hunde?!«

Bernd mit einem zermalmenden Blick: »Ihre Pflicht tun.«

»Sie werden doch nicht . . .? Der Skandal . . .

»Ich werde, ich werde. Für Erpresser und ähnliche Leute sind solche Kerlchen die besten Kumpane und 'Rausschmeißer. Holla, Griesgram und Grau!«

Seine Stimme dröhnte durch Zimmer und Korridore, wurde jedoch übertönt von dem Getöse und Lärm der beiden Wolfshunde, die jetzt von der Diele hertobten, die Treppe nahmen und wie die tolle Jagd über die langen Gänge fegten. Mit heiserem Johlen und hängenden Lefzen hielten sie Posto vor der Tür ihres Herrn.

»Brav so, ihr beiden. Herr Garke, die besorgen die Sache. Dort hinaus!«

Er hob langsam den Arm, und dieser Arm wurde jäh übergossen von einem plötzlichen Schein, der so unvermittelt über ihn herfiel wie der Glanz aus einer Zauberlaterne.

Er drang aus dem Nebenzimmer.

Ein Mädchen trat ein, stellte das Licht auf die Schreibkommode und entfernte sich wieder.

Auf der Schwelle aber stand Hille.

»Du . . .?!«

Der Freisasse drehte das Gesicht über die Schulter.

»Was willst du jetzt hier?«

Scheu und fröstelnd sagte sie ihm: »Das Schlimmste vermeiden, dem Unglück den Eintritt verbieten.«

»Wo der Mensch hier es wagt . . .? Und das in dieser bodenlosen Gemeinheit . . .

Ein zerdrücktes Flehen, ein kaum wahrnehmbares Heben und Senken der Hände.

»Bernd, gib dem Mann freie Bahn, bevor es zu spät ist!«

»Die Peitsche sollte man ihm anmessen und vor die Hunde ihn werfen . . . aber weil du es sagst . . .

Er riß die Tür auf und gebot den gegen ihn anspringenden Tieren: »Kuscht euch, ihr beiden!«

Da winselten sie und krochen ins Zimmer, stellten sich aber Garke zur Seite, knurrend und mit fletschenden Zahnen. Ihr Geifer fiel nieder.

»Fort da! und dort in die Ecke!«

Die spitzen Köpfe gesenkt, die fließenden Schnauzen am Boden, folgten sie willig und taten sich in einem entlegenen Winkel nieder, noch immer kampfgierig, jeden Augenblick bereit, einen andern Befehl ihres Herrn auszuführen.

»Also, Herr Travelmann, für heute wäre wohl nichts mehr aufzustellen. Die Geschichte mit dem Rehbock wird prompt erledigt. Das nimmt seinen Weg und pressiert nicht weiter. Das andere aber pressiert, verträgt keine langen Fisimatenten. Drei Tage Aufschub. Bis zu diesem Termin – so oder so, aber klaren Wein in die Buddel!«

Bernd machte kehrt.

»Abwarten! Vorläufig: dort führt Ihr Weg hin.«

Ein neues Knurren aus der Ecke heraus.

Da stülpte Fritz Garke seinen Hut über, ergriff den Ziegenhainer und ging, begleitet von dem bösartigen Anschlagen der unruhigen Wächter.

Hinter ihm krachte die Tür zu.

Wie ein aufgemauerter Pfeiler wurzelte der Freisasse an der nämlichen Stelle und stierte sein Weib an.

Hille hatte sich in einem Sessel dicht am Fenster niedergelassen.

Der schmale Lichtkegel der Lampe berührte sie kaum.

Ohne Erregung begegnete sie seinen forschenden Blicken.

»Hille,« stieß er hervor, »ich begreife dich nicht. Wie konntest du nur? Die Stunde war schlecht gewählt, wo ich und Fritz Garke . . .«

Sie unterbrach ihn.

»Nein, ich bin entgegengesetzter Ansicht. Sie genügte mir völlig. Ich ersehnte sie lange und konnte keine bessere finden.«

»Seltsam! und was veranlaßte dich, hier zu erscheinen, um dich unvermittelt in wirtschaftliche Auseinandersetzungen deines Mannes mit seinem Förster zu drängen? Hier ist mein Reich und drüben das deine. Wir wollen uns doch in Zukunft bemühen, die vorgeschriebenen Grenzen einzuhalten.«

»Auch hier bin ich verschiedener Meinung. Was du wirtschaftlich nennst, mag seine Berechtigung haben, obgleich sachlich erörterte Dinge in der Regel nicht eine derartige Szene heraufbeschwören. Das Wirtschaftliche war lediglich der Rahmen des nicht erfreulichen Bildes. Den zeigtest du nur. Den Kern der Sache jedoch scheinst du geflissentlich übergehen zu wollen.«

»Larifari!«

»Bernd, weiche nicht aus! Du und ich, wir haben jetzt miteinander zu sprechen.«

»Du mit mir? Immer seltsamer. Du gedenkst hier Hütten zu bauen, mir mit einem Privatissimum unter die Augen zu treten. Ich suche nach Gründen, die dich hierzu veranlassen könnten, und muß offen gestehen, ich bin nicht in der Lage, ihrer habhaft zu werden.«

»Das könntest du aber, denn ich gehöre nicht zu den unverstandenen Frauen, nicht zu denen, die sich mit einem undurchdringlichen Nebel umschleiern und aus diesem Nebel heraus Rätsel an Rätsel flechten. Offen und ehrlich bin ich dir immer entgegengetreten, selbst dann, wo du glaubtest, an meiner wahren Neigung und dem Wohle und Wehe meines Herzens zweifeln zu müssen. Somit mußtest du sehen, was in meinem Innern vorging, was mich ruhelos durch die Kammern trieb und meine Nächte trostlos machte. Aber seit den letzten Wochen bin ich zur Überzeugung gelangt: Du willst es nicht wissen.«

»Ich bitte dich, Hille.«

»Nein, du willst es nicht wissen. Es einfach hinzunehmen, es mit demütigen Kreuzzeichen abzutun, wäre ein Fehler, der sich nicht mehr gutmachen ließe. Diese Auseinandersetzung war nötig. Jede Verzögerung brächte eine neue Gefahr. Ich will nicht weitschweifig werden. Nur das muß ich sagen, was unbedingt erforderlich ist, unser eigenes Selbst in volle Beleuchtung zu rücken. Von Darfeld kein Wort mehr. Auch davon nicht, daß du es warst, der alle Schwierigkeiten behob, um den gefährdeten Edelsitz wieder lebensfähig zu machen. Und daß es geschah, daß du es warst, der uns aufs neue aufatmen ließ, das machte dich groß in meinen Augen und bleibt meine stille Freude, bis ich sagen muß: Meine Zeit ist gekommen. Kurz, ich wurde dein Weib, ohne Nebengedanken, aus freien Stücken heraus und mit offenen Armen, ohne dem Gewesenen nachzutrauern und ihm eine gewisse Gloriole zu geben. Meine Forderungen gingen nicht weit. Nur das Weib im Weibe begehrte sein Recht. Nichts weiter. Keine utopischen Dinge. Allein ich bedurfte die Aufrichtigkeit eines entschlossenen Mannes, seine ganze Stärke und Treue, um mich an seiner Seite aufzurichten und den Ansprüchen eines sich nach Liebe sehnenden Herzens gerecht zu werden. Nur im vollen Besitz liegt die Ruhe. Ein ungewisses, laues Glück hat mir gar nichts zu sagen. Wechselseitige Zuneigung wird vom Vertrauen bedingt. Geht dieses verloren, muß die Liebe zu einer Bettlerin werden. Ich bin elend geworden durch dich.«

»Hille . . .

»So ist es. Siehe mich an – du! Ich bin der ärmsten Bettlerinnen eine. Bitte, mich nicht unterbrechen zu wollen. Es bringt uns nicht näher. Nicht du, sondern ich habe diese Auseinandersetzung erzwungen, und es liegt bei mir, sie zu einem endgültigen Abschluß zu führen. Dabei beirrt mich dein geringschätziges Achselzucken keineswegs, und ich bewundere nur den traurigen Mut, mit dem du es wagst, dich über den bittern Ernst dieser Stunde hinwegzutäuschen.«

Er trat dicht vor sie hin.

»Wie kommst du darauf, und was berechtigt dich, mir in dieser schroffen Art zu begegnen?«

Sie hob leise die Hand und ließ sie mit einem erzwungenen Lächeln wieder in den Schoß gleiten.

»Ich stelle die Gegenfrage. Du scheinst zu glauben, ich sei vom Monde gefallen, wäre ein Neuling auf Getter. Du irrst dich. Ich bin nicht das Kind mehr von Darfeld. Die Jahre gingen nicht spurlos vorüber. Ich fand mich. Die Verstandeskräfte eines fühlenden Weibes sind doch höher einzuschätzen, als du sie bewertest, wenn ich auch annehmen will: deine Bemessung ist hinter einer Maske verborgen. Ich weiß, was hier vorgeht. Die Wände sprechen es aus, in den Kammern geht es um, und wenn noch ein Zweifel obwalten sollte – die stürmische Szene mit deinem Förster brachte auch die letzten Vorwände und Bedenken zum Schweigen. Aber abgesehen hiervon« – und langsam hob sich ihre hohe Gestalt aus dem Sessel – »und wenn alles nicht wäre – ein liebendes, wahrhaftiges Weib fühlt alle Schwankungen im ehelichen Leben, selbst dann noch, wenn sie sich mit dem nur hineingehauchten Zittern von Sonnenstäubchen bemerkbar machen. Worauf es hier ankommt? Auf sie. Sie war wie eine weiße Blume im Klostergarten; die Sonne beschien sie, der Tau des Himmels benetzte sie . . . und dennoch verrottet bis in den Kelch hinein, bis in den innersten Lebensnerv. Seit Wochen ist mir dieses Empfinden geworden, und ich habe nur noch die Frage zu stellen: Wie hoch oder wie niedrig hast du die Dirne verschachert?«

»Himmel verdamm' mich!«

»Willst du es leugnen?«

Hoheit umgab sie. Alles in ihr wurde größer, majestätischer, durchzuckt von der wilden Qual einer Gepeinigten. Ungebrochen, Klägerin und Richterin in einer Person, stand sie vor ihm.

»Hille, ich begreife dich nicht.«

»Ich aber – dich! Schlage an deine Brust! Du hast in diesem Hause das Zerstörungswerk vollbracht. Daran ist nichts mehr zu ändern; aber solltest du auch jetzt noch willens sein, deine haltlose Position mir gegenüber behaupten zu wollen . . . ich ersuche dich flehend: Lasse ab von diesem unnützen Beginnen! Es würde deine gesellschaftliche Mannesehre tangieren. Ich möchte dich nicht auf den Spuren eines Lügners oder Fälschers ertappen. Das würde mein Tod sein . . . allein, das hindert mich nicht, dir offen und frei zu begegnen und gegebenen Falles die Schranken aufzurichten, die zwischen uns beiden vonnöten sind, möge kommen, was wolle. Gemeinsame Schicksalsschläge heiligen, gemeinsame Sünden entweihen. So wahr mir Gott helfe, ich fühle mich schuldlos. Du aber – du . . . Abgesehen von den Schwingungen trunkener Stunden, bin ich dir nur Ware gewesen, nur Aufputz, das arme Fräulein von Darfeld, während die da drüben, die Spenderin illegitimer Freuden und Leiden . . .«

»Himmel und Herrgott! Wer war der Verräter?!«

Seine Worte sprangen auf, um mit durchschnittenen Fesseln zusammenzubrechen.

»Hier – das hier,« versetzte sie in stiller Selbstverleugnung, die Hände auf das klopfende Herz legend. »Und hätte es sonst ein Warner getan, er wäre der Gerechtesten einer gewesen.«

»Ich würde diesem Gerechten aller Gerechten . . .«

Er hatte Schaum auf den Lippen.

»Das würdest du nicht tun, denn alle Travelmänner, so heißes Blut sie auch hatten, so leichtfertig sie über das Weib und die weibliche Ehre auch dachten – sie sind immer Travelmänner geblieben. Auch du. Du wirst mich verstehen. Erspare dir jedes weitere Bekenntnis. Ich bedarf seiner nicht. Es steht dir auf der Stirne geschrieben, denn was Travelmann heißt, ist niemals hinterhaltig geworden. Im Zorn fehlten sie, im Rausch sündigten sie . . . Das übrige weißt du. Ich verdamme, was verdammenswert ist, und verzeihe, was Verzeihung verdient. Ich kenne euch alle, euch Travelmänner, vom Hören, vom Sagen, vom Sehen, und was mir fehlte, erzählte mir eine innere Stimme. Ihr seid Herrenmenschen, Siegernaturen, und an solchen muß ein armes und beschauliches Wesen langsam verbluten.«

Das schlug wie Tatzen in seine verwundete Seele.

»Hille . . .! Hille . . .

Wie ein Wetter fiel es über ihn her, wie ein Sturm durchbrauste es ihn und suchte alles von ihm zu fegen, was morsch und faulicht geworden war. Die zerrissenen Segel seiner aufgestörten Sinne flatterten im Wind, schrien um Hilfe. Die tierische Lust in ihm winselte am Boden. Die Reinheit der hohen Frau überschauerte ihn wie die einer emporgehaltenen Hostie . . . und diese Reinheit zwang ihn, im Staube zu knien und die Arme zu strecken.

»Rühr' mich nicht an – du, bevor nicht . . .«

Er taumelte auf und mußte sich an einer Tischkante halten.

»Hille . . .

»Nein!« sagte sie kalt und gelassen.

Ihre zermarterte Schönheit stand in einem Mantel von Eis, und aus diesem eisigen Mantel wühlten sich die bittern Worte: »Das bringt nicht Erlösung. Die Tatsachen sind stärker als ich. Der welke Geruch der Klosterblumen haftet dir an. Er entweihte dich, und was hindert ihn, auch mich zu entweihen? Es ist kein leichtes, aus seinem Dunstkreis zu kommen. Über gewisse Dinge kommt eine Frau nicht fort. Der Tod ist leichter zu tragen als der immer wiederkehrende Gedanke, hintergangen zu werden. Schaue zurück und überzähle die Stunden und Tage, wo wir sagen mochten: Wir sind glücklich und wahrhaft wunschlos geworden. Bernd, sie sind an den Fingern zu zählen. Und das ist wenig, sehr wenig. Ich habe nach aufrichtiger Liebe gehungert, nicht nach den schwülen Nächten des Taumels . . . du aber, du hast mir verwehrt, diesen Hunger zu stillen, ließest mich fröstelnd stehen, seitdem diese Dirne . . . Nein, ich bin noch nicht fertig. Aus diesen Seelenwirren ist kein Ausweg zu finden. Wenigstens jetzt nicht. Nur Zeit und Einkehr vermögen zu handeln, das Unabweisbare weniger unabweisbar zu machen. Aber was die jetzige Stunde fordert, darüber bin ich mir völlig im klaren. Die Konsequenzen hieraus versuche ich auf meine Schultern zu nehmen. Ich habe keinen Grund, mich vor den Menschen zu scheuen. Mein Weg ist vorgezeichnet. Kirche und Gewissen verbieten mir eine gänzliche Trennung. Was ich darunter verstehe, brauche ich dir nicht des längern auseinanderzusetzen. Mir sind Schranken gebaut, und ich bin gesonnen, diese Schranken innezuhalten. Ein rechtschaffenes Weib läßt die ihm überlieferten Rechte nicht teilen, geschweige denn antasten. Sie sind ihm so heilig wie die Mysterien des Altarsakramentes, das Höchste, was uns vom Himmel kam und für die Gemeinschaft der Seele und des Leibes eingesetzt wurde. Ich bin bald zu Ende. Der Ring meiner Erwägungen und Schmerzen beginnt sich zu schließen. Der dornige Pfad nach Golgatha bringt Leiden und Qualen, aber auch das süße Empfinden: bald ist alles Dulden vorüber. Ich für meine Person habe nur zwischen zwei Dingen zu wählen: zwischen Gehen und Bleiben.«

Ihre Lider senkten sich langsam.

»Bleiben – ja, unter Vorbehalt . . . und dann, wenn deine Mutter es wünscht, wenn das Herdfeuer mir zuraunt: Lasse mich nicht, sonst muß ich verlöschen. Uns berührt das nicht weiter. Gehen – auch das. Ich bin mit allem zufrieden, weiß ich doch: es mußte so kommen. Wer so viel durchlitten wie ich, hat sich nur noch den dürren Blätterkranz der Entsagung in die Stirne zu drücken und die Hände zu falten. Dein Wille geschehe.«

Jeder Kampf in ihr war still geworden; alles Herbe und Unerbittliche von ihren Zügen gewichen.

Sekunden vergingen.

Da kam es wieder aus gepreßter und bedrängter Seele: »Wie hast du entschieden?«

Ein dumpfes Aufstöhnen.

»Bleibe!« fiel es ihm schwer von den Lippen.

Jetzt hob sie die Blicke.

Sie sah in ein blutloses, entstelltes Gesicht, dessen brennende Augen die ihrigen suchten.

Der Boden schien ihr zu wanken. Ihre Kraft war zu Ende. Sie tastete rücklings und sank in die Lehnen zurück, um leise zu schluchzen.

»Geh' jetzt! Ich möchte allein sein . . . und willst du mir einen Gefallen erweisen: rufe die Mutter!«

Wirre Gestalten zogen fieberhaft vorüber. Sie wurden krauser und nebelhafter, führten sie mit sich und geleiteten sie in eine verwunschene Öde, die nur Finsternis hatte und alles verschluckte, was klingen und tönen wollte. Sie sah nichts und hörte ihre eigene Stimme nicht mehr. Auch hatte sie kein Empfinden dafür, daß Frau Judith und Ludgerus Hölscher sich um sie bemühten, sie aufhoben und sorglich betteten, daß Tag und Nacht wechselten, draußen die Finken schmetterten und von Frühling und Auferstehungsfreude erzählten.

Nichts mehr, nichts mehr! bis eines Abends . . .

* * *

Wochen waren darüber vergangen, Wochen, die über Tod und Leben entschieden. Endlich neigte sich das Zünglein der Wage zum bessern, und als es sich neigte, hatten die Pfirsich- und Aprikosenspaliere längst ihren rosigen Schaum verloren, waren die Apfelbäume verblüht, gingen die Weizen- und Roggenfelder in langen Gewändern.

Hille saß zwischen den Kissen.

Verheißungsvoll stand ein feierliches Licht hinter den Scheiben.

Sie sah das Licht und freute sich seines lieblichen Anblicks.

Behutsame Schritte näherten sich; dann hielt Judith ihre Rechte umfangen.

»Mutter – du . . .

»Ich bin es, mein Kind. Nun bist du uns wiedergegeben. Aber sei still, nicht sprechen, keine wehen Gedanken . . .«

Immer voller strahlte die Glorie durch das halbgeöffnete Fenster.

Hille folgte dem letzten Grüßen des Tages mit schmerzlichem Lächeln.

Sie horchte hinaus.

»Nein, es ist nicht draußen.«

Dann fragte sie plötzlich: »Schafft der Stellmacher im Hause?«

Die Alte wurde unruhig.

»Wie kommst du darauf?«

»Mutter –« und ihre Augen standen in einem wehmütigen Glänzen – »es muß doch wohl sein. Es kommt von der Diele. Ich höre wen sägen.«

»Ich bitte dich, Hille! Längst ist Feierabend gewesen. Der Mann will doch auch seine Ausspannung haben.«

»Tut nichts, Mutter. Ich kann mich nicht irren. Es klingt zu deutlich herüber. Ich höre immerzu sägen. Aber die Säge geht kurz und hat keine langen Wege zu machen. Fünf Brettchen sind schon zu Boden gefallen!«

Sie hob sich in den Kissen und horchte atemlos auf das Geräusch, das sie zu hören vermeinte.

»Da wieder! Jetzt fällt das sechste herunter.«

Sie warf sich zurück und bedeckte ihr Antlitz mit zitternden Händen.

»Mutter, jetzt läuten sie in der Kirche zu Hiltrup. Mein Gott und mein Heiland!«

Dann schwieg sie.

Fünf Tage später wurde ein winziges Särglein nach dem stillen Gottesacker getragen.

Frau Judith folgte ihm, ohne in ihrem wilden Schmerz Tränen zu finden.

Als sie zurückkehrte, ging sie zu Hille, küßte ihr die wächserne Stirn und sagte: »Tröste dich, Hille! Ihm war kein Leben beschieden. Dort oben erst wird es zum Leben erwachen. Und dir und uns: aus dem kleinen Hügel wird neue Hoffnung auferstehen, die uns segnet, alle miteinander.«

Hierauf nahm sie den Travelmannschen Schmuck und legte ihn stumm in die Lade.

 


 << zurück weiter >>