Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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14

Der erste Hahn krähte auf Getter, der zweite, der dritte.

Auf dem mittelsten Schornstein stand ein bläulicher Krüsel, legte sich zur Seite und schwamm leichthin über die Dächer.

Der Osten opalisierte. Dann wurde er weiß.

Mit seinem Erscheinen begann sich die Arbeit zu regen. Köttersleute und Tagelöhner strömten aus der Nachbarschaft zu, Männer und Weiber. Die Knechte des Hofes gesellten sich ihnen. Hövelkamp trat unter sie, teilte sie in verschiedene Trupps und wies ihnen ihr Tagewerk an, kurz und bündig, ohne lange Redensarten zu machen. Gleich darauf verzogen sich alle in Ställe und Geschirrkammern, auf die Kornböden oder in die Felder hinaus.

Jans Schwarte leitete die beiden Braunen, prächtige Oldenburger, auf den Hof, kardätschte und striegelte sie, daß man sich in ihren breiten Kruppen und Flanken zu spiegeln vermochte, säuberte den Hufstrahl und legte die Mähnen in zierliche Flechten.

Der Morgen des heiligen Polykarp hatte frischen Mut in den Knochen. Das Schlappe, Verdrießliche seiner Vorgänger blieb ihm erspart. Mit blanken Augen blickte er um sich. Kalte Sonnenkälbchen spielten mit seinem Haar, das aussah, als wäre es durch Brillantine gezogen. Vor seinem Munde stand ein Nebelwölkchen, das sich scharf nach allen Seiten verteilte. Unter seinem Hauch schob sich eine feine Eisdecke über Wasser und Tümpel, matzendünn und mit flirrenden Nadeln durchkrustet. In den Zweigen der alten Eichen bildeten sich schmucke Kristalle. Sie blinkten im lichten Glanz des Tages und klingelten wie Glassplitterchen in einer Erbsenrabatte.

Hövelkamp, der zwei Stunden hindurch Böden, Speicher und Raufen inspiziert hatte, trat wieder ins Freie hinaus, eine Peitsche mit sich führend, aus schwanken Weidengerten gedreht, die Schnur aus Werg und Katzendärmen gesponnen.

Eisernen Gesichtes pflanzte er sich der Gesindestube gegenüber auf.

Er stand wie ein Pfahl.

Ein scharfer, sehniger Ruck, und die schnittige Korde knatterte wie ein giftiges Reptil in die Höhe, umschrieb eine reguläre 8 in der Luft, um den Auftakt mit einem scharfen Knall zu beschließen. Dann wieder . . . sie riß knisternde Striemen, Schnirkel und Schnörkel, sirrte über den Boden, stellte sich wie ein Tümmler nach oben. Dazwischen fielen Schüsse, dicht hintereinander, einem Pelotonfeuer ähnlich. Und in dieses Schießen hinein, während die Peitsche weiter regierte, lärmte er eine Lirumlarum-Löffelstiel-Weise, aber grimmig und abgehackt, als sei er gewillt, seinen innern Groll und das, was seine Brust bewegte, mit der pfeifenden Schnur in Einklang zu bringen. »Hia da hüp!

Alles, was auf Erden schwebet,
Ist die Taub' das schönste Tier.
Tauben, die gefallen mir.
Doch vor allem
Tut gefallen:
Sag' mir, was ist eine?
Einmal eins ist Gott alleine,
Der da lebet, der da schwebet
Hoch im Himmel und auf Erden.
Hüa da hüp!
Zwei Tafeln Moses,
Drei Patriarchen,
Vier Evangelisten,
Fünf Gebote der Kirche,
Sechs der Krug' mit rotem Wein
Schenkt' der Herr zu Kana ein,
Zu Kana in Galäa,
'nem Städtchen in Judäa . . .«

Der helle Spektakel rief Johanna ins Freie. Lachenden Mundes, die Ärmel aufgeschlagen, die rahmweißen Arme unter der üppigen Büste, war sie auf die Schwelle getreten. Ihre blauschwarzen Flechten gleißten im Sonnenlicht. Der runde und doch geschmeidige Leib dehnte sich wohlig. Gekniffenen Auges sah sie in das Gewirr der gepeitschten Figuren, hörte sie auf das Knattern und Flackern, das ihr ein lautes Kichern entlockte. Was wollte der Mensch nur? War ihm bereits 'ne vorzeitige Fastnacht unter den Schädel gefahren? So'n Gottestropf!

Hövelkamp scherte sich den Kuckuck um sie.

»Hüa da hup!
Mir vor allen
Tun gefallen:
Sieben Sakramente,
Acht Seligkeiten,
Neun Chöre der Engel,
Zehn Gebote Gottes,
Elftausend Jungfrauen,
Zwölf Apostel Jesu,
Dreizehntes Infanterie-Regiment.
Hüa da hüp!
Doch vor allem
Tut gefallen . . .«

Er wurde unterbrochen.

Eine feste, gebräunte Hand legte sich ihm derb auf die Mütze.

»Was tut Euch gefallen, mein lieber Hövelkamp?«

»Dunnerkiel noch mal!«

Er drehte sich um.

Fritz Garke stand vor ihm, mit verwittertem Filz und lustigen Augen.

»Na, was denn?« fragte der Förster zum andern.

»Was mir gefallen tut? Ganz einfach: daß ich hier knalle, daß ich bestellt bin, dem Malör in die Parade zu fahren, von Rechts wegen und im Namen dessen, der da auf der Tenne steht, um die Spreu vom Weizen zu sondern. Wenn en Unglück sall sin, dann fällt de Katte von'n Stauhl un terbriäkt den Stiärt. Ich bin gesetzt dagegen. Gute Wacht ist wie der Stern Gottes. Er sieht alles und leuchtet denen, die da bestimmt sind, Augen auf und Ordnung zu halten.«

»Und Ihr seid einer von denen?«

»Bin ich, ohne Zweifel und sonder Nebengedanken.«

»Schön, und das mit der Peitsche?«

»Vorläufig bloß zur Ermahnung, so 'ne Art Vorbedeutung vom Predigtstuhl herunter und für solche gesprochen, die willens sind, durch 'ne Sünde zu stänkern. Hören sie, soll's mir angenehm sein; hören sie nicht, kommt über sie das hitzige Fieber« – und er fuhr auf wie ein reisender Apostel, berufen, das Evangelium unter störrische Heiden zu tragen – »dann muß das hier regieren, denn so was bringt wieder Raison in die Köppe.«

»Nanu!«

Garke rückte sich den Hut in den Nacken. Der unerschütterliche Ernst des vierschrötigen Mannes gab ihm zu denken.

»Wem gilt denn die ganze Geschichte?«

»Weiß ich nicht. Darf ich nicht wissen. Muß sich erst später ergeben. Kann Buxen oder auch 'nen Weiberrock tragen. Möglich, daß ich's mit 'nem veramüsiertem Weibsrock zu tun haben werde, denn eine, die so einen trägt, is en Engel in die Kiärke, 'ne Hickel up de Straote un en Düwel im Huse. Aber wen's trefft: dem Gnade und Barmherzigkeit! An so 'ne Aufmachung kann Menschenblut kleben,« und wiederum sirrte die schnittige Korde über den Boden, knatterte wie ein Feuerwerkskörper.

Hinter ihm klappte die Tür zu.

Über ihm wurde ein Fenster geöffnet. Im Rahmen erschien die Gestalt des Hausherrn.

Fritz Garke schnürte sich abseits, drehte bei und verschwand in der Gesindestube.

»Hövelkamp, seid Ihr denn von Gott und allen guten Geistern verlassen? Wozu das Manöver?«

Der Angerufene sah stur in die Höhe.

»Herr Travelmann, daß ich's men sage: Et is so heit, dat de Kräggen up en Taun sittet un jappet. Die Frau hat mir Order gegeben und mich bestellt, dem Malör in die Parade zu fahren, von Rechts wegen und im Namen dessen, der da auf der Tenne steht, um die Spreu vom Weizen zu sondern. Vor der Hand chargier' ich men blind durch, um für alle Fälle den richtigen Schwung zu besitzen. Gute Wacht ist wie der Stern Gottes. Er sieht alles und leuchtet denen, die bestimmt sind, Augen auf und Ordnung zu halten.«

Der Freisasse lachte.

»Dann leuchtet man weiter; nur sorgt, daß alles parat ist.«

»Bloß keine Bange.«

»In 'ner Viertelstunde soll der Sandschneider vorfahren.«

»Ist besorgt und angeordnet.«

»Vom Herrn Baron noch nichts zu sehen?«

»Noch gar nichts; aber nach dem Helweg zu hör' ich wen singen.«

Das Fenster klapperte.

»Hia da hüp!«

Mit langen Schritten stakelte Hövelkamp zu Jans hin, der just dabei war, die Oldenburger aufzuschirren.

Hinter den Wallhecken näherte sich eine wackere Stimme. Aber sie sang nicht das taktfeste:

»Es diente mein tapferer Vater
In der preußischen Garde zu Fuß . . .«

sondern das ernste Lied ›Wer hat dich, du schöner Wald‹ und das erhabene ›O Täler weit, o Höhen‹ und das grandiose ›Nun ruhen alle Wälder‹, um sachlich und verständnisinnig das von der ›Holzauktion‹ auf die Walze zu nehmen, ein Lied, dessen sich zurzeit die meisten Orgeln bemächtigt hatten und das alle Menschenherzen bewegte. Gut gemeint, aber doch die übelste Kakophonie.

Ohm Gideon, und doch nicht Ohm Gideon.

Den Freiherrn von und zu Hasenklever hatte er abgelegt; ebenso den Paderborner Husaren. Er war nur Taxator, Holzbeflissener, ganz und gar zugeknöpfter und korrekter Beamter. Wie der Mann, so die Ausrüstung. Allerdings, den Bülow Krawallo führte er bei sich, das Vivathütchen mit der pompösen Spielhahnfeder schmückte den entwaldeten Schädel; aber das andere . . . Er hatte sich völlig gemausert. Ein kurzer, mit Fuchspelz verbrämter, eisengrauer Überzieher, der dicht über dem Rückensturz absetzte, hüllte den oberen Menschen ein. Das fidele Untergestell steckte in englischen Velvethosen, Ledergamaschen und derben Nagelschuhen. Von der linken Schulter zur rechten Hüfte legte sich ein strohgelber Riemen. Daran Krimstecher mit Bussole und Kompaß. Eine Kartentasche mit Buntstiften, Zirkel und verschiedenen Aufnahmen der Umgebung von Amelsbüren und Hiltrup, im Maßstabe 1:25 000, baumelte von einem kräftigen Gurt, der ihm das stattliche Bäuchlein umschnürte. Dazu kamen Meßinstrumente und andre Gegenstände, die erforderlich waren, sinngemäß und sachlich abzuschätzen. Nicht dieses allein. Die Brusttaschen des Überziehers strafften und strammten sich mächtig. In der linken ruhte Heyers ›Der gediegene und praktische Waldwirt‹, in der rechten: ›Forstliche Ertragstafeln‹ von Hartig, eine tabellarische Darstellung des Holzzuwachses eines Bestandes für bestimmt abgegrenzte Wirtschaftsbetriebe.

Es war zum Erschauern.

So ausgerüstet, einen magischen Respekt ausbüschelnd, ganz Kameralist und Forstmathematiker, nur Statistik und Umtrieb vor Augen und das Lied von der ›Holzauktion‹ auf den Lippen, karawante er in den Freisassenhof, sah weder rechts noch links, klingelte und trat in den Hausflur.

Hier empfing ihn der Gutsherr.

Der prallte zurück.

»Mensch, dieses Kostüm!«

»Bernd, kein Erstaunen. Mein Grundsatz: bei Stienen gemütlich, im Dienst äußerste Pflicht und Sachkenntnis. Stramm militärische Kürze. Nichts dran zu ändern.«

Er strich seinen martialischen Schnurrbart.

»So?! und der Fakir in dir?«

Ohm Gideon zeigte die Innenfläche der linken Hand und hielt sie seinem Freunde entgegen.

»Bernd, keine Versuchung! Bitte, nicht das Spiel mit den lockenden Sirenen! Meine Ohren sind mit Wachs verpicht. Absolut sicher. Jawohl, ja. Nur im äußersten Notfall. Zum Beispiel: es ist kalt unter Gottes Himmel geworden. In der Uhlenbrinker Gemarkung zieht es verteufelt. Auch in der Hallüh. Dagegen kann kein vernünftiger Mensch anoperieren. Gesetzt den Fall, es zöge so weiter: dann allerdings. Aber nur in bescheidenstem Maße, nur aus dem Grunde heraus, die Arbeit zu fördern und zu einem ersprießlichen Ende zu führen. Mit Liebe und Lust. Sonst nicht zu machen.«

»All right! Also gehen wir!«

Draußen hielt Jans Schwarte mit dem Sandschneider. Die feurigen Gäule bissen in die Stangen und scharrten den Boden.

Johanna trug in Begleitung Garkes einen stattlichen Korb zu, über dessen Rand eine opulente Anzahl von Flaschenhälsen hervorsah. Ein einschmeichelnder Duft nach gebratenen Hühnern, Brot und Butter entströmte der sorglichen Verpackung.

Der Paderborner kehrte sich indigniert ab. Er wollte nichts sehen und riechen. Der korrekte und zugeknöpfte Beamte behielt noch immer die Oberhand. Nur ein ganz feines, aber saftiges Tröpfchen rieselte ihm von der Unterlippe herunter.

Beim Einschieben der köstlichen Ladung unter den Rücksitz verirrte sich die försterliche Rechte in ganz verlorener Weise. Heimlich und vertraut glitt sie über die Kruppe des schönen Mädchens.

Es zuckte auf, seine Haut fältelte sich, aber das war auch alles gewesen.

Bernd sah es.

Seine Augenbrauen zogen sich bedenklich zusammen.

»Garke, was soll das? Hier gibt's kein Freiwild.«

»Herr Travelmann, es ist doch bloß so pro forma geschehen.«

»Dieses ›pro forma‹ hole der Satan. Verstanden?«

»Ja, ich habe verstanden, Herr Travelmann.«

»Dann 'rin in die Koje!«

Der Freisasse schwang sich riemig und sehnig neben Jans Schwarte auf den Bock, ergriff Zügel und Peitsche, drehte den Kopf und rief über die Schulter: »Garke, wohin zuerst?«

»Schwarzes Holz, Jagen vierundzwanzig, am Hechelkreuz vorüber, bis zum Vorwerk in der Uhlenbrinker Gemarkung.«

»Gut gegeben, Herr Forstrat.«

Ohm Gideon, der neben ihm Platz genommen hatte, klopfte ihm wohlwollend aufs Knie und begann ein gelehrtes Gespräch über Bodenkultur und Waldschädlinge in die Wege zu leiten. Allein der so Bevorzugte hatte nur geringes Verständnis für die gönnerhafte Art und Weise des Paderborners. Er nickte bloß. Seine Gedanken waren wo anders. Indem er seinen kurzverschnittenen Spitzbart strählte, sah er zur Seite, wo das frische Weibsbild sich in seiner ganzen Einfalt und Treuherzigkeit sonnte. Gierig waren die roten Lippen geöffnet. Die weißen Zähne kamen zum Vorschein. Ein eigentümliches Kichern perlte durch die Kehle.

»Fertig?« kam es vom Bock.

Jans Schwarte sah sich um.

»Jawohl, Herr Travelmannn.«

Die linke Faust des Gutsherrn machte eine kleine Bewegung, während die seidenfadige Schnur der Gerte eine rasche Volte schlug und leicht über die Gäule hintänzelte. Ein kurzes Schnalzen, und in flotter Gangart ging es über den Hof fort, der Gräfte entlang und dem silberigen Birkenwäldchen zu.

Johanna befand sich noch immer auf der nämlichen Stelle.

Sie atmete tief. Ein sinnliches Rieseln glitt über den Nacken. Mit untergeschlagenen Armen, die nackt waren und wie Buttermilch aussahen, verfolgte sie den raschen Sandschneider, bis er untertauchte in dem Gewirr der hängenden Zweige, jenseits der überjährigen Rohrbestände.

»A rivederci!«

Noch einmal klang es zurück.

Ohm Gideon hatte gerufen.

Sie wandte sich langsam in ihren geschmeidigen Hüften, blieb aber jäh am Boden geheftet.

Hinter der doppelschlägigen Tür der Geschirrkammer erhob sich die hohe und dürre Gestalt Hövelkamps.

Drohend stand sie zwischen den grauen und verwitterten Pfosten.

Nur die großen und ausgebleichten Augen lebten an ihm.

Sie glühten wie Holzmulm und waren wie das Gericht Gottes auf die Entsetzte gerichtet.

Nur schwer gelang es ihr, aus dem Bannkreis dieser Blicke zu kommen. Als sie endlich den Mut fand, ging sie eiligst davon, ohne nochmals das Antlitz zu wenden.

Erst auf ihrer Kammer beruhigte sie sich.

Jetzt keine Heilige mehr, keine von denen mehr, die bei den Ursulinerinnen in Dorsten ihre Bildung genossen und die bleichen Lilien an der Klostermauer gepflegt hatten, streifte sie sich ihr Leibchen herunter, unbefangen, mit der heitern Lebensauffassung der Frauen und Mädchen, die, wie der Prophet in seinem Jeremiasbriefe berichtet, nur mit einem Gürtel angetan, in den Hainen von Borsippa saßen, den Fremden zunickten und Olivenkerne entzündeten.

Sie trat vor den Spiegel, nestelte weiter und ließ das weiße Linnen herunter, ohne Scheu, mit der Anmut der Jungfrauen von Amathunt, den landenden Matrosen gefährlicher als alle Klippen und Schrecknisse des Meeres.

Kein Erröten, kein Bangen, kein Sichsperren gegen das, was die blanke Fläche ihr mitteilte. Sie nahm alles hin, als wäre es ihr von reinen Händen gegeben . . . und hätte einer hinter ihr gestanden, einer von den Freien und Starken im Lande, hätte mit ihr in den Spiegel geschaut und nicht alles vergessen, was um ihn lockte und gaukelte: die sonnige Welt, den Schmelz des Lichtes, Ehre und Ansehen und alles Gold der Erde – und hätte nicht gestammelt: »Nehmet mir alles: die sonnige Welt, den Schmelz des Lichtes und das, was mir Ehre gab und Reichtum zuführte, nur laßt mir das, was ich sehe. Ich bete das Weib an . . .« er wäre ein Mann ohne seine gesunden fünf Sinne oder wie Jakobus, Bischof von Nisibis, gewesen. Und was tat dieser Bischof? Ein Wunder; denn als er gelegentlich einer Reise nach Persien an einem Brunnen vorbeikam, sah er gelenkige, halbentblößte Mädchen, die ihr Linnen dort wuschen. Eine Empörung war in ihm, aus Furcht, irre zu werden und die Gnade zu verlieren. Femina janua diaboli, scorpionis percussio, inutile genus. Das Weib ist die Pforte zur Hölle, der Stachel des Skorpions, ein unnützes und verderbtes Geschlecht. Und er verfluchte den Brunnen und wandelte das Haar der Mädchen, das wie Ebenholz aussah, mit dem Glanz des Rabenfittichs dazwischen, in häßliches, sandfarbiges, stinkendes – und ging getröstet von dannen.

In Anbetung versunken, stand Johanna vor der spiegelnden Scheibe.

Ihr Schauen war Tempeldienst, und sie erfreute sich dieser Anbetung. Endlich! sie hatte genug gesehen, ging ihrer Truhe zu, um sich für den Mittag und Abend umzukleiden.

* * *

Das Schwarze Holz war schon seit einer Stunde erledigt. Tapfer, im Schweiße seines Angesichts hatte der Paderborner gescharwerkt, ohne rückfällig zu werden, ohne auch nur einen Blick auf die verlockenden Flaschen zu werfen, auf die dunkeln Bouteillen mit den gelben Siegellackhälsen und den breiten Bauchbinden, ähnlich denen der fetten Abbaten aus dem Lande der Abruzzen, Messerstecher und Falschmünzer.

Ein neues Revier wurde bezogen. Längst hallten die Schritte durch die Schneisen der Hallüh und der Hohen Fuhr in der Nähe von Hiltrup. Hier standen mächtige Fichten im Flechtenbart, im eigenen Weihrauch, mit der Andacht von grüngekleideten Leviten nebeneinander. Ihre sparrigen Arme berührten sich, ihre harzigen Tränen tropften gemeinsam, ihre Wipfel knirschten zusammen, wenn der Wind sich erhob und die rissigen Stämme unruhig wurden. Eine Durchforstung war mehr als geboten, und so war denn Ohm Gideon vollauf beschäftigt, gerade in diesem Revier seine Messungen vorzunehmen und die dem Tode geweihten Bäume durch Fritz Garke zeichnen zu lassen.

An der Hand von genauen Flur- und Waldkarten durchstreifte er Jagen und Gestelle, tat wie ein Unfehlbarer und überschlug in kühnen Kalkulationen die Bewertung der einzelnen Distrikte. Nichts entging seinen kundigen Augen. Sein dickleibiges Notizbuch füllte sich mit Tabellen und Zahlen. Trotz der scharfen und spitzen Ostbrise, die mit Lanzetten bis auf die Haut prickelte, schwitzte er sich tapfer von Bestand zu Bestand, von einer Schneise zur andern.

Von Hiltrup her kamen zwölf einzelne Schläge.

Mittagszeit.

Er ließ schlagen, was schlagen wollte, obgleich der Gutsherr bereits etwas von knurrenden Mägen, gebratenen Hühnern und wärmenden Tropfen erzählte und Fritz Garke sich nach einem unter Wind gelegenen Plätzchen umsah, geeignet, dem heißersehnten Frühstück eine trauliche Stätte zu bereiten.

Nichts war zu machen. Der Paderborner blieb von seinem Vivathütchen bis zu den groben Nagelschuhen herunter der unerschütterliche Naturfreund, der kalte Makler und Erwäger.

Die von knisternden Nadeln durchsäuselten Hallen tönten wider von weisen Sentenzen aus Heyer: ›Der gediegene und praktische Waldwirt‹, erschauerten unter den weithingelärmten ›Forstlichen Ertragstafeln‹ von Hartig, so daß Garke alle Hände voll zu tun hatte, die Rinde anzuspänen und mit Rotstift ein Kreuz auf das blanke Holz zu malen. Bis in die schwarzen Wipfel hinein, wo Meisen und Goldhähnchen ihr artiges Spiel trieben, kletterte die Weisheit und tiefgründige Andacht des Unverdrossenen, der seinesgleichen nicht hatte.

Bernd ermahnte zum andern.

Der Ohm lehnte ab, fast gekränkt.

»Luftikus, wo werde ich denn? Bei Stienen immer zu haben, doch hier« – er schlug sich auf sein eisengraues Wams, daß es knallte – »hier lediglich Maschine, prompte Maschine. Jawoll, ja. Ich weiß, was sich schickt, dir gegenüber und mir gegenüber.«

»Mensch, die Bouteillen . . .

Ohm Gideon schüttelte sich, als habe er Zeit seines Lebens mit den Hydropathen nur pures Brunnenwasser getrunken, mit den Moslems einen immerwährenden Ramadan gefeiert.

»Narrenkönig!«

Bernd Travelmann ging lachend von dannen, begab sich tiefer ins Holz und suchte nach einer windfreien Stelle.

Ein Uhr, zwei Uhr.

Die Sonnenstrahlen glitten bereits rötlich und schräg durch die borkigen Stämme, als irgendwoher ein Kommandoruf laut wurde.

»Pause!« donnerte eine mächtige Stimme.

»Nanu, diese Eigenmächtigkeit!« entrüstete sich Ohm Gideon, drehte sich um und rief nach dem Forstrat.

Fritz Garke war nicht mehr da. Er hatte sich seitwärts in die Büsche verkrümelt. Weit drüben aber, zwischen dem Stangenholz, knisterte ein Feuerchen, kräuselte ein bläuliches Wölkchen.

»Da soll doch . . .«

Er bekam Witterung in die Nase. Wie ein vergrämter Fuchs schnürte er sich näher heran. Da sah er . . .

In einer Delle, den Rücken durch junge Fichten gedeckt, wohlig angewärmt durch brennende Reisigbündel, saßen Gutsherr und Revierförster genüglich zusammen, verzehrten ihr Huhn und sprachen dem Wein zu.

Er prallte zurück.

»Das ist ja, um in ein kamelhärenes Gewand zu fahren,« brauste er auf. »Hockt das beieinander und tafelt wie Bäcker- und Klosterknechte, während ich im Interesse der Gutsverwaltung mein ganzes Menschentum hergebe und schaffe. Wo soll ich das hintun?«

Keine Antwort erfolgte.

Die Brathühner dufteten lieblich, der Rote begann ihm in der Nase zu kitzeln.

Er schnupperte.

»Allerdings,« lenkte er ein, »es zieht barbarisch durch die Hallüh; auch die Hohe Fuhr hat ihre Naupen. Das mag als Entschuldigung gelten. Aber dieses heimliche Vorgehen . . . Indessen jedoch, gegen Pflicht und Gewissen, gegen Überzeugung und Bravheit: mit hungrigen Wölfen hat selbst der treueste Emissär zu heulen. Und aus dieser Erwägung heraus . . .«

Er warf sich bei den andern nieder, langte zu und zerteilte seine Gockeline mit dem Weidmesser, zögernd, widerwillig, als wäre so ein Mistkratzer in die Ordnung der minderwertigen Vögel einzurangieren. Er ekelte sich. Um so emsiger wurde die tote Henne bestattet. Verstohlen schürfte er hierauf den Korkzieher aus der Tasche, drehte an und beförderte den Pfropfen mit hellem Schnalzen aus der kurzhalsigen Flasche – contre coeur, wie er behauptete, lediglich, um den Anstand zu wahren und keine Verstimmung aufkommen zu lassen.

Aber die Tropfen waren gut. Man konnte ihnen sogar das Epitheton ornans ›vortrefflich‹ beilegen. Dennoch wurmte er sich beim ersten Glase und sprach von unleidlicher Arbeitsunterbrechung, salopper Pflichterfüllung und Verkennung der Tatsachen. Beim zweiten weniger. Beim dritten verstummte sein Mund, und als er wiederum den Korkzieher zu Hilfe nahm, begann er zu saugen und sog, als wären Kehle und Magen in großporige Badeschwämme verwandelt.

Schon hub seine Zunge an, vergnüglich zu lallen, schwerer und splissiger zu werden, und siehe: mit dem Schrägerwerden der Sonnenlichter fielen ihm seine strengen Grundsätze wie Zunder vom Leibe, bröckelten ab, und keine halbe Stunde verging, da kam der leibhaftige, grandiose und köstliche Onkel, der alte Paderborner, wieder zum Vorschein.

Sein Antlitz strahlte bereits wie Beteigeuze im Sternbild des Orion.

Bernd reckte den Kopf, stellte sein Glas beiseite und erinnerte daran, daß es nun Zeit sei, wieder den Betrieb zu eröffnen. Noch sei Büchsenlicht und die letzte Messung zu regeln.

»Wa . . . wa . . . wa . . . was?!«

Gideon stierte ihn an, als habe sein Freund und Gönner in der Sprache der Botokuden geredet.

»Jetzt? wo ich gerade dabei bin, meinen inneren Menschen nach des Tages Last und Fron leidlich in die Reihe zu bringen, da kommst du mit solchen Lappalien, unwürdig eines denkenden und großen Mannes?«

Sein Lapis lazuli umschrieb eine Kreislinie.

»Du bist woll. Erst ist das hier alle zu machen. Denn es ist besser und gediegener als Joseph Stienen seine äußersten Marken. Charles, 'ne frische Bouteille für den Herrn Baron von und zu Hasenklever, hochwohlgeboren! Aber was ich sagen wollte! Ja, du – wie konntest du nur? Wie konntest du nur über Emmerich Dinklage hinstolpern wie über 'ne Schachtel Nürnberger Zinnsoldaten? Damals . . . ich meine . . . Das war mit Tusch in einem Atem zu nennen.«

»Bitte, lassen wir das!«

Ein schweres und verlorenes Radebrechen: »Nein, Freisassenhöfer, das darf man nicht lassen. Ihr beide seid edle Menschen, Träger der Macht und der Herrlichkeit. Der Mann ist Klamottenforscher und Denker. Charles . . .! Prosit, mein Junge! denn, was Herr Stienen erzählte, also geschah es. Der Fackelzug stieg . . . alle Kulören in Wichs . . . die Kapelle der Dreizehner schlankweg voran . . . über den Prinzipalmarkt . . . dreimal um die Lambertikirche herum . . . dann zur Neubrückenstraße . . . Im Fenster stand er . . . er, der Gefeierte des Tages . . . der Stratege von Leukas . . . der Heros . . . Und du?«

Der Gutsherr sprang auf.

»Unsinn, verfluchter!«

»Was, Unsinn?! Auch gut; denn ihr Travelmänner habt 'ne eigenartige Bewertung menschlichen Könnens. So versinke denn, Emmerich, tauche unter, sei gelöscht aus dem Gedächtnis deiner Freunde und Lebensgefährten. Immer tiefer und tiefer. Aber dort oben . . .«

Er stierte steil in die Höhe, zum Gipfel einer mächtigen Fichte empor, die im Licht der untergehenden Sonne blutete.

Meisen und Goldhähnchen spektakelten lauter.

»O diese Stimmen!«

Er wuchtete sich schwer aus Pfriem und Nadeln.

»Das ist die Stimme Johannas!«

Taumelnd, seinen Schnurrbart streichend, wankte er auf den harzigen Stamm los, umschlang ihn, preßte sich an ihn, machte verliebte Nasenlöcher und stammelte: »Es gibt keine Majestät, und es gibt keine Macht, außer bei Montezuma, dem Glorreichen, Großen! Endlich habe ich dich . . . dich, die Tochter des Silberhaltigen . . . die Blume der Prärie . . . dich, den Schmuck der Azteken . . . augenfälliger als Seide und weicher als der Schwanz eines Fetthammels . . . O du Breithüftige, Vollbusige und doch Geschmeidige, werde mein Weib . . . meine Gattin . . . meine Kindergebärerin . . . O diese Stimmen . . .

Er drückte Schnurrbart und Mund auf die rissige Borke.

»Entweder dich oder keine.«

»Pardon, Herr Baron.«

Fritz Garke stand hinter ihm, erregt und mit zuckenden Lichtern. Das Weiße darin glänzte wie Porzellan.

»Wenn Sie erlauben, ich dürfte wohl den nächsten Anspruch erheben, denn ich bin willens und gesonnen . . .«

Ohm Gideon grinste ihn an.

»Was – Sie?! Was sind Sie gesonnen und willens? Lassen Sie sich auslachen, Mann . . . armseliger Forstrat . . . lediglich Waldknecht . . . Man müßte Sie auf ein Blutleder werfen. Backen Sie Lieber Ihren Schießprügel an und holen 'ne lahme Krähe herunter, als daß Sie den sträflichen Mut haben, die Silberdistel der Prärie . . . In meinem Wigwam allein . . . Wigwam! . . . Wigwam . . .

Noch ein letztes verliebtes Umklammern, und Ohm Gideon, der pompöse und köstliche Ohm Gideon, klappte wie ein Müllersack, dem das Korn aus einer schadhaften Stelle rieselte, am Wurzelstock der Fichte zusammen.

»Erledigt,« sagte der Gutsherr.

Er sah steif und verärgert in den Abend.

Der Wein glühte in ihm. Der Tag war ihm gründlich verdorben.

Das durfte nicht geschehen, das mit Emmerich nicht und das andre auch nicht.

Das heraufbeschworene Weib stand ihm lebhaft vor Augen.

Er rief nach den Gäulen.

Jans Schwarte, der bei einer Schonung in Deckung gelegen hatte, fuhr vor.

Mit seiner Hilfe und der Garkes wurde der Paderborner verfrachtet.

Bernd tätschelte inzwischen die Flanken der unruhigen Tiere, griff nach den Zügeln, setzte den Fuß aufs Trittbrett und gnetterte: »Schwarte, 'rin in den Wagen, ich fahre. Und Ihr, Garke, Ihr habt wohl keinen Gusto mehr, nach der Getter und so . . .«

»Eigentlich nein. Ich hab's von hier aus kommoder nach Hause.«

»Soll mir angenehm sein, aber nehmt noch 'ne gute Lehre mit auf den Heimweg.«

»Und die wäre?«

»Ganz einfach: Hand von Johanna!«

»Herr Travelmann, wie komm' ich dazu?«

»Weil ich es will. Ich dulde keine Exkursionen in andermanns Garten.«

Der Freisasse saß bereits auf dem Bock, die Zügel gestrafft, die Beine vorgestemmt, der sehnige Leib wie aus hartem Granit gehämmert.

»Herr Travelmann, es gibt doch keine Leibeigenschaft mehr, und das jus primae noctis . . .«

»Mir Wurscht, aber Hand von dem Mädel!« donnerte es aus der Höhe herunter.

»Jawoll, Hand von dem Mädel – Sie Holzknecht,« lallte Ohm Gideon, »denn in meinem Wigwam allein . . .«

Die Peitsche sirrte und der Sandschneider karriolte los, durch Schneisen und Waldgestelle, über Blößen und ausgefahrene Wege, erst behutsam und stuckernd, dann schlanker und freier. Endlich war die offene Straße gewonnen. Hallüh und Hohe Fuhr blieben zurück. Das weite Feld tat sich auf. Am tiefen Horizont lag die Sonne wie eine glühende Kugel. Rechts, ganz dicht in der Nähe, erhob sich die Silhouette von Hiltrup. Die Luft ging scharf. Feine Kristalle rieselten nieder. Drüben, weithinten, jenseits der Birken, die wie ausgebleichte Skelete gegen den Nachthimmel standen, mußte der Hof liegen, und dort unter den Sparren . . .

»So'n Flegel! Wie kann er nur wollen. Hat Ambitionen. Natürlich, Förster und Schmaltier – das sollte ihm passen.«

Bernd hatte Feuer vor Augen, violette Kringel, die auf und nieder tanzten. Funken und blaue Fliegen. Vom Wein? Von seinem stürmischen Blut? Von den dämlichen Redensarten und dem grandiosen Verhalten Ohm Gideons? Er wußte es selbst nicht. Nur das wußte und fühlte er . . . Er wähnte jemanden neben sich sitzen: biegsam und schlank und doch rundlich und straff, mit duftigen Flechten . . . und da wollte so'n lumpiger Förster . . .

»In drei Teufels Namen nochmal!«

Vor ihm lief die schnurgerade Straße.

Jetzt hatte er freie Bahn.

Wieder knisterte die Schnur.

Die Oldenburger griffen aus. Unter ihren Hufen spritzten die Kiesel. Mit knapper Not konnten die Räder Grund und Boden unter den Eisen behalten. Immer Nase voraus, den Vogelbeerbäumen nach, auf die weißen Birken zu, die ihm nicht mehr wie ausgebleichte Skelette, sondern wie leuchtende Frauenleiber erschienen. Rechts und links huschten vereinzelte Kotten vorüber, stille Gehöfte mit toten und glanzlosen Fenstern. Die rote Kugel versank. Nur noch Flammengarben strählten den Himmel, warfen gelbe, grüne und resedafarbige Lichter hoch in den Weltenraum. Die Luft wurde rauher und schärfer.

Immer noch Johanna und Garke.

»So'n Viechskerl! Hat Witterung. Aber Hand von dem Wildbret!«

»Recht hast du, Bernd. Schwefle den Kerl aus dem Bau!«

Ohm Gideon schob den Kopf aus dem Fuchskragen. Das Vivathütchen flog auf und davon. Die greifbare Kälte rüttelte ihn auf.

»Toujours en vedette! Aber Bernd, ich kann mir nicht helfen: in Anbetracht der näheren Umstände . . . ich meine, weil der dicke Stienen behauptet . . . und als korrekter Beamter . . . Ehre dein Weib . . . spaziere nicht abwegig . . . Wie konntest du nur? Emmerich ist doch sozusagen 'ne richtige Nummer . . . ein Heros . . . er leuchtet den Toten . . . um so als Nürnberger Zinnsoldat aus der Schachtel geworfen zu werden. Eskadron – Te-r-a-a-a-ab! Das war kein Heldenstück, Oktavio!«

»Ruhe im Kasten!«

Der Angepfiffene sank in die Polster zurück, von Jans Schwarte gehalten.

»Charles, zwei Lafitte!«

Die Gäule preschten. Immer näher rückten die hellen Stämme, hoch und hehr und mit purem Schmelz übergossen. Schmale Äcker, die grüne Wintersaat zwischen den Schollen, Kleefelder und sandige Strecken glitten vorüber, beschrieben riesige Kreise, zergingen. Neue tauchten auf, drehten sich, um wie Phantome ins Nichts zu verschwinden.

Der wilde Travelmann kutschierte.

Galopp!

Schon wurden die Birken durchrasselt. Entblößte Gestalten, sehnsüchtig und mit gebreiteten Armen. Ihr feines Haar wehte im Wind.

Der Freisasse spürte den Duft. Seine Nasenflügel weiteten sich. Das Blut schlug ihm bis in den Hals hinein.

Der Hof kam in Sicht. Friedlich lag er unter dem letzten Glühen des Abends.

An der Zufahrt ein eingerammter Balken. Es war Hövelkamp.

Das Tor stand sperrangelweit offen.

»Christus, was kommt da?«

Der Sandschneider tanzte.

»Eskadron – Te-r-a-a-a-ab! Laissez faire. Immer forscher. Das nennst du fahren, mein Junge? Stümperwerk ist's, elendes Pfuschwerk. So kutschiert 'n Trainsoldat. Her mit der Leine! – und 'rin ins Freisassenwasser.«

Der Ernüchterte hatte sich zwischen den Sitzen erhoben. Er hielt sich am Bock fest.

Bernd wandte sich um, mit geöffneten Nüstern.

»Wie meinst du?«

»'rin ins Freisassenwasser!«

»Nur keine Worte. Das kann immer passieren. Hast du Kurasch?«

»Als Paderborner Husar – für zehne, mein Söhnchen.«

»Los denn dafür!«

Die Peitsche knatterte.

Der Gutshof kam näher.

Noch dreihundert Schritte, noch zweihundert.

Unter feurigem Galoppschlag, mit stoßenden Rädern, ohne Halt und Einsicht wurde die letzte Kehre genommen. Kein Hemmen und Dämmen mehr. Hell blenkerte der Spiegel auf, nur sacht überkrustet.

»Christus, Christus . . .

Hövelkamp stieß einen gellenden Schrei aus.

Jans Schwarte sprang ab, suchte den rasenden Gäulen in die Parade zu fahren. Vergebens. Von Schaum und Schweiß überflockt, wurde er zu Boden geschleudert.

»Er tut's! Wahrhaftig, er tut's!«

»Sauve, qui peut, was ein Lump ist!« lärmte Ohm Gideon und hielt sich kaum auf den Beinen. »Wir Edelmänner hingegen . . .«

Der wilde Travelmann regierte die Stunde.

Alarm!

Knechte und Mägde strömten zu, schrien auf, rangen die Hände.

Ein Fenster wurde aufgerissen.

Ein junges Weib mit leuchtenden Augen . . .

»Hurra! so kutschieren die Travelmänner und die Paderborner Husaren. Ventre à terre! Immer jü mit die bockigen Pferde! Mort sans phrase! Bravo! über den Rubikon fort und 'rin in den Trasimenischen See. Ave, Caesar, morituri te salutant!«

Das Wort wurde ihm vom Munde gerissen.

Schwer sackte er in sich zusammen.

»Morituri . . .!«

Sturzwellen gingen über ihn fort, über Wagen und Gäule.

Nur Bernd thronte fest, straffte die Zügel, hielt Grund, und selbst von dem kalten Bad überschüttet, eingekniffenen Mundes und mit knirschenden Zähnen, nicht achtend auf Gefahr und Unheil, brachte er die tolle Fahrt zu einem glorreichen Ende, gewann das Ufer, sprang ab und warf Jans Schwarte die Zügel zu.

»Und du willst ein Westfälinger sein? Feigling, verfluchter!«

»Um Gott nicht . . .

»Waschlappen – du.«

Er riß den Kopf herum: »Hövelkamp!«

»Herr Travelmann.«

»Da!« lachte der Gutsherr und deutete auf den Paderborner, der taumelnd und triefend aus dem Sandschneider vorkroch. »Der muß Ruhe haben. Ins Bett mit ihm und ein geruhsames Schlafen.«

»Wigwam! Wigwam!« lallte Ohm Gideon, mehr tot als lebendig. »Grüße die Silberdistel der Prärie . . . den Schmuck der Azteken . . . Schlafen . . . Morituri te salutant . . . Nur träumen im Wigwam . . .«

»Auch gut,« bestätigte Bernd, und während Hövelkamp sich um den Wackern bemühte, die Mägde gleich verstörten Hühnern umherirrten und Jans Schwarte sich um Wagen und Pferde sorgte, den Kopf schüttelte und nicht wußte, ob er sich als Männchen oder Weibchen ansprechen sollte, schritt der Gutsherr als ein Starker, Ungebeugter, Stiernackiger, wenn auch mit Fieberpulsen, dem Haus zu.

Scheu und wortlos sahen ihm alle nach.

Die Klinke gefaßt, rief er zurück: »Ich will heute keinen mehr sehen, aber auch keinen. Verstanden?!«

Dann schlug er die Tür zu.

Wie alles so still war, so leer, so ausgestorben! Keiner begegnete ihm, niemand störte seine Schritte, die in den weiten Fluren widerhallten. Schaufeln und Geweihe von kapitalen Elchen und Rothirschen tauchten auf, ungewiß, schemenhaft, von den grauen Fäden des immer stärker werdenden Dunkels umsponnen. Ihre grotesken Formen, das stumme Dreinschauen, das scheinbare Wachsen der Stangen aus den Rosenstöcken, alles das machte das Geheimnisvolle noch geheimnisvoller.

Er sah in ein Gewirr von Forkeln und Sprossen. Die Trophäen an den Wänden dort oben waren die Kronen von gewaltigen Herren gewesen. Und diese Herren . . . die meisten von ihnen hatten den Brunftplan behauptet, mit roten Enden, weißen Lichtern und offenem Windfang, hatten ihren Liebesschrei durch den Nebel georgelt, bis ein krummer Finger und ein jäher Blitz dem großen Waldmysterium ein frühzeitiges Sterben bereitete.

Daran dachte auch er. Das Herz schlug ihm stärker. Mit diesem wilden Pochen zwischen den Rippen mußte er an einer schmalen Kammer vorüber.

Die Tür war nur angelehnt. Ein schlichtes Gemach mit hellen Gardinen, das Bild der Mutter Gottes über dem Spiegel . . .

Er warf einen kurzen Blick hinein. Da schob es sich an ihn . . .

»Herr Travelmann . . . Bernd . . .

Ihre Augen sind geschlossen, ihre Lippen geöffnet. Ein kleines Stück ihrer jungen Brust drängt sich aus dem nur lose zusammengenestelten Leibchen.

»Du!« stöhnte er auf.

»Wir sind allein,« und sie umklammerte ihn mit Armen und Händen.

Er errät ihre Gedanken, ihr Wollen und Suchen.

»Weibsbild, infames!«

»Bernd, ich und du, wir gehören zusammen.«

»Wo hast du diese Sprache gelernt?«

Sie hob ihre schweren Lider. Die Pupille erweiterte sich.

»Wo du willst. Zu Dorsten im Kloster . . . auf der münsterischen Heide . . . am Birkenbaum, wo sie die große Schlacht schlagen werden . . . im Elend . . . unter dem Ruf der alten Heidegötter . . . in den Blicken von dir . . . Ich und du . . .«

Ihr Mund blühte und glühte.

»Geh' von mir! Ich will nicht. Wir Travelmänner sind hart.«

»Doch herrlich. Du willst schon. Ich sah dich soeben . . . dich . . . einer von den Starken und Eigenwilligen . . . aber schön und frei seid ihr alle, ihr Travelmänner.«

Das Blut stieg ihr jäh ins Gesicht.

Er hob plötzlich den Kopf.

»Nein – du!«

Mit festem Ruck packte er ihre Hände und hielt sie auf seinem Rücken zusammen. Da gewahrte er ihren weißen Hals, ihr schweres Atmen und Zucken.

Sie lächelte.

»Komm' jetzt!« und aufs neue warf sie die Arme um seinen Nacken und begann ihn zu küssen, bis ihre Lippen nicht mehr imstande waren, sich von seinem Munde zu lösen.

Ihn fröstelte.

»Bis später!« sagte er heiser.

»Ach du!«

Sie ließ von ihm ab unter Erschauern und Beben.

Wesenlos glitt sie von hinnen. – – –

Während der ersten Nachtstunden brannte ein mageres Flämmchen im Zimmer Johannas.

Das abgeblendete Fenster ließ kein Licht ins Freie.

Als es drinnen verlosch, war der Freisassenhof entweiht und die Sünde durch die dunkle Kammer gegangen.

 


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