Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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21

Lange Florstreifen schwaderten langsam gen Westen. Bald sich streckend, bald sich wieder zusammenziehend, schwammen sie dem tiefen Horizont zu, Leichenbitter, die mit heiserm Wechselgesang über die Niederung zogen.

Eine riesige, dunkle Wolke stand einsam am Himmel.

In dem gelben Laub der Buchen und Heidebirken hing das Abendrot, und zwischen den Stämmen lag es wie eine feurigrote Flocke. Ginster und Brombeersträucher bluteten. Ein kaum wahrnehmbares Rauschen. Vereinzelte Blätter drehten sich feierlich von den Bäumen herunter. Es war so, als würde irgendwo ein Waldhorn laut, irgendwo, unbestimmt und nicht mit fröhlichen Klängen. Kein weidgerechter Jäger hätte es in dieser Weise geblasen, so seltsam mutete es an, so über alle Maßen ernst und traurig. Ein finsterer Mensch mußte es sein, der das Horn meisterte, und wer genauer zuhörte, konnte die Weise Notkers, des Stammlers, aus dem Kloster Sankt Gallen erraten: »Media vita in morte sumus.« In düstern Bändern hob sie sich auf, wuchtelte näher und senkte sich auf die im letzten Leuchten des Abends ruhenden Dächer des Freisassenhofes.

Alles Lebendige führte ein Traumdasein.

»Media vita in morte sumus.«

Es mochte um die fünfte Nachmittagsstunde sein.

Die doppelschlägige Tür an der großen Einfahrt und die an der Diele standen weit offen.

In der weiten Halle schummerte es. Alle Gegenstände darin nahmen eine ungewisse Gestalt an, verwischten sich, flossen sacht ineinander. Das Herz des eingedunkelten Raumes pochte laut herüber, ernst und in bestimmten Intervallen, je nachdem sich der Perpendikel in der Kastenuhr bewegte.

Die offene Luke gähnte aus der Höhe herunter.

Die letzten Schwalben hatten niedrigen Flug. Lautlos glitten sie um die roten Giebel, über die von Schilf und Schwertel umfriedete Gräfte. Die letzten Wasserjungfern knisterten durch die harten Rohrstengel.

Von Zeit zu Zeit ließ sich das Orgeln und Schreien der Brunfthirsche vernehmen. Es kam aus dem Königlichen, aus der Bruchmannsheide und vom Kortenbusch her.

Die Leute und Tagelöhner des Hofes drängten sich in einzelnen Gruppen zusammen, steckten die Köpfe vor und tuschelten heimlich ihre Wahrnehmungen von einem zum andern.

Der Stellmacher, ein großer Mann mit Flachshaaren und ungleichen Schultern, gestikulierte mit langen Armen und sprach Worte dazu, die barfuß gingen und die Gemüter noch mehr verängstigten. Er redete vom Birkenbaum zwischen Soest und Unna, von der Mergelgrube, von Stein, Strick, Gras und Grein und andern Dingen und sagte, daß es gefrevelt sei, den Boden am schwarzen Kreuz auf die andre Seite zu legen. So was zöge Mord hinter sich her, und da es nun einmal geschehen sei . . .

Er deutete dabei hierhin und dorthin.

Aller Blicke waren bald auf das offene Tor, bald auf den Eingang der Diele gerichtet.

»Media vita in morte sumus.«

Das Waldhornblasen verstärkte sich, nahm zu an Innigkeit und Trauer.

Auch die im Herrenhaus mußten es hören.

Von Hövelkamp begleitet, schritt Frau Judith durch den Flur, der zum Zimmer Hilles führte.

Nichts war ihr anzumerken. Sie schien wie gewöhnlich. Keine Tränen, kein Schluchzen. Nur ein grausamer Zug hatte ihre Mundwinkel tiefer gezogen. Das Herz ruhte ihr starr in der Brust. Der wilde Schmerz hatte es leblos gemacht.

An Ort und Stelle angekommen, sagte sie ohne Erregung: »Wartet auf mich. Was ich zu tun habe, tut man nicht gerne. Aber es ist Gotteswerk. Ich habe den Tod anzusagen,« und sie ging hinein in die Stube.

Hövelkamp wartete.

Fünfundzwanzig Herzschläge mochten dahin sein, als ein Jammer ertönte, der ihm das Blut erfrieren machte. Ein unterdrücktes Weinen und Wimmern folgte. Dann war es ihm so, als würde da drinnen das ›Vaterunser‹ gebetet.

Er selber faltete die Hände und sprach die gestammelten Worte nach, die aus dem Zimmer drangen.

Als Judith zurückkam, schien sie noch kälter und eisiger geworden als früher. Sie legte ihre Hand auf den Arm des Getreuen und fragte: »Wann können sie hier sein?«

»In 'ner halben Stunde, Frau Travelmann.«

»Das genügt,« und sie begaben sich in eine nur selten benutzte Kammer, die zur ebenen Erde seitlich der Diele gelegen war.

Das rote Auge des dahingegangenen Tages stand hinter den Scheiben.

Neben einem altmodischen Schrank erhoben sich zwei Kirchenleuchter aus Messing, schwer gefügt und mit Klauen versehen, auf denen sie fußten.

Den Schrank öffnete sie und entnahm der Lade zwei mit Linnen umwickelte Wachskerzen, denen man ansah, daß sie bereits einmal ihren Zweck erfüllt und etliche Stunden gebrannt hatten. Die Dochte waren geschwärzt. An den gelben Schäften hingen dicke Wachstränen, erstarrt, bevor sie abtropfen konnten. Sorgfältig, als wenn sie aus dem Leinenzeug eine Reliquie geschält hätte, legte sie die beiden Lichte auf eine Anrichte und sagte: »Die müßt Ihr noch kennen, Hövelkamp,« und als dieser die Frage mit einem wehen Nicken bestätigte, fuhr sie sich über die Augen und meinte: »Sie haben meinem Mann geleuchtet, als das Schwerste über ihn kam und er in die Ewigkeit mußte. Drei Stunden brannten sie; dann verloschen sie wieder. Die Sünde gegen das sechste Gebot scheut sich fast in den Beichtstuhl zu treten. Das ist dahin und abgetan. Für mich abgetan. So schwer er auch fehlte – Mann und Weib sind unzertrennlich, ein Leib und eine Seele, und gehören zusammen . . . und daher: auch mir sollten sie scheinen, wenn meine Tage gezählt waren, denn ich war die nächste dazu. Aber ich irrte mich. Das Natürliche verkehrte sich, die Hoffnungen erloschen. Der Tod ging vorüber und legte einem andern die Hand auf die Schulter. Zuweilen wird er zum Lustigmacher – dieser Hohläugige, und liebt es, seinen Spaß zu treiben, das Alter zu schonen und das Leben in seiner besten Kraft von der Koppel zu hauen. Es geschehe, wie es die Vorsehung in ihrer unerforschlichen Weisheit bestimmte. Ich beuge mich ihr. So mögen sie denn für den letzten Travelmann brennen.«

Ihre Worte waren trocken und brüchig. Sie hatten bittern Wermut getrunken. Ein fast unmerkliches Zittern bewegte das untere Augenlid.

Mit herbem Kopfschütteln deutete sie auf Leuchter und Wachskerzen: »Nehmt das und tragt es hinaus. Auch laßt die Flachsbrechen richten, genau so wie früher. Aber sorgt, daß sie genau unter der Bodenluke aufgestellt werden, sonst ist alles mißliches Werk und unnötiges Tun. Das Weitere ergibt sich von selber.«

Sie verließ die Kammer, trat auf die Diele und begab sich zum Ausgang, der sperrangelweit ins Offene gähnte. Bei einem der mächtigen Türpfosten, in denen die Angelruten befestigt waren, richtete sie sich steil in die Höhe, stemmte den Krückstock neben sich und verfolgte den Weg, der durch die große Einfahrt am Wäldchen vorbei ins Freiland und nach der Hallüh führte.

Den Rücken am Holz, schien sie mit diesem verwachsen, mit ein und demselben Messer aus der grauen Faser geschnitten, unbeweglich, wie eine sagenhafte Tempelwächterin in den Tagen der Vorzeit.

Der Stellmacher, der sie stehen sah, machte den andern ein stummes Zeichen und bedeutete ihnen, in die Gasse zwischen den Ställen und Scheunen zu treten, um die Wacht nicht zu stören.

Da gingen alle zur Seite, auf Zehenspitzen und mit scheuen Blicken.

Die Alte aber redete in einsilbigen Lauten vor sich hin: »Der da seines Weges kommen wird, hat unter meinem Herzen gelegen, hat von meinem Leben gelebt und wurde von mir unter Schmerzen geboren. Sein letzter Ausgang war traurig, und seine letzte Heimkehr wird noch trauriger sein. Und will ein Pfaff nicht benedizieren, eine Mutter tut es. Und wäre es wider die Satzung meines Erlösers: ich segne sein Kommen und ihn, der das Leben nicht mehr hat; denn eine Mutter achtet der Sünde ihres Sohnes nicht, wenn die Schatten des Todes über ihn fielen. Sie nimmt ihm die Sünde hinweg, denn ihre Liebe versiegt nimmer. Sie kann Berge versetzen und Ströme ableiten. Sie ist stärker als ein Beichtiger, heiliger als das Sakrament des Altares, denn sie ist eine Mutter. Und wenn alle verdammen, sie verdammt nicht. Sie verliert niemals ihre Zuversicht und hofft zu Gott: er wird auch ihn in sein ewiges Reich nehmen und seinen Auserwählten zuzählen – durch denselben Christum, unsern Herrn.«

Auf dem Weg, den sie verfolgte, ließ sich noch immer nichts hören. Er ging in ein tiefes, geräuschloses Labyrinth hinein. Nur seitwärts von ihr, wo die Kleeparzellen ihr letztes Kraut zeigten, wurde eine Sense gedengelt. Dann lief sie dicht über den Boden hin, mit dem Schwirren eines Ziegenmelkers und dem melancholischen Ruf eines Käuzchens.

»Media vita in morte sumus.«

Fern über Hiltrup hing bereits die Mondsichel, schemenhaft, von einer Geisterhand gegen das Himmelreich gezeichnet.

Allmählich verwischten sich Wiesen und Äcker; auch die Sträucher, die an den Wegrainen standen. Über ihnen war noch sichtige Klarheit. Dann zerging auch sie, wie das Leuchten zerfaserte, das im Westen stand und Himmel und Erde vereinigte.

Die Hirsche im Königlichen orgelten stärker.

Die Weise Notkers, des Stammlers, aus dem Kloster Sankt Gallen, ließ sich jetzt an, als würde sie in unmittelbarer Nähe geblasen.

Frau Judith zerfloß mit den grauen Pfosten und Balken, an denen sie lehnte, leblos wie sie, abgestorben wie Splint und Maser des uralten Holzes. Ihr weißes Gesicht leuchtete im Schein des sinkenden Tages.

So stand in vergangenen Zeiten die sagende Frau der Brukterer, wenn sie des Opfers und des Totenfestes harrte.

Judith war die sagende Frau der Brukterer geworden, die Hüterin des Opfers und die Mutter der Schmerzen.

Hövelkamp trat bedächtig heran.

»Die Flachsbrechen sind gerichtet, Madam, genau unter der Bodenluke; dieselben von früher. Ebenso Leuchter und Kerzen. Sie stehen auf Nadelreisig. Ich hab's von der Fichte am Wasser geschlagen, die er so liebte.«

Die Alte nickte.

»Und sind die Spiegel verhängt?«

»Alle, Frau Travelmann. Blanke Spiegel haben die Toten nicht gerne.«

Frau Judith nickte zum andern.

»Ich danke Euch vielmals. Was Ihr uns tatet, wird niemals vergessen.«

Hövelkamp zog seine Schirmmütze durch die Finger und ging gesenkten Hauptes der großen Einfahrt zu. Hier blieb er stehen.

Eine herbstliche Brise sprang auf. Die Blätter der umstehenden Bäume sangen im Wind. Adoremus!

In den Ställen wurden die Tiere unruhig, schnauften und stampften den mit Streu belegten Boden. Der Stellmacher und die vereinzelten Gruppen der Tagelöhner kamen wieder zum Vorschein.

Von dem Kommunalweg her, den Frau Judith schon seit einer halben Stunde abgesucht hatte, drang unversehens ein seltsamer Pfiff, lang und gezogen, aber nicht aufdringlich, ähnlich dem Pfiff eines aufgeschreckten Vogels, der irgend etwas ansagte.

Er wiederholte sich noch einige Male.

Hövelkamp drehte sich langsam herum und machte ein Zeichen.

Die hohe Gestalt seitlich der Diele löste sich von dem starren Holz.

»Sie kommen,« sagte sie mit blutleeren Lippen.

Und sie kamen.

Sechs Männer, die aus dem benachbarten Hiltrup herbeigeholt waren, trugen ihn auf der in aller Eile zusammengezimmerten Bahre.

Sie wechselten mit den Getreuen des Hofes ab.

Die Hände waren auf der Brust gefaltet, Stirn und Schläfen mit einem weißen Tuch verbunden. Rote Tropfen sickerten nieder und tupften dunkle Rubinen auf das frische Tannengrün, das man ihm als Kissen untergeschoben hatte. Neben ihm lag seine Büchse mit abgesprengtem Kolben, ein Zeichen dafür, wie er es versucht hatte, sein Leben so teuer wie möglich in die Schanze zu schlagen.

Ludgerus Hölscher folgte dem Gutsherrn, zur Rechten Emmerich Dinklage, zur Linken Ohm Gideon, verstört und kaum in der Lage, sich auf den Füßen zu halten.

So bewegte sich der Zug ernst und gemessen über den ausgefahrenen Landweg, und die Welt war doch so schön, so mit buntem Herbstlaub geschmückt, und der Abend so laulich und die Luft so voller Harmonie, daß man nicht fassen konnte, wie dieses Unheil möglich gewesen. Und wo er vorbeizog, hielten die noch auf den Feldern beschäftigten Menschen mit ihrer Arbeit inne. Die Sense, die noch kurz zuvor über den Boden gesirrt, verstummte, und der sie geführt hatte, kniete im Kleeacker nieder und zog seine Mütze herunter. Allen lief es bald warm, bald eisig über die Herzen, preßte jedem einzelnen das Blut in die Schläfen, ließ jeden einzelnen beten: »Vater unser, der du bist in den Himmeln . . .«

Ohm Gideon kam sich vor, als hätte er einen Absud von Taumelmohn getrunken. Eine wilde Flucht von Gedanken jagte über ihn fort. Er durchlebte alles noch einmal, aber in wilder Hast, wie auf galoppierendem Pferde: seine Freundschaft mit Bernd . . . ihre gemeinsamen Streifen und Fahrten . . . ihre Tugenden und Untugenden . . . ihre fidelen Symposien und ähnliche Ereignisse.

Er wähnte die Stimme des wackern Herrn Stienen zu hören: »Charles, zwei Bouteillen Lafitte, mild temperiert, für Herrn Travelmann, hochwohlgeboren.« Er sah sich in Salzschlirf im Marterstuhl sitzen. Der Tobel des heiligen Bonifazius rauschte ihm zu . . . brachte Genesung . . . und jetzt, wo die Gelegenheit kam . . . Herr Jeses nochmal! wo er eben dabei war . . . wo er in der Hohen Fuhr sich angeschickt hatte, den Finger krumm zu machen . . . da mußte da drüben . . . und er konnte nicht helfen . . . hatte keine Ahnung davon . . .

Wirbelsinnig taumelte er an die Seite Emmerichs, der seines Weges ging, als wäre ein Erzbild in der Hofkirche von Innsbruck lebendig geworden, das Visier aufgeschlagen, die Blicke ins Leere, Ungewisse gerichtet: »Mensch, ich halt's nicht mehr aus . . . dieser Bernd . . . unser Bruder und Freund . . . so aus dem hellen Lachen zu müssen . . . so vor die Hunde . . .«

»Gideon, Ruhe!«

Eine derbe Faust packte die seine.

»Wir müssen uns fügen. Das Ärgste kommt noch. Die da drüben haben schwerer zu tragen, ein herberes Leid zu erdulden. Des wollen wir eingedenk sein.«

Er gab die umgriffene Hand frei und sagte zum andern: »Des wollen wir eingedenk sein.«

»Wollen wir, wollen wir,« stammelte der Paderborner und stolperte wieder an die Seite des Geistlichen, dessen Arm sich leise bewegte und das Zeichen des heiligen Kreuzes gegen den Abgeschiedenen machte.

Der Hof tauchte zwischen den Laubmassen auf.

Die dunstige Gräfte spann weiße Tücher um Scheunen und Ställe, um Haus und Krautgärtlein.

Ein Stier brüllte los.

Es klang wie der Ruf eines Sturmhornes, wie Wettergrollen.

Jetzt war die Einfahrt erreicht.

Hövelkamp setzte sich an die Spitze der Träger.

Er betete laut, er betete wie einer, der neben die Seele seines Herrn trat, um ihr freie Bahn zu verschaffen und die drohenden bösen Mächte niederzuschlagen. Und also betete er: »Kommt zu Hilfe, ihr Heiligen Gottes. Seid wie Soldaten. Zieht eure Schwerter. Bringt seinen Geist vor das Angesicht des Allerhöchsten. Erlöst ihn von dem Übel, von dem, was ihm anhaftet, von den Pforten der Hölle. Errette seine Seele, o Herr! Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm, auf daß er teilhaftig werde der Anschauung seines Erlösers. Amen, Amen!« und so, geschirmt und behütet von den Worten eines Getreuen, die in blankem Eisen einhermarschierten, gefolgt von seinen Freunden, gebettet auf frischen Nadeln, den Weihrauch des Waldes um sich her, wurde der letzte der wilden Travelmänner auf den Hof seiner Väter getragen.

Die graue Gestalt trat ihm entgegen.

Sie hob ihren Krückstock.

»Dorthin!« gebot sie, ohne mit der Stimme zu zittern, und deutete in die umdüsterte Halle, wo die Flachsbrechen gerichtet waren.

* * *

Eine halbe Stunde später . . .

Draußen war das Licht von der Erde genommen. Ein dunkles Federspiel wankte um den Freisassenhof und schwebte zeitweilig an den niedrigen Fenstern, hinter denen eine matte Helle schimmerte.

Die Diele war nur spärlich erleuchtet.

Der Schein haftete an der Stätte, über der die Bodenluke gähnte.

Im übrigen lag die geräumige Halle in Kirchendämmerung.

Es duftete überall nach Fichten- und Wacholderzweigen, die man auf den Estrich gespreitet.

Ein einförmiges Klingen auf Messingschalen.

Das überschüssige Wachs der beiden Kerzen sickerte nieder und verursachte das monotone Tönen und Tropfen.

Ihre kränklichen Flammen spielten über den Hingestreckten. So wie er angekommen war, hatte man ihn und die Bahre auf die Brechen geschoben. Abgesehen von dem rotgefleckten Tuch, das ihm Schläfen und einen Teil der Stirn bedeckte, haftete dem wächsernen Gesicht nichts Fremdartiges an. Nichts Grausiges, nichts Entstellendes. Das Entschlossene und Gutmütige aller Travelmänner war ihm geblieben. Die gefalteten Hände, gleichsam aus Porzellan gebildet, hielten einen Tannenbruch zwischen den Fingern. Auf den blassen Lippen schienen die Worte zu haften: »Ein letztes Verzeihen gibt es nicht. Immer wieder soll man es tun. Wer kein Erbarmen kennt, hat niemals gelitten, und wer nicht gesonnen ist, Eingebungen der Leidenschaft zu entschuldigen, ist ein nichtswürdiger Eiferer und einer von denen, die nicht vor Gott bestehen können.«

Am Kopfende zwischen den beiden Leuchtern stand Judith, genau so, wie sie am harten Holz gestanden hatte, jetzt die beiden Wolfshunde bei sich, die grimmen Vögte des Hofes, starr, mit gestreckten Ruten, wie aus dem Gießhaus gekommen, so regungslos hielten sie die Schildwacht neben der Alten und den Flachsbrechen, die die sterblichen Reste ihres Herrn trugen.

Frau Judith sah unentwegt auf die Tür, die zu den übrigen Gemächern und Räumen des Hauses führte.

Nur sie allein, der Tote und die beiden Wolfshunde wurden beleuchtet. Weiter zurück, mit untergeschlagenen Armen, erhob sich die Gestalt Emmerichs. Neben ihm lehnte Ohm Gideon an einem eingedunkelten Wandschrank. Mit zirkelrunden Augen, die in Tränen schwammen, verfolgte er das Flackern der beiden Lichter, schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf und hielt die große Heerschau über die Wechselfälle der verflossenen Jahre.

Minute um Minute verging.

Nichts unterbrach die feierliche Stille.

Keine Schritte ließen sich hören, obgleich es so war, als wenn zwei Schatten sich näherten, die Kirchendämmerung hinter sich ließen und sich in den matten Schein der beiden Kerzen begaben.

Die Alte streckte mechanisch die Hand aus.

Matt sank sie ihr am Leibe herunter.

Von Ludgerus Hölscher geführt, war Hille an die Seite ihres Mannes getreten. Den übergeworfenen Schleier zurückgelegt, totenblaß, ohne Tränen zu haben, stierte sie auf die ruhigen Züge des Abgeschiedenen. Langsam fuhr die Rechte an ihrem dunkeln Kleide herunter. Auf ihren Lippen standen die Worte geschrieben: »Unser Leben begann unter Blumen und Zuversicht. Deine Güte war beispiellos. Ich dankte dir, wie ich es konnte. Ich wollte dein Weib sein nach deinem Herzen und nach dem Willen Gottes. Ich wollte nicht nur – ich bin es gewesen. Nur schade: die Zuversicht hatte keinen Bestand, und die Blumen verwelkten. War es meine Schuld, daß es so kam und kommen mußte? Hatte ich den ersten Schritt zu tun, das zerrüttete Dasein wieder lebensfreudig zu machen? Ich habe dich gesucht in meinen Träumen und Gedanken, aber ich fand dich nicht. Ich habe in stillen, einsamen Nächten nach dir gerufen, aber du kamst nicht. Hätte ich um deine Liebe betteln sollen mit lauten Worten und flehenden Händen? Das ist einer Frau nicht würdig, und du hättest mich von dir gewiesen. Die Liebe ist wie eine Mimose. Nur der lautere Quell der Treue erhält sie am Leben. Aber dessen ungeachtet: ein Weib kann verzeihen, auch das Schlimmste. Das begreife ich jetzt. Wärest du doch zu mir gekommen . . . in letzter Stunde noch . . . noch gestern . . . als das Verhängnis seinen letzten Trumpf ausspielte – alles wäre vielleicht noch anders geworden. Ich harrte vergebens, und so kam das Unglück. Das Schicksal hat rasche Arbeit getan und das Werk schnell vollendet. Aber jetzt finden wir uns. Bernd! – Bernd . . .

Ein abgehackter Schrei gellte auf.

Mit ausgebreiteten Armen fiel sie über die Bahre, senkte den Kopf und legte ihren Mund auf die wächsernen Hände.

»Bernd! – Bernd . . .

»Herr, dein Wille geschehe!«

Ludgerus Hölscher hob segnend die Arme.

»Ich bin die Liebe und die Barmherzigkeit,« begann er zu sprechen, »und wenn die jetzt kalten und stummen Lippen noch kurz vor dem Scheiden deinen anbetungswürdigen Namen, o Herr, suchten und aussprachen, dann, mildtätiger Jesu, erbarme dich seiner! Wir wissen es nicht, aber ich glaube, daß sie es taten, und darum benediziere ich dich. Und wenn die letzten Seufzer dir gegolten, dann, o mildtätiger Jesu, erbarme dich seiner, denn dein ist die Rache und dein die Allmacht und dein die Verzeihung.«

Er sah Frau Judith an.

»So ist es,« sagte diese hart, fast grausam, »denn sonst stünde die Verzweiflung neben mir und spräche zu mir: Was tust du noch hier? Gehe hin und besieh dir die Welt durch die Fenstertraillen eines Narrenhauses! Aber ich fühle: die Welt ist nicht aus den Angeln gerissen. Alles tut seinen herkömmlichen Gang. Die Balken fallen nicht über uns her. Der Boden steht fest unter den Füßen. Die Stunden kommen und gehen. Die Nacht zieht herauf, wie sie es immer getan hat. Die Gestirne werden leuchten nach ewigen Gesetzen, werden erblassen, wenn der Morgen auf der Heide liegt und die Gräser zu tauen beginnen. Nichts hat sich geändert – und da sollte die Verzeihung des Erlösers an dieser Bahre vorüberschreiten und Steine anstatt des heilsamen Brotes bieten? Das tut ein barmherziger Gott nicht. Er ist kein Wucherer, kein Pharisäer und Zöllner. Er wiegt nicht mit Apothekergewichten, und er wird nicht rufen: Mensch, was hast du deiner Seele angetan? Nein« – und ihr Krückstock stieß auf den Estrich, unerbittlich, befehlerisch – »nichts ist aus dem Senkel geraten, nicht das geringste – nur eines: der da liegt, ist mein Sohn, der letzte von dreien, und diesen letzten hab' ich verloren. Er strauchelte und fiel, und sein Fall war entsetzlich. Ich aber als Mutter, ich hebe ihn auf und geleite ihn an die Pforte des Paradieses. Herr, tue auf, eine arme Seele bittet um Einlaß, und müßte ich den Eingang erzwingen: vor einer Mutter halten selbst die Riegel des Himmels nicht stand, denn ihre Kraft ist größer als die einer wundertätigen Hand. Und so denn, Bernd, ziehe ein in das Reich, das nicht von dieser Erde ist, und gehe in Frieden.«

Festen Schrittes trat sie an die Seite der Knienden.

Sanft berührte sie deren Schulter.

»Hille . . .

Da erhob sich die Ärmste.

Beider Blicke trafen sich lange, verstanden sich und hatten sich nichts mehr zu sagen. Nur dies noch, und Judith fragte mit wehen Lauten: »Und du scheidest von ihm, ohne Groll im Herzen zu tragen, ohne zu bereuen, daß du sein Weib warst?«

»Ja, Mutter, ich scheide von ihm, ohne Groll im Herzen zu tragen, ohne zu bereuen, daß ich sein Weib war.«

Sie wankte.

»Bernd, mußte das geschehen?! Mußte das geschehen?!«

Ludgerus Hölscher und Judith hielten sie aufrecht.

Sie machten Anstalten, die Heimgesuchte von der Bahre zu führen, als eine Stimme ertönte, die sie bis ins Tiefste erschütterte.

»Ein Letztes für mich.«

Emmerich trat vor, an die Rechte des Hingestreckten. Als hätte sich Bernd von seiner grünen Stätte aufgetan, ähnlich an Wuchs und Gestalt, ähnlich an Antlitz und Farbe, das zweite Ich des Gutsherrn, also stand er in der fahlen Beleuchtung. Niemand erriet, was er vorhatte. Seine Züge waren wie die des Toten, seine Lippen bleich, seine Handlungen ruhig, obgleich es in ihm stürmte und lohte, als zöge ein Wetter herauf, um sein Inneres zu zerflammen.

Die Frauen blieben. Auch Ludgerus Hölscher.

Eine gebieterische Kraft ging von Emmerich aus. Sie schmiedete an. Ließ keinen aus ihrem Bann.

Seine Hand hob sich und senkte sich wieder.

»Du sollst nicht richten,« sagte er leise, indem er den Kopf auf die Brust neigte, »und keinen ans Marterholz schlagen, es sei denn, Gott hat es wollen. Auch du nicht, Bernd. Du hast über mich gerichtet in voreiliger Hast, obgleich du mir sagtest: Kolben an die Backe, sollte der wilde Stoßvogel nochmals erscheinen. Der Vogel kam wieder, und du hast den Kolben nicht an die Backe gerissen. Das machte dich schuldig. Auch ich bin nicht schuldlos geblieben. Ich durfte nicht gehen, nicht unvermittelt, mich nicht heimlich davon schleichen, um die Prüfungen und Anfechtungen, die auf mich warteten, weniger bedrohlich zu machen. Man soll die Gefahr nicht suchen, aber auch den offenen Kampf nicht meiden, denn ohne Kampf kein Sieg, ohne Sieg keine eingeholten Fahnen und kein andächtiges Beten: Nun danket alle Gott. Daß ich jetzt hier stehe, hat das Schicksal gewollt und die Gewalttat verursacht. Sie waren stärker als ich, und daß es so kam, erspart mir vieles, erspart mir die Reue, dich nicht mehr gesehen zu haben; denn heute gilt es, Abschied für immer zu nehmen, im Angesicht des ewigen Gottes frei zu bekennen und dir und mir die ersehnte Ruhe zu geben. Bernd, so rede ich denn, und hören wirst du, was ich dir sage, denn deine Seele, obgleich vom Leibe geschieden, steht neben mir, horcht auf mich, läßt sich keine Silbe entgehen. So höre denn, Seele, und du, Bernd, durch sie, und was du hörst, nimm es ins Jenseits mit, auf daß du mir dort zukommen läßt, was du mir auf Erden nicht geben wolltest, obgleich du es konntest. Bernd« – und die eherne Gestalt schlug ihr Helmvisier höher – »die Wasser des verwunschenen Brunnens rufen noch immer, obgleich ich mich sperrte, einen Soldo zu opfern. Mögen sie rufen. Du hast es gewußt und hast auch gewußt, was in meinem Innern vorging. Was ich deshalb durchlitt und durchlebte, das hatte ich selber zu tragen. Kein zweiter. Es war eine Liebe stark wie der Tod und heiß wie die Flamme. Mein gutes Recht, meine größte Freude und mein bitteres Unheil. Aber so wahr mir Gott helfe« – und er legte seine Hand auf die seines Freundes – »diese Liebe war auch heilig wie der Tod und rein wie die Flamme, und hier an dieser Stätte – den rufe ich als Zeugen an, der dich unversehens abrief, den Unbegreiflichen, Unerforschlichen: diese Liebe entsagte um ihretwillen und deinetwillen. Sie achtete die göttlichen und menschlichen Satzungen. Ihr haftet kein Schmutz an . . . sie blieb unbefleckt bis zur geheimsten Faser . . . sie machte vor den Rechten des Freundes halt . . . sie begehrte nichts, und wäre sie darüber in Wahnsinn und Narrheit verfallen. Um einer solchen Liebe wegen konnte mich der Nazarener beneiden. Deine Tagwacht ist aus. Meine letzte beginnt. Ich gehe ruhig von hinnen. Deine Seele hörte, was ich zu sagen hatte, und du hörtest durch sie. So nehme ich den Abschied von dir, von dir und der Getter, und werde deiner gedenken, wenn der Staub gegen mich anwandert, der hellenische und assyrische Staub, und über dir die westfälischen Eichen flüstern und die Heide dir ihre Grüße sendet. Dies meine Freundschaft zu dir. Sie hat niemals auf tönernen Füßen gestanden, auch damals nicht, als du sie zu zerbrechen gedachtest. Das wirst du jetzt einsehen, denn du siehst mit den Augen eines Verklärten. Die Zeit ist um. Meine letzte Tag- und Nachtwacht beginnt.«

»Media vita in morte sumus.«

Noch einmal tönte die Weise Notkers, des Stammlers, aus dem Kloster Sankt Gallen herüber.

Für Emmerich war die Umwelt abgestorben.

Nur das vernahm er noch: »Du gehst, und wenn du gehst, der Segen einer alten Frau wird um dich sein. Er wird dich begleiten, in deine Träume hineinsehen und dich niemals verlassen.«

Als er die Augen aufschlug, stand Ohm Gideon neben ihm.

»Emmerich, hier haben wir nichts mehr zu schaffen und nichts mehr zu sorgen. Wir würden nur stören. Und du, Bernd . . .

Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirne.

»Ohne dich ist kein Leben mehr. Ich bin ein armer Schwalbenfänger geworden. Bernd, Freund und Herzensbruder . . .

Hövelkamp erschien und sagte: »Es ist alles parat. Jans Schwarte wird fahren.«

Kurz darauf reisten sie still von der Getter.

Als sie sich umsahen, stierten die niedrigen Dielenfenster blind in den Abend hinaus.

 


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