Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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9

Am Tage vor Heiligabend knarrte eine altmodische, wenn auch guterhaltene Glaskutsche über die vereiste und eingeschneite Landstraße, die sich in großer Schleife aus dem Darfeldschen nach dem Freisassenhof hinzog. Zwei wohlgenährte Schimmel trappelten seitwärts der Deichsel, ließen sich Zeit und schienen der Ansicht zu sein, Arbeit schändet nicht, aber man muß sie mit Maßen betreiben, sonst macht sie hitziges Blut und schädigt die Leber. Ähnliche Gedanken mochten den ebenso wohlgenährten Rosselenker beseelen, der wie ein Strohmann auf dem Bock thronte, unbeweglich, den sterblichen Menschen sorglich eingepackt und den Hals bis zur geröteten Nase mit einem baumwollenen Tröster umwickelt. Die Gäule verstanden ihn, und er verstand seine Gäule. Keiner tat dem andern etwas zuleide. Alles war Sanftmut und Pomade an ihnen, nur keine Eile. Vornehm, bedachtsam, in altfränkischem Tempo rollte das Untier von Vehikel über den silberbeschlagenen Weg, so daß die bereiften Chausseebäumchen Muße genug hatten, einen liebevollen Gruß in die wohlig ausgepolsterte Karosse zu werfen, beherbigte sie doch eine echte und veritable Märchenprinzessin. Und diese Märchenprinzessin, in Daunen gebettet, eine Wärmekruke unter den zierlichen Füßen und einen unergründlichen Muff von Blaufuchs auf den Knien, zählte volle fünfundsechzig ausgewachsene Jahre, obgleich sie stets nur fünfzig zugeben wollte und eifrigst bestritt, auch nur einen Monat früher die Wände beschrien zu haben. Sehr begreiflich von ihr, denn alle Anzeichen des Alters waren dem anmutigen und graziösen Wesen sichtlich erspart geblieben, sahen die leicht gepuderten Wangen doch aus, als hätten sie Jahrzehnte hindurch unter dem wohltätigen Einfluß eines zauberkräftigen Wassers gestanden, erinnerten die großen, samtweichen Augen noch immer an die galanten und schönen Lichter einer längst dahingegangenen Frühlingsfeier. Nur einzelne Runzeln . . . aber diese Runzeln waren so zärtlich gemeint, so unauffällig und anspruchslos hingehaucht, daß sie eher verjüngten, als den Stempel der winterlichen Reife verliehen.

Wie eine etwas angejahrte Schön-Rottraut oder eine leicht ergraute Schön-Rosenrot fuhr sie still ihres Weges, durch die glitzernde Landschaft, an weiten Gehöften und niedrigen Kotten vorüber, durch eingeschlafene Dörfer, und wohin sie auch kam – sobald das abenteuerliche Glasphantom nur in Seh- und Hörweite erschien, traten die Leute aus ihrer Winterruhe heraus, zogen die Mützen herunter und sagten: »Da fährt unser Fräulein.« Und dann grüßte sie mit graziösen Fingerspitzen, nachdem sie zuvor ihren Filethandschuh ausgezogen hatte, durch die etwas angelaufenen Scheiben hindurch, freundlich und gütig, wobei die seitlich der Schläfen hängenden Löckchen wie silberne Hobelspänchen auf- und niederpendelten.

»Da fährt unser Fräulein.«

Ja, da fuhr »unser Fräulein,« und alle wußten es: es war Stephanie Freiin von Boeselager, die Tante Hilles, die unverheiratete Schwester ihrer verstorbenen Mutter, früher in Münster, jetzt auf Darfeld domiziliert und nunmehr auf der Route zur Getter, um hier auf dem Freisassenhof, unter Verwandten, die sie liebten und verehrten, eine gesegnete und friedfertige Weihnacht zu begehen.

Stephanie Freiin von Boeselager war ein tiefveranlagtes Menschenkind, von auserwähltem Geschmack und mit den feinsinnigen und anheimelnden Gepflogenheiten einer eleganten Frau aus vornehmem Hause reichlich versehen. Über die Vergangenheit sprach sie nicht gerne, vermied es überhaupt, den Schleier von ihren Jugendtagen zu heben. Das war irgendeine zarte und sorgenvolle Geschichte gewesen. Aufgegangen wie ein köstliches Bild vom Himmelreich, hatte sich dieses Bild immer lichter und hoffnungsfreudiger entfaltet, um plötzlich wie ein glänzendes Meteor zu fallen, in Nacht und Nebel zu gleiten und nicht mehr in die Erscheinung zu treten. Es war dunkel geworden um sie, und nur der Erinnerung lebend, sparsam und wenig begütert, verbrachte sie ihre einsamen Tage in dem alten Hause auf der Neubrückenstraße, bis der Tod ihres Schwagers und das Wohlwollen Bernd Travelmanns sie endgültig nach Darfeld verpflanzten. Trotz aller Neuerungen, trotz aller Vorzüge, die sie jetzt hatte, sie war auch in ihrem jetzigen Wirkungskreis die alte geblieben. Ihr Wesen veränderte sich nicht um Haaresbreite. Sie kleidete sich wie sonst. Die Größe ihrer Selbstlosigkeit gemahnte an einen Spiegel, dem auch der geringste Hauch nichts anhaben konnte. Sie blieb heiter wie immer. Nur dann und wann mochte es dünken, als seien Tränen in ihrer Stimme gewesen. Sie siegelte stets ihre Briefe mit einem alten, schwergoldenen Petschaft, spielte Whist und Pikett, aber nur bei brennenden Wachskerzen auf silbernen Leuchtern, und hatte die löbliche Angewohnheit, sich nur vorurteilsfrei über ihre Mitmenschen zu äußern und deren Leiden nach bestem Können und Wollen weniger leidvoll und schmerzhaft zu gestalten. Und wenn die Vergangenheit ihr zuwinkte, drückte sie ihr Spitzentüchlein gegen die schmalen Lippen und sagte: »Das Meer liegt zwischen uns, und ich bin keine Möwe, um über das graue und trostlose Wasser zu reisen. Es ist besser so, besser für mich und den andern,« und dann ging sie hin und las in den Schriftzeichen, die in einem schönen und endlosen Reigen über Darfeld kreisten, in den Schriftzeichen des Ewigen. Sie klagte nie, duldete gern und war immer bereit, selbst im Häßlichen, noch eine gewisse Anmut zu finden. Ihre Augen kannten nur Milde, erblickten stets das Gute im Guten, das Reine im Reinen. Das war Stephanie Freiin von Boeselager ihrem Äußeren und ihrem Wesen nach, hilfreich und offen, vornehm und zutunlich und geliebt von allen, die die Ehre hatten, mit ihr in nähere Berührung zu kommen.

Trotz der Verschiedenheit der Charaktere – mit Judith Travelmann verband sie eine aufrichtige Freundschaft. Das Harte, Unbeugsame und dennoch kindlich Bibelfeste in dieser Frau sagte ihr zu. Das Stählerne, Zupackende nicht, aber das fromme Gemüt und die lautere Auffassung hatten beide gemeinsam. Auch Bernd . . . er stand neben ihr wie eine feste, sparrige Eiche, oft zu derb für sie in seinem Brausen und Rauschen, in seiner Eckigkeit und dem gährenden Saft, der ihm Bast und Borke durchwühlte, aber herzerquickend für sie in seinem tiefen Schatten und den Lichtern, die seine gesunden Zweige umtanzten. Sie, die feinsinnige Aristokratin, und er, der Edelmann im Freisassenkittel, sie stießen sich zeitweilig ab, um doch immer wieder ihr Wohlgefallen aneinander zu haben. Nichts halbes in ihm. Er streute mit vollen Händen aus vollem Tuch. Und die Saat ging auf, hoch und zukunftsfreudig, wenn sich unter der gezeitigten Frucht auch Tremsen und Disteln befanden. Aber er säte doch und erntete doch. Er hatte dem roten Spiegel heimgegeigt und Darfeld das Bahrtuch genommen. Den sanften Lebensabend hatte sie ihm allein zu verdanken, und wenn sie Hilles gedachte . . .

»Da fährt unser Fräulein.«

Ja, da fuhr ›unser Fräulein‹, still und bedachtsam, in einem altfränkischen Tempo, wie Schön-Rottraut oder Schön-Rosenrot mit wiegenden Löckchen, fein in Daunen gebettet und einen unergründlichen Muff von Blaufuchs auf ihren weichen Knien – immer weiter und weiter, über eine endlose Spreite, zu Häupten das stahlblaue Himmelreich und um sich eine köstliche Welt von glitzernden Schneesternchen.

Es war einmal eine gläserne Kutsche, und in dieser gläsernen Kutsche . . .

So hätte ein Märchen beginnen können, eins von Karl August Musäus oder eins aus dem Schatzkästlein der Gebrüder Grimm, so niedlich war alles, so verträumt und mit Brabanter Spitzenwerk umkleidet, daß man des Glaubens sein konnte . . . als plötzlich ein knurriges ›Harüh‹ vom Bock stolperte, der wohlgenährte Herr auf dem Hochsitz die gerötete Kartoffelnase aus dem molligen Tröster schob, die Zügel lockerte und die beiden Schimmel aufforderte, in eine etwas schnellere Gangart überzugehen.

Das geschah auch.

Gleichzeitig reckte sich Stephanie Freiin von Boeselager in ihrem verbrämten Samtspenzer, zog die rosigen Finger aus dem gigantischen Muff, rückte ihre Schapel zurecht, machte sich an den blanken Pendellöckchen zu schaffen und sah durch die Scheiben.

Sie nickte befriedigt.

Haus Getter war erreicht.

Unter hellem Peitschenknattern trudelte der phantastische Wagen durch die Einfahrt des Hofes, zog noch eine majestätische Schleife, um sanft und gemütlich vor der großen Diele zu halten.

»Willkommen auf Getter!«

Eine mächtige Stimme dröhnte, der sich zwei Frauenstimmen gesellten.

»Willkommen! Willkommen!« und keine fünfzehn Herzschläge vergingen, da fand sich der Schlag der Glaskutsche aufgerissen, sah sich die überraschte Demoiselle aus Daunen und Decken geschält, von starken Armen in die Höhe gehoben und sacht und fürsorglich ins Freie getragen.

»O mon dieu! mon dieu!«

»Keine Zimperlichkeiten! Wir sind unter Bauern.«

Sie stemmte sich gegen ihn an.

»Bernd, was tust du? Wie soll ich das nennen?«

»Freisassenrecht!« gab er zurück. »Nur dicht an mich gekuschelt. Ich will doch wissen, wie es tut, ein Freifräulein von Boeselager mit 'ner siebenzinkigen Krone ritterlich und klostergemäß über 'nen Travelmannschen Dörpel zu transferieren. Und schön tut's, ich sage dir, schön tut's!«

»Du Unhold! Du Unrast!«

»Pirat, wolltest du sagen! Eginhart mit Emma! Der Mönch von Sankt Gallen und die stolze Hadwigis! Hei, wie einem das den Atem benimmt und das wilde Blut aufpeitscht! Gott segne den Eingang!«

»Du Landschreck! Du Weiberentführer!«

Aber ihr Drohen fruchtete nimmer. Wie ein Kind, wie ein leichtes Garnichts in Halbseide, mit Muff und klimperndem Pompadour, trug sie der blonde Teutone über den zirpenden Schnee, in die Diele voll silbernen Lichtes, um sie wie eine Wickelpuppe in die Arme der beiden Frauen zu betten.

»Stephanie . . .

»Judith! Hille, du Liebe! Und du . . .!« und ihre sanften Blicke begannen aufzubegehren: »Bernd, man sieht es dir an: du hast dich entwöhnt, Schild und Wappen zu führen.«

»Hab' ich, Gestrenge. Stiere wie wir sind. Hier kommandiert der Ochsenziemer. Grob Scheitholz wird auf Getter verarbeitet. Keine Kinkerlitzchen und Fisimatenten. Kein Spielchen Whist oder Pikett bei Wachslichtern auf silbernen Leuchtern. Lieber 'nen Männerskat mit allen Matadoren, und das da« – und seine kräftige Faust legte sich breit auf den Brustkasten – »das Edelmannsherz unter dem Freisassenkittel ist das alte geblieben.«

Sie gab ihm die Hand.

»Ich weiß. Du bist ein Travelmann, Bernd,« und während der Gutsherr seine Vorkehrungen traf, die Märchenkutsche in die Remise fahren, die Gäule aussträngen und den vereisten, aber wohlgenährten Herrn im baumwollenen Tröster hinterm warmen Gesindeofen bei einer heißen Tasse Kaffee, bei Pumpernickel und westfälischer Mettwurst auftauen zu lassen, geleiteten die beiden Frauen das freiherrliche Prinzeßchen in das Obergeschoß, wo ein trauliches Zimmer ihrer harrte.

Hier angekommen, nahm sie ihre ganze Kraft und ihre ganze Jungferntapferkeit zusammen und sagte: »Ihr Guten, ihr Lieben! Ich danke euch allen. Und dieser Empfang erst! So über die Schwelle getragen zu werden. Der Mönch von Sankt Gallen und die stolze Hadwigis! O mon dieu! mon dieu!« und ein Lächeln flog um ihren Mund, als es eifrigst von ihren Lippen sprudelte: »Ein netter Mönch das, dieser Mönch von Sankt Gallen! Und erst die stolze Hadwigis! Verhutzelt, verschrumpfelt, und ich glaube, die schöne Herzogin in schwäbischen Landen . . . ihr Geist würde sich entsetzt abwenden, träte ich ihr in meiner Person als das fünfzigjährige Freifräulein Stephanie von Boeselager entgegen. Aber er hat's gut gemeint, dieser Landschreck, dieser Unbändige, und ich freue mich innigst, von ihm also geehrt und gewürdigt zu werden. Und nun« – und ihre Blicke gingen von einer zur andern – ich sehe: das Glück ist auf Getter. Auch du, Hille . . .«

Die Alte unterbrach sie.

»Wie glücklich sie ist, das wird der morgige Abend erbringen.«

»Wie meinst du das, Judith?«

»Ich meine . . .« und ein Glanz war in der Stimme der hochgewachsenen Greisin, wie der des Sternes, den sie alle mit heißer Seele erwarteten, als sie sagte: »Stephanie, du kennst doch den Schmuck der Travelmänner? Segen und Sälde, Andacht und Auferstehung sind mit seinem Gold und mit seinen Grandeln verbunden. Wenigstens glauben wir es, und unser Glaube ist wie der aus der Handpostille.«

Das Fräulein nickte und ließ ihren Pompadour klingeln.

»Ich sah ihn, als Hille eine Travelmann wurde.«

»Dann weißt du auch: er wird nur an hohen Feiertagen und bei besondern Gelegenheiten aus der Truhe genommen?«

»Ich weiß es.«

»Und seit jenem Hochzeitstage sahst du ihn nicht mehr?«

»Nein, Judith, ich habe ihn nicht mehr gesehen.«

»Du wirst es . . . morgen unter der Fichte . . . wenn die Lichter brennen . . . Er wird von Hille getragen werden. Du sollst wissend werden und sagen: sie ist glücklich geworden.«

»Hille . . .

»Ach, du . . .!« und eine junge, königliche Frau hielt eine zarte Märchentante an ihrer Brust, herzte sie und streichelte ihr sanft über die Puderlöckchen.

Judith aber trat schweigend ans Fenster und sah lange in den weißen Tag hinaus, in den Tag voll ewigen Lichtes.

* * *

Die Legende aber erzählte: und der erste reisete von Thessalien über Emesa und Damaskus bis dorthin, wo er das Wunder erwartete. Der zweite kam von den Quellen des Ganges im Himalajagebirge und ritt über Lahor, Kabul und Ispahan, bis dorthin, wohin der Ruf ihn geleitete. Der dritte aber war in Alexandrien zu Hause und sein Weg führte ihn über Suez und Kusileh nach Moab und Ammon, und so verschieden ihre Pfade auch waren, obgleich sie kamen aus dem heißen Süden, aus Osten und Westen, an ein und derselben Stätte trafen sie sich, reichten sich die Hände und sagten: »Unser Ziel ist ein gemeinsames Ziel, unsere Absicht dieselbe. Wir wollen hingehen und die Stunde genießen.«

Und was vor Zeiten geschehen, geschah auch heute, nur in ganz andrer Weise: damals die heiligen Könige, heute schlichte Menschen, die weder Kronen noch Würden trugen; solche vielmehr, die durch des Lebens Niederung schritten und nicht umkrustet waren mit Silberborten und Gold und mit seltsamen Steinen. Doch auch sie erschienen auf abgesonderten Gleisen, und ihr Ziel blieb das gleiche.

Der erste. Es war noch hellichter Tag. Eine glasblaue Kuppel, mit schmalteblauen Splitterchen durchsetzt, flimmerte ob der münsterischen Heide. Über Simsen und Porst spreitete sich ein Linnen von blendender Weiße. Ein dunkler Punkt löste sich von dem ewigen Einerlei. Neben ihm spannten sich straffgezogene Drähte durch die stille Frostwelt. Sie liefen an hohen Stangen vorbei, die alle einem niedrigen Gebäude zustrebten. Über der Tür paradierten Posthorn und Kuckuk. Vor einer kleinen halben Stunde vielleicht war der dunkle Punkt aus dem schlichten Hause getreten. Er kam immer näher, wurde größer und sichtiger, um schließlich die Umrisse eines vierschrötigen Mannes anzunehmen. Er trug feste Nägelschuhe, einen Rock wie den eines preußischen Unteroffiziers oder Sergeanten, eine ebensolche Mütze und in der Rechten einen handlichen Weißdorn. Die Aufschläge waren von postroter Farbe. In einer mageren Kiefernschonung verschwand er, um bald darauf seinen Einzug auf Getter zu halten. Er war nicht der erste, sondern nur der Abgesandte des ersten. Er hatte eine Botschaft zu übermitteln.

Dann später. Die Sonne war tiefer gesunken. Breit und von fahlen Dünsten umgeben, lag sie am fernen Horizont. Ganz allmählich schrumpfte sie ein. Die Luft opalisierte im Dämmerglanz des Abends. Sie sah aus, als wären in ihr Myriaden von Mondsteinen lebendig geworden.

Der zweite. Er wandelte gleichsam über Eiderdaunen. Man hörte ihn nicht, man sah ihn nur, denn alle Geräusche schluckte das Tuch ein, das weich und geschmeidig war wie ein Gewebe aus Mossul. Im Wind, der sich inzwischen aufgetan hatte, wehte seine schwarze Soutane, gaukelten die Fransen seiner seidenen Schärpe. Im fahlen Auge des heimgegangenen Tages glitzerten die Schnallen auf seinen Schuhen. Als er den armseligen Kotten mit den drei sparrigen Kiefern hinter sich hatte, machte er das Zeichen des Kreuzes und hub an, in den Abend zu sprechen; erst verhaltend und zögernd, dann freier und wohlgemuter. Und also redete er: »Mache dich auf, Jerusalem, und werde hell; denn es kommt dein Licht, und die Herrlichkeit Gottes geht auf über dir. Denn wisse: Finsternis bedecket die Erde und Dunkelheit die Völker. Über dir aber erhebt sich der Herr, und in dir wird man schauen seine Größe und Allmacht. Die Könige von Tharsis und die Inseln werden ihm Geschenke opfern. Die Herzöge von Arabien bieten ihm Spezereien, Salben und Narden.« Und seine Stimme schwoll an: »Es werden ihm dienen alle Fürsten der Erde. Und alle Völker werden ihn feiern. Quoniam elegit Dominus Sion, elegit eam in habitationem sibi. Ja, der Herr hat Sion erwählet, hat es erwählet zu seiner Wohnung. Weihnacht! Weihnacht!«

Hinter ihm lag sein Kirchsprengel, seine heimliche Freude, sein Brevier und alles, was sein war, und vor ihm das dunkle Haus des Freisassen, in Schnee eingewickelt und von finstern Bäumen wie mit einer ernsten Hochwacht umstanden.

Ein Lämpchen flämmerte da drinnen auf. Er beeilte sich, das Licht zu erreichen.

Der dritte.

Eine geraume Spanne nachher. Es war um die fünfte Nachmittagsstunde. Dunkel ringsum. Um so emsiger kreisten die goldnen Welten unter dem Himmelreich: Sonnen, Planeten, eilige Fünkchen, die aufgeisterten, um unter Hinterlassung einer haarfeinen Linie spurlos und rasch zu vergehen. Perlgraue Schnüre, silberne Schilde, die glänzende Wega in der Leyer, Aldebaran und tief am Horizont der Stab Jakobs, leuchtend anzuschauen, groß und unermeßlich, und weiter zur Linken, mehr der Erde zu: der Stern aller Sterne! O, daß ich tausend Zungen hätte . . . Wie ein geschliffner Diamant spiegelte sich sein heiliges Angesicht in den verschneiten Dächern des Herrenhauses, und unter all diesen Schwärmen, dem Glimmern und Glitzern zog der letzte König ohne Land und Krone den Helweg herauf, mit Lodenhütchen und Rucksack und den treuen braven Wandergenossen in der Rechten führend. Dabei sang er durch die feierlich gestimmte Landschaft:

»Es diente mein tapferer Vater
In der preußischen Garde zu Fuß . . .«

Die geheimnisvollen Zeichen über ihm waren ihm vollständig schnuppe. Er lebte wieder sein eigenes Leben. Keine Spur mehr von einem Simeon Stylites. Sein Fakir- und Anachoretentum im verfilzten Wuschelhaar hatte er von sich gestreift wie eine nichtige Sache. Warum auch nicht? Drüben rauchte der Schornstein, lag der Pfropfenzieher bereit, um mit seinem Gezwitscher in den Korkenstöpsel zu gleiten. Die Dinge entwickelten sich so günstig wie möglich. Die mageren Tage und Stunden waren dahin, die fetten begannen. Keine anser hyperboreus, aber eine genudelte, mit Apfelschnitzen und Maronen gefüllte, zartfleischige und nach seinem Rezept durchschwitzte und hergerichtete Adelheid aus dem Stall des Freisassenhofes harrte seiner auf einer blütenweiß gespreiteten Tafel.

»O Gott, o Gott, o Gott!

Es diente mein tapferer Vater
In der preußischen Garde zu Fuß . . .«

und vollkommen glücklich, mit sich und allen Menschen zufrieden, den Bakel schwingend und trefflich marschierend, sang er alle Strophen des braven Liedes herunter, bis er die Kiefernschonung erreichte und ihn die erhellten Fenster des Hauses begrüßten. Da klang es ihm frisch aus der Kehle: »Freu' dich, Herzbruder, du in Kraft geweihter und heiliger Tradition von Schild und Wappen Entblößter! Deiner Klitsche ist Heil widerfahren; denn höre und wisse: Toujours en vedette! Dein König zieht ein, der da gekommen ist, dir deine Teller leichter und deinen Weinschrank leerer zu machen. Empfange ihn würdig, mit den nötigen Haltestellen, sonst: verdammt sollst du sein, in der sandigen Wüste Ziegel zu streichen.«

Wie ein Magyar in der Pußta wiegte er sich in den Hüften und schritt flott über den Hof fort.

Das war am Heiligabend und um die fünfte Nachmittagsstunde.

* * *

Aber schon lange vorher, als es noch sichtig war und die bläulichen Schatten mit kurzen Beinchen herumtrippelten, hatte der Abgesandte des ersten, der Hiltruper Briefträger, seinen Auftrag erledigt und ein versiegeltes Eilschreiben zu Händen des Hausherrn gebracht, der just ein anregendes Stündchen mit seinen Damen beim Kaffeetisch verplauderte.

Aller Augen richteten sich auf ihn.

»Von Emmerich,« sagte er mit einer gewissen Hast, erbrach das Papier und las es.

»Meine Lieben auf Getter. Wenn diese Zeilen . . . Kennen wir. Warum diese Lamentationen? Die Karwoche kommt doch erst. Redensarten. Nichts weiter. Also fort damit. Aber hier. Na endlich! Immer sachlich und bei der Stange geblieben. Weshalb denn nicht gleich? Freut mich. Gut Ding, was sich bessert. Basta! Streu' Sand drauf!«

Er besah seine Fingerspitzen, schmunzelte in sich hinein und ließ den Schriftsatz herunter.

»Und kommt?« fragte Hille.

»Da lies! Das reumütige Männeken gibt sich die Ehre.«

Hille nahm und verfolgte Zeile um Zeile. Als sie geendet, war es ihr so, als hätten sich die trüben Wochentage in einen heitern Sonntag verwandelt. In gehobener Stimmung meinte sie zuversichtlich: »So ist denn auch dieses erledigt. Der Ring bleibt geschlossen, und in ungetrübter Weise können wir den heutigen Abend begehen.«

»Können und wollen wir, Hille. Den Teufel auch, wäre es anders gekommen, wäre dein Appell in der Luft hängen geblieben! O du mein Deutschland! – die Getter, mit allem, was drum und dran ist, mit Äckern und Wieswuchs, mit Weib und Ingesind, mit Jagd und Bouteillen, wäre für ihn ein Buch mit sieben Siegeln geworden.«

Er umschrieb einen Halbkreis. »Das heißt auf westfälisch gekürt: Mit meinen zehn Fingern hätte ich ihm alle Rippen im Leibe zerbrochen oder ihn wie 'ne Eule an die Scheune genagelt.«

»O mon dieu! mon dieu!« entsetzte sich die bejahrte Märchenprinzessin, »was ist denn mit Emmerich? Sonst lieb Kind bei euch und wie ein schönes Licht von den Bergen herunter, um so mit einem Mal . . .«

Ihre Worte zerbröckelten. Erregt griff sie in ihr knisterndes Röckchen.

»Stephanie,« fiel die Alte dazwischen, »das ist es ja eben, und das brannte Bernd auf den Nägeln.«

»Grâce à dieu! Mir wird wirbelsinnig davon.«

»Mir auch,« konstatierte der Gutsherr.

»Aber so rede doch, Bernd. Warten ist furchtbar.«

Das zarte Persönchen hob verzweifelt die Hände.

»Ihr wollt doch Emmerich nicht in Acht und Bann tun? Oder habt ihr ihm das Urteil schon gesprochen?«

Da klappte der Freisasse seine Hacken zusammen.

»Mit nichten.«

»Bernd, ich befehle dir, mir endlich Antwort zu geben.«

»Warum nicht? Denn ich bin leutseliger Laune. Also« – und der Gutsherr stand stramm wie ein Spontonträger des großen Soldatenkönigs – »die Edle von Boeselager mit der siebenzinkigen Krone haben befohlen und ich, Bernd Travelmann, der Schild- und Wappenlose, hat zu gehorchen. Zu Befehl, ich gehorche. Und daher, kurz und bündig, die Sache ist diese. Denke dir, mein goldenes Hühnchen: gab mir da der exzellente Griechenmann und Professor der Archäologie, habilitiert an der Hochschule hiesiger Haupt- und Residenzstadt, auf mein ebenso dringliches wie gütiges Anfordern, seine gefeierte und mit einer Gloriole umkleidete Person für uns in Marsch und Bewegung zu setzen, einen ganz ordinären Korb in die entrüsteten Hände.«

»Quel dommage!« sagte sie wehleidig.

»Und dennoch geschehen, mir zum Ärger und dem ganzen Anwesen zur Veranlassung, ein ›De profundis‹ zu singen. Er wollte einfach nicht, sagte ab unter den nichtigsten Gründen, und hätte Hille nicht zugepackt, der hinterhältige Fuchs wäre uns regelrecht durch die Lappen geschnürt.«

»Mais non. Diese Worte!«

»Aber treffende.«

»Und nun?«

»Du hörtest, mein Silberfasänchen. Er kommt. Ein vergifteter Brocken, ausgelegt durch ein weibliches Wesen, brachte den pfiffigen Schleicher zur Strecke. Diese Fortüne! und Ohm Gideon wird das Halali blasen und alle Irrungen und Wirrungen durch meinen Weinkeller ausgleichen. Während der Dechant . . . Er sagt Amen dazu, Amen, Amen.«

Ein glockenreines Lachen.

Wie ein spinnendes Kätzchen im Reifrock war das Edelfräulein in die Höhe gefahren.

»Das muß ich sagen: ihr Travelmänner versteht es schon, die Mäuse nach eurer Pfeife tanzen zu lassen. O mon dieu! mon dieu!«

»Ja, Feinsjüngferlein, das verstehen sie noch immer.«

»O du mein Landschreck! Du Wilder und Unbändiger, und doch du Guter und Lieber . . .!« und mit gebreiteten Armen, auf knisternden Lastingschühchen, den großgemusterten Pompadour zwischen den zierlichen Fingern, tänzelte Stephanie Freiin von Boeselager auf den Freisassen zu, hob sich auf Zehenspitzen und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Küsse mich, Bernd! Trotz deiner Bärbeißigkeit, ich wünsche dir eine stille und gesegnete Weihnacht, denn du verdienst sie in reichlichem Maße.«

»Silberfasänchen!«

Und da nahm er das zerbrechliche Spielzeug zwischen seine nervigen Fäuste und drückte ihr ganz fein und bedachtsam einen Kuß zwischen die Pendellöckchen.

»Ciel! auch das versteht der Mönch von Sankt Gallen, sagte sie glücklich und preßte sich an ihn.

Es war eine feierliche Stille geworden.

Judith und Hille hatten sich gleichfalls erhoben und waren dicht an die Seite des umschlungenen Paares getreten.

Auch sie waren bewegt, auch in ihren Blicken begann es zu glitzern, denn sie wähnten bereits, das Musizieren der himmlischen Geigen und Quinternen zu hören. Dämmerungen sahen durch die Fenster. Draußen umschleierte sich die Ferne. Nur ein roter, dünnfadiger Streifen, das letzte Schimmern des Tages, war im tiefen Westen übrig geblieben. Die Weiten schienen voll heimlichen Gestiebes, voll der Worte und Gesänge, die da lauten: »Levavi oculos meos in montes, unde veniet auxilium mihi

»Nun wird's Zeit für mich,« sagte Judith, wandte sich an Hille und raunte ihr zu: »Ich gehe. Du bleibst. Keiner von euch darf von jetzt an mein Reich betreten. Ich habe zu tun. Du empfängst inzwischen die Gäste. Das übrige lasse meine Sorge sein. Du verstehst mich schon, Hille.«

Unauffällig verließ sie das Zimmer und begab sich zur Diele, wo Hövelkamp unter Anleitung Johannas damit beschäftigt war, die zugebrachte Fichte zu richten und sie in die feinste Beleuchtung zu rücken. In einer traulichen Ecke des weiten Raumes hob sie sich auf, wald- und nadelfrisch und noch den Hauch der goldenen Freiheit zwischen den Ästen.

In großen Bündeln und Paketen lagen die Präsente auf den zunächst stehenden Tischen: Jacken und Pfeifen, Tabaksbeutel, Schuhe und seidene Schürzen. Sie mußten nur noch ausgepackt, gesichtet und aufgestellt werden. Über sie hin wölkte sich der einladende Duft von Äpfeln und Mispeln, Aachener Printen und Pfeffernüssen. Sie harrten der liebevollen Hand, die sie in die festliche Ordnung einreihen sollte. Auch die Fichte stand noch kahl. Mit sichtlichem Schauern sah sie ihrem Schmuck entgegen.

Der mußte jetzt kommen.

Der Kronleuchter über der bereits gespreiteten Tafel spendete eine wohltuende Helle. Unter seinem Licht war ein frohes Arbeiten.

»Johanna!«

Die Alte rief das emsige Mädchen beiseite.

»Daß du es weißt,« sagte sie freundlich, »alle Geschenke, auch die für Knechte und Mägde, werden hier auf der Diele gegeben. Der heilige Christ macht keinen Unterschied zwischen hoch und niedrig.«

»Das sagte mir Hövelkamp schon.«

»Dann hat er richtig gesprochen.«

Ihr Blick zählte die einzelnen Gedecke.

»Stimmt,« meinte sie beipflichtend. »An Werkeltagen gemeinsame Schüssel, bei allen feierlichen Gelegenheiten jedoch gesonderte Tische. So will es die Ordnung auf Getter. Du bist anstellig. Ich bin zufrieden, Johanna.«

»Ich danke, Frau Travelmann.«

»Fahre so fort, und unser Zusammensein wird ersprießlich werden. Nur hüte dich vor den bösen Sämännern und solchen, die in Schafskleidern umhergehen. Sie lieben es, die Schuhe auszuziehen und sich strümpfig in die Kammern zu schleichen. Ich sprach nicht davon, weil ich keine Gelegenheit fand. Aber jetzt muß ich es tun, denn alles, was man sich vom Herzen herunterredet, macht fröhliche Sinne. Ich meine . . . vor wenigen Tagen . . . Fritz Garke ist bei dir gewesen.«

Johannas Blicke wurden eisig.

»Er brachte die Tanne, Frau Travelmann.«

»Das weiß ich; aber ist sonst nichts geschehen?«

Sie warf sich hoch.

»Meinerseits nichts; nur, ich stieß ihm die Faust vor die Stirne.«

»Heidehummel!«

In Judiths Augen glänzte es auf. Dann glitt sie über die schwarzblaue Flechtenkrone.

»Das wollte ich wissen. Man soll die Röcke nicht schwenken, sein Magdtum nicht allzu offen tragen. Bleibe dabei; nur ein Übles ist es, das Kind mit dem Bad zu verschütten. Kommt er in Ehren – werde zum Weibe. Tut er es nicht, will er strümpfig erscheinen – ist die Hummel am Platze. Im übrigen: ein reines und frohes Gewissen. Das beseligt . . . auch mich,« und sie führte sie wieder zur Fichte und sagte: »So! nun man weiter. Ich warte der Dinge.«

Lächelnd trat sie zurück und mit ehrlichem Erstaunen folgte sie dem emsigen Hantieren, dem Auf- und Niedergleiten der Leichtfüßigen.

»Ein feines Jüngferlein,« sagte sie in ihr Schauen hinein. »Das könnte im puren Hemde umherlaufen, ohne seine Reputation aufs Spiel zu setzen. Rühr' mich nicht an!« und ihre Augen ließen nicht ab, allen Bewegungen und Handleistungen der Geschäftigen eine neue und herzerquickende Seite abzugewinnen.

Keine Eile, kein Überhasten. Äpfel und Nüsse, jede Kleinigkeit erhielt sein geeignetes Plätzchen. In blanken Kaskaden rieselten die Perlenschnüre von den Zweigen herunter. Die bunten Papierkettchen schlängelten sich behutsam durch das dunkle Grün. Dazwischen knisterten goldene Fähnchen, gesellte sich Kerze bei Kerze, leuchteten blaue und rote Kugeln wie aus weiter verdämmerter Ferne herüber. Alles und jedes fügte sich willig dem großen Ganzen ein. Selbst Hövelkamp wurde zum unermüdlichen Heinzelmännchen, hatte nicht Arme und Hände genug, hilfreiche Gefolgschaft zu leisten. Auch für ihn war Johanna Altrogge zu einem seltsamen, fast überirdischen Wesen geworden. Ihr Kleid berührte ihn wie mit elektrischen Spitzen. Jeder Anforderung kam er nach, wie von einer höheren Macht gezwungen, und dabei blieb sie von einer gewinnenden und einspinnenden Ruhe, von einer liebenswürdigen Eigenwilligkeit, die die Herzen bezauberte und die Blicke aufforderte, um sie zu sein, den anmutigen Bewegungen des gelenken Körpers zu folgen und nicht von ihm zu lassen.

So erging es auch Judith.

»Heidehummel! und doch ein Schmetterling unter Wiesenblumen, unter Salbei und Tausendgüldenkraut.«

Immer voller und reifer umkleidete sich die grüne Fichte, als etliche Male an das rückwärts gelegene Fenster geklopft wurde.

Ein freundliches Gesicht stand hinter den Scheiben.

»Ist es gestattet, Frau Travelmann?«

»Eigentlich nicht. Hier ist verbotener Eingang, Hochwürden. Aber weil Sie es sind . . .« und sie ging hin und öffnete die verschlossene Dielentür.

Ludgerus Hölscher trat ein.

»Und sie kamen von Osten und Westen und tief aus dem Süden daher . . . Ich bin wohl der erste?«

»Ja, und doch wieder der zweite, Herr Dechant. Der Abgesandte des ersten verabschiedete sich bereits nach erledigter Botschaft, und über ein kurzes wird der dritte erscheinen.«

»Ohm Gideon?«

»So ist es.«

»Ei, und siehe da!« schmunzelte der geistliche Herr und brachte seine Tabakdose mit dem Urteil des Paris zum Vorschein, die er eilfertig zwischen den Fingern kreisen ließ. »Das Bäumchen des Herrn!«

»Und unter ihm . . .« fiel die Alte ein, und ihr Krückstock deutete auf das hurtige und doch kirchenstille Mädchen.

»Fräulein Johanna!«

»Hochwürden, was sagen Sie nun? Sind Sie nicht gezwungen, Ihr voreiliges Urteil zu revidieren? Wohl denen, die in der Erkenntnis leben.«

»Hm, hm! ich sollte fast meinen.«

»Nur meinen? Ich behaupte, Herr Dechant, sie ist wie die achtsame Jungfrau im Gleichnis.«

Die Dose drehte sich flinker. Dann klappte sie zu.

»So scheint es, Frau Travelmann, obgleich mir noch immer die Stelle aus dem Miserere zu Ohren klingt, die da sagte: In iniquitatibus conceptus sum, et in peccatis concepit me mater mea. In Missetaten bin ich gezeugt, und in Sünden empfing meine Mutter. Allein, es klingt immer schwächer und weicher in mir nach. Es hat bereits seine Schärfe und Bitterkeit eingebüßt und wird sich, so hoffe ich zuversichtlich, noch gänzlich verlieren.«

»Es wird es. Ich habe Beweise.«

»Um so besser, Sie werktätige Frau. Aber mein Gott! welch' übermütige Note in dieser Einsamkeit. Da kommt jemand!«

Beide lauschten hinaus.

Über den Hof fort rasaunte eine verrostete Stimme:

»Es diente mein tapferer Vater
In der Preußischen Garde zu Fuß . . .

Toujours en vedette! Freisassenhöfer, dein Herzog zieht ein, mit Schwung und Elastik. Empfange ihn würdig, sonst: verdammt sollst du sein, in der sandigen Wüste Ziegel zu streichen.«

»Horch!« lachte Hochwürden, »der Wilde tobt schon an den Mauern. Ich kenne den Prediger.«

»Ohm Gideon,« sagte Judith. »Immer willkommen! Johanna, öffne die Haustür. Aber gleich hinauf mit ihm und nicht auf die Diele, unter keiner Bedingung . . .« Und kaum daß sie gegangen war und den Riegel geschoben hatte, hörten die beiden vom Flur her: »Die Sonne und alle Schätze Vitzliputzlis über dein Haupt, du edle Prärieblume, Tochter Montezumas, des gewaltigen Königs . . .«

Dann ein weibliches Kichern: »Auweh, Herr Baron!«

»Ein prächtiger Herr,« meinte der Dechant, »doch scheint mir, es dürfte angezeigt sein, den Dritten im Bunde abzugeben. Für alle Fälle,« und er ging eiligst hinaus, um dem gediegenen Paderborner seinen Gruß zu entbieten.

Und wieder tönte es:

»Es diente mein tapferer Vater
In der preußischen Garde zu Fuß . . .«

Und gleich darauf: »Habe die Ehre, Hochwürden. Jawoll, ja. Pardon! Nur 'ne kleine Entgleisung. Sonst immer Haltung. Ich bitte um Absolution. Jawoll, ja, Herr Dechant.«

 


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