Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

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Fünfzehntes Kapitel

Erst spät am Abend fanden sich Severin und Fränzchen Baumann in ihrer Wohnung zurecht.

Gleich nach der Katastrophe auf der Freilichtbühne waren sie wie die übrigen zahllosen Menschen als verstörte Hühner durch Heiligenbaum gehastet, hatten gefragt und gelaustert, ohne etwas Bestimmtes zu hören, so daß sie kaum wußten, was sie vor Not und Herzleid anfangen sollten. Was ihnen begegnete, waren kopflose Geschöpfe, die umherirrten wie verlorene Blätter im Herbstwald, wenn ein jäher Wind sich auftat und die falben Baumkronen rüttelte und schüttelte . . . und war doch Pfingstzeit, fröhliche Pfingstzeit, waren doch Tage mit Blumen und Blütensträußen, mit Wundern und Wunderlichkeiten, mit Würde und Weihe.

Das Häuschen mit den stattlichen Buchsbäumen blieb für jedereins ein gefeites und versiegeltes Häuschen. Nur der Arzt, der Seelsorger und die Frau Paramentenpräsidentin, Anna Berendonk, nebst dem zutunlichen Luischen hatten Zutritt. Sonst niemand.

Fränzchen und Severin hatten die Brust zum Zerspringen. Sie waren doch auch nicht von heute und gestern, hatten doch auch ein gewisses Anrecht darauf, berücksichtigt und nicht übergangen zu werden – aber nichts geschah. Keine Tür wurde geöffnet, keine gütige Seele erschien, um etwas Tröstliches oder Erbauliches den erregten Sinnen anzubieten.

Erst ums Abendwerden wurden sie wissend.

Von der Gnadenkapelle schlug die Sankt Marienglocke zu dreien Malen kurz hintereinander an, um im Verein mit Preziosa und der melodischen abgestimmten Glocke der heiligen Anna einen harmonischen Dreiklang zu läuten.

Auf den Straßen blieben die Menschen stehen.

Aller Augen waren auf das schlichte Anwesen gerichtet, hinter deren Mauern eine Heilige wohnte.

Ob sie dort noch wohnte?! Ob sie noch Leben und Odem hatte, um mit bleichen Lippen zu flüstern: »Herr, sei mit mir in der Stunde des Todes, um mich in dein ewiges Reich zu geleiten?!«

Gleich darauf tat sich die Tür auf.

Ein zierliches Männchen in schwarzem Gehrock erschien auf der Schwelle. Es war der Küster von der Gnadenkapelle.

Seine spärlichen Haare wehten im Nachtwind.

Er sagte: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sprechet ein Vaterunser für Maria von Magdala. Soeben ist Henriette Jansen verschieden.«

Die Tür schloß sich wieder.

Alles ging stumm auseinander. Jedem einzelnen war das Messiaskleid näher als alle irdischen Kleider. Jedem glitten die Perlen des schmerzensreichen Rosenkranzes über die Lippen vom ersten Gesetz bis zum letzten Gebet, das da die Herzen erschüttert.

Jetzt fuhren auch Herr und Frau Baumann nach Hause.

Stumm und mit Tränen in den Augen sagten sie sich bald gute Nacht.

Ihr war es nicht schwer, bald in ein dumpfes und unruhiges Träumen zu verfallen, denn es war ihr so, als hätte sie den stillen Kalvarienberg zehnmal auf und nieder gepilgert, ohne Rast zu machen, ohne ein einziges Mal Atem geschöpft zu haben, so schwer und tief war ihr das Geschick Henriettens in die Glieder gefahren.

Er jedoch konnte den Schlaf nicht finden. Wirre Bilder gaukelten an seinen geschlossenen Augen vorüber. Es lief ihm durch seine Gedanken mit dem Gestampf und Tacken von Dieselmotoren . . . und diese Gedanken sind heiß wie Feuer, auf dem ein heftiger Wind steht. Was sollte nun kommen? Wie würden sich nunmehr die Dinge im Betrieb anlassen? Und dann Heribert Kästner . . .! Er wußte nun vieles, aber er wußte nicht alles. Er hatte ihn noch in den ersten Reihen des Zuschauerraumes gesehen, die Blicke starr auf die ernste und feierliche Gardine gerichtet. Dann war er spurlos verschwunden, ihm und allen wie ein Phantom aus den Händen geglitten.

Er dachte an Joris, an seinen verstorbenen Seniorchef, an all seine Liebe und Güte, und nun war alles dahingegangen wie Spreu vor dem Winde.

Erst gegen Morgen fand er ein kurzes Rasten und Ruhen.

Gleich darauf rief ihn die Pflicht.

Fränzchen schlief noch den Schlaf einer Gerechten, Tränen zwischen den geschlossenen Wimpern.

Geräuschlos zog er sich an und begab sich nach unten.

Bald darauf saß er in seinem Kontor und öffnete die Morgenpost. Plötzlich überschauerte es ihn.

Sein Atem setzte für drei Herzschläge aus.

Herr Baumann gehörte nicht zu den Zagen und Schwachen im Lande.

Aber das nahm ihn doch mit.

Er hielt den Brief und die Anschrift einer Toten zwischen den Händen.

Er erbrach Kuvert und Siegel.

Er sah die regelmäßigen und etwas steilen Schriftzüge, die von einer Frauenhand herrührten, die nicht das Leben mehr hatte. Und diese Hand war jetzt durchsichtig wie Porzellan, hielt einen Rosenkranz und ein beinernes Kruzifixlein zwischen den wachsbleichen Fingern.

Er las mit stockendem Eifer, mit Tränen, die ihm des öfteren geboten, innezuhalten und das helle Wasser aus den Augen zu wischen.

»Heiligenbaum, Pfingstsonntagabend.

Sehr verehrter und lieber Herr Baumann!

Sie waren der Freund meines Vaters, sein treuer Stern, sein selbstloser Berater. Ihre Rechte wußte nicht, was die Linke verausgabte, aber was sie verausgabte, kam stets dem Betriebe und dem Großen und Ganzen zugute. Kein Bröselchen fiel vom Tische des Herrn, das Sie nicht wahrnahmen, das Sie nicht seiner eigentlichen Bestimmung zuführten. Sie waren Diener, ohne Diener zu sein, Sie waren sein Freund, ohne die Gepflogenheiten eines Freundes in Anspruch zu nehmen. Der Mann mit dem ewigen Lufthunger und dem weichen und großen Herzen erkannte das alles und fühlte: im wohltuenden Schatten von Severin Baumann kann ein Joris Jansen geruhsam seine letzte Stunde erwarten. Aber warum sag' ich das alles, warum drängt es mich. Ihnen, mein Lieber, dieses nochmals ans Herz zu legen? Nur aus dem Grunde heraus, um Ihnen darzutun: auch ich bin immer herzenseinig mit Ihnen gegangen, genau wie mein Vater, ohne jemals in meiner Gesinnung Ihnen gegenüber schwankend zu werden. Was Ihnen zu treuen Händen gegeben wurde, haben Sie mit treuen Händen verwaltet, werden es so weiter halten, selbst dann, wenn andere Verhältnisse eintreten sollten. – Ich habe eine Bitte an Sie. Drum hören Sie, mein lieber Herr Baumann. Es ist nicht wohlgetan, mit seinem letzten Willen zu zögern. Jedes Leben ist ein zerbrechliches Ding. Man weiß nicht, wann es zerscherbelt, wann ihm ein Ziel gesetzt wird. Damit bis zum Ewaldi-Kegeln zu warten, wie sie hierzulande sagen, ist ein törichtes Beginnen, denn nicht wir zählen unsere Tage, wägen ihre Dauer ab, sondern ein anderer ist hierzu berufen, uns unvermittelt zu sagen: Das Spiel ist zu Ende.

Schon seit geraumer Zeit gehe ich durch Wirrnis und Not. Immer mehr fühle ich den Boden unter meinen Füßen schwinden. Meine Sinne flüstern mir heute dieses zu, um mir anderen Tages genau das Gegenteil anzuempfehlen. Meine Hände greifen ins Leere, ins Nichts, in eine Welt voller Widersprüche. Heute möchte ich mit den Lerchen aufjubeln, schon morgen mit den Gräsern des Friedhofes, die ein warmer Sommerregen benetzte, bitterlich weinen. Ich kämpfe dagegen an, ohne das Feld behaupten zu können. Eine scheinbar mir wohlwollende Kraft steht neben mir und ist doch nicht imstande, mich des Sieges teilhaftig werden zu lassen – und diese Erkenntnis bringt mich der Verzweiflung nahe.«

Herr Baumann ließ den Schriftsatz herunter.

Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen.

Es war ihm, als fühlte er die Nähe der Abgeschiedenen, die dieses niedergelegt hatte.

»Mein Gott«, sagte er fahrig, »nun verstehe ich manches, ohne dennoch den Beginn und das Ende des Fadens teilhaftig zu werden.«

Er schüttelte den Kopf, wartete noch einige Augenblicke, um dann zögernd weiterzulesen:

»Mir fehlte eben der starke Arm, der mich hielt, nicht, daß ich dieses starken Armes ermangelte. Ich hatte ihn, er war bei mir, er bot sich mir an, mich durch eine Garbe des Lichtes zu führen, aber ein Geweihter des Herrn . . . Mysterien und Dämmerungen . . . Lassen wir das. Es ist nichts mehr zu ändern, denn es gebricht mir an Kraft und Mut, das Verabsäumte nachzuholen, mich umzustellen und den starken Arm zu erbitten. Auch würde er zu stolz sein, ihn mir ferner zu leihen, denn mein Herz war ihm gegenüber wie ein Kiesel geworden. Also bleibt nur das eine – dem Äußersten zu begegnen und ihm tapfer ins Auge zu sehen, denn wie bereits oben gesagt: es ist nicht wohlgetan, mit der Betätigung des letzten Willens zu zögern und sie auf eine ungewisse Zeit zu verschieben. Man hat zu handeln, um nicht töricht zu scheinen.

Meinerseits ist solches geschehen.

Gleich nach dem Ableben des Vaters habe ich über meinen Nachlaß verfügt. Er besteht außer etlichen Aktien, Pfandleihen und mündelsicheren Papieren, aus meinem Mobiliar und den Besitztiteln, die mir als stille Teilhaberin des väterlichen Betriebes zustehen und zugemessen wurden. Wegen dieser sind gerade diese Zeilen an Sie gerichtet, damit Sie wissend werden und sich einrichten können. Selbstverständlich – bis zur Stunde, wo Gott mich abruft, sind sie als vertraulich und geheim zu betrachten. Später verfahren Sie damit nach bestem Ermessen.

Ich hoffe auf stille und geruhsame Befriedung.

Darum Ihnen zur Nachricht.

Mein offenes Testament wurde von mir in Kleve auf dem dortigen Amtsgericht Numero 2 hinterlegt. Als Universalerbe bestellte ich darin den Mann, der mir nahestand, den ich verehrte und zu dem ich emporsehen konnte, als hätte ihn mir der Herr selber als Treuhänder und Lebensgefährten empfohlen. Es ist anders gekommen . . . aber mein Wille besteht, über Mobiliar und Wertpapiere kann Heribert Kästner sofort nach meinem Ableben verfügen. In der Firma jedoch bleibt alles beim alten. Nur – er tritt statt meiner als stiller Teilhaber ein, um nach Ihrem Willen und dem meines Vaters sich mit dem Betrieb ins Einvernehmen zu setzen. So nur fährt er am besten und so nur ist beiden Teilen in sachlichster Weise geholfen. In meinem hinterlegten Testament ist alles Nähere zu finden . . . und nochmals gesagt: erst nach der Stunde meines Todes sind diese Zeilen nicht mehr als vertraulich und geheim zu betrachten. – Ich weiß, mein Leben ist nur noch ein kurzbefristetes Leben. Ich trug reichlich dazu bei, es so zu gestalten, ihm seine reichen Daseinsquellen abzugraben, es nicht ins Blühen und ins Flüchtespenden hineinwachsen zu lassen. Die Schuld trage ich selber und bin Gott dafür verantwortlich. Nur ihm allein gegenüber. Erhoffe aber von ihm ein gütiges Lächeln und die verzeihende Hand eines gerechten und wohlwollenden Richters. – So, das wäre wohl alles, mein lieber Herr Baumann. Ich fühle mich freier und leichter und wähne das sanfte Wuchteln von weißen Schwingen zu hören. Leben Sie wohl. Herzliche Grüße für Sie und die Gattin. Auch einen stillen Gruß an den, dem ich vieles abzubitten habe, was ich ihm antat.

In treuer Gesinnung

Henriette Jansen.«

Herr Baumann kroch in sich zusammen.

Er wurde ganz klein, vermickert, vereinsamt, verlähmt und in sich gekehrt wie ein verschrumpfeltes Männlein.

Den langen Schriftsatz einer Verstorbenen legte er mit einem wehen Laut auf den Kontortisch.

Dann schob er einen Aktendeckel darüber, um ihn jedem profanen Blick zu entziehen.

So saß er fünf bange geschlagene Minuten, ohne Bewegung, ohne auch nur ein einzigesmal die Lider auf- oder niederzuschlagen.

Er stierte ins Leere.

Ein heiliger Franz von Assisi hätte erscheinen müssen, um ihn mit einem heiteren Psalter aus seinem dumpfen Brüten aufzustöbern.

Aber der heilige Franz von Assisi dachte nicht daran.

Der schlief ruhig seinen ewigen Schlaf in der Portiumkulakirche seiner Geburtsstadt im rauhen Gewand der Fratres minores.

Dafür aber erschien Fipps, um die eingelaufene Korrespondenz für Laden, Magazin und Werkstätte weiterzuleiten.

Unverrichteter Sache mußte der Stift wieder verschwinden.

Dann kam Fränzchen.

Erst bitteres Trauern und Weinen, Blumen über Blumen von schmerzhaften Lippen einer Toten gewidmet und dargebracht; dann an das nächste gedacht . . . an ein energisches Zupacken . . .

Severin Baumann, der Chef des Beerdigungsinstituts ›Pietas‹, war wieder Herr der Situation und der Pflichtgetreue geworden.

Er stand fest und stramm auf den Beinen mit der zu kurzen Hose, die aber tadellose Bügelfalten aufweisen konnte.

Er wischte sich über die Augen.

»Für meine stille Teilhaberin das Beste vom Besten«, sagte er mit zuckenden Lippen. »Darunter tu' ich es nicht. Alles vom alleröbersten Ende.«

Er machte eine Bewegung wie ein Kleriker bei einem hohen Pontifikalamt: »Die Tochter von Joris Jansen soll es nicht geringer haben als eine Heiliggesprochene am Tage ihrer Beisetzung.«

Hierauf wies er das gesamte Personal an und erteilte die nötigen Orders.

Fränzchen setzte inzwischen die Fernsprecher Heiligenbaum und Warbeyen in Bewegung.

Trotz der großen Trauer und Verstörung – es klappte alles wie in einem wohlgeordneten Bienenstaat, in welchem sich das schlichteste Immchen ein Trauerflörchen in das linke Flügeldeckchen eingeknüpft hatte. Geräuschlos glitten die Läden über die Auslagefenster. Die Fahne wehte auf Halbmast. Außer den Arbeitern hatte sich bereits das gesamte weibliche und männliche Personal in Trauer geworfen. Der Ruch nach Krepp und dunklen Wollstoffen duftete wärmer und stärker denn an sonstigen Tagen, galt es doch der Vielgepriesenen, die bereits am ganzen Niederrhein als sakrosankt angesprochen wurde, das Letzte mit auf den Weg zu geben. Von der Kavarinerstraße pflanzte sich die tiefe Bewegung in die benachbarten Stadtteile fort.

Henriette weilte nicht mehr unter den Lebenden.

Zuerst klingelte Heiligenbaum an.

Die Präsidentin des Paramentenvereins, Frau Anna Berendonk, hatte die Hände voll Liebe, das Herz voller Tränen und Segen. Sie meldete: nach dem letzten Willen der Heimgegangenen findet die Beisetzung im Gnadenort statt. Aber ihre Stimme war die einer Fassungslosen.

»Gut«, sagte Herr Baumann. »Dementsprechend sind die weiteren Dispositionen zu treffen.«

Er wandte sich an seine geschäftige Frau: »Fränzchen, denke daran, was wir dem seligen Seniorchef schulden, was wir der schulden, der wir gegenüber die Ehre hatten, sie stille Teilhaberin nennen zu dürfen. Es ist nicht anders zu machen: Heiligenbaum muß auf die Knie und sprechen: So wird ein dahingegangenes Menschenleben von edlen Menschen bewertet.«

Fränzchen klimperte mit ihren großen Ohrgehängen und meinte: »Severin, ich denke daran. An mir soll's nicht mangeln.«

»So richtig, mein Hühnchen!«

Gleich darauf: Warbeyen meldete sich. Die knarzige Stimme des Dechanten rief durch: »Hallo! hier Jakob Ezechiel Schlüpers. Das fehlte uns gerade. Der liebe Gott schlägt drein mit Schwert und Schwefelsud. Unsereins möchte Zeter und Mordio schreien vor eitel Entsetzen. Aber nur geruhsam, ihr verzweifelten Seelen! Die Verstorbene weiß schon, warum sie so handelt, so handeln mußte. Sobald wie möglich werden wir dasein.«

Eine gute halbe Stunde später erschien Fipps mit Augen, die viel geweint hatten, mit einem schwarzen Schlips in Form eines breitgeflügelten tropischen Tagschmetterlings, der gewissermaßen den dernier cri unter den Selbstbindern darstellte.

Er konnte kaum sprechen. Schließlich aber hörten die Inhaber der Firma aus seinem Stammeln heraus: Seine Hochwürden der Herr Pastor von Warbeyen wären mit Herrn Heribert Kästner erschienen, und er habe sich die Ehre genommen, sie in die Gute Stube zu führen.

»Genügt mir«, sagte Herr Baumann. »Komm, Frau«, und alsbald standen die beiden ihrem Besuch gegenüber.

Zu einer großen Beileids- und Trauerszene jedoch kam es nicht, nur ein kurzes Begrüßen und Schütteln der Hände, ein tiefes Seufzen der guten Frau Baumann. Eine große Beileidsszene wäre auch nicht möglich gewesen. Dafür sorgte schon der erregte pastor loci von Warbeyen.

Mit kurzen Schritten, aber auf derben Bauernsohlen durchmaß er das Zimmer nach Länge und Breite. Der Mann war Feuer und Fett und wie eine Geißel des Herrn.

»Schwerebrett noch einmal! Man sollte nicht fluchen, vielmehr bitterlich weinen«, mit diesen Worten rumpelte der Alte über die Dielen. »Aber hier läuft's einem schon über Galle und Leber, verstockt einem der Atem, kriegt man Sterne und Funken vor Augen. Das Trauerspiel in Heiligenbaum hat mir Herr Kästner bereits in all seinen Einzelheiten berichtet. Herr Baumann, was Sie hinsichtlich der Beisetzung beabsichtigen, darüber erzählte Ihr junger Mann schon des längeren und breiteren. Es ist gut und löblich und macht Ihnen Ehre. Nur eine gewisse Eile ist nötig. Avanti!«

»Ist schon in die Wege geleitet. In einer kleinen halben Stunde kann das Personal bereits fahren.«

»Brav so!« Und Jakob Ezechiel Schlüpers hielt plötzlich den Schuh an, stützte sich auf seinen Eichenheister, ließ sein kluges graues Auge von einem zum andern wandern und sagte: »Ich sehe, hier hat man's mit denkenden Köpfen zu tun. Nicht besser zu machen. Aber ich . . .?! Wie habe ich mich zu verhalten? Was habe ich zu betreiben, ohne mich in die Disteln zu setzen? Vor der heiligen Eucharistie knie ich nieder. Vor einem Menschen, dem Gott innewohnt, habe ich Wertschätzung und ziehe den Hut ab. Aber was tu' ich mit einem, von dem ich weiß, was die Beweggründe seines Handelns sind, was er will und betreibt, wohin er die Seelen führet, die sich ihm anvertrauen wie die schuldlosen Lämmer und Schafe, die da auf den Myrrhenhängen des Berges Gilead werden? Soll ich dreinschlagen mit meinem Bakel und die Angelegenheit privatim ins reine bringen oder – Himmel und Herrgott! – ohne noch lange Fisimatenten zu machen, stehenden Fußes beim Bischöflichen Ordinariat in Münster vorstellig werden?«

»Letzteres nicht«, hielt ihm eine feste aber wehe Stimme entgegen.

Der Pastor wandte sich jählings.

»Warum nicht, Herr Kästner?«

»Was tot ist, wird nicht mehr ins Leben gerufen. Außerdem . . .«

Er verstummte vor einem verhaltenen Aufschrei.

Herr Baumann trat vor. Sein Gesicht ähnelte dem Kommunionstuch in der Kapuzinerkapelle.

»Meine Herren, bevor Sie entscheiden – ich fühle mich verpflichtet, Ihnen den letzten Gruß und die Botschaft einer Toten zu bringen. Wollen Sie hören?«

Er entnahm einer Seitentasche den Brief Henriettens.

Ein stummes Nicken erfolgte.

Da las Herr Severin Baumann so ruhig und gefaßt, als hätte er zu einer Gemeinde von der Kanzel gesprochen. Er las als ein unparteiischer Mann, als einer, dem es oblag, den letzten Willen und die letzten Verzweiflungsschreie einer bereits vom Tode Gezeichneten an die zustehenden Herzen zu legen.

Als er geendet, war Heribert ans Fenster getreten, hatte Seine Hochwürden sich in einen Sessel geworfen, stand Fränzchen neben einer neumodischen Glasservante und weinte das gebrannteste Elend von der Decke herunter. Der Pastor hielt's nicht mehr aus. Es wurde ihm benaut unter Kragen und Weste.

Er knöpfte die Soutane auf, um sich 'ne gehörige Portion Luft aus dieser dumpfen und trostlosen Stimmung zu holen.

Mit einem derben Schnauf fuhr er hoch.

Der prächtige, untersetzte, siebenzigjährige Dechant von Warbeyen stand fest auf den Schuhen. Ein Prachtmensch. Einer von denen, den die Kirche bitter vonnöten hatte, ihre Herde von ihm durch Dorn und Dickicht führen zu lassen, sie auf gute Weide zu leiten, sie dort zu Hirten im Namen des himmlischen Vaters. Der Mann kannte kein Augenverdrehen, weder Hinterschlupf noch Hinterhältigkeiten, weder fromme Unterstellungen, die bereits haarscharf die Lüge streiften oder sie schon hinter sich hatten. Sein Schritt und Tritt war wie der Huf eines niederrheinischen Schwerblüters mit klingendem Kumtgeschirr, nicht wie die sondierende, schleichende, vorsichtig-tastende Einklaue eines andalusischen Maulesels. Frei und offen, tönend und knarzend trat der schlichte Pastor seinem Gott, sich selbst und aller Welt gegenüber. Sein Lebensbuch lag offen für jedermann, und seine Worte waren wie die aus irgendeiner Epistel des heiligen Paulus genommen. So schlicht und kurz von Figur, aber ebenso hoch und hehr in Gedanken und Werken wie dieser Teppichweber aus Tarsus in Cilicien, so auch der krumme, grau- und straffhaarige Seelenberater von Warbeyen im Herzogtum Kleve, dem man schon auf zehn Schritte ansah: der Mann hatte eine rauhe Schur auf der Zunge, aber Eiderdaunen im Herzen.

Der nun wandte sich.

»Herr Baumann, wann findet die Beisetzung statt?«

»Gehorsamst zu melden: in Heiligenbaum, morgen um die fünfte Nachmittagsstunde. Die Welt soll doch wissen . . . und wenn auch hier und da es wie mit Wurmsamen zu rieseln beginnt – mir gleich: ich will ihr Schildhalter sein. Heilig! die verehrte Tochter meines Seniorchefs und die Trösterin der Betrübten soll wie eine Königin ruhen.«

Der alte Herr fuhr sich schwer über die Augen.

»So dachte ich's mir. Ihr ist vieles auf dem letzten Gange wiederzugeben, denn sie hat vieles einbüßen müssen.«

Er trat ernst an Heribert Kästner heran: »Und Sie, junger Mann . . . in Ihrem Schreiben ist manches enthalten, das anklagt, schwer zu denken gibt und mich in herbe Seelenkonflikte hineinzwingt. Ah!« Er stieß einen verhaltenen Schrei aus: »Ich kenne Sie, und Sie kennen mich. Es ist mir des öfteren, als wären wir aus ein und demselben Eichenknorzen entsprossen. Nur ich bin der ältere und schiefere Ast, Sie der jüngere und schlankere. Aber der Eichelsame und der Stamm sind dieselben. Wahrheit um Wahrheit, Treue um Treue . . . und stets die Parole: aller Schleicherei, aller Partei- und Interessenwirtschaft den unerbittlichen Schuh in den Nacken. So auch will und wollte es der kluge und gerechte Leo XIII., der weise Papst mit dem scharfen und weitblickenden Vogelgesicht. Der verlangte eine ehrliche, lautere und schnurgerade Linie im christlichen Leben, ohne Bocksprünge und die pfiffigen Hakenzüge der feigen, dummdreisten Löffelmänner. Allzeit ehrlich und schnurgeradeaus, im Sinne des Heilands, unseres Herrn und Erlösers. Der ließ keinen Eid unter den Tisch fallen und sagte dem die Treue nicht auf, dem er Treue geschworen. Ah – Sie! neben dem reinen Glauben wandelt ein furchtbarer Schatten, der diesen reinen Glauben umdüstert, ihn einnebelt, ihn zwingt, sich mit Politik und Partei zu befassen und seine großen Heilstümer, seine Kirchen und Kapellen, seine Diener und Dienerinnen maßlos zu mißbrauchen. Ein solcher Schatten geht auch durch unsere Geschichte. Gegen ihn trage ich meine Standarte, meine Fahne unentwegt vor – mir gleich, ob sie mich 'nen Standartenpastor des heiligen Belial nennen. Akzeptiert! Solche Titel kann man heutigen Tages gebrauchen. Aber das mit dem Stock – diese Frage wartet noch immer auf Antwort . . .« und er betrachtete interessiert seinen knorrigen Stab und Stecken vom Griff bis zur Timpe.

»Zwar hieß es schon eben: nein, aber der Brief gibt Nüsse zu knacken, und da stehe ich noch immer tief im Überlegen darin: soll ich selber dreinschlagen oder mich an die Bischöfliche Behörde in Münster . . .«

Sein durchdringendes Auge suchte das seines Partners.

»Ich muß doch wissen, ob's nötig ist, irgendwo die Hand auf eine Schwäre zu legen, sie mit Balsam zu behandeln oder mit dem Messer zu öffnen. Mein Adlatus« – und der alte Herr pfiff scharf durch die Zähne – »wird darin Kenntnis besitzen.«

Kästner prallte zurück. »Es fördert nicht und bringt uns nicht weiter. Bleiben Sie ganz aus dem Spiele, Hochwürden. Es würde nur Aufsehen machen, und das zu vermeiden, sind wir der Verstorbenen schuldig. Wo ein Totenglöckchen wimmert, das ist bereits des Elendes genug. Warum da noch die Feuer- und Sturmglocke läuten? Lassen Sie anstehen. Ich spreche selber mit Heinrich Verschüren . . . und das noch heute, Hochwürden.«

»So?! Sie sprechen selber mit ihm . . .« und der starre Dechant wandte sich ab, kehrte sich dem Fenster zu und begann irgendeinen preußischen Armeemarsch gegen die Scheiben zu trommeln. Dabei murrte er grimmig in sich selber hinein: «Junger Mann, recht werden Sie haben, denn wir von dem alten Prinzip wohnen vielleicht ein bißchen zu tief in Hinterwaldslanden. Außerdem haben Sie ja selber die fürchterliche Pille hinter die Binde zu würgen. Sie müssen es wissen, was erforderlich ist und die Stunde gebietet. Ihre Hand tastet feiner als meine, Ihr Auge sieht schärfer als meines. Gut so – also noch heute.«

Der Marsch war zu Ende.

Er hielt mit Trommeln inne.

Sein hartes Gesicht kehrte sich aufs neue den anderen zu.

Er sah jeden einzelnen an.

»Aber das andre . . . ich meine das mit dem Schatten, der neben dem reinen christkatholischen Glauben, den Evangelien und ihren Heilswahrheiten einherwandelt, ihn verdunkelt, umnebelt . . . Ich lehne es ab, mit Revoluzern, Gottesleugnern und Parteibrüdern auf ein und demselben Pickelpfeifchen zu musizieren. Fort damit! Ich bleibe der Fahnen- und Standartenpastor. Mag kommen, was wolle, denn wo diese Dunkelmänner letzten Endes ihr ›Gloria‹ singen, kann das Reich mir noch sein ›De profundis clamavi ad te, Domine‹ auf der Gitthit mit drei Baßstimmen stammeln. Fertig! – und nun: Sanctum et terribile nomen eius initium sapientiae timor Domini. Heilig und schrecklich ist sein Name; die Furcht des Herrn ist der Anfang zur Weisheit. Seien wir weise, auf daß wir bestehen können am Tage der Prüfung, und dem des Gerichtes. Und Sie, Herr Baumann, machen Sie wahr, was Sie hier in dieser Stunde gelobten: Sie soll wie eine Königin ruhen.«

* * *

Eine Verklärte in Heiligenbaum.

Der ganze Gnadenort hielt sie dafür, der ganze Gnadenort pilgerte zu ihr, als wäre sie bereits selig gesprochen.

Viele gläubige Herzen wollten sie in Nähe des Wunderstockes oder wenigstens in den Sternenapsis der Gnadenkapelle beigesetzt wissen, um ihre Stätte tagtäglich vor Augen zu haben, so unter anderen die Präsidentin des Paramentenvereins, Frau Berendonk, nebst ihrem zutunlichen Luischen, so Maria Salomea und Maria Kleophä, aber etliche klardenkende Köpfe im Gemeinderat und Kirchenvorstand erhoben berechtigten Einspruch dagegen. In Abwesenheit des Dechanten ginge so was nicht an. Man dürfe keine Ausnahme machen, nicht ohne lange Sitzungen und Erwägungen derartig einschneidende Maßnahmen treffen. Man wisse auch nicht, wie das Bischöfliche Ordinariat sich hierzu einstellen würde, ob es geneigt wäre, noch nachträglich sein Ja und Amen zu sagen. Man müsse also mit Vorsicht und umsichtig handeln, obgleich Henriette Jansen eine solche Ehrung reichlich verdient hätte. Aber eins versprachen die Herren: der schönste Ort des an und für sich so schön gelegenen Friedhofs sollte ihr eingeräumt werden. Er befand sich auf einer kleinen Erhöhung seitlich des Kalvarienberges, die eine breitausgreifende Eiche weit überschattete.

Von hier aus ließ sich das niederrheinische Land mit seinen Triften und Fluren, seinen schwer hingelagerten Bauerngehöften und weißen Windmühlen gut überblicken. Man sah die Türme des Viktordomes in Xanten, die von Rees und Appeldorn, die Hügellehne mit dem Freilichttheater, weiße gleitende Segel, die in weiter Ferne wie suchende Menschenseelen ihres Weges dahinzogen und die dunkelblauen Wälder jenseits des Rheines.

Also hier sollte sie ruhen, sie, die Vielgefeierte, die Vielumworbene – das einsame, hohe Weib mit der stolzen Flechtenkrone und dem zwiespältigen Herzen, das die unermeßliche Niederung und die engere Heimat so liebte! Und alle kamen, um ihr ein letztes Liebeszeichen mit auf die letzten Pfade zu geben: Frauen und Männer, Starke und Gebrechliche, Halbwüchsige und Dreikäsehohe, Mädels und Jungen – aber alle mit einem blühenden Gruß zwischen den Händen. Die wohlgepflegten Rabatten opferten Reseden und Nelken. Die Rosenstöcke mußten ihre Erstlinge hergeben. Aus den Bauerngärten kamen Körbe und Mangen von weißen Lilien, wie sie am See von Genezareth blühen, lichter denn die Schneewehen auf dem Hermongebirge und lieblicher duftend denn alle Narben und Wohlgerüche in den Ebenen von Jesreel und denen von Saron. Die niederrheinischen Gärten gaben her, was sie nur aufbringen konnten: Rosen und Päonien, Lilien und Nelken in allen Formen und Arten, ein Farbenrausch von zartestem Rosa bis zu dem dunkelsten Rot eines fließenden Blutstromes.

Blumen sprechen, und Henriette Jansen sollte sie sprechen hören und ihre Stimmen vernehmen, bis sie abgelöst würden von den Blumenstimmchen der überirdischen Ewigkeitsgärten. –

Es ging bereits in den Abend hinein.

Ein zartmaschiges Goldnetz hing über den Wiesen und Weiden von Heiligenbaum.

Was Severin Baumann dem stracken und straffen Pastor in die Hände versprochen, hatte er getreulich gehalten. Unter seiner Leitung und der seines Personals war Henriettens Empfangszimmer in den ernsten und feierlichen Raum eines Gebethauses verwandelt. Trauer und Wehmut, Lieblichkeit und Anmut, Glaube, Hoffnung und Liebe reichten sich in diesen vier Wänden, in diesem erschütternden Gepränge von Sorgfalt und Hingebung die Hände. Fipps bewährte sich in jeder Beziehung. Mit seinen treuen Augen, die viel geweint hatten, und seinem schwarzen neumodischen Schlips in Form eines seltenen Papilis Brookeana, war er seinem Chef mit Umsicht Stütze und Hilfe gewesen, so daß ihm dieser das Zeugnis ausstellen konnte: aus ihm würde dereinstmals etwas Tüchtiges werden.

Bald darauf wurde der Schrein zugebracht.

In illo tempore . . . Ja, man fühlte und sah es: Henriette Jansen sollte wie eine Königin ruhen.

Und dann noch . . .

Unter gütiger Beihilfe von Frau Anna Berendonk, der fassungslosen Maria Salomea und Maria Kleophä erwies ihr die betagte Jungfer Hanneke Fengers, die schon ein Menschenleben hindurch die Abgeschiedenen betreut hatte, die letzten Liebesdienste. Hanneke Fengers, die Lichjungfer mit dem schwarzen Merinokleid, der steifen Knippmütz' und dem großen Kreuz auf dem schmalen Pelerinchen, zählte zu den Auserwählten im Lande. Sie gehörte zu denen, die, wie der treffliche niederrheinische Poet Theodor Bergmann erzählt, die gütigen Worte im Herzen trugen, die da lauten: »Min Siel vermal ek oese lieven Heer, min Liff begravt in mine Moders Graff, min Geld vermak ik min Svesterkind Marieke öhr Jöngske.«

Die nun kleidete sie ein, flocht ihr die schwere Flechtenkrone, bettete sie lind und sacht in den Schrein, den Herr Baumann zugebracht hatte, legte ihr ein Myrtenkränzlein um Stirn und Schläfen, fügte ihr die weißen Hände zusammen, rückte ihr stilles Haupt sacht in die Kissen und flockte ihr mit unendlicher Liebe und Güte etliche Rauschgoldpartikelchen auf Lippen und Hände, während Frau Berendonk in Tränen zerfloß, Maria Salomea und Maria Kleophä Kleid und Schrein mit zartweißen Rosenknospen über und über bestreuten.

Sieben Wachskerzen umstanden die lächelnde Frau, die kein Erdenweh und keine Erdenleiden mehr kannte.

Sieben lichtweiße Flämmchen! Sie wisperten wie Heimchen zwischen Holzbeigen durch eine unendliche Stille.

Die Hausschelle war abgestopft, der Perpendikel der Standuhr angehalten, der große Spiegel verhangen.

Auf Zehenspitzen, auf weichen Socken kamen und gingen die Menschen, lautlos, mit verweinten Augen, mit verhaltenem Schluchzen. Es war wie das Gehen und Kommen in einer Gnadenkapelle.

Um die siebente Abendstunde ebbte das Pilgern zurück.

Hanneke Fengers ließ sagen: heute wäre es satt und genug; morgen früh wäre auch noch Zeit, Besuche zu machen. Die Tote müsse jetzt schlafen.

Nur sie und Luischen blieben noch da.

Eine halbe Stunde später wollte sich die Letztere auf den Weg machen. An der Tür stieß sie auf eine hohe Gestalt.

»Ah!« sagte die Kleine, »bitte treten Sie ein. Sie werden erwartet.«

Sie öffnete das Arbeitszimmer der Verstorbenen, das linker Hand des Hausflures lag und von zwei elektrischen Birnen erhellt war.

»Ich bitte ergebenst. Ich werde Hanneke rufen.«

Bald darauf erschien die Lichjungfer auf weichen Selfkantpantoffeln und im Schmuck der großen Klöppelhaube, deren weiße Flügel sich wie die eines Schmetterlings blähten.

»Guten Abend, Mynheer«, sagte sie benaut vor sich hin.

»Guten Abend, Fräulein Hanneke. Wie ist es . . .

»Alles ist aufs Feinste gerichtet, Herr Kästner.«

»Sie wissen doch . . .

»Jawohl«, sagte die Alte. »Ich weiß um Ihr Kommen. Herr Baumann hat mir alles gut in Bestellung gegeben.«

»Fräulein Hanneke«, sagte er in tiefer Bewegung, »ich beneide Sie darum, ihr noch dienen zu können.«

»Ach, diese gütige Seele! Das hat mir auch der Herr Kaplan schon gesagt.«

»Wann kommt er?«

»Ich erwarte ihn jede Minute. Er kommt, wie er sagte, um von ihr Abschied zu nehmen.«

»Gut so. Laßt Euch nicht stören. Ihr habt gewißlich noch dieses und jenes zu ordnen. Also . . . nur eins noch . . . Hanneke, was die Leute so sagen . . . ich meine das oder jenes . . .«

»Herr Kästner«, und die Lichjungfer machte ein Gesicht wie eine fromme Seele vor Ablegung eines ihr zugeschobenen Eides: »Herr Kästner, man weiß nichts Genaues. Ich glaube nicht dran. Auch der Herr Kaplan nicht, überhaupt glaubt niemand daran. Gott hat sie abberufen, wie es öfters geschieht – so von der schönen und blühenden Wiesenkoppel herunter. Requiescat in pace! Sie ist heilig gestorben.«

»Ja – sie ist heilig gestorben.«

Die Alte wandte sich.

»Also ich warte«, rief ihr der Verzweifelte nach. »Ich habe mit Hochwürden zu sprechen. Wir wollen gemeinsam . . .«

»Gut, gut! Ich verstehe . . .« und die Tür seufzte ein mit dem Hauch eines Sterbenden.

»Also – auch er kommt, um von ihr Abschied zu nehmen?! Also auch er?!«

Die Worte wurden ihm lahm auf der Zunge.

Er ließ sich an der Schreibkommode nieder.

Hier hatte sie gedacht und geschrieben, hier manche bitteren Leiden durchkostet. Die Gedichte Eichendorffs lagen noch aufgeschlagen. Er las das rührende Lied: »Ich kam vom Berge hernieder . . .«

Das Zimmer war traulich und einfach gehalten. Philodendren und sonstige Blattgewächse standen in der geräumigen Fensternische, über dem geschweiften Sofa hingen die Disputa, gestochen von Joseph Keller, und die Photographien von Vater und Mutter. Der alte Herr Joris Jansen hatte das Aussehen eines behaglichen Kommerzienrates.

Dicht neben ihm stand ein Häkelkörbchen auf einem zierlichen Tischlein.

Er glitt behutsam über die begonnene Arbeit.

Er fühlte ihre Seele, die geschmeidigen Linien ihres jungfräulichen Leibes. Die Rosenzwillinge, die an den Wassern des Jordans blühen, traten ihm in den Sinn.

Er hätte aufschreien mögen und überhörte fast das zage Pochen eines ängstlichen Knöchels.

Hanneke meldete: »Seine Hochwürden sind draußen.«

Heribert Kästner erhob sich: »Ist mir willkommen. Ich wartete auf ihn.«

 


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