Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Das Geschäft ließ sich an. Der Betrieb war mit gut zu bewerten. Das Beerdigungsinstitut ›Pietas‹ hatte sozusagen 'ne neue Vergoldung erhalten, 'ne Art von 'nem genüglichen Schmunzeln, was bei einem Beerdigungsinstitut doch besonders registriert werden mußte.

Nicht, daß unter der alleinigen Leitung Jansens etwas verpaßt worden wäre, sich irgendwelche Mankements oder sonstige Unliebsamkeiten herausgestellt hätten – nicht dran zu denken; denn Herr Joris Jansen war von jeher ein reger und betriebseifriger Geschäftsmann gewesen, trotz seiner Atemlosigkeit immer auf Posten, immer darauf bedacht, das von ihm ins Leben gerufene Werk auf dem Laufenden und der ihm gebührenden Höhe zu halten . . . aber mit dem Eintritt Severin Baumanns war doch ein eigenartiger Schwung in die Firma gekommen, ein gewisser Awek, den selbst die Blinden sehen und dem die Schwerhörigen sich nicht zu verschließen vermochten. Die Konkurrenz horchte auf, machte bedenkliche und miese Gesichter. Die eine ließ schon die Ohren hängen, 'ne zweite war bereits koppheister gegangen, während die Firma Joris Jansen und Kompagnie blühte, edle Früchte zeitigte und immer neue Sprossen ansetzte.

Alle sonstigen Unternehmungen gingen den Krebsgang, schlossen die Läden oder sahen sich genötigt, mit äußerst sparsamen Kräften die Arbeit über Wasser zu halten. Nur die Margarinefabrik Kleinwater und das Beerdigungsinstitut Jansen und Baumann florierten.

Jedereins verlangte ›Hobutka‹ oder ›Blauband‹, und wer zu sterben gedachte, ließ sich nur unter Beistand der gefeierten Firma zu Grabe geleiten.

Herr Baumann ribbelte die kurzen Finger vergnügt gegeneinander.

Stets in tadellosem Schwarz, die etwas zu kurz geratenen Beinkleider in schnittige Bügelfalten gelegt, ein duftiges Veilchensträußchen im Knopfloch, war er vom frühen Morgen bis spät in den Abend hinein vollauf beschäftigt: bald in den Läden, bald im Magazin und in den Werkstätten – überall war Herr Baumann zu finden, kontrollierte den Aus- und Eingang, Journal und Hauptbuch, gab seine Direktiven, registrierte und ordinierte, immer freundlich und allzeit bereit, seinem Personal eine weise Ermahnung oder ein lobendes Wörtchen mit auf den Weg zu geben.

So konnte es denn auch nicht fehlschlagen. Die Sägen schnarchten emsiger, das sonst so monotone ›Rattata, rattata‹ tönte freier und froher, der Firnis duftete lieblicher, die Särge nahmen einen leuchtenden Glanz an, und die Auslagefenster gaben an dunklen Stoffen, Trauerhüten, Krepp und Pleureusen alles her, was die neueste Mode nur an den Niederrhein brachte.

Ja, ›Pietas‹, ›Hobutka‹ und ›Blauband‹ waren zu Namen erster Ordnung geworden, beliebt und gefeiert, woran auch die Gattinnen der beiden Inhaber, Frau Margarinefabrikantin Peternella Kleinwater, geborene Pistoris, und Fränzchen ihr vollbemessenes Teil hatten, was sie berechtigte, sich noch energischer in die an und für sich schon reichlich bestellten Blusen zu werfen und etwas stolzlich zu lächeln.

›Pietas‹, ›Hobutka‹ und ›Blauband‹ waren ein Herz und eine Seele geworden. Sie lebten in Schmand, während die anderen Firmen kaum die nötige Buttermilch aufbringen konnten, um sich mit knapper Not ein mageres Herzjesusüpplein zu kochen.

Wie schon gesagt: Herr Baumann ribbelte vergnügt die kurzen Finger gegeneinander, lebte wie 'n Hämperling im köstlichsten Sommerrübsen mit etwas Kanariensamen dazwischen.

Nur zuweilen, an gewissen Tagen, wo er nicht umhin konnte, mit seinem Kompagnon geschäftliche Rücksprache zu nehmen, ihn auf dem Laufenden zu halten, legte es sich ihm schwer auf die Sinne.

Schon die Inschrift über der Türe des Zimmers, woselbst Herr Joris seine Tage verbrachte, bedrückte ihn sichtlich. Stets las er mit zuckenden Lippen: »Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam.«

Der alte wohlwollende Herr, dem er eigentlich alles zu danken hatte, dem er sich gegenüber verpflichtet hielt bis zum letzten Ertragen, dauerte ihn.

So auch heute.

Er klopfte rücksichtsvoll an, um ebenso rücksichtsvoll und auf Zehenspitzen in die laulichwarme Stube zu treten.

Hier setzte er das vergnügteste Gesicht von der Welt auf, obgleich er sehen mußte: der alte Herr im Adlerflaum war wieder mit Gedanken beschäftigt, die sich wie Rindsbremsen an ihn warfen und die er nicht mehr loswerden konnte.

»Tag, Herr Jansen. Alles ist im besten Lot. Geschäftlich habe ich nur primissimaste Auskunft zu geben.«

»Freut mich, Herr Baumann. Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Gerne, Herr Jansen. Ja, um es weiter zu sagen: Das reißt nicht ab. Das pickt einem wie die Hühner man so aus den Händen. Besonders die linke Ladenseite ist vollauf beschäftigt. Kostüme und so. Trauerhüte sind kaum noch in Bestellung zu nehmen. Noch gestern . . . von Holland. Nymwegen will fünf, Arnheim acht von der neuesten Mode. Wir sind eben mitgegangen, Herr Jansen. Bei uns heißt das: Nunquam retrorsum. Das muß Sie doch freuen, Herr Chefkompagnon?«

»Tut es, Herr Baumann. Tut es im äußersten Maße, und es wäre auch für mich ein ganz pläsierliches Dasein, wenn bloß so vieles nicht wäre . . .«

»Wo fehlt's denn? Ich meine, Sie befinden sich heute in 'ner ganz netten Verfassung.«

»Ja, wenn Sie mich beehren . . .! Aber sonst: immer die schweren Gedanken. Wer kommt denn? Wer sucht mich mal auf? Henriette vielleicht? Die denkt nicht daran. Die sitzt bis zum Halse in den Freilichtspielen. Die hört nur was von Hosianna und Sion. Früher dachte ich anders darüber, heute hingegen . . .«

Ein schmerzhafter Zug schnürte sich um seine zusammengekniffenen Lippen. Gleich darauf stieß er ein Lachen aus, ein kaum wahrnehmbares Seufzen.

Es war ein altmodisches Lachen, ein hüstelndes Seufzen.

Die Hände zwischen den Knien, schüttelte er langsam den Kopf: »Ja früher dachte ich anders darüber, ganz anders darüber . . . und nu immer das schwere Sinnieren!«

»Ach was! Sie müssen sich tatsächlich in 'ner frohen Gesellschaft befinden.«

»Ich?! Ach du, Herr Jeses! Wer sollte denn vorsprechen? Frau Fränzchen, die ist von morgens bis abends in der Schneiderei und hinter der Theke beschäftigt . . . und Sie als Geschäftsmann . . .

Er machte eine verzweifelte Geste.

»Ausgeschlossen, Herr Baumann. Sie sorgen genug für mich und meine Besitztitel. Rackern sich ab für die Firma, haben somit die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, bei Ladenschluß in aller Kommodität die Beine zu strecken. Nee, nee, das kann selbst nicht 'n Sterbenskranker in Anspruch nehmen.«

»Na, hören Sie mal. Da fällt mir was ein«, und Herr Baumann nahm sein Veilchensträußchen, beroch es, steckte es wieder an Ort und sagte: »Ich denke an Ferkulum. Der Mann hat Zeit und könnte Sie so 'n bißchen aufmuntern.«

»An Ferkulum . . .! Der . . .!« und Joris lachte ein vergriemeltes Lachen.

»Nee, Baumann, der Landpfleger ist mir nachgeradezu bis zum Halszapf gestiegen. Ich halt's nicht mehr aus. Wenn ich den Kerl nur schon höre:

Es geht ein Schrei von Dan bis Berseba;
Die Wüste weint und ihre Steine bluten.

Ich bekomm's Vomieren. Hab's ihm auch schon zu verstehen gegeben: Aloys, laß mich mit deinem Pontius Pilatus zufrieden oder du trinkst deine Anisette von jetzt ab bei anderen Leuten . . . und siehe: der Landpfleger hat sich so rar gemacht wie die Weizenähren auf dem Lipperfurtsberg bei Neu-Luisendorf. Herr Jeses! Herr Jeses . . .

Er stützte den Kopf auf die Hände, stierte zu Boden und schien die Dielen zu zählen.

»Nein, mit Ferkulum ist nichts anzufangen. Der ruft bloß nach 'ner Schüssel mit Wasser.«

»Aber Herr Jansen, wir sind auch noch da. Auch die andern alle, wie Matthieu und Dores van Laak und dann noch . . .«

Da sah ihm der Alte starr in die Augen.

»Ja, die sind noch da. Aber meine Tochter, Herr Baumann? Was soll ich mit meiner Tochter anfangen? und ich dachte doch, sie wäre mir im Alter so 'ne schöne Bekömmnis gewesen, hätte mir so 'n bißchen den Lebensabend vergoldet. Da muß doch irgendwas stecken, irgendwas hinterhaken – einem so das einzige Kind aus den Fingern zu spielen . . . Herr Baumann, wie ist das?«

»Ja, mein lieber Herr Oberchef«, sagte der Getreueste aller Getreuen und sah bedrückt in eine verschwiegene Ecke, »das ist gewissermaßen 'ne Art von Geheimnis, 'ne tiefe Verstörung. Das läßt sich schwer in Beurteilung nehmen und kann niemand nicht wissen. Ich hab' schon mit Fränzchen darüber, gesprochen; indessen die weiß auch keinen Ausweg.«

»Nicht?« fragte Joris.

Seine Augen nahmen einen stumpfen und bleiernen Glanz an. Dann hob er sich schwer aus den Lehnen.

»Und dennoch: einer kann's wissen.«

Seine Blicke flackerten.

»Und das wäre, um es gehorsamst zu fragen?«

Der Alte legte seinem jungen Kompagnon die Hand auf die Schulter.

»Herr Baumann, wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?«

»Aber ich bitte! Tausend für einen.«

»Dann gehen Sie, wenn möglich schon morgen auf Warbeyen zu . . . sprechen bei Heribert Kästner vor und sagen Sie ihm: der alte Joris läßt herzlichst ersuchen. Ich käme gern selber, aber wie sollte ich können? und es wäre mir 'ne bekömmliche Freude, wenn er doch mal nachsehen würde.«

»Paßt gerade, denn morgen ist Sonntag. Noch sonst was, Herr Jansen?«

»Daß ich nicht wüßte. Adjüs denn.«

»Adjüs denn; und seien Sie in 'ner pläsierlichen Stimmung, denn die Firma kann es sich leisten; sie ist wie 'ne Glucke, die bloß goldene Eier bebrütet. Parol! Das kann man ins goldene Hauptbuch vermerken.«

Bewegt sockte er ab; mit tadellosen Bügelfalten und 'nem duftigen Veilchensträußchen im Knopfloch.

Der Alte hörte ihm nach, bis die Schritte verhallten, setzte sich wieder, zählte die Dielen und wischte sich eine heimliche Träne herunter. –

Nach dem Hochamt befand sich Herr Baumann bereits auf dem Wege nach Warbeyen. Joris tat ihm leid, sein Kummer schnitt ihm tief durch die Seele, sein hinfälliges Aussehen machte ihm Sorge. Trotz seiner eigenen Wehmut – das niederrheinische Land um ihn erwachte in werdender Frühlingsfreude, ließ sich an, als müßte stündlich das Fest der Ostern eingeläutet werden. Wie lange noch – und das jubelnde Hosianna wird sich erheben, das ›Christ ist erstanden‹ Himmel und Erde benedicieren . . . und jetzt schon: freundlicher bordierten die Veilchen die Bachränfte, reichhaltiger schmückten die Sumpfdotterblumen die Wiesen, emsiger spazierten die Himmelschlüsselchen gegen die Deichflanken an, so daß der van Laaksche Hof und der von Matthieu Thönissen sich auf lichtgoldigen Halleluja-Teppichen sonnten, als wären sie über Nacht in die Gefilde der Seligen versetzt worden.

Hoch über jungen Saaten und Triften segelte ein Storch geruhsamen Fluges dahin.

Am Eingang von Warbeyen stand ein Trüpplein flachsköpfiger Jungen und Mädchen in Sonntagskleidern. Die sahen zu ihm auf und riefen ihm zu:

»No es de kalde Wenter doot,
Hoppheißa van der Grintje!
Dröm lieven Euwer pillepoot
Ons Moder well 'n Kindje!«

und der Wundervogel klapperte aus seiner luftigen Höhe herunter:

»Mar müskestell, mar müskestell,
Hoppheißa van der Grintje!
On wenn de Moder 'n Kindje well,
Dann kregt ook Moder 'n Kindje!«

Auch Baumann hörte es im Weiterschreiten. Er wurde bewegt. Er dachte an Fränzchen und dachte an das, was sie ihm noch gestern abend beim Zubettgehen ins Ohr geflüstert hatte. Da wurde er so verstört, aber dennoch so froh und freudig im Geiste, wie Zacharias, ein Priester der ersten Ordnung aus dem Geschlecht Abia, so verstört, aber dennoch so froh und freudig im Geiste wurde, als ihn die Nachricht beseligte: dein Weib wird eines munteren Knäbleins genesen.

Als er zum Schulhof gelangte, wo bereits die Linden sich lichtgrün umschleierten, trat ihm Heribert Kästner entgegen, willens, einen Morgenspaziergang in die nächste Umgebung zu machen.

Er stutzte sichtlich.

»Herr Baumann . . .

Der lächelte bittersüß, etwa so, wie ein Abgesottenes von Sauerampfer für die Geschmacksnerven lächelt.

»Nur keine Bange, Herr Lehrer. Ich komm' nicht von Amts und Geschäfts wegen. Keine Trauerdekorierung und so. Von Warbeyen ist kein Toter gemeldet. Indessen, ich hab' doch so 'nen kleinen Ruch nach Firnis und warmem Tuch unter der Nase.«

»Mein Gott, da ist doch kein Unglück geschehen?«

»Noch nicht, Herr Lehrer. Noch wird keine Totenglocke geläutet, dafür ist die Geschichte wohl noch nicht so richtig gängig geworden, aber mein geliebter Seniorchef liegt mir schwer auf den Nieren. Der Mann befindet sich rein aus seinen vier Pfählen. Die Firma blüht wie in 'ner richtigen Großstadt, wo sie tagtäglich zehn bis zwölf die letzte Ölung erteilen – und das könnte ihn doch mehr oder weniger in 'ne gehobene Stimmung versetzen. Statt dessen macht er immer downer und downer.«

»Wo fehlt's denn, Herr Baumann?«

»Das kann ich so präzise nicht sagen. Das hakt mit gewissen Umständen zusammen und muß Ihnen Herr Jansen schon selber erzählen.«

»Also er wünscht mich zu sprechen?«

»So richtig, denn er sagte mir gestern noch wörtlich: Bitte, Herr Baumann, gehen Sie, wenn möglich, schon morgen auf Warbeyen zu, sprechen Sie dort bei Herrn Heribert Kästner vor und bestellen Sie ihm: der alte Joris läßt herzlichst ersuchen. Er käme gern selber, aber wie sollte er können? Und es wäre ihm 'ne bekömmliche Freude, Sie in seinem Hause Kavarinerstraße 15 in Kleve begrüßen zu können. Das wäre, mit Respekt zu vermelden, mein Auftrag, und wenn ich noch das Meinige hinzufügen dürfte, so möchte ich dartun: Ich glaube, das ganze Elend hängt mit Fräulein Henriette zusammen. Die macht sich so rar wie 'ne törichte Jungfrau, die sich kein Öl für ihre Lampe besorgt hat.«

»Henriette . . .

»Jawoll! Und ich möchte Sie bitten, gehen Sie hin, wenn angängig per sofort, sonst kann's immer passieren . . .«

Herr Baumann würgte an seiner Kehle herum.

»Je eher, je besser, Herr Lehrer.«

»Für den alten Herrn bin ich immer zu haben. Also gehen wir. Baumann«, und selbander schlugen die beiden die Chaussee ein, die nach Kleve führte.

Über Warbeyen aber kreiste jetzt der große schöne Vogel mit den glorreichen deutschen Kulören, sichernd und schwebend, als wenn er sich irgendwo niederzulassen gedächte. Dabei klapperte er frühlingsfreudig aus der atlasfarbigen Höhe herunter:

»Mar müskestell, mar müskestell,
Hoppheißa van der Grintje!
On wenn de Moder 'n Kindje well,
Dann kregt ook Moder 'n Kindje!«

Am Ladengeschäft in der Kavarinerstraße stießen sie auf Fränzchen.

Sie hatte offensichtlich auf ihr Männchen gewartet.

Erst begrüßte sie Heribert Kästner in freundlichster Weise, dann flüsterte sie ihrem Gatten hastige Worte zu.

»Was . . .?!« prallte dieser zurück. »Wann denn passiert?«

»Heute morgen um fünfe.«

»Ach nee! und 'n großes Geschäft?«

»Ein sehr großes, Liebling. Außer der ganzen Traueraufmachung – zwei Damen- und drei Mädchenkostüme.«

»Allerhand Achtung! Werd's dem Herrn Jansen vermelden. Addio, mein Hühnchen. Also bis gleich denn.«

Das blitzsaubere Hühnchen empfahl sich, knisterte mit ihrem Frou-Frou und ließ ihr Sonntagsröckchen neckisch dahinwehen.

»So, Herr Lehrer, wenn ich bitten darf.«

Sie betraten den Hausflur mit dem schmucken Estrich, dessen schwarz-weiße Platten wie blanke Spiegelscheiben erschienen.

Seltsamerweise ließ sich am heiligen Sonntag von der Werkstätte her ein gedämpftes Hämmern vernehmen.

»Haha!« sagte sich Baumann, »Fränzchen denkt doch an alles. So 'ne Perle von Frauenzimmer!«

Jetzt hielt er den Fuß an.

»Einen Momang nur, Herr Lehrer. Besser schon, ich bereite ihn vor, denn er ist öfters so komisch, und man kann immer nicht wissen . . .«

Das Hämmern kam schärfer herüber.

Als Baumann angeklopft und den Kopf durch den Türspalt gesteckt hatte, fand er Joris dabei, mit den Schellfischaugen die Wände abzusuchen. Er saß wieder in seinem Nebel von trüben Gedanken.

»Wenn es erlaubt ist?«

»Bitte, Herr Baumann. Aber was soll das? Wer kloppt am Tage des Herrn? Dieses ewige ›Rattata, rattata‹, ich kann's nicht mehr hören.«

»Herr Seniorchef, es läßt sich nicht ändern, denn wir haben vor knapp 'ner guten Stunde 'nen grandiosen Auftrag in Bestellung genommen. Ich überschlage vierhundert bis fünfhundert Märker.«

»Na, so was! Für wen denn?«

»Leider! Der Herr Advokat-Anwalt Dellhees tut nicht mehr mit. Heute morgen um fünfe hat der Herr ihn gerufen. Ein schwerer Fall. Die große Familie hatte ihn nötig. Respektable Einnahmen, aber auch viele Schnitten Brot. Dran kann man ermessen, Herr Jansen.«

»Gott habe ihn selig!«

Joris nahm sein Troddelmützchen vom Adlerflaum und machte das Zeichen des heiligen Kreuzes: »Resquiescat in pace! Gott, wie oft hab' ich mit ihm in der Ressource gesessen. Ein Mann von Verstand und großen Kompläsanzen. Immer beiwege. Aber der Rotspon, immer der schwere Burgunder . . . meistens Pomard . . . und so was macht dem forschesten Kavalier 'nen dicken Strich durch die feinsten Kalkulationen.«

Er brachte sein Käppchen wieder an Ort, schüttelte den Kopf und fragte mit Augen, die wie Perlmutter erschienen: »Noch sonst was, Herr Baumann?«

»Zu dienen. Ich komm' eben von Warbeyen retour.«

»Na – und . . .?!«

»Ich habe ihn bei mir.«

»Ach – Sie . . .

Joris erhob sich. Ein rötlicher Glanz überzog sein bleiches Gesicht. Er fühlte sein müdes Herz unter der Weste klopfen.

Sein Kompagnon drehte sich um.

»Ich bitte, Herr Lehrer«, und während dieser das Zimmer beehrte, zog Baumann die Tür hinter sich zu, um so schnell wie möglich zu seinem Fränzchen zu kommen . . . und sie waren allein: Joris und Heribert Kästner.

Erst Schweigen.

Dann trat der Alte seinem Besuch taumelnd entgegen, bot ihm die Hand und zog ihn neben sich auf einen bequemen Lehnstuhl.

»Wie danke ich Ihnen, mein Lieber.«

»Sie wissen, ich bin gerne gekommen, Herr Jansen. Auch schon früher hätte ich mir die Ehre gegeben, wäre nur ein Anruf an mich ergangen.«

Joris stieß einen wehen Laut aus.

»Leider, daß es so ist, daß es nicht eher geschehen! Aber der Mensch muß erst ein Auge verlieren, um mit dem andern sehend zu werden.«

Er tastete nochmals nach der Hand des neben ihm Sitzenden und drückte sie innigst.

»Das ist es, Herr Lehrer, und heute muß es mir von der Seele herunter. Ich kann nicht mehr anders, sonst muß ich an Gott und den Menschen und an mir selber irre werden. Ach Sie« – und Joris riß alle Funken, die in seinem Inneren noch flämmerten, zu neuem Leben zusammen – »das ist damals geschehen, damals, als wir dem braven Ildephons Schlickum die letzte Ehre erwiesen. Damals sagte ich Ihnen einige Wörtchen, und was ich Ihnen dartat, sitzt mir noch so fest im Koppe wie der erste Nagel, den ich als Lehrling in 'nen Sargdeckel eingekloppt habe. Ich sagte: Man lernt immer was zu, junger Mann. Allzeit denselben Vogel pfeifen zu hören, gibt auf die Dauer immer dasselbe Geflöte. Man muß beide Parte vernehmen, sonst bleibt unsereins toujours der nämliche Kanarienvogel. Ich hörte, und was ich von Ihnen gehört hab' . . . ich unterfertigte nicht jedes einzelne Wörtchen, aber eins muß ich sagen: Sie imponieren mir mächtig, Herr Heribert Kästner . . .« und Joris ballte die Hand und drückte sie schwer auf die Herzgrube, »und das tun Sie noch heute, Herr Lehrer, ja, mein Respekt ist noch größer geworden . . . bloß, ich kapitaler Steinesel, ich bin zu spät auf diese Überzeugung verfallen, habe mich selber für 'nen Dummen verschlissen und stehe nu da, wie 'n Mann mit 'nem Aschensack über den Ohren. Herr Jeses noch mal . . .

Er hob die Hände, um sie wieder stumpf und dumpf auf die Knie fallen zu lassen.

»Lassen Sie gut sein, Herr Jansen. Sie regen sich auf, und das kann Ihnen in Ihrem Alter nur schaden.«

»Wenn auch, mein Bester! Alles hat schließlich ein Ende. Den einen kriegt's möglicherweise mit 'ner gewissen Freude zu packen, den andern mit Trauer und Tränen. Für mein Konto wird's sich wohl mit Trauer und Tränen verbuchen.«

»Aber warum denn, Herr Jansen?«

»Ach Sie . . . ich krieg's nicht mehr rund. Es will so recht nicht mehr 'n regulärer Bandelreifen draus werden, denn wie konnte ich nur . . .?! Wie konnte ich damals nur so dämliche und unnösele Gedanken jung werden lassen, Ihnen in Heiligenbaum den eigenen Schriftsatz verbiestern, bloß aus purem Hochmut heraus und meine Tochter als Komödiantin zu wissen?! Hätte ich damals freiweg gesagt: Herr Kästner, Sie sind mein Mann, Sie gefallen mir innigst, Sie brauchen nur ein Wörtchen zu sagen – möglich, ich säße jetzt nicht in so tiefer Predullig, könnte mich meiner Firma erfreuen und zusehen, wie die Abendwölkchen pläsierlich über die Kavarinerstraße fort ins weite Land hineinspazieren. Aber so . . .«

Er stierte aufs neue zu Boden, zählte an seinen Fingern herum, als müßte er das alte Kinderspiel spielen: das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen . . . und seine Seele wanderte ab, als zöge sie in das schattenhafte und doch lichtumgoldete Reich seiner ersten Jugend.

Heribert Kästner ließ ihn gewähren.

Er wollte nicht stören.

Aber was würde noch kommen?! Ja, was würde noch kommen? Es war so, als wäre dieser Gedanke auf den Alten übergebüschelt, wäre mit Nadelspitzen über ihn fortgestichelt; denn plötzlich regte er sich, flocht die Finger langsam zusammen, daß es in den Gelenken zu knacken anhub, und sprach verloren zwischen den Lippen: »Gut, daß Sie kamen, und das danke ich Ihnen. Ich weiß, daß Sie mit Henriette sich noch immer in 'ner gewissen Stellungnahme befinden. Drum ließ ich Sie bitten. Doch später darüber. Ich habe jetzt nur zu sagen: Mein Haus ist gesegnet und es ist doch nicht gesegnet. Herr Baumann und Frau bestellen alles so, wie es gewissenhaften Geschäftsleuten zusteht. Sie können nicht anders, denn ihr Grundsatz besagt: Nunquam retrorsum. Es geht vorwärts, immer nur vorwärts. Das ist natürlich 'ne große Freude für mich und doch keine Freude. Die Firma blüht, setzt Frucht neben Frucht, Früchte von der obersten Ordnung, aber wenn ich mir eine herunterlange, zerfällt sie mir wie'n Sodomsapfel zwischen den Fingern. – Woran liegt das, Herr Lehrer?«

Heribert Kästner wandte sich ab. Der Anblick des alten Joris zerriß ihm die Seele.

»Ja, woran liegt das, Herr Lehrer?!« fragte Joris mit erhobener Stimme, wobei jedes einzelne Wort unter verhaltenem Schluchzen erstickte. Er nahm sein Käppchen und knüllte es zwischen den Händen zusammen. »Ja, woran liegt das, Herr Lehrer?! Mir will die Vernunft in die Wicken . . . und so 'ne Vernunft hat nichts mit 'nem wohldressierten Hühnerhund gemeinsam. Die läßt sich nicht so ohne weiteres retourpfeifen. Willst du wohl, Karo?! Der denkt nicht daran. Nicht ums Verrecken. Sondern geht ab, um nicht wiederzukommen. Christus noch mal!«

Er nahm sein Troddelmützchen, um es, wie er es schon einmal getan, verzweifelt in eine Ecke zu pfeffern.

»Ich halt's nicht mehr aus . . . absolut nicht mehr aus! Ich mußte mit Ihnen Rücksprache nehmen, Ihnen dartun, daß ich nahe daran bin, mich in das graue Haus spedieren zu lassen. Niemand ist bei mir, keiner um mich. Hab' nicht geglaubt, daß meine einzige Tochter . . . Hoch und heilig hat sie immer vor mir gestanden. Ich taxierte sie höher als alle Weiber zwischen Kleve und Xanten. So steht sie mir auch jetzt noch vor Augen, denn wo findet ihr eine, die vor meiner Henriette bestehn könnte. Ja, schon sagen die Leute: Henriette Jansen, dem alten Joris die seine, ist nahe dabei, heilig zu werden. Alles schon richtig, aber nu muß ich sehen . . . Alle Geschöpfe preisen ihren Erzeuger, aber meine Tochter preist nicht ihren Erzeuger. Alle Pflanzen wenden sich dem Licht zu, aber Henriette wendet sich nicht dem väterlichen Licht zu, und es brannte ihr doch immer so froh und freudig entgegen, und tut es auch jetzt noch . . . und ist doch für sie nur 'ne trübe Lampe geworden. Schon seit Wochen hindurch – ich sehe sie nicht, sie wärmt mich nicht, sie läßt mich in der Finsternis stehen. Es fröstelt um mich, es friert um mich. Sie sucht mich nicht auf, sie will mich nicht sehen, nicht wahrhaben, daß ich wie 'n durstiges Tier nach ihr schreie . . . und nur die Spiele und der Kaplan . . . dieser Kaplan . . .«

Er wuchtete sich schwer aus den Lehnen.

»Dieser Kaplan! Ja, Herr Lehrer, wie ist das? Vielleicht wissen Sie was davon, denn Sie sind doch der nächste dazu. Vielleicht haben Sie Mitleid mit mir, können Sie 'nem alten Mann 'nen kleinen Fingerzeig geben, wie ich's zu halten habe, ohne schreien zu müssen: Ich habe meine Tochter verloren. Herr Kästner, ich bitte Sie innigst . . . ja, ich muß Sie ersuchen . . . sonst geht mir der Verstand aus dem Kasten . . .«

Der junge Mann drückte den Erregten sanft in den Sessel zurück.

»Herr Jansen, seien Sie ruhig, nehmen Sie alles so auf, wie es die häßlichen Zeiten über uns brachten. Ich weiß es ja selbst: so geht das nicht weiter. Auch Henriette wird sich wieder finden, reuig in die väterlichen Arme zurückkehren. Vor der Hand schwankt sie noch durch Schatten, die undurchdringlich erscheinen, um gleich darauf in verfängliche Lichtgarben zu treten, die ihr ganzes Seelenleben verstören. Warten Sie ab, bis die Dinge sich klären, bis sie selber uns zuruft: Ich bin genesen von allen Nöten und Anfechtungen, denn siehe, mir leuchtet ein Licht, wie das Licht der Erkenntnis von einem hohen und heiligen Berge herunter. Auch mir geht es so. Noch kürzlich schrieb sie mir . . . und wenn Sie hören wollen, Herr Jansen . . .

»Ja, ich will hören, Herr Lehrer, aber offen gestanden: ich glaube, wir zwei gehören zu denen, denen der Fuß eines Weibes über den Nacken geht, die an ihrer verzweifelten Liebe und Hundetreue ersticken.«

Inzwischen hatte Heribert Kästner ihr letztes Schreiben entfaltet.

Stoßweise las er . . . nur einzelne Worte . . . einzelne Sätze . . .

»Was haben Kanzel und Glocken mit meinem Seelenleben zu tun . . . und erst der Kaplan . . .?! Du meinst, seine häufigen Besuche in Heiligenbaum fallen auf. Wem fallen sie auf und wem sollen sie schaden? Du irrst dich. Nicht ich, sondern du gehst durch Nebel und gedenkst mir, die ich durch Licht schreite, die Pfade zu ebnen? Ich trage die Lampe, nicht du. Das alles sagt mir: die Bitte, die ich an dich richtete: ›Gib mir Bedenkzeit‹, besteht noch, hat noch nicht an Bedeutung verloren.«

»Was?!« keuchte der Alte, »das schreibt sie?«

»Das schreibt sie. Hören Sie weiter: Ich gestehe dir offen: Herr Doktor Verschüren ist mir Hirt und Betreuer geworden. Hochwürden ist gütig zu mir, wie er allen gütig gesinnt ist – auch dir. Er will nur das Reinste . . . führt mich aus dem Strudel des Alltags . . . hebt mich durch die Feier des Spiels zu höheren Sphären. Heribert, warum willst du mich aus dem Paradies meines Wirkungskreises verstoßen? Gib mir Bedenkzeit. Der Herr Kaplan . . .«

»Halt!« schrie der Alte.

Wie ein Irrer war er in die Höhe gestoßen.

Seine Augen waren blutunterlaufen.

Seine Blicke flackerten.

»Christus! Immer wieder der Kaplan . . . und nur der Kaplan?! Herr Lehrer, das ist ja, um sich bei lebendigem Leibe zwischen die letzten Bretter zu legen . . . und immer lamentiert der verfluchte Ferkulum dazwischen:

Es geht ein Schrei von Dan bis Berseba;
Die Wüste weint und ihre Steine bluten.

So 'n Viechskerl! Überhaupt die ganzen Spiele mit ihrer Verwirrung! Was soll das?! Wie ist das?! Ich weiß nicht, Herr Lehrer . . .«

Er schwankte.

Er hatte Feuer und Lohe vor Augen.

»Herr Jansen, was ist Ihnen?«

»Mir fehlt nichts, mein lieber Herr Kästner. Ich bin völlig mobil. Nur muß ich immer dran denken: ich hab' meine Tochter und Sie Ihre Henriette verloren. Im Namen des Vaters . . . mir ist so . . . mir ist so . . .! Jesus mein Heiland . . .

Er griff um sich, ohne Halt zu gewinnen.

»Verloren . . .

Heribert Kästner sprang zu, fing ihn auf und bettete seinen Kopf zwischen die Stuhlwangen.

»Herr Jansen . . .

Er gab keine Antwort.

Sein Antlitz war wächsern, ähnelte dem eines Toten.

Nur noch ein Röcheln. Dann verhallte auch dieses.

Bald darauf lag Joris Jansen in seiner Kammer gebettet.

Während der ganzen Nacht sang der Totenvogel vor dem matt erleuchteten Fenster. Erst ums Dämmern stellte er sein Singen und Sagen ein, schaukelte sich unter die Sparren des Magazins, zwinkerte noch etliche Male mit seinen Gespensteraugen, um dann sein Morgenschläfchen zu halten.

 


 << zurück weiter >>