Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Wer hat Aloys Ferkulum gesehen?!

Viele haben ihn gesehen, die meisten, fast alle in Warbeyen und der nächsten Umgebung, Männlein und Weiblein, Jungen und Zopfige, Friedfertige und Unfriedfertige, und wer es verpaßt hatte, konnte an seine Brust schlagen und sagen: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa! denn du hast dir selber im Wege gestanden, bist ein Buch ohne Inhalt, eine mißfarbige Schelle unter all den silbertönigen Schellen am Altare des Herrn«, denn Herr Aloys Ferkulum war eine Sehenswürdigkeit, ein Erleben für sich, ein Trauermarsch von Ludwig van Beethoven, ein pompefunebreartiges Einherschreiten bei gedämpften Trommelschlägen.

O dieser Ferkulum, dieser Balbierer mit den glitschigen Fingern, dieser Leichenbitter von Kleve, dieser Kostgänger des Herrn, der in der gefeierten Grafschaft seinesgleichen nicht hatte. Oh, er verstand es schon, seinen Medaillenstab zu führen, die Gemüter zu erschüttern, die Lauen und Wankelmütigen bei den geworfenen Schollen zu bekehren, ihre abtrünnigen Herzen wieder umzuformen und gläubig zu machen.

Schon am Tage der Totenansage imponierte er mächtig.

Seine Stimme war mit Floren und düsterem Krepp umwickelt, schleppte eine lange Pleureuse hinter sich her, als er bei reich und arm, bei fetten Niederungsbauern und ausgepowerten Katenstellen anpochte, die schweren Augenlider fallen ließ und sagte: »Mynheer Ildephons Schlickum ist tot. Ihr seid invitiert. Begräbnis am Dienstag, morgens um neune. Gott sei seiner abgeschiedenen Seele barmherzig. Er geleite sie zu den Thronen und Mächten, zu den himmlischen Königreichen und Fürstentümern, in die goldenen Räume aller Zeiten und Ewigkeiten.«

Bei der eigentlichen Beisetzungsfeier jedoch war er ohne Wettbewerb. Niemand vorher hatte so seine Würde behauptet, keiner in dieser vorbildlichen Weise seines Amtes gewaltet. Er riß buchstäblich die Leidtragenden hin, so daß sie kaum noch wußten, ob sie sich als Männchen oder Weibchen ansprechen sollten, zwang sie in die Knie, in das unwirtliche Gras des Gottesackers, ließ sie erschauern, wie die Weiden an den Bächen Babylons erschauerten, als die exilierten Juden unter ihren hängenden Zweigen saßen und Sions gedachten. Selbst der Kaplan Heinrich Verschüren beglückwünschte sich zu dem trefflichen Einfall, Herrn Ferkulum als Ansager und Leichenbitter verpflichtet und alle Arrangements in seine Hände gelegt zu haben. Ja, er estimierte sogar dessen Vorschlag, den geplanten Trauerkaffee im ›Blauen Schiffchen‹ zu Warbeyen in einen solennen Trauerzitronenpunsch mit den nötigen Zutaten umzuwandeln, weil Aloys es verstanden hatte, ihm mit durchschlagenden Gründen aufzuwarten und ihm plausibel zu machen: »Erstens haben wir mit 'nem äußerst frischen Novembermorgen zu rechnen. Zweitens: in Anbetracht dessen, daß wir uns im ›Blauen Schiffchen‹ fast nur mit Mannsleuten einzurichten haben, die Kirche, laut Testament des Herrn Schlickum, ausschließlich den Hauptprofit aus der Nachlassenschaft bezieht, wäre so 'n einfacher Bohnenkaffee nebst Korinthenwecken und Geldernscher Knipplätzen doch nur äußerst mager bemessen, und drittens, wenn Herr Ildephons Schlickum erführe, welche Ehre wir ihm mit Zitronenpunsch erwiesen – denn dieses königliche Getränk liebte er immer bei besonderen Festivitäten – ich glaube, die arme Seele ginge getrösteter und freier durch das dunkle Tor, das zwar Einlaß gewährt, aber niemals 'nen Retourgang verstattet. Das meine Meinung, Hochwürden.«

Der junge Kleriker geruhte zu lächeln.

»Und dieser Ihr Vorschlag erfolgte sine ira est studio?« fragte er nach einiger Weile.

»Wie meinen, Herr Kaplan?«

»Ich meine: Sie verfahren hier völlig unparteiisch und aus lauteren Beweggründen, oder aber . . .«

»Nee, nee, Herr Kaplan! Gewiß nicht – ich gehe keinem anpräsentierten Zitronenpunsch aus dem Wege, aber Hand aufs Herz: ich denke hier bloß an den frischen Novembermorgen an den Gusto und die Bekömmnis der Mannsleute, an das Honnör der Kirche und der Kirchengemeinde und nicht zum Letzten an die freudige Seele des Verewigten, wenn ich auch nicht abstreiten will . . .«

»Gut. Ihr Vorschlag wird hiermit gebilligt.«

»Merci für getätigten Zuspruch.«

»Nur ein Bedenken, Herr Ferkulum!«

»Wie – bitte?!«

»Wird der Inhaber vom ›Blauen Schiffchen‹ auch die Fähigkeit aufbringen, das komplizierte Getränk würdig und sachlich herzurichten?«

»Nur keine Bange, Hochwürden. Ich garantiere dafür, und was Jan Derksen nicht kann, ich für meine Person bringe den delikaten Zimt schon auf das diesbezügliche Sprungbrett, sonst lasse ich mich bei meinen Solokollegen nicht mehr Aloys mit die elegante Zunge benennen. Ist ein Wort, Herr Kaplan.«

»Also wäre die Sache geregelt?«

»Völlig geregelt, Hochwürden,« und der brave Treuhänder tat einen Atemzug, als wäre ihm ein zehnpfündiger Wackerstein von der Seele gefallen: »Denn also bis Dienstag!«

* * *

So war der Dienstagmorgen gekommen.

Herr Severin Baumann hatte jegliches mit dem ihm unterstellten Personal und der Lichjungfer aufs beste gerichtet. Das Schulzimmer der oberen Mädchenklasse in Warbeyen war zu einem Sacer locus im ureigensten Sinne des Wortes umgewandelt. Tiefernstes Trauergepränge bedeckte die nüchternen Wände, von denen in glücklicheren Tagen die Bildnisse der preußischen Könige mit ihren Paladinen herabgegrüßt und den Ruhm und die Glorie eines wohlgeordneten Staates gewährleistet hatten, nunmehr von Revoluzern geschändet, zerschlagen oder in die Rumpelkammer verwiesen. Herr Baumann übte Barmherzigkeit, verhüllte die kahlen Stellen mit Krepp- und Florstoffen, zog Silberbordüren darüber hin und machte so für einige Stunden die brutale und vaterlandslose Arbeit schmutziger Gesinnung wieder zunichte. Kübel mit blühendem Oleander umstanden den Sarg aus kerndeutscher Eiche. Sieben Wachskerzen flämmerten über ihn hin: eine zu Häupten, je drei an den Seiten, alle auf getriebenen Messingleuchtern, die die Kirche in selbstloser Weise zugestellt hatte.

»Trumm . . . trumm . . . trumm . . . trumm . . .

Unter dem dumpfen Gepoch einer Trommel, die sich neben die Türe der Mädchenschule aufgepflanzt hatte, fuhr der Leichenwagen vor.

Allmählich stellten sich die Leidtragenden ein: Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, Freunde und Bekannte des Verewigten, Skat- und Solokollegen, auch solche, die unter der umsichtigen Fühlung des Herrn Ildephons Schlickum Lebensfirnis und die aufmunternde Wirkung von ungebrannter Holzasche eingeheimst hatten, aber alle sichtlich bewegt und bekümmerten Herzens, denn jedem war der nunmehr Hingestreckte ein gewissenhafter Magister und vorsorglicher Mentor gewesen.

Herr Jansen gesellte sich zu ihnen. Auch Severin Baumann und die erste Ladenmamsell. Sie waren gekleidet, als würde ein begüterter Erbonkel zu Grabe getragen. Verschiedene Lehrer aus den nächsten Bezirken gaben sich gleichfalls die Ehre. Unter ihnen gewahrte man die hohe und ernste Gestalt Henriettens aus Heiligenbaum. Bald darauf erschien auch Heribert Kästner.

Auf seinem markanten Stahlhelmergesicht lagen noch die Runen verhärmter und tiefverbitterter Stunden.

Der Ehren- und Pflichtgang war ihm so herb und sauer geworden wie der blutige Dornenweg seines Herrn und Erlösers. Mit aller Energie hatte er Leib und Seele zusammengerissen, um nicht fahnenflüchtig zu werden.

»Pfui Teufel noch mal! Halte deinen Willen unter Zügel und Kandare. Lass' dich nicht unterkriegen. Wolle nicht an der Laune eines Weibes verbluten. Wirf Visier und Panier auf. Biete dem Klerus und allen Laien die Stirne. Aber hüte dich, auch ein befangenes Herz zu verwerfen, ihm Unrecht zu tun, es nicht verstehen zu wollen. Ein Fluch liegt darauf. Ein Nichtverstehenwollen macht schuldig. Wäge mit ehrlichen Gewichten und nicht mit Skrupelgewichten. Folge nicht denen, die Recht in Unrecht verkehren, die ihren angestammten Herrn verrieten, die heute Hosianna rufen und morgen steiniget ihn. Versetze dich in die Seele des Weibes. Sie ist schwer zu ergründen. Aber urteile erst, wenn du ein richtiges Urteil gefunden. Nicht eher, nicht früher. Gehe deinen geraden vorgezeichneten Weg. Der Finger Gottes weist dir das Ende. Dann mag kommen, was wolle. Ehre das edle Weib. Es ist ein kostbares Gefäß aus der Hand des Ewigen. Schätze die, die gleichen Sinnes wie du sind. Liebe die Heimat. Du mußt! sonst bist du nicht würdig deines himmlischen Vaters und deines irdischen Königs, den sie wie einen Schacher verkauften und außer Landes verbannten. Also denke daran und wirf Visier und Panier auf. Sei Richtmann, niemals Parteimann, deinem Herzen und deinem Verstand gegenüber – unentwegt, unter Hintansetzung des eigenen Ichs bis zur Stunde des Todes.«

Er fuhr sich schwer über die Stirne.

Er dachte an dieses und jenes, an seinen neuen Wirkungskreis, an das herbe und barsche Begegnen in Heiligenbaum, und er fand sich kaum unter den vielen Menschen zurecht, die auf ihn einsprachen, ihn lebhaft begrüßten.

Bald darauf stand er wieder einsam, wie eingerammt, gleichsam im Erschauen eines Gesichtes, dem er nicht zu entrinnen vermochte.

Als Henriette, die sich mit der ersten Ladenmamsell ihres Vaters unterhielt, um mehr oder weniger ihr klopfendes Herz zu beruhigen, seiner ansichtig wurde, zuckte sie auf.

Ihr Antlitz war wie die Spreite eines Sterbetuches geworden.

Ihre Blicke weiteten sich. Um ihre Mundecken spielte ein wehes Suchen und Lächeln, die Furcht vor den Dingen, die da kommen würden.

Gleich darauf war sie unauffällig an seine Seite getreten . . . drängte sich an ihn . . . tastete nach seiner Hand, um heimlich zu stammeln: »Heribert – du! Bleibe stark und besonnen. Sei nicht so gänzlich verzweifelt. Es wird sich ein Ausweg schon finden. Ich weiß es. Ich gehe nicht irre. Nur – gib mir Bedenkzeit, um der Barmherzigkeit willen.«

»Das hast du mir schon einmal gesagt.«

Das Wort fiel ihm hart von den Lippen.

Ihre Stimme wurde fahrig und heiser. Ihr voller und geschmeidiger Leib straffte sich wie eine stählerne Rute. Ihre Hand schraubte fester: »Ja – du, das hab' ich schon einmal gesagt. Aber verstehe mich doch. Ich verspreche dir heilig, nur dem Rufe meines Herzens zu folgen. Ich weiß auch: bei dir ist die Ruhe, der Friede in Gott und alles das, was ein liebendes Weib erhofft, wenn die Sterne heraufziehen und die großen Mysterien die Augen aufschlagen. Nur – du, ich muß mich erst finden, mir Rechenschaft geben: bist du auch würdig . . . bist du berufen, sein späteres Leben . . .«

Ihr Wort kroch am Boden, war nur ein Wimmern und Flehen: »Heribert, nur um deinetwillen – ich bitte dich nochmals . . .«

Er fühlte ihre Zweifel und Ängste, die Wunde in ihr, deren blutige Tropfen er zu sehen vermeinte.

Willenlos erwiderte er den Druck ihrer Rechten, die Liebkosung ihres zermarterten Körpers.

»Du – Henriette, ich warte; nur denke daran: es gibt Dinge, die einem das Gesicht in den Nacken drehen.«

Er verstummte.

Der erste Anruf des Trauergeläutes kam von der nahen Kirche herunter.

Sie atmete auf und hatte sich wiedergefunden.

»Du Lieber . . .«

Das Gefolge setzte sich ernst in Bewegung, trat in den geweihten Raum, wo Ildephons Schlickum zwischen den Brettern ruhte, umstanden von Oleanderbäumen und leise singenden Kerzen, deren Gesinge an das nadelfeine Hindämmern von Rotkehlchen zwischen Ebereschenbeeren gemahnte.

Das regelmäßige Tropfen des überschüssigen Wachses auf die Leuchterteller machte die fühlbare Stille noch fühlbarer . . . und diese fühlbare Stille wurde erst zu einer grauen und wirklichen Stille, als Ferkulum eintrat, seinen Medaillenstab feierlich gegen den Aufgebahrten senkte, ihn wieder emporhob und sich selber wie ein stummes geheimnisvolles Etwas neben den offenen Eingang postierte.

In seinen gestauchten Beinkleidern, dem etwas abgewetzten, aber peinlichst aufgebügelten Gottes-Bratenrock, dem kegelförmigen Trauerzylinder mit zwei flattierenden Schleifen, erschien er wie der Pate des Todes.

Aloys Ferkulum verstand es schon, an die Herzen zu pochen, einen Ruch nach Jettperlen und Immortellenkränzen um sich zu breiten, die Stationen des letzten Ganges auf Erden erschütternd und dennoch erbaulich zu machen. Das bleiche, herbe und undurchdringliche Gesicht mit den schmalen zusammengekniffenen Lippen war eine einzige unermeßliche Sehnsucht, besonders in der jetzigen Stunde, so daß Herr Baumann nicht umhin konnte, sein Lieblingslied, das auch Aloys kannte, der ersten Ladenmamsell getragen, wenn auch heimlicherweise in das rechte Mauseöhrchen zu summeln:

»Franziska,
Stell' auf den Tisch die duftenden Reseden,
Die letzten roten Astern trag' herbei;
Und lass' uns wieder von der Liebe reden
Wie einst im Mai,
Wie einst im Mai . . .«

Er empfing einen vertraulichen Klaps.

Aloys sah es und warf der schuldlosen Franziska einen verwarnenden Blick zu.

Dann ruckte er hoch: »Pst! meine Herrschaften. Hochwürden!«

Er salutierte.

Er salutierte so würdig, wie ein Offizier vom ersten Regiment Garde unter dem großen König mit seinem Sponton salutierte.

Der Medaillenstab senkte sich bis zu den Dielen.

Unter dieser Ovation, der lautlosen Runde, dem verlorenen Knistern der tropfenden Kerzen, dem zweiten Anruf der Glocken, deren Klänge mit den gemessenen Schwingen von großen ehernen Vögeln über die Niederung schaukelten, erschien Heinrich Verschüren, der an Stelle des beurlaubten Dechanten die heilige Handlung vorzunehmen hatte.

Er tat es mit Würde, mit dem zuversichtlichen Anstand eines insichgefesteten Priesters.

Im weißen Röckling, mit Stola, das Barett zwischen den durchgeistigten Händen trat er an das Fußende der Bahre, verneigte sich und hub an, das Vaterunser zu sprechen.

Zwei Ministranten standen ihm zur Rechten und Linken. Sie führten Weihwasser und Rauchgefäß. Seitlich davon hielt der greise Küster Stäwe op gen Oort den aus Silber getriebenen Korpus Christi steil in die Höhe.

Der Pate des Todes trat näher. Er räusperte sich.

Es war so, als müßte er dem gesprochenen Vaterunser erst die ihm zustehende Bedeutung zumessen, jedes Wort inniger mit dem totenstillen Sarge verquicken, es für ewiglich mit dem kalten Herzen des Abgeschiedenen einen und fesseln. Seine Augen perlmutterten. Mit ihm las er jede Silbe von den Lippen des Betenden.

»In nomine patris et filii . . .«

Der Weihrauch wölkte sich durch die Zweige der Oleanderbäume, durch das fahle Dunsten und Scheinen der Kerzenflämmchen. Das geweihte Wasser spendete heilige Tropfen.

»Oremus . . .«

Der Kaplan wandte sich jählings.

Er warf den Kopf in den Nacken.

Aller Augen waren auf ihn und seine weißen Hände gerichtet.

»Mein Gott und mein Heiland . . .

Was ging hier vor?! Warum dieses Fragen und Sinnen?! Er und Heribert Kästner schienen von ein und derselben Mutter geboren . . . waren wie Brüder: die gleichen ehernen Stirnen . . . die markanten Stahlhelmergesichter . . . die Balduraugen, die nicht bangten und zagten . . .

»Oremus! In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum.«

Er atmete tief.

»Requiem aeternam dona ei, Domine, et lux perpetua luceat ei. Sicut erat in principio, et nunc et semper, et in saeculorum. Amen!«

Eine Bewegung entstand.

Der Medaillenstab umschrieb einen Halbkreis.

Auf sein Geheiß hub der Männergesangverein ›Frohsinn‹, dem der Abberufene dreiundzwanzig Jahre ein unermüdlicher Dirigent und Mentor gewesen, dreistimmig an:

»Ich glaub' an Gott in aller Not,
Ich hoff' auf seine Güte;
Ich liebe Gott bis in den Tod
Mit freudigem Gemüte.

    Jesu, dir leb' ich!
    Jesu, dir sterb' ich!
    Dein bin ich tot und lebendig!

Am letzten End' . . .«

Unter diesen klagenden Weisen verließen Hochwürden, die Ministranten und alle Leidtragenden den düsteren Prunkraum, begaben sich ins Freie. Ildephons Schlickum folgte, wurde sacht und behutsam auf den Leichenwagen geschoben, mit Immortellen- und Buchsbaumkränzen umbettet.

Alle Häupter entblößten sich, senkten sich tiefer.

Severin Baumann verkörperte die getragene Hoheit, streckte sich auf den kurzen, aber straffen Beinchen, als wenn er sagen wollte: »Das klappt wie am Schnürchen«, um dann der ersten Ladenmamsell sacht am Ärmel zu zupfen und heimlich zu flüstern: »Fränzchen,

Es glüht und funkelt heut' auf allen Gräbern,
Ein Tag im Jahre ist den Toten frei.
Komm' an mein Herz, daß ich dich wieder habe
Wie einst im Mai,
Wie einst im Mai . . .«

»Herr Severin, nicht so! Man könnte uns hören.«

»Trumm . . . trumm . . . trumm . . . trumm . . .«

Aloys Ferkulum meldete seiner Hochwürden, daß alles parat sei, begab sich an die Spitze des Zuges und ließ seinen Medaillenstab spielen.

Unter seiner Führung ging es an schmalen Häusern und breithingelagerten Gehöften vorbei, an wohlbestandenen Glasgärten, deren Obstbäume noch hier und da überständige Paradiesäpfel zeigten. Er schritt wie der graue Zauberer Merlin seines Weges, wie ein ägyptischer Priester, dem die hohe Ehre zuteil wurde, Ramses II., den Pharao Mose, in die königliche Gruft zu geleiten, ihn in das große Totenbuch zu verweisen – für ewiglich. Aber erst beim Passieren der Wirtschaft ›Zum blauen Schiffchen‹ entfaltete er seine ganze Würde und schlichte Größe. Sein Medaillenstab beschrieb einen Kreis, wandte sich dann jählings zur Rechten, machte zu dreien Malen die Geste des Anpochens, ähnlich wie der Eichenheister Mose es tat, als er auf dessen Geheiß zu dreien Malen den nackten, kahlen, trotzigen Felsbrocken in der durstigen Wüste berührte, um seinem schmachtenden Volk die Wohltat des erquickenden Wassers zu verstatten. Allein dem düsteren Manne im Gehrock und Trauerzylinder war der zu schlagende Lebensquell vollständig schnuppe. Er hatte mit dem Gesetzgeber und Wüstenwanderer des Alten Testamentes gar nichts gemeinsam. Erst recht nicht mit seinen jüdischen Leuten. Mochten sie zusehen, wie sie mit dem Eichenheister und dem strohtrockenen Felsbrocken zurechtkamen . . . er für seine Person dachte nur an eine pompöse Suppenterrine, zehn Liter Inhalt umfassend, an javanischen Arrak, Tee, Zucker, kochgares Wasser und Zitronenscheiben, kurz an Punsch, den er gleich nach getätigter Amtshandlung, unter Zuhilfenahme dieser Ingredienzien aus besagter pompöser Suppenterrine zu zaubern gedachte. Quod Deus bene vertat, oder ins Deutsche übersetzt: Was Gott zum Besten lenken und fügen möge!

»Oremus . . .!«

Der Medaillenstab holte nach links aus, ein Zeichen dafür: jetzt geht's scharf um die Ecke. Jedereins bewunderte die vorbildliche Ruhe, die reichen Finessen dieses klevischen Barbiers und Leichenbitters.

Er führte mit Umsicht, mit einer gewissen Verklärung. Er wurde nicht müde, seinen schwanken Zylinder mit den beiden Puffottern pielgeradeaufrecht auf dem blanken Eierkopfschädel zu tragen, ihn nicht um Haaresbreite aus der Balance geraten zu lassen. Er führte durch heimliche Heckenwege, über ein ödes Brachfeld und dann wieder in gediegener Schleife an niederen Katstellen vorbei, bis er des Gottesackers ansichtig wurde.

Nein, dieser Ferkulum!

Beim Anblick des Friedhofes wuchs sein innerer und äußerer Mensch zu gigantischer Tragik empor.

Seine Augen gespensterten, sein Medaillenstab schien lebendig geworden.

Das Gatter stand offen. Durch dieses hindurch geleitete er Hirt und Herde bis an die Stätte, die für Ildephons Schlickum bereit stand.

Zwanzig Schritte eilte er vor, pflanzte sich an der geworfenen Gruft auf und salutierte.

Nicht lange mehr – und der Korpus Christi ragte hoch in den Novemberhimmel hinein.

»Oremus . . .!«

In einer kleinen halben Stunde war alles vorüber. –

Inzwischen war Jan Derksen nicht müßig gewesen.

»Du guter und getreuer Knecht, gehe ein in die Freude deines Herrn«, mit diesen Worten war er dem Trauerzuge im Geiste gefolgt, als dieser das ›Blaue Schiffchen‹ passierte; dann hatte er alles aufs Beste in seiner Wirtschaft gerichtet, die Tische in Hufeisenform zusammengerückt, die Tafel gespreitet, die Dielen mit blütenweißem Rheinsand bestreut und den Kanonenofen mit 'ner gehörigen Portion Brechkoks versorgt, während Frau Derksen und ihre däftige Magd aus dem benachbarten Griethausen, ein Wesen wie aus den fetten Jahren Ägyptens genommen, sich mühten, Messer und Gabel zu legen, Teller und Gläser schnurgerade auszurichten und dem Ganzen noch eine besondere Weihe durch Fichtenzweiglein und weiße Papierröschen zu geben.

Friede und Weihe im ›Blauen Schiffchen‹ zu Warbeyen! Die räumige Wirtsstube erinnerte an die Kombüse eines niederländischen Ostindienfahrers, so gediegen war alles, so proper gehalten, so von den feinen Gerüchen nach Genever, Winnenthaler Korn, Ruhrperle und Holländer Zigarren durchdüftelt. Das markante Gesicht Leos XIII., des weisen, gerechten und omnipotenten Stellvertreters Christi auf Erden, des großen Papstes mit dem scharfmodellierten Schnepfenstecher zwischen den gütigen Augen, grüßte freundlich von den taubenblauen Tapeten herunter, flankiert von den Photographien des Ehepaars Derksen im Sonntagsstaat und in opulenter Aufmachung. Unter dem Schirm und Schutz dieses Gerechtesten unter allen Gerechten, dieses unentwegten Freundes des einsamen Kaisers fühlten sich beide so wohl wie die Pfingstfüchse am ersten heiligen Pfingsttag, konnten getrost das Weitere abwarten bis zur Stunde ihres gottwohlgefälligen Ablebens, das Wort auf den Lippen: »Beati omnes, qui timent Dominum, qui ambulant in viis eius. Glückselig alle, die den Herrn fürchteten, die da wandeln auf seinen Wegen.«

Jan Derksen hatte sich mittlerweile hinter die Theke begeben. Unter der emsigen Assistenz der weiblichen Hilfskraft, Klartje geheißen, richtete er jegliches zu, um Herrn Ferkulum die spätere Herrichtung der Punschbowle leichter zu machen.

Er arbeitete vor.

»Klartje, die große Suppenterrine mit dem silbernen Vorlegelöffel!«

Suppenterrine und Vorlegelöffel lagen alsbald auf der blankgescheuerten Theke.

»Klartje, den Teeaufguß und 'ne Portion Zucker!«

Klartje brachte das Verlangte mit sachlicher Eilfertigkeit.

»So! und nu die Zitronen, aber die von die oberste Sorte! Das kochgare Wasser für später. Aber ich glaube, bald müssen sie kommen.«

Die Zitronen erschienen auf einer rahmweißen Porzellanassiette: zwölf buttergelbe Früchte mit Ausmaßen von Gänseeiern, die zu den Raritäten gehörten.

»Schön so! und nu: das Geistige besorge ich selber.«

Er griff hinter sich und langte zwei Originalbouteillen mit Arrak von der Anrichte herunter, entstöpselte sie und stellte sie sachlich neben die Porzellanassiette – eine bekömmliche Augenschau, die ihm wohlig über die Magengrube fingerte und seinen Gaumen wässerig machte, als Klartje, die durch den linken Fensterrahmen die Straße abgesucht hatte, ihn anrief: »Herr Derksen . . .

»Was gibt's denn, mein Ferkelchen?«

»Ich glaube, Herr Ferkulum kommt schon.«

»Dann geh' ihm entgegen und invitier' ihn ins ›Blaue Schiffchen‹, mein Liebling.«

Er sah sich um. Seine bessere Hälfte hatte sich in die Küche begeben, um nach dem siedenden Wasser zu sehen.

»Na denn . . .

Er verabfolgte seiner tapferen Assistentin einen wohlwollenden Klaps auf die doppelte Breitbordseite, die wie stramme Sandsäcke waren.

»Avanti!«

Klartje wackelte ab.

Gleich darauf geleitete sie den Paten des Todes in das Wirtschaftslokal. Aber keine Spur mehr von einem Leichenbitter und Totenansager. Dieses Amt hatte Ferkulum draußen gelassen, in die kahlen Stoppelfelder verwiesen, ihm den Laufpaß mit auf den Weg gegeben. Sein breites schwammiges Gesicht war eine einzige Hallelujafreude, schnupperte wie das eines Igels, der ein Nest mit sieben zwitschernden halbnackten Mäuschen witterte und es sich im Voraus zu Gemüte führte.

Er streckte seinem Hospes die glitschige Rechte entgegen.

»Tag Derksen! Ich seh' schon: noch immer beiwege. Gut so! Toujours en vedette. Hier meinen Stecken und Stab. Er hat für heute das Seine geleistet. Bitte, plaziert ihn. Ich selber . . .« und mit unnachahmlicher Grazie streifte er den Trauerzylinder über das erste beste Pflockholz, stülpte umständlich seine Ärmel eine Handbreit über und begab sich hinter die Theke.

Als er die sachlichen Vorbereitungen sah, wurde seine Hallelujafreude noch einmal so freudig.

»Ah!«

Er schnüffelte an den delikaten Zitronen herum, beroch die abgelegten Pfropfen, die offenen Bouteillenhälse, begutachtete Zucker und Teeaufguß und sah: es war gut so.

Er salutierte.

»Nicht besser zu machen, Herr Derksen. Gratulor und meinen gehorsamsten Ausdruck.«

Sein Gänsehals beugte sich vor, mit ihm der Eierkopf und die abstehenden Löffel.

»Hm!« machte Ferkulum und stierte mit emporgezogenen Brauen in die weitbauchige Suppenterrine.

»Dürfte genügen.«

Er nahm die beiden Bouteillen in Augenschein, wobei er nicht umhin konnte, sacht mit der Zunge über die Oberlippe zu schlecken.

»Sellner . . . Düsseldorf . . .! Meine Hochachtung, Derksen.«

Hierauf langte er sich das ihm zur Hand liegende Kartoffelmesserchen und begann die einzelnen Zitronen zu schälen, mit der Kunstfertigkeit eines Silhouettenschneiders, gepaart mit der tiefgründigen Andacht eines Feueranbeters von der Parsenkolonie am Kaspischen Meeresgestade.

Die erste . . . die zweite . . . die dritte . . .! Keine Schale mißlang ihm. Sie trennte sich haarnadelfein, unverletzt und kringelnd und ringelnd vom Mutterleibe herunter und hatte letzten Endes noch die innige Freude, sich als goldgelber Rosenkranz über Schemisettchen und Weste des Silhouetteurs zu schlängeln, denn Herr Ferkulum besaß die löbliche Angewohnheit, sich jede einzelne als Trophäe um Hals und Nacken zu zirkeln, ein Zeichen dafür: »Achtung die Herrschaften! Ich allein bin kumpabel, so 'ne Leistung auf den Tisch des Hauses zu legen. Von Rechts wegen und mit allen Schikanen.«

»Erledigt!« und fingerfertig zerlegte Aloys die entkleideten Südfrüchte in niedliche Scheiben, versenkte sie in die Tiefe der dickleibigen Porzellanamphore, übergoß sie mit Tee, tat eine abgemessene Portion Zucker hinzu, ließ das Gemengsel einige Minuten lang ziehen und begann aufs neue zu schnüffeln.

»Pompös!«

Er war restlos zufrieden und konnte sich nicht genug daran tun, immer wieder die zuckenden Naslöcher der Bauernterrine zu nähern, den köstlichen Hauch von Zitronen, Tee und Zucker sachkundig einzuziehen, als der Besitzer ›Zum Blauen Schiffchen‹ ihn anrief: »Aloys, sie kommen!«

»Dann bitte den Kochpott.«

Derksen gab den Befehl mit Stentorstimme an die rechte Adresse: »Klartje avanti!«

Und Klartje verschwand wie ein rasches, wenn auch molliges Wiesel, um gleich darauf mit dem siedenden Wasserkessel hinter die Theke zu witschen.

Ferkulum hatte inzwischen eine Arrakbouteille ergriffen, brachte sie halbquer über die geheimnisvolle Phiole und sagte: »So Klartje, gieß' zu, aber bedachtsam«, und während diese der Weisung gewissenhaft nachkam, ließ Ferkulum den eigentlichen Geist der Bowle in Dampf und Gischt hineinsprudeln.

»Gluck, gluck, gluck!« machte die Arrakbouteille.

»Nu die zweite heran! Klartje, paßt Achtung!« und abermals begannen die Elemente Arrak und Wasser zu gluckern, sich in harmonischer Ehegemeinschaft zu einen, levantische Düfte verschwenderisch durch die Wirtsstube des ›Blauen Schiffchens‹ zu wölken, und während es wölkte und strudelte, siehe: das Trauergefolge stellte sich ein, einzeln und zu zweien gereiht, legte ab und sah erstaunt auf die mysteriöse Szene, auf das feierliche Walten und Schalten hinter der Anrichte.

Derksen sprang zu, begrüßte die Gäste, wobei er den imponierenden Vorgang des Punschbrauens sachlich erklärte.

Aloys Ferkulum ließ sich nicht stören.

Von delikaten Dämpfen und Dünsten umnebelt, ergriff er den silbernen Vorlegelöffel.

Bald war's Zeit, dem werdenden Edeltrank die letzte Ölung zu geben, ihm noch das zu verleihen, was er benötigte, um als fertig angesprochen zu werden.

Der emsige Mann begeisterte sich an seiner eigenen Arbeit, wurde erregt wider Willen.

Sein Kopf erinnerte an den eines kalkuttischen Bronzeputers, war rot überlaufen, dazu safrangelb und bläulich getempert.

Er hielt jede Phase des Werdeganges unter scharfer Kontrolle.

Jetzt schleierte sich ein mildes Lächeln um die Mundecken.

»Noch nicht, aber nu!«

Der Löffel sank in die Tiefe, hub leise an zu rühren, wunderliche Kreise zu ziehen.

Ferkulum mischte mit der Umsicht eines kundigen Niederrheiners, eines selbstherrlichen Kenners und Könners, der Jahrzehnte hindurch aus dem gefeierten Barkeepers-Guide ›How to mix drinks‹, erschienen zu New-York Anno Domini achtzehnhundertzweiundsechzig, seine Weisheit eingeholt hatte.

»Ah . . .

Ein Arom, als stammte es aus den Würz- und Rosengärten von Saron entströmte der Suppenterrine, ließ die Sinne der Geladenen aufmerken und ihre Herzen höher schlagen.

»Fertig!«

Aloys legte den Löffel ab und sah strahlend über Theke und Tafeltuch.

»Herr Derksen . . .

»Wie – bitte?«

»Herr Derksen, das weitere überlasse ich Ihrem und Klartjes Ermessen. Ich meine das mits Einschenken und 's Anpräsentieren.«

Hierauf mischte sich der Mixer unter die Gäste, und zwar mit dem Gehabe eines Mannes, der das Seine getan hatte, ohne Wettbewerb, ohne seinesgleichen gefunden zu haben.

Hochwürden . . .!

Sein Eintritt löste eine gewisse Weihe und Feier aus. Alle Herzen schlugen ihm freudig entgegen. Die hohe Gestalt imponierte. Das abweisende und doch einnehmende Gesicht wußte die Schäflein zu nehmen. Die durchgeistigte Hand lenkte mit Umsicht. Sie führte die ihr anvertrauten Seelen auf fette Weide oder auf steinichten Acker, je nachdem er sie zu belohnen oder zu strafen gedachte.

Er erschien in schlichter Soutane. Röckling und Stola hatte er in der Sakristei abgelegt. Daher auch die kleine Verspätung. Sein Auge ging von einem zum andern. Er begrüßte Jansen und Tochter, letztere mit besonderem Wohlwollen. Er fand gütige Worte für die Herren Lehrer der benachbarten Ortschaften, für die schmucke Ladenmamsell und den kreuzbraven Magazinier Severin Baumann. Seinem Jugendgenossen von der Präparandenanstalt Heribert Kästner gab er innigst die Rechte: »Willkommen in Warbeyen und frohes Schaffen dahier.« Sein Blick fiel zur Linken. »Ah! sieh' da – auch Sie, meine Herren! Sehr lieb von Ihnen, daß Sie meiner Einladung Folge gaben.«

Er trat auf zwei stattliche Männer zu, die sich etwas abseits gehalten hatten – auf Dores van Laak und Matthieu Thönissen, zupackende Gutsbesitzer mit schwergoldenen Ketten auf den gerundeten Bäuchen, gehaltvolle Mitglieder des Kreisausschusses, die aber das Dasein auszukosten verstanden und es sich nach getaner Arbeit kommoder machten als die fetten Königspinguine und Lummen unter dem dunstigen Scheinen der Mitternachtssonne: »Meine Herren, daß Sie sich bei Ihrer regen Tätigkeit, bei dieser greifbaren Misere der Landwirtschaft diese Stunde abrangen, ist mir eine ganz besondere Freude. Ich danke Ihnen im Namen des Herrn Ildephons Schlickum.«

Dores van Laak trat vor und sagte, gleichzeitig im Namen seines Freundes Matthieu Thönissen: »Absolutemang gar nichts zu danken. Im konträrigen Gegenteil – wir machen uns 'n kleines Pläsiervergnügen daraus, das Andenken des Abberufenen mit 'nem kleinen Gläschen Punsch zu begießen.«

»Hm!« machte Heinrich Verschüren.

»Und wo bleiben ich, Herr Kaplan?«

Vor ihm wuchs die lurksige Gestalt des Leichenbitters aus dem mit Sand bestreuten Riemenboden, jetzt mit dem fidelen Gesicht eines Pyrotechnikers, der ein amüsantes Feuerwerk abzubrennen gedachte.

»Ich bin auch noch im Lande, Hochwürden.«

»Servus, Servus, Herr Ferkulum. Last not least. Wenn auch der letzte, so doch nicht zuletzt. Nein, mein Lieber, ich bin Ihnen recht innig verpflichtet, als Priester verpflichtet und als stellvertretender Gastgeber hiesiger Kirchengemeinde verpflichtet. Ihre Assistenz bei der Beisetzungsfeier zeigte Würde mit Umsicht . . . und wenn meine Sinne mich nicht täuschen . . . ich sehe, ich rieche . . .«

»Höhö!« lachte Aloys. »Alles allright! Ich meine, die Suppenterrine ist voll delikater Punschatmosphäre.«

»So dürfen wir wohl . . .

»Gewiß, Herr Kaplan«, und Ferkulum drehte den Eierkopf über die Schulter. »Derksen, beginne! Hochwürden möchten nu endlich etwas Positives besitzen. Nous avons, vous avez . . .«

»Wird gemacht!« gab der Inhaber des ›Blauen Schiffchens‹ zurück. Er stand bereits mit gezücktem Vorlegelöffel hinter der Bowle. Derweilen er einschenkte, seine Frau und Klartje Butter, Korinthenwecken und Geldernsche Knipplätze zutrugen, die gefüllten Gläser beisetzten, placierten sich die Herrschaften an der sauber gespreiteten Hufeisentafel.

Heinrich Verschüren präsidierte. Er hatte Henriette an seine Rechte gebeten. Links von ihm saß Dores van Laak, ihm schräg gegenüber Jansen, Matthieu Thönissen, Heribert und etliche Lehrer. Herr Baumann nebst Ladenmamsell und Aloys Ferkulum schlossen die Reihen mit dem wohligen Gefühl: eine weise Fürsorge sei ihnen günstig gewesen und habe jegliches aufs schönste eingerichtet.

Erst ein stilles Gebet, ein verhaltenes Flüstern, das so recht nicht aus sich herauswollte, geisterte unter den Menschen herum, die sich hier zusammengefunden hatten. Trotz des animierten Punsches, dessen Qualität allgemein anerkannt wurde, blieb die Unterhaltung in äußerst bescheidenen Grenzen. Beim zweiten Gläschen taute sie auf, belebte sich, um immer zutunlicher und anregender zu werden.

Nur Joris Jansen konnte den richtigen Anschluß nicht finden. Die in Heiligenbaum durchkostete und durchlittene Stunde hatte ihn völlig aus dem Senkel geworfen, ihm das genommen, was er bitter benötigte, sich leidlich mit seinem Lufthunger abzufinden. Er verstand seine Umgebung nicht mehr, sich selbst nicht mehr und alles das nicht mehr, was ihn mit Fieberhänden betastete. Selbst seine Tochter kannte er nicht mehr aus. Seit seinem letzten Begegnen mit ihr mußte er sich eingestehen: immer mehr entgleitet sie der väterlichen Obhut, begibt sich auf Pfade, die mit den seinen keine Gemeinschaft aufwiesen, gewillt auf Gedeih und Verderb ihr eigenes geheimnisvolles Dasein zu führen.

Stumm und insichgekehrt saß sie neben Hochwürden. Aus dem dunklen Kleid mit dem florigen Halsschmuck wuchs ihr bleiches Gesicht wie eine schöne Medaille. Schwer war ihr dieser Gang angekommen, noch schwerer das Verweilen an der gespreiteten Tafel im ›Blauen Schiffchen‹. Ihre samtbraunen Augen mit den eingesprenkelten Goldsplitterchen schienen zu sprechen: »Was soll ich unter euch? Ihr versteht mich ja doch nicht . . . und wer da glaubt, mich Lügen zu strafen, mein Herz in seinen Zweifeln und Anfechtungen, in seinem Wandel und Wechsel ergründet zu haben, der jagt seinem eigenen Schatten nach, ohne seiner habhaft zu werden. Ich selber – ich verstehe mich selbst kaum, weiß nicht, was die seltsamen Kräfte bezwecken, die mich tagtäglich, stündlich mit ihren weißen Fingerspitzen berühren. Ich weiß nur: meine Sehnsucht ist eine große und unendliche Sehnsucht, unermeßlich wie ein blühendes Weizenfeld, das unter dem Hauch einer sachten Rheinbrise dahinwellt, einer schönen wunschlosen Ferne entgegen, ohne diese Ferne jemals erreichen zu können. Meine Lippen sind wie blutende Wunden. Wem biete ich sie? Wer kann sich satt und genug daran trinken? Rote Rosen, blutende Wunden . . .! Nur dem biete ich sie, dem ich mich selber erschließe, dem ich entgegenschauere wie der blühende Baum dem Frühlingssturm entgegenschauert, selbst auf die Gefahr hin, unter dieser Umarmung mein Leben zu opfern. Ja, meine Lippen sind wie blutende Wunden . . . O! – wer nimmt mir das tropfende Blut von den Lippen?!«

Ihre Gedanken versandeten. Sie warf einen scheuen Blick auf Heribert Kästner. Dessen Gesicht war abgekehrt und von einer eisigen Strenge.

Aloys Ferkulum fing diesen Blick auf.

Er stieß Herrn Baumann mit 'nem gekniffenen Äugelchen in die unteren Rippen: »Herr Kommis, diese Göttermadonna, an der könnte unsereins wieder jung werden und so 'ne kleine Dezimalsünde riskieren. Deo gratias!«

Die erste Ladenmamsell kicherte los.

Der Präside hob verwarnend die Hand.

»Aber Fräulein Franziska . . .

Er klingte ans Glas.

»Pst!« rief Ferkulum mit dem dummen Gesicht eines Dorfköters, der soeben einem Handwerksburschen an die abgewetzten Hosen gefahren. »Pst, meine Herrschaften! Hochwürden will sprechen.«

Und Hochwürden erhob sich.

Sein scharfgemeißelter Kopf mit der freien Stirn, dem dunklen, etwas welligen Haar stand hoch über der Tafel.

»Meine Geliebten! Was sterblich an ihm war, nahm die Allmutter Erde zurück, was ewiges Leben empfing, zog über den Weltenkreis hinaus zu den Thronen und Mächten, zu den Engeln und Erzengeln, um gemeinsam mit ihnen, unter Harfen und Psaltern, dem Unerforschlichen, dem Unüberwindlichen, dem Sternenbeweger und dem Hirten der Ewigkeiten zu lobsingen. Du bist bei uns, o Herr, dein heiliger Name ist angerufen über uns: verlasse uns nicht, o Herr, unser Gott! In deinem Beisein gedenken wir des Beigesetzten, gedenken wir der unerschütterlichen Treue seinem Heiland und Schöpfer gegenüber. Nehmt sein Leben und Sterben – alles in allem: es ist köstlich gewesen. Herr Ildephons Schlickum verdient es, gepriesen zu werden. Also preisen wir ihn . . . und ich hoffe zum Alleserbarmer, sein Nachfahre im Amt, mein Freund Heribert Kästner wird so spurgerecht in die vorgezeichneten Fußstapfen treten, daß Kirche, Staat und Gemeinde sich freudig die Hände reichen und sagen werden: In ihm und seinem vorbildlichen Wirken haben wir Ildephons Schlickum wiedergefunden.«

»Bravo! Darauf trinken wir einen. Klartje, ich bitte um Nachfüllung.«

»Herr Ferkulum, bitte. Das dürfte Zeit haben bis nach meiner Rede.«

»Allerdings – ja. Exküsiert, Herr Kaplan.«

Heinrich Verschüren sprach weiter. Sein unentwegtes Haupt mit der scharfen Tonsur stand zuversichtlich im Raume.

Seine Rechte hob und senkte sich wieder.

Seine Worte formten sich scharf und bestimmt zwischen den Lippen.

Die weißen Zähne kamen zeitweilig wie lichte Perlenschnüre zum Vorschein. Sie modelten. Jede Silbe kam gleichsam von einer präzisen Präge herunter.

»Geliebte! Gleichwie der Hirsch nach der Wasserquelle, so verlangt unsere Seele nach dir, o mein Herr und Gebieter. Wann werden wir erscheinen vor deinem Angesicht? Wann wird für uns aufgehen das ewige Licht? O freudenreicher Tag, an dem wir hören werden das Wort: Gehet ein in die Herrlichkeit unseres Herrn! – Ildephons Schlickum hat diese Worte vernommen. Er weilt bei den überirdischen Thronen, und nach menschlichem Ermessen mit dem Recht eines Auserwählten, denn seine Lebensnorm, seine politische und kirchliche Einstellung war von jeher die eines Gerechten in Israel. Als unentwegter Anhänger der neuen Verfassung, wies er Krieg und Kriegsgeschrei weit von sich ab, war er Friedensucher von lauterstem Wasser, hielt er unsern Gegnern, den Belgiern, die mit mehr oder minderem Recht unsere Gegend besetzten, die Wange hin, willens, im Namen der Duldsamkeit auch den zweiten Backenstreich in Empfang zu nehmen, was ihn aber keineswegs hinderte, als Streiter der heiligen Caritas in den vordersten Reihen zu kämpfen – im Namen Gottes und zum Heile der Bedrückten im hiesigen Kirchenspiel. Das war groß und hehr von dem Manne!«

»Bravo!«

Der Sprecher lächelte mit unendlicher Güte.

»Folget ihm nach, und eure Taten werden gewertet im Himmelreich. Und weiter . . . Noch im verflossenen Sommer suchte er Oberammergau auf, um an den weihevollen Bauernspielen sein abständiges und müdes Herz zu erquicken. Restlos glücklich kehrte er heimwärts, voll Begeisterung, voll seligen Dranges . . . und als ich ihm dartat, ich sei selber gesonnen, auch für Heiligenbaum eine ähnliche Stätte zu schaffen, griff er nicht nur meine Idee auf, sondern ermunterte und beschwor er mich, das Drama zu schreiben. Ich tat es. Die Passion, die Leidensgeschichte des Herrn ist fertig.«

Seine Hand schlug gedämpft auf den Tisch.

»Ist fertig . . .! Kein Tiftelchen mehr fehlt. Münster wurde verständigt . . . das Imprimatur gegeben. Der hochwürdigste Herr erteilte es unter den paulinischen Worten: der Geist Christi wohne in euch, ströme über und über, indem ihr in aller Weisheit euch selber belehret, euch aufmuntert durch Psalmen, Gesänge und geistliche Lieder. So das bischöfliche Ordinariat, so der hochwürdigste Herr in seiner allesumfassenden Liebe und Werktätigkeit . . . und ich hoffe zu Gott: um die heilige Pfingstzeit wird die Passion, die Leidensgeschichte des Herrn, die Freilichtbühne bei Heiligenbaum zu einer glanzvollen machen. Tausend werden kommen, tausende und abertausende ihr Scherflein beitragen, der gefeierten Caritas ein Kränzlein zu winden, und alle – sie werden am Eingang der Bühne mit den Oberammergauer Worten begrüßt:

Alle seien gebenedeit,
Welche die Liebe hier
Um den Heiland vereint,
Trauernd ihm nachzugeh'n
Auf dem Wege des Leidens
Bis zur Stätte der Grabesruh.«

Seine Stimme schwoll an: »Ich für meine Person trete zurück, obgleich ich Anreger und Verfasser des Dramas. Ein Toter geht vor. Er spornte mich an, er leitete mich, er führte mich. Er beflügelte meine Gedanken, befruchtete sie, half mir, die eingeholte Ernte in die hergerichtete Scheuer zu tragen . . . und das wertet mehr denn alles Geschreibsel.«

Seine Blicke nahmen einen verklärten Glanz an.

»Herr Ildephons Schlickum, ich grüße dich, ich lasse dich nicht, denn bei deinem Gedenken sind wir in Gottesnähe, fühlen wir den Odem des ewigen Vaters. Du bist unter uns, genau wie am Tage, da du die Sonne noch sahest. Du bleibst für uns ehrfurchtgebietend . . . und drum, meine Geliebten im Herrn, ehren wir ihn in seinen Taten und Werken, als Mensch und als Geist in holder Verklärung. Ich bitte darum: ehren wir ihn, ehren wir ihn, indem wir uns von unseren Sitzen erheben, im Namen des Allbarmherzigen.«

Alle erhoben sich, sprachen ein kurzes Gebet und setzten sich wieder.

Nur der Sprecher blieb stehen.

Aloys fiel ein: »Herr Kaplan, nu können wir wohl . . .! Klartje, ich ersuche um 'nen kleinen Zuschuß.«

»Herr Ferkulum, ich sagte bereits . . .«

»Ja – so! Exküsiert, Herr Kaplan. Bis später denn, Klartje.«

»Ja, meine Geliebten« – und jedereins fühlte, der junge Kleriker war ganz bei der Sache, seine Darlegung ein einziges Leuchten – »ja, um die Pfingstzeit können wir bestimmt mit der Eröffnung der Passionsspiele rechnen. Tochter Sions, freue dich, freue dich, Heiligenbaum! denn dein Heiland wird eintriumphieren in Jerusalem, wird predigen im Angesichte von Golgatha und des Berges des Ärgernisses, wird mit seinen Jüngern das Abendmahl teilen, gefangen werden, gekrönt und gegeißelt, wird sein Kreuz tragen durch die Straßen von Jerusalem, wird sich schleppen zur Höhe der Schädelstätte, unter sich das steinichte Land, die mageren Ölbäume, die Fernen des Reiches und die vergoldeten Kuppeln des Tempels . . . und das Holz wird gerichtet mit dem zermarterten Korpus . . . Heil Jesus von Nazareth, König der Juden . . .!« und das Wort des Sprechers wurde lind wie das Säuseln der Palmen im Tale Josaphat: »Herr, in deine Hände empfehle ich meinen Geist! und siehe: er neigte das Haupt – der Erlöser, und starb im Angesicht der verfinsterten Sonne, zum Heile der Menschen, im Namen des Vaters, der da ist in den Himmeln. – Geliebte, seht diese Bilder! Die Passion ist vollendet . . . aber sie wird um die kommenden Pfingsten aufs neue erstehen, in die Knie zwingend, ebenso machtvoll wie damals, als die Gräber sich öffneten, der Vorhang mitten entzwei riß und das gerichtete Marterholz mit ergreifenden Worten verkündete: Ich werde den Weltkreis beherrschen, seine Menschen führen bis an das Ende der Tage . . . und viele unter uns, viele von hier, aus Heiligenbaum und den benachbarten Ortschaften fanden sich bereit, ihr Können in den Dienst der großen Sache zu stellen, Herz, Liebe und Arbeit in die Opferschale des Herrn zu legen, so unter anderen die preisliche Jungfrau Henriette Jansen, gebürtig zu Kleve, eine Kraft, gefaßt in Perlen und köstlichen Steinen. Sie verpflichtete sich in selbstloser Weise, die Maria von Magdala zu inaugurieren – und wenn alles nicht täuscht, so wird auch mein Freund und Jugendgespiel, wird Heribert Kästner seine Kunst und Begabung, sein hohes Erfassen frohen und gläubigen Herzens darbringen, um das geplante Werk mit der Palme zu krönen. Ich denke dabei: er wird den Prologus verfassen und den Lieblingsjünger Jesu verkörpern. – Heribert, Heribert, tu' mir die Freude! du wirst doch?!«

Eine weiße Hand streckte sich aus.

»Heribert – du . . .?!«

»Nein!«

Hart wie Kieselstein fiel dieses ›nein‹ von harten Lippen herunter, und die Blicke zweier Männer bohrten sich wechselseitig tief in die Augen.

 


 << zurück weiter >>