Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

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Sechstes Kapitel

Wider Erwarten – der November blieb klar und heiter. Nur wenige graue Tage schoben sich ein. Es wollte nicht wintern. Erst um die Wende des Monats begann es zu frösteln, mit nadelfeinen Eiskristallen zu spielen. Die letzten Eichen- und Buchenblätter raschelten so unwirsch von den Zweigen herunter, daß es den Löffelmännern unbehaglich in den Waldschneisen wurde und sie verängstigt in die jungen Fichtenschonungen überwechselten. Der kleine stachelbewehrte Gesell aus dem pfiffigen Geschlecht der Landstörzer, der Igel, der die laulichen und heiteren Novembertage benutzt hatte, sein Bäuchlein so straff wie nur möglich anzumästen, machte jetzt Anstalten, die Arbeiten ums tägliche Brot einzustellen und Quartier zu beziehen. Er tat es mit Umsicht, spießte Laub und Moosplacken auf sein Stachelgewand, bereitete sein Bett unter einem verfilzten Brombeergestrüpp, um mit hörbarem Schnarchen den Schlaf eines Gerechten, eines listigen Biedermannes zu träumen.

Mit seinem Einlullen pendelten die ersten Schneeflocken nieder, schleierten Land und Leute ein, priesen in jedem Glitzersternchen die Allmacht des Ewigen mit einer tieferen Größe und Einfalt, als es die wundersamen Bilder und Posaunenstöße aus der Offenbarung vermochten.

Der weiße Niederrhein schauerte mit innigem Behagen dem Sinter-Klaas-Abend entgegen.

Um diese Zeit erhob sich ein jämmerliches Schreien und Klagen im Herzogtum Kleve, in den benachbarten Grafschaften. Kein Flecken, kein städtisches Anwesen, kein Bauerngehöft blieb von diesem Jammern und Klagen verschont. Es waren Lamentationen von der obersten Ordnung, verzweifelte Rufe, die die ganze Gegend erfüllten. Aber diese Lamentationen und Klagegesänge wirkten besänftigend, ja wohlig auf die Herzen der Menschenkinder. Statt traurigen Hangens und Bangens – allüberall frohe Gesichter und freudiges Zupacken.

Wer Augen hatte zu sehen, der sah, und wer Ohren hatte zu hören, der hörte.

Alle, mit Kleie, Kartoffeln und Rübenschnitzeln herangefütterten Säue – Hals mußten sie geben, verfielen dem unbarmherzigen Messer, um abgebrüht und feinsäuberlich geschabt vor jeder Haustür von einer rahmweißen Leiter zu bammeln.

Das wollte der Niederrhein so, das war sein ureigenstes Recht, seine höchste Bekömmnis . . . und die Vögel des Himmels erschienen, wie Kohl- und Blaumeisen, fackelten nicht lange und holten sich dreist und gottesfürchtig ihr zugemessenes Deputat von den abgemetzelten Tierchen herunter.

O selige Zeiten! Fast in jedem Anwesen stand Mutter vor einem siedenden Waschkessel, einen geschälten Christusdorn in der Rechten, das fürsorgliche Frauenauge aufmerksam auf das brodelnde Wasser gerichtet, worinnen Leber-, Grütz- und Blutwürste auf und nieder gondelten und es sich in dem pritzelnden und wallenden Geiser äußerst wohl sein ließen. O diese Glücklichen! und wenn eine von ihnen zu übermütig wurde, es wagte, allzu dickbauchig an der Oberfläche zu segeln – ohne Besinnen stach der Christusdorn zu, bohrte sich unbarmherzig bis in die innerste Seele.

»Pst!« machte die Pelle, und mit leisem Seufzen tauchte die gemaßregelte Leber-, Grütz- oder Blutwurst wieder in die brodelnde Tiefe. Ach! und Mutter lächelte dazu ihr fröhlichstes Lächeln, immer auf Posten, den Christusdorn sachlich walten zu lassen.

Ja, die Lamentationen und Jeremiasrufe hatten schon ihre tiefe Bedeutung in der niederrheinischen Umwelt, bei alt und jung, bei Männlein und Weiblein; nur die hinterbliebenen Ferkel bekamen das Gruseln, wenn die Schmerzenslaute ihrer Kollegen an die Schweinekofen pochten und sagten: »übers Jahr kommt ihr an die Reihe, werdet gemetzelt, verwurstet, in die Lake, den Rauchfang oder den niederträchtigen Kessel verwiesen. Der allwaltende Ferkelgeist sei euren Seelen barmherzig.«

Die kapitalste Sau, die fetteste, milchweißeste Yorkshire Sau, die Sau aller Säue, die man gut und gern auf dreihundert und fünfundfünzig Pfund klevischen Gewichtes ansprechen konnte, dieses Unikum nun präsentierte sich auf dem van Laakschen Hofe an mächtiger Leiter unmittelbar neben der grüngestrichenen Tür des Herrenhauses.

Viele aus der Umgebung strömten zu, diese Rarität auf sich wirken zu lassen.

Herr Dores van Laak gab sich die Ehre, den Mentor zu spielen. Er sagte: »Amalia hieß sie, hat zweimal fünfzehn Ferkel geworfen, wurde ihrer Bonität wegen auf der letzten Viehausstellung präliminiert mit der ersten Medaille. Ich selber wurde vom Herrn Landrat und dem Preiskollegium in höchste Bewunderung genommen. Meine eigene Züchtung. Ich . . . und Herr van Laak schlug sich so überzeugungsgetreu auf die rotgepunktete Samtweste, daß es einen herzhaften Ton gab.

Hierauf trat er ins Haus, ließ sich nieder und genehmigte sich zum zweiten Frühstück die größte Leberwurst aus Amaliens Hinterlassenschaft. –

Seit dem verhängnisvollen Tage im ›Blauen Schiffchen‹ hatte sich vieles begeben. Zwischen den beiden liebenden Herzen war es still und einsam geworden. Nur dann und wann flatterte ein Gruß herüber, ein stilles Gedenken. Mit ihrem Vater kam Henriette kaum noch zusammen. Die gemeinsam verlebten Stunden in Warbeyen hatten Dornen gezeitigt, die die Herzen verletzten und die Füße schwer machten. Was sollte sie auch noch in der Kavarinerstraße in Kleve? Das elterliche Anwesen war ihr nie eine trauliche Stätte gewesen. Der ewige Duft nach warmem Krepp und laulichen Tuchstoffen, der aufdringliche Ruch nach Firnis und frischgehobelten Tannenbrettern, das monotone Klopfen und Hämmern – alles das fiel ihr schon in der frühesten Jugend schwer auf die Seele, veranlaßte sie, das Lehramt zu ergreifen und sich auf die eigenen Füße zu stellen . . . und vornehmlich jetzt, wo sie qualvoll litt und duldete, wo jegliches sie mit schmerzhaften Nadelspitzen berührte, ihre Gedanken wie gehetzte Tiere waren, jeder vor dem andern bangte – nein, da konnte sie sich nicht entschließen, über die Schwelle des elterlichen Hauses zu treten. Das väterliche Auge würde sie nur noch verstörter und trauriger machen. Später vielleicht, wenn sie das gefunden hatte, was sie mit heißer Seele erstrebte: die innere Klärung und die Ruhe im Herrn. Dann, ja dann . . . aber darüber konnten noch Wochen um Wochen vergehen, noch manche Sternlein aufgehen und wieder verschwinden, weit hinter den Wäldern von Heiligenbaum, wo noch immer die einsame Geige gestrichen wurde und heimlich erzählte: »In illo tempore dixit Jesus . . .«

Heribert Kästner amtierte bereits etliche Tage nach dem Beerdigungsgang in seinem neuen Berufskreis, bezog bald darauf die Wohnung des Verewigten, nahm seine Mahlzeiten im ›Blauen Schiffchen‹ ein und ließ sich im übrigen von einer braven Aufwartefrau betreuen, die alles aufbot, das kleine Anwesen in Ordnung zu halten und behaglich zu machen. Die ihm anvertraute Jugend führte er liebevoll, aber mit festen und zupackenden Händen. Die alte glorreiche Zeit hämmerte er ihr zielbewußt zwischen die Schläfen, zeigte ihnen die stolze, von Revoluzern geschändete Fahne, das Fahnentuch, unter dem ihre Väter siegten und starben, um sie wert und würdig dieser Väter zu machen.

Mit dem Dechanten Jakob Ezechiel Schlüpers aus Warbeyen, einem noch immer emsigen Pfleger und Heger im Weinberge des Herrn, der noch mit Kopf und Kragen in die Zeit hineinwuchs, wo Männer wie Schorlemer und Mallinckrodt die Geschicke des Zentrums in vaterländischem Sinne hüteten, stand er in freundschaftlichem Wechselverkehr, und wenn dessen Schuh auch des öfteren zu derb und knarzend durch die Reihen seiner ihm anvertrauten Böcke und Schäflein einherrumpelte – Herr Jakob Ezechiel Schlüpers und Heribert Kästner hatten Wohlgefallen aneinander und verstanden sich trefflich.

Heinrich Verschüren ging seine eigenen Wege. Die Jugendfreunde sahen sich selten, vermieden es, ihre Pfade zu kreuzen; nur wo der Dienst es erforderte, beobachteten sie als kluge Männer die üblichen Formen, eckten nicht an, befleißigten sich der strengsten Reserve, hielten ihren inneren und äußeren Menschen unter straffer Zucht und Kandare.

Heribert hoffte noch immer. Wo er Gold wußte, konnte er letzten Endes nicht ausgebrannte Schlacken und ödes Gestein schürfen . . . nur – die Maske mußte herunter. Mußte herunter! sonst wäre ja alles Lug und Trug für ihn, wäre das Wort der Evangelisten eine stumpfe Verheißung, ein leeres Klingen in der Wüste gewesen. Also er hoffte, wenn er auch fühlte: die bitteren Runen der durchlittenen Wochen graben sich immer tiefer in Stirne und Schläfen, machen deine Nächte zu qualvollen Nächten. Und dennoch: Kopf in den Nacken, Sinn und Auge klar zum Gefecht! Kein Hangen und Bangen! Kein Zögern und Zagen! und immer den gestabten Schwur zwischen den Rippen. Und also geschah es. Ein unentwegter Kapitän, den Sturmriemen untergezogen, navigierte er mit blanken Augen durch unruhige See, durch diesige Böen, zielbewußt und gewiß, den ersehnten Hafen, wenn auch unter Einbuße von Hißtauen und Segelwerk, endlich zu gewinnen. Dann aber: Jo triumphe!

Ferkulum war alles egal. Die trüben Erlebnisse im ›Blauen Schiffchen‹ hatte er abgeschüttelt, wie ein übergossener Pudel sich des unerwünschten Spülichtwassers entledigt. Er war wieder Hans in allen Hecken und Hägen, sielte sich in seinem Pontiuspilatustum, als ständen und fielen mit ihm die geplanten Passionsspiele im benachbarten Heiligenbaum. Er fühlte sich ordentlich, klapperte die nächste Umgebung ab, redete von großen kommenden Dingen, fiel in die kleinen Gehöfte ein, von denen er wußte, ein kapitales Schwein hatte hier Hals geben müssen, sprach auch hier so begeistert von den hohen Theatermysterien, daß die Bauernweiber unter ihrem Brusttuch erschauerten und sich eine besondere Ehre draus machten, den prädestinierten römischen Landpfleger durch reichliche Zufuhr von Leber- und Grützwürsten für die kommenden Spiele zu stärken und bei guten Leibeskräften zu halten.

Auch seinen Freund Joris suchte er auf, fand ihn aber etwas unwirsch und stets mit Journal und Hauptbuch beschäftigt.

»Na, denn nicht und auf 'ne gelegene Stunde«, sagte er lang zwischen den Raffzähnen und ging seines Weges. –

So war der fünfte Dezember gekommen, der Tag also, dessen Dämmerstunde das Fest des heiligen Nikolaus einweihte und stille Wünsche erfüllte.

Joris saß in seinem hinteren Stübchen. Journal und Hauptbuch, mit denen er sich auch heute befaßt, hatte er abgelegt und war nunmehr dabei, sein zweites Frühstück, bestehend aus Tee und etlichen gerösteten Schnittchen, zu sich zu nehmen.

Schwebend pendelten bitterkalte Schneesternchen an den Scheiben vorüber, schwebten hierhin und dorthin, um sich knisternd über den Binnenhof und die Fenstersimse zu spreiten. Eine schneeblaue Helle durchgeisterte das einfache Zimmer, das der blank gewichste Kanonenofen mit seinen Paradiesapfelbäckchen wohlig durchkachelte. Ein Ruch nach Lavendelwasser und Melissengeist, bekömmlich für Atemnot und Brustbeklemmung, milderte den aufdringlichen Duft nach Krepp und dunklen Tuchstoffen.

Es war schon genüglich zwischen diesen vier Pfählen; nur die infame Frostwelt unter dem Himmel, das feine Gestiebe zwischen den Fensterritzen . . .! Pfui Teufel . . .!

Draußen marschierte eine blauschwarze Krähe mit grindigem Schnabel über das weiße Sterbelaken. Sie war vom nahen Schloßberg eingefallen und suchte nach Küchenresten, die den Mülleimer verpaßt hatten.

Plötzlich streckte sie Kopf und Kragen.

Ein Geräusch aus der Werkstätte ließ sie aufhorchen.

»Rattata, rattata, rattata . . .!« und immer so weiter.

»Kraha!« sagte der Schwarzkittel, schwang sich hoch und ruderte gemächlich seinem Standort entgegen.

»Rattata, rattata . . .

Auch Joris lausterte auf, aber pläsierlich.

Er schob sein Troddelmützchen tief in den Nacken: »Also Betrieb! Wollen mal hören.«

Die ihm zur Hand stehende Klingel ertönte.

Der Stift von der linken Ladenhälfte sprang zu.

»Mynheer . . .?!«

»Abtragen, Fipps! und dann noch: ist Herr Naumann erreichbar?«

»Aber gewiß.«

»Dann bitte . . .« und Fipps sockte mit seinem Auftrag, mit Tablett und den Überbleibseln des Frühstückes so eilfertig ab, daß es seinem Chef fast schwindelig vor Augen wurde.

Aber er war trotzdem zufrieden.

»Ordnung und Zucht bauen Häuser«, sagte er vergnügt vor sich hin, »Unzucht und Lässigkeit reißen sie nieder. Gut so!«

Er langte aufs neue nach Hauptbuch und Journal, suchte dieses und jenes und vertiefte sich emsigen Geistes in das verschmitzte Gewirr von Zahlenkolonnen und Aufrechnungen, so daß er fast das respektvolle Anklopfen seines ersten Kommis überhörte.

»Kommt benne!«

»Ah, guten Morgen, Herr Chef! Darf ich gehorsamst nachfragen, wie geruht und wie sonst das Befinden?«

Herr Baumann schurfelte verbindlich die Hände gegeneinander.

»Ich danke der Nachfrage. So leidlich.«

»Oh, oh! Nur leidlich, Herr Jansen?«

»Ich bin auch hiermit zufrieden.«

Der stumpige, aber doch lebhafte Herr machte ein Gesicht, als spiegele sich in ihm eine dreifach gestaffelte Hochachtung wider.

»Nein, Herr Chef, diese Seele von stillem Genüge!«

»Man wird bescheiden. Was neues, Herr Baumann? Ich hörte soeben . . .«

»Zu dienen. Heute bereits drei recht annehmbare Särge in Bestellung genommen.«

»So so! und die Veranlassung . . . ich meine die Gründe . . .«

»Trichinen, Herr Jansen.«

»So! Also Trichinen?! und sonst noch was?«

»Daß ich nicht wüßte. Allerdings ja . . . Fräulein Fränzchen hat noch vor Abend zwei Trauerhüte herzurichten. Anlieferung heute bis sieben.«

»Sind Schleier dabei?«

»Pompöse, Herr Jansen.«

»Merci! aber a popo – Fräulein Fränzchen . . .! Wie lange schon steht Mamsell Jobelius in Kondition bei hiesiger Firma?

»Dreiviertel Jahre.«

»Und zufrieden mit ihr . . .? Umgangsformen, Qualitäten und so? Sie als erster Kommis könnten das wissen.«

»Weiß ich, Herr Chef.«

»Also zufrieden . . .

Der dienstbeflissene Angestellte mit dem straffen, etwas zu kurz geratenen Beinwerks und den soliden Kulleraugen tippte Daumen und Mittelfinger so preziös und spitz gegeneinander, als könne er nicht umhin, etwas Delikates zu sagen, der ersten Ladenmamsell ein so zuckersüßes Zeugnis auszustellen, dem selbst die verwöhntesten Immen nicht aus dem Wege gehen konnten.

»Aber äußerst, Herr Chef. Unter Garantie: primissima Klasse.«

»Sehr angenehm zu hören . . . und glauben auch Sie: sie könnte mal 'ne tüchtige Geschäftsfrau abgeben, gewissermaßen 'nen Reliefpfeiler für 'n angesehenes Haus wie das meine?«

»Und ob!«

»Dann verstehe ich nicht . . . zwei so annehmbare und solide Leutchen . . . und wenn ich mich in Ihren Hosen befände, Herr Baumann . . .«

Joris schnappte nach Luft und rückte sein Troddelmützchen wieder auf die frühere Stelle.

»Nein, dann verstehe ich nicht . . .«

»Herr Jansen . . .«

Der erste Kommis und Magazinier des Beerdigungsinstituts ›Pietas‹ geruhte verlegen zu lächeln, sich etwas befangen in den kurzen Hüften zu wiegen.

»Herr Jansen, alles mit Ausmaß, mit 'ner gewissen Reserve. Immer nicht gleich ins rosenrote Himmelreich, nicht per sofort aufs totale Ganze, Herr Chef; denn offen gestanden: ich habe zehn-, Mamsell Jobelius rund fünftausend Märker auf der Kreissparkasse stehen, immerhin 'n ganz annehmbares Pöstchen. Indessen jedoch, mit so was läßt sich 'n nobler Betrieb nicht so ohne weiteres eröffnen, lassen sich Unkosten, Kind und Kegel nicht in Balance bringen.«

Er räusperte sich.

»Da müssen schon, um es mit 'nem kleinen Wörtchen zu sagen, diesbezügliche Glücksumstände 'ne Art von Sprungbrett abgeben. Erst 'ne solide Grundlage, dann Geschäft, Kirche und Standesamt.«

Er machte 'ne abwehrende Geste.

»Herr Chef, sonst unter keiner Bedingung.«

Joris schmunzelte.

»Properer Kaufmann. Gesunde Ansichten. Freut mich. Schön so! Wenn alle so wären! Ja, und da bin ich nu auf meinen eigenen Turnus gekommen.«

»Wie bitte, Herr Jansen?«

In dem Schuppenwurzgesicht des alten Herrn blühte es auf. Man sah es ihm an, er war bewegt bis in die innersten Nieren.

»Herr Baumann«, sagte er mit feierlicher und erhobener Stimme, durch die sich etliche spinnenwebzarte Weihrauchwölkchen hinschleierten, »ich habe mit Ihnen ein wohldurchdachtes, ernstes, wenn auch ersprießliches Wörtchen zu reden. Es geht auf weite Sicht und dürfte für beide Parte 'ne kommode Zusammenarbeit geben.«

»Soll mir angenehm sein.«

»Dann nehmen Sie Platz.«

Severin Baumann folgte dem Anruf, aber bescheiden und mit 'nem Devotionsstrich darunter.

Alsbald saßen die beiden sich dicht gegenüber.

Joris schlug die Beine mühsam übereinander, zupfte an seinem Adlerflaum herum, legte die Hände zusammen, um dann etwas hüstelnd zu sagen: »Junger Mann, wir sprachen schon einmal über die Sache, aber bloß so propter und prätorius, ohne weitere Bindung. Sie erinnern sich doch?«

Herr Baumann machte eine tiefe Verbeugung.

»Gewiß, Herr Chef, und das danke ich Ihnen.«

»So ungefähr vor drei bis vier Wochen?«

»Ganz richtig.«

»Darüber hat mancher Pleite gemacht und ist wie 'n regulärer Krammetsvogel mang die Dohnen geraten.«

»Leider, Herr Jansen.«

»Aber ich nicht.«

»Nee, wahrhaftig in Gott nicht! das wäre noch schöner, 'ne Firma wie wir sind!«

»Meine ich auch. Der Spoykanal schluckt die Firma Jansen nicht über. Auch mich noch nicht. Aber man muß für die Zukunft Vorkehrung treffen, mit 'nem maroden Kadaver rechnen und klar navigieren, um dem Institut seine Nobilität zu erhalten. 'ne junge Kraft muß heran, damit die alte nicht gänzlich verknöchert, der Chef nicht über Journal und Hauptbuch die Atempfeife verliert und in seine Sterbekissen hineinbetet: Was soll nu aus dem Betrieb in der Kavarinerstraße für späterhin werden?«

»Aber ich bitte, keine Rührsamkeit nicht.«

Herr Severin kam rein aus dem Häuschen. Er hielt seinem Gönner mit gespreizten Fingern die trostlosen Handflächen entgegen.

»Nein, so nicht, Herr Jansen! So was geht einem direkt auf die Nerven.«

In diesem Augenblick kam es von der Werkstätte herüber: »Rattata . . . rattata . . . rattata . . .

Um die Mundecken des Alten spielte ein gütiges Lächeln.

»Da hören Sie bloß! Immer properen Wein in die Buddel. Mit kamigem Burdo kann man vor Gott und der Firma nicht bestehen. Immer das ›Memento‹ vor Augen, sonst ist man vor seiner Nachlassenschaft und seinen Besitztiteln 'ne Nulpe gewesen . . . und drum muß ich Ihnen dartun, Herr Baumann« – und unter seinen Augenbrauen flämmerte es mit seligen Goldpünktchen – »ich bin mit mir im reinen, Herr Baumann, völlig im reinen, und habe mich kurz resolviert, Sie als Kompagnon in meine Firma zu bitten.«

»Ah!«

»Mit gleichen Rechten und Pflichten, unter gleicher Beziehung von Gewinn und Verlust, sonder Einschränkung und nur unter dem Vorbehalt, nach meinem Ableben, was unser Herr und Erlöser noch so 'n bißchen hinziehen möge, meine Tochter Henriette als stille Teilhaberin im Geschäft belassen zu wollen. Einverstanden, Herr Baumann?«

»Oh . . .

Der Verzückte sprang auf, als regnete es mit echten Dukaten über ihn her, willens, sich wie 'n knorziger Brummkreisel um die eigene Achse zu drehen, aber nicht einmal, sondern zehnmal, hundertmal, kurz, so oft es sein Chef von ihm verlangen würde.

Aber dieser drückte ihn sanft auf die Binsen zurück.

»Einen Momang noch. Erst meine Gründe. Sie wissen: meine Tochter, obgleich sie das Ihre gelernt hat, gut und gern wie 'ne Königin ist, in Heiligenbaum 'ne Estimierung bezieht, als hätte sie schon jetzt 'ne Anwartschaft drauf, selig gesprochen zu werden, ist mir in letzter Zeit so 'n bißchen von der Seite geglitten. Hoffentlich gibt sich das wieder. Aber was sich niemals nicht gibt . . . 'nen Gusto fürs Geschäft hat sie niemals besessen. Komödienspielen – gewiß, die Kinder belernen – auch dieses, mit ihren Mitmenschen hilfreich und wohlwollend sein – ganz selbstverständlich, aber 'nem Beerdigungsinstitut vorzustehen, um aus ihm ihr Brot zu beziehen – nicht zu machen, Herr Baumann. Ja, sie täte lieber 'nen meilenlangen Kalvarienberg mit spitzen Steinen barfuß und mit 'nem freudenreichen Rosenkranz besteigen, als 'ne Trauergarnitur anzufertigen oder 'nen Sargnagel in die bloßen Finger zu nehmen . . . und so was kann der Betrieb nicht gebrauchen. Aber Sie, Herr Baumann . . . Ich sage zuerst: ich schätze mein Betriebskapital so propter und prätorius auf sechzigtausend Goldmark, abgesehen von Haus, Hof, Inventar und sonstigen Aktivitäten. Sie besitzen zehn-, Mamsell Jobelius fünftausend Märker, macht fünfzehntausend zusammen . . . und wenn ich Ihre kaufmännischen Qualitäten als Kommis und Magazinier mit fünfundvierzigtausend taxiere . . .«

»Aber ich bitte, Herr Jansen!«

»Fünfundvierzigtausend taxiere, stehen wir mit unseren Betriebskapitalien pari, Herr Baumann. Also schlagen Sie ein. Das Geschäft ist gemacht. Übermorgen gehen wir zum Herrn Justizrat Kalleweit, um den notariellen Aktus zu unterfertigen. Also«, und Joris erhob sich schwer aus den Lehnen, »am ersten Januar steht über der Haustür: Beerdigungsinstitut ›Pietas‹, in Firma Joris Jansen und Severin Baumann. Gratuliere! Soll denn ein Wort sein . . .«

»Herr Jansen . . .

»Bitte, keine Erregung.«

»Herr Jansen, ich kann nicht mehr anders, ich muß . . .« und der verzückte Wurzel- und Purzelkommis wippte so nachhaltig in seinen Korksohlenschuhen, als gedächte er auf- und davonzufliegen. »Herr Jansen, ich kann's nicht mehr halten. Ich muß mich befreien. Herr Jansen . . . o Sie gütiger Chef, Sie Patriarch der Barmherzigkeiten! Um Ihretwegen ließ ich mich zu Mus und Mienchen verarbeiten . . . könnte mit Maus und Mäuserich die Preußenkasse anpumpen, um das marode Zentrum wieder flott auf die Beine zu stellen . . . fräße ich Feuer und lebendige Karnickel herunter, ohne Besehn, ohne mit 'nem kleinen Finger zu zucken . . . Herr Jansen . . .!« und Baumann nahm sein schwarzumrändertes Nastuch, tupfte sich damit gegen die Stirne, brachte es wieder an Ort, trudelte aus dem Paradies seiner Exaltionen in 'nem feierlichen Gerichtssaal hinein, trat mit dem ernstesten Gesicht von der Welt vor Schranken und Schrein, bestellt mit Bibel und Kruzifixus, legte die Linke auf die Herzgrube und stielte die Rechte zur Decke . . . »Herr Jansen, was ich früher schon sagte, das sage ich nochmals: Ich nehm's auf die Gabel! Jetzt, wo alles perfekt ist, ich schwör's doppelt und dreifach zu Gott dem Allmächtigen: Herr Jansen, nunquam retorsum! Niemals zurück! Immer aufs Ganze. Immer vorwärts für meinen gütigen Kompagnon, für mich und die Firma, so wahr mir Gott helfe, Amen.«

Die Rührung übermannte ihn. Die Stimme zerrieselte wie Ascheflöckchen.

Er tastete feuchten Auges nach der Hand seines Gönners.

»Herr Jansen . . .«

Dieser wehrte bescheiden ab.

»Nu lassen Sie bloß. Ich beziehe auch meinen Profit. Jedem das Seine. Meine Devise. Keine Fisimatenten. Übermorgen wird der notarielle Aktus getätigt . . . und nu, mein lieber Herr Baumann: für heute 'raus aus 'm Betrieb. Das Nötige werde ich selber besorgen. Ihre hitzige Freude muß Abkühlung haben. Das können Sie draußen besorgen. Also bis morgen.«

»Aber Herr Jansen . . .

»Bis morgen, Herr Baumann.«

Der alte Herr hatte alle Mühe, den kummerbewegten und dennoch glückstrahlenden Kompagnon aus dem Zimmer zu drängeln.

Mehr tot als lebendig taumelte der Übertrunkene durch den fröstelnden Hausflur. Das bekriegte ihn wieder. Er las die Inschrift über der Supraporte: »Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam.« Das brachte ihn völlig zu Sinnen. Trotzdem fühlte er sich als Aladin mit der Wunderlampe. Ja, er hatte ein Märchen erlebt, ein Märchen aus den tausend Nächten und der einen Nacht, aber dieses Märchen war für ihn Wahrheit und Erleben geworden, Erleben und Wahrheit mit blanken Zähnen und gesunden Backen wie Borsdorfer Äpfel . . . aber bloß Ruhe. Fränzchen Jobelius sollte dieses Märchen erst ums Schummern, gewissermaßen als Sinter-Klaas-Präsent, aus seinem Munde erfahren. So schob er denn auch eilfertig an der linken Ladenhälfte vorüber, wickelte sich in Paletot und Tröster, um mit dampfendem Atem den Schloßberg und freies Land zu gewinnen.

Er fühlte es selber: Mittagsbrot brauchte er nicht, bloß frische, harte, bekömmliche Luft um die Naslöcher . . . und so stand er denn in 'ner knappen Viertelstunde auf dominierender, schneeverwehter Höhe, unter sich Stadt und Weite, über sich das lichtaufgeklärte Himmelreich und das Geschrei von ab- und zufliegenden Dohlenvögeln.

Ah! wie das guttat, so in seinem allbefreienden Glücksrausch einsam auf stiller Warte zu stehen, die unermeßliche Heimat, die schlummmernde Erde um sich zu wissen, rein und keusch wie ein aufgebahrtes Nönnchen von der ewigen Anbetung! Er umfaßte die Niederung von Emmerich bis zu den Türmen des Sankt-Viktor-Domes in Xanten. Dazwischen Flecken und Dörfer, eingefrorene Altwasser, den köstlichen Frieden von niederen Katstellen mit den feinen Rauchspiralen über den Dächern. Alles und jedes prickelte ihm zu, mit dem unendlichzarten und bekömmlichen Prickeln von Sekt- und Selterwasserbläschen. Jetzt erst kam er in den richtigen Genuß des ihm Gewordenen.

Er breitete die Arme.

Er jauchzte sich frei von dem Übermaße der über ihn gefallenen Besitztitel, Anwartschaften und Verheißungen. Vor 'ner knappen Stunde noch ein Kommis und Magazinier mit zweitausend Mark Salär nebst üblichen Zutaten, um sich jetzt bereits Kompagnon nennen zu können, Kompagnon vom Beerdigungsinstitut ›Pietas‹, in Firma Joris Jansen und Severin Baumann . . . und das übrige noch, Fränzchen Jobelius noch, Fränzchen mit dem blonden Bubikopf, dem anschmiegenden Wesen, dem neckischen Angleichen mit den schwellenden Atemzügen und den sonstigen extraordinären Wohlhabenheiten! Nein, dieses Fränzchen, dieses Mamsellchen mit der netten, zutunlichen Art, ohne sich dabei auch nur das geringste Körnchen aus ihrem jungfräulichen Futterkörbchen picken zu lassen.

Das imponierte . . . und hätte Severin in diesem Augenblick zwischen schroffen Alpenwänden und blühenden Alpenrosen gestanden, zweifelsohne, er hätte wie 'n Tazzelwurm oder 'n fettes Murmeltierchen scharf durch die weite Öde gepfiffen. Da es ihm aber an schroffen Alpenwänden und blühenden Alpenrosen mangelte, ließ er Tazzelwurm und Murmeltier sein und begnügte sich mit dem einzigwahren christlichen Jubelruf: »Christus, mein Heiland!«

Noch immer taumelselig, verließ er den Schloßberg, eilte durch vereinsamte Gassen, dann scharf um die Ecke zum Tore hinaus, bis er sich auf der breiten Chaussee befand, die über Warbeyen nach Emmerich führte.

Auch hier alles weiß, wie mit Kandis überzuckert. Die ganze Landschaft ein allerliebstes Schneewittchen: die Nähe weiß, die Fernen weiß, die Ebereschenbäumchen, die die Straße begleiteten, mit lichtem Engelshaar durchglitzert.

»Wie schön!« sagte Baumann, »schöner als 'ne Fensterauslage um Weihnachten. Aber nur vorwärts! Immer mehr bekömmliche Luft um die Naslöcher! Das bringt einem wieder 'nen regulären Kopf unter die Mütze.«

Er rollte aufs neue den silbrigen Weg auf.

Irgendwo hörte er einen verwunschenen Schlitten dahingleiten. Ein Glöckchen ertönte. Erst näher, dann immer ferner und ferner. Ein weltfernes Klingeln und Wispern! Es war so, als führe eine abgeschiedene Seele seinem weißen Frieden und den ewigen Tischen entgegen.

Der einsame Pilger wurde nachdenklich.

»Ja, so geht das im menschlichen Leben!« sagte er kleinlaut. »Heute Teilhaber, 'nen notariellen Aktus in Händen, 'n molliges Kind an der Weste, und morgen bereits . . .«

Er wurde unterbrochen.

Aus einem bestandenen Seitenweg schleifte ein schon bejahrter Mann auf die Straße.

Es war Joë Mendel, der mosaische Händler aus der Nachbarschaft, der mit seinem schweren Wachstuchpacken die Gegend absuchte, um noch vor Abend allerlei Zeug, wie bedruckte Taschentücher, Garnrollen, Nähnadeldöschen und sonstige Kinkerlitzchen unter die Leute zu bringen.

Joë erstarrte.

»Gott meiner Väter! wohl auch auf die Walze, Herr Baumann? Vielleicht 'ne neue Bewährung un so?«

»Nee Joë, ich will mir bloß so 'n bißchen die Füße vertreten.«

»Gott, wer das könnte! Mir die Füße spazierenderweise zu vertreten, hab' ich niemals gekonnt. Bloß als die kaiserlichen Zeiten mit ihrem Profit noch waren – ja, da! Aber heutigen Tages . . .« und über Joë's gütiges, mit Sommersprossen austapeziertes Nazarenergesicht, lief ein wehes Lächeln, dem vereinzelte Trauerflörchen beigegeben waren. »Nein, Herr Baumann, ich kann mir nicht die Füße vertreten, denn wo jetzt die Herren Volksvertreter sich allzeit in die Wolle liegen, bloß um die Diäten zu verzehren un die Landsmannschaften uns immer tiefer in die Pleite hineinreden, sind meine Geschäfte mieser als die meiner Väter geworden, da sie bei die ägyptischen Herrschaften bei's Pyramidenaufsetzen bloß Zwiebelschnittchen un Knoblauch einnehmen durften. Da haben Sie's besser, Herr Baumann. Aber seien Sie weise. Machen Sie sich das Füßevertreten durch 'n kleines Pläsiervergnügen noch größer . . .«

»Joë, wieso denn?«

»Gehen Sie zu Herrn Dores van Laak hin. Er domiziliert hier ganz in die Nähe. Bewundern Sie seine kaptale Sau vor die Haustür. Es macht ihm Freude, Herr Baumann. Noch gestern invitierte er mich. Für Lena, seine erste Melkmamsell, erstand er sechs Hemden mit brüstlichen Einsätzen, dazu 'n halbdutzend Strümpfe von die nobelste Wolle, wie sie angefertigt werden von die indianischen Heidenvölker. Da sah ich das Ferkel. Ich meine die abgeschlachtete Dame. Nein, diese Kapazität von 'ner eigenhändigen Züchtung! Diese Bonität un Delikatesse von oben bis unten! Mir lief das Wasser zwischen die Zähne zusammen. Ich wässerte. Das sah Herr von Laak. Joë, wie wär's denn . . .? fragte er lieblich. Nu, ich hab' sein Angebot nicht wie'n Stück treferes Fleisch über die Schulter geworfen, hab' zwei frische Saudischen verzehrt und bin dann weitergegangen mits Wachstuchpäckchen und die delikate schweinerne Bekömmnis. Ich habe die Ehre, Herr Baumann.«

»Joë, gute Geschäfte!«

»Merci!« und Joë Mendel trieb weiter, über die breite Chaussee fort, in die weiße Gegend hinein, um seine Schnürsenkel, Taschentücher, Nadelbüchsen und ›brüstlichen‹ Einsätze Jan und Allemann vor Augen zu führen.

Der Herr Kommis schwenkte zur Rechten.

»Auf nach Dores van Laak!« Und nicht lange mehr, da sah er sich bereits im Bann und Frieden des Gutshofes, dem man schon von weitem anmerkte: hier wurden Nägel mit Köpp gemacht und bloß Metzen mit schierem Hafer in die Futterkrippen geschüttet.

Dores, der den Einmarsch des Ankömmlings bereits von seinem Wohnzimmer aus beobachtet hatte, trat ihm fidel im Hausflur entgegen.

Er streckte die Hand aus.

»Rare Gäste, willkommene Gäste! Wohl so 'ne kleine Schweinevisite, Herr Baumann?«

»Offen gestanden: jawohl, Herr van Laak. Man möchte doch gerne . . .«

»Kann's verstehn. Alles ist verrückt auf das Ferkel.«

Er lachte, zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die zunächstgelegene Türe und lachte zum andern, aber breiter und schmalziger: »Da sitzt schon 'n guter Bekannter von Ihnen, Herr Baumann. Machte auch den Schweinevisitler, aber leider 'nen Posttag zu spät . . .«

»Oh . . .

»Leider, Herr Baumann, denn Amalie ist alle, hat sich verflüchtigt, sich in ihre Teile zerlegt, befindet sich im Pökelfaß, in der Räucherkammer, wurde verwurstet, aber mit äußerster Schonung, mit Respektierlichkeit gegen 'ne präliminierte Yorkshire Sau, die so was reichlich verdiente.«

»Herr van Laak, dann kann ich wohl gehen?«

»Gehen? Wieder so einfach retour? Ohne Naß und Trocken genossen zu haben? Da drehte sich ja das Gesicht vom van Laakschen Hof direktemang in den Nacken. Nee, mein Lieber, das gibt's nicht. Auch ohne Leiter und in ihre Teile zerlegt, kann Amalie noch aufwarten. Es ist schon in Bestellung gegeben. Gekochtes und Gebratenes mit 'nem Kranz von geschmorten Rabauen ums Ganze. Auch 'ne Ruhrperle fehlt nicht. Also bitte, Herr Baumann! Abgelegt und immer 'rin in die Falle:

Um zwei Uhr soll der Branntewein
Zu frischer Wurst nicht schädlich sein.«

Dores warf energisch die Tür auf.

Der Invitierte konnte nicht anders – er mußte das Zimmer beehren.

Er tat es mit 'nem gewissen Respekt, denn die van Laaksche Aufmachung mit Klubsesseln, lackierten Tapeten, Plüschmöbeln, Schränken mit prima Büchern und so, war bei den übrigen Grundbesitzern noch nicht Mode geworden. Ein gespreiteter Eßtisch, auf dem etliche Teller im Verein mit Ruhrperle- und Geneverbouteillen standen, deutete auf eine reichliche Atzung.

»Höhö!« lachte Ferkulum und trat dem Kommis seines Freundes und Gönners großartig entgegen. »Ob ich's nicht ahnte! Die Herren von der Fakultät ›Pietas‹ wissen den Momentus zu erfassen. Wo 'n Schornstein raucht . . . na und so weiter.«

»I wo!« wies ihn Baumann energisch in die Schranken zurück. »Ich wollte mir bloß das Unikum von Ferkel besehen.«

»Kann jeder behaupten . . . aber auch möglich, Ihr seid Eurem Prinzipal so 'n bißchen aus der schlechten Laune gegangen.«

»Warum denn?«

»Das sieht doch 'n Blinder. Joris ist seit den letzten Tagen und Wochen ungenießbar geworden. Er nöselt so vor sich herum, befaßt sich mit Stunk und Redensarten, selbst mir gegenüber, denn als ich ihn um die gewöhnliche Anisette ersuchte, sagte er so von oben herab und so langnäsig hin, er besäße mein Lebenslaxier nicht mehr auf Vorrat. Das ist doch äußerst, Herr Baumann!«

»Gewiß, aber das hat sich geändert.«

»Geändert? Seit wann denn geändert?«

»Seit heute. Vor zwei Stunden vielleicht, können auch mehr sein. Da war der Herr Chef wie 'n großer Spendierer. Groß sage ich Ihnen.«

»Das sollte mich wundern.«

»Ist aber so.«

»Wieso denn?«

»Das werden Sie am ersten Januar hören.«

»Nicht früher?«

»Nee, nicht um 'ne Bouteille Schampagner. Aber Hand aufs Herz: ich hab' die große Nummer gezogen.«

Mynheer Ferkulum funkte ihn an. Er dachte nicht dran, sich unter den knorzigen Stumpen placieren zu lassen.

»Ich dito desgleichen!« konstatierte Aloys, schlug sich mit der Hand auf die Brust und sagte mit erhobener Stimme: »Hier sitzt das, nämlich die Rolle. Bin fix und fertig damit. Gestern war Leseprobe. Pompös! meinte Hochwürden. Besonders der Schlußsatz. Herr van Laak hat schon so 'ne kleine Vorkost empfangen, und wenn die Leber- und Grützwürste noch Zeit haben . . .

»Noch fünf bis sechs Minuten«, lachte der Gutsherr.

»Genügt mir! Dann möchte ich dartun . . .«

»Wir hören.«

»Gut so!«

Der langriemige Mensch nahm Haltung an . . . trat hinter einen Stuhl . . . umgriff dessen Rückenlehne . . .. bohrte die Augen tief in die Dielen . . . ließ sie gleich darauf an unsichtbaren Fäden emporklettern . . . gebot ihnen Halt, um sie bleifarbig ins Leere zu schicken.

»Meine Herren! Letzter Monolog des Landpflegers aus dem Passions- und Mirakelspiel Heinrich Verschürens, zeitigen Kaplans aus Warbeyen im Herzogtum Kleve.«

Seine Sprache umdüsterte sich: »Hofraum des römischen Pflegers. Rechts Estrade mit dem göttlichen Dulder. Viel Volk, Pharisäer und Priester, Soldaten, Statisten, ein krähender Hahn. Links der Thronsitz des Pontius Pilatus. Er selber mit Wage und geschältem Weidenstab . . . und Pilatus bin ich. Na denn:

Was muß ich sehn, was Fürchterliches hören?!
Jerusalem löst sich aus Rand und Band.
Es geht ein Schrei von Dan bis Berseba,
Die Wüste weint und ihre Steine bluten.
Seht ihr denn nicht und hört noch immer nicht?!
Der Jordan selbst schreckt in sich selbst zurück,
Er fließt zu Berg, anstatt zu Tal zu strömen
Und seine Weiden flüstern Trauerpsalmen.
Ha, seht doch, seht! Die Ferne schleiert ein,
Das weite Land hüllt sich in Trauerkleider,
Das Tote Meer ist toter denn zuvor.
So sperrt Natur sich wider böses Tun.
Gebt Jesum frei, den Mann von Nazareth,
Nicht Fehl noch Sünde finde ich an ihm.
Sein Herz ist lauter wie der helle Tag!
Gebt Jesum frei, laßt ihn des Weges ziehn.
Ich biete gern den Barrabas dagegen.
Ihr wollt nicht?! Nein! Ihr speit nur Blut und Wut,
Ihr Pharisäer und ihr Priester – ihr!
Und ihr bedenkt nicht: Blut bleibt immer Blut,
Kehrt nicht zurück, wenn einmal es dahin,
Und klagt euch an, wenn schuldlos es vergossen.
Ihr Juden, ihr, so hart wie Kieselstein,
Ich seh's euch an, ihr wollt das Opfer haben.
Blut wollt ihr sehn und Kreuz und Golgatha!
Nach dem Gesetz – ich kann's euch nicht verwehren.
So nehmt ihn denn, der Gottes Sohn sich nennt.
Schlagt ihn ans Kreuz, laßt seine Wunden fließen.
Ich, aber ich – ich will: Bringt Wasser mir.
Die Schale her mit lauterm Brunnenquell,
Auf daß in Unschuld ich die Hände wasche.
Ich bin nicht schuld am Tode des Gerechten.
Jedoch sein Blut, es komme über euch
Und eure Kinder . . . und von Golgatha
Wird's bald ertönen mit Posaunenstößen:
Verflucht seid ihr für jetzt und alle Zeiten.
    Aus!«

»Bravo!«

Baumann erstaunte: »Grandios!«

Auch der Hausherr gab zu: »Allerhand Achtung! Prächtig gesetzt und ebenso prächtig wiedergegeben. Im großen und ganzen 'ne würdige Leistung.«

»Ich!« sagte Ferkulum und ließ sich an Tisch und Tafeltuch nieder.

Er atmete schwer, denn er hatte ganz im Banne seiner Rolle gestanden. Aber jetzt . . . er warf den Kopf über die Schulter und beobachtete, wie die Tür sich feierlich in ihren Angeln bewegte.

Lena erschien, frisch und weiß wie 'ne zutunliche Dorkinghenne, und brachte eine Porzellanassiette zu, so geberisch mit Amaliens würstlichem Nachlaß überkrustet, der selbst 'nem reichen Prasser 'ne Art von Bewunderung abgenötigt hätte.

»As't üh belieft, Mynheers, und 'nen bekömmlichen Zugriff!«

»Merci, mein Hühnchen.«

Herr van Laak entließ sie in Gnaden.

»Herr Baumann, ich bitte. Genötigt wird nicht. Jedereins sorgt auf dem van Laakschen Hof für sich selber.«

»Zuviel der Güte«, lächelte der erste Kommis und faltete die Serviette breit auseinander.

Ferkulum, der bisher mit Kopf und Kragen in den Mysterien gestanden hatte, marschierte jetzt mit voller Montur wieder in das alltägliche Leben zurück, machte den Mundschenk, erhob die gläserne Wanze, wie er das Schnapsgläschen nannte, prostete den Gastgeber an und sagte: »Auf Ihr Spezielles, Mynheer. Nous avons, vous avez . . . und nu is se weck! Ich meine die Ruhrperle . . . und jetzt heran mit die Würste und die übrigen Zutaten!«

Amaliens Nachlaß fand begeisterten Zuspruch. Grütz-, Leber- und Blutwürste schwanden dahin wie Schnee vor der Märzensonne.

»Deliziös!« konstatierte Ferkulum. »Wenn ich Sie wäre, Herr van Laak, ich würde Amalie ein Postamentchen errichten. Möge sie in ihren Kindern und Kindeskindern noch lange bestehen, um in ihnen so delikate Würste weiter zu züchten. Drauf trinken wir einen . . .«

Viertelstündchen um Viertelstündchen zerfaserte.

Zigarren und Kaffee wurden anpräsentiert, und wieder trappelte ein Viertelstündchen hinter dem anderen her.

Die bläulichen Schatten da draußen machten schon Kankerbeine und lange Gesichter.

Herr Baumann sah nach der Uhr.

»Himmel und Herrgott! nu aber hopp hopp. Mein Prinzipal wartet auf mich.«

Er stellte sich straff und strack auf sein Untergestell: »Herr van Laak ich muß mich gehorsamst empfehlen, aber ich hoffe zu Gott, mich bald nach Neujahr revanchieren zu können.«

»Halte mich gleichfalls empfohlen!« rief ihm Aloys zu.

»Herzlich willkommen. Gehen Sie mit?«

»Nee, noch zu früh. Ich muß Amalie und Herrn van Laak noch die Ehre erweisen.«

»Na denn«, sagte Baumann und war bald auf dem Heimweg.

Der Wind hatte sich aufgetan. Ein feiner Puderschnee pfiff ihm scharf um die Schläfen. Aber sein Herz pupperte, war so freudig gestimmt, wie nur ein Menschenherz am Sinter-Klaas-Abend sein konnte. Nein, diese Erwartung!

»Sinter Klaas, Sinter Klaas . . .

Die Wintersonne hing bereits wie eine blutrünstige Schusterkugel tief in der Niederung. Die Weiten nahmen eine violblaue Färbung an. Langsamen Fluges schwaderten etliche Krähenvögel dem dunstigen Westen entgegen.

»Sinter Klaas, Sinter Klaas . . .

Als der Beseligte in die Kavarinerstraße einbog, gewahrte er Fipps, der mit einem großen Hutkarton auf dem Rücken, in die Dämmerung hineinsegelte.

Einzelne Schaufenster in der Nachbarschaft hatten bereits Licht aufgemacht. Die seines Chefs hielten noch die Augen verschlossen.

Gleich darauf betrat Baumann den Hausflur, legte dort ab, um auf Zehenspitzen durch ein Nebentürchen in den Laden zu schleichen, woselbst Mamsell Jobelius sich hinter der Theke noch damit beschäftigte, Flörchen und Trauerschleier sachlich in diverse Schachteln zu verstauen.

Da stand sie nun ahnungslos in ihrer ganzen Reinheit und Unschuld, mutterseelenallein und nur von einer mageren Dämmerhelle umgeben.

»Jetzt oder nie«, sagte Herr Baumann.

Ein Ritter ohne Furcht und Tadel, trat er hinter die appetitliche Jungfer, umgriff sie und brückte ihr ein heimliches Küßchen auf das knusperige Näckchen.

Da wandte sie sich.

»Über Sie aber auch! Herr Baumann, wie können Sie nur, wo Sie bis jetzt nicht die Kurasch aufbringen konnten . . .«

»Jetzt bring' ich sie auf«, rief er glücklich, zog sie in eine verschwiegene Ecke, wo er ein kommodes Stühlchen erwischte, kurzen Prozeß machte und Fränzchen auf seine straffen Knie placierte.

»Aber Herr Baumann . . .

Er hielt ihr den Mund zu: »Bloß Ruhe! Die Sache ist richtig.

»Was ist richtig, Herr Baumann?«

»Das mit der Firma. Am ersten Januar heißt das: Joris Jansen und Severin Baumann.«

»Um Gott nicht!«

»Jawoll – ja! und drei Wochen später können wir unsere Plüschpantoffeln unter ein und dieselbe Bettstelle setzen.«

Er packte sie fester: »Mein Sinter-Klaas-Präsent, Fränzchen!«

»Ach – du . . .

Sie drängte sich an ihn.

»Darf ich jetzt, Liebste?«

»Warum nicht? Bediene dich nur.«

Das tat auch Herr Baumann und nahm sie so mundgerecht, daß seine Küsse auf ihren festen Lippen wie pralle überreife Weinbeeren platzten.

»Ach – du . . .

Das Ladenlokal in der Kavarinerstraße, dito die Stadt, dito das totale Herzogtum Kleve hatte schon vieles gesehen, aber so 'ne liebliche und deliziöse Affäre noch niemals, denn Herr Severin Baumann und Fränzchen Jobelius verstanden es schon, preislich zu küssen.

 


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