Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

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Dreizehntes Kapitel

An den weiten Heiden der Böninghardt, über Heiligenbaum fort bis zum Monreberg zu war in der Woche vor Pfingsten ein regsames Treiben und Wogen. In allen Vorgehölzen und jungen Beständen knackte und krachte es, taten blanke Äxte ihre unheimliche Arbeit, rüttelten und schüttelten lichtgrüne Bäumchen ihre schwanken Kronen, um dann mit einem tiefen Seufzen sich auf die Seite und den samtweichen Waldboden zu legen. Meistens waren es schlankwüchsige, leichtschüssige Birkenstämmchen, die in silbernen Kleiderchen und herzförmigen Glöckchen Schneisen und Gestelle durchlichtert hatten, um jetzt auf Leiterwagen verfrachtet zu werden und an den Wegen als Ehrenjungfern zu stehen, die von allen Ecken und Enden zum Gnadenort und zur Freilichtbühne hinführten . . . und jedesmal, wenn so eine silberne Birke ihr junges Leben dahingehen mußte, lärmten die Hähervögel, tat der Wald einen leisen und wehen Schrei, als würde ihm ein Lieblingskind vom Herzen gerissen. Es ging ihm schon hart an, seine auserkorenen Pfleglinge und Prinzeßchen lassen zu müssen.

Der Zimmermeister Imanuel Kerskes führte die Oberaufsicht. Mit Umsicht, Liebe und einer von der Passionsleitung gestifteten Winnenthaler Edelbouteille ging ihm alles wie geschmiert von den Händen. Er schaffte mit diversen Arbeiterkolonnen, die er sachlich angewiesen und eingeteilt hatte. Die einen suchten die schlankesten Stämmchen aus und schlugen sie nieder, die andern verfrachteten sie und brachten sie an die zuständigen Wegestrecken. Eine dritte pflanzte sie ein und hatte vornehmlich die Straße als Via triumphalis herzurichten, die von Heiligenbaum zur Hügellehne und der Freilichtbühne führte. Frau Anna Berendonk, die unermüdliche Paramentenpräsidentin, war ihm mit Luischen, den übrigen Damen und einem ganzen Troß von kräftigen Jungfern und Dirnen unterstellt, nur dazu da, Papierfähnchen zu schnipseln, Kränze und Guirlanden zu winden und alle Gänge zum Zuschauerraum und diesen selber mit einem Rausch von bunten Farben und lustigem Tannengrün zu umkleiden. Das brannte und feierte in den Kulören aller Länder und Völker, in grün und weiß, in brennendem Rot, in zarten Abstufungen des Regenbogens. Die Zeichen der römischen Kirche flatterten hoch im Wind, an allen Orten und Enden, auch die der Weimarer Verfassung . . . nur die alten glorreichen Farben, unter denen unsere Feldgrauen marschiert, gekämpft, gesiegt und Kopf und Stahlhelm in den Sand gebohrt hatten, die schwarzweißroten Farben des unbekannten toten Soldaten fehlten in dem bunten Gewirr und Geflatter und legten die Frage nahe: bist du in Deutschland oder unter einer internationalen Sonne, wo sie zur Abwechslung und zum Aufmuntern des zugeströmten Publikums die Nadowessische Totenklage anstimmen und sie mit einem Friedenspfeifchen zum großen Geist würdig beschließen . . .? Aber wer genauer zusah, das seltsame Rascheln der kanadischen Pappeln gewahrte, den feinen Duft von brennenden Wachskerzen um sich spürte, der wußte: du bist auf gesegneter niederrheinischer Erde, im Lande der Wunder und Wunderlichkeiten, wo sie just dabei sind, die Leidensgeschichte des Herrn auf die Freilichtbühne zu bringen.

Und heute war der Samstag vor Pfingsten. Mit ihm verknüpfte man die Generalprobe. Sie wurde von Heinrich Verschüren spielend erledigt. Unmerklich führte er Regie.

Gegen vier Uhr erklomm die Darstellung mit dem Auftritt der Maria von Magdala ihren Höhepunkt, als diese zwischen dem Tor von Genath und der Schädelstätte umherirrte und zwischen Gestein und Ölbaumknüppeln zusammenbrach . . . um gleich darauf als das schöne, stolze, berückende Weib in die Höhe zu fahren:

»Wo bin ich? Meine Füße schmerzen. Himmel!
Wohin ich sehe: überall ist Blut,
Der Ölberg dunstet fürchterlich herauf
Und selbst der Berg des Ärgernisses blutet . . .
Johannes, hilf mir . . .! Laß mich nicht allein . . .!
Johannes . . .

Alle Herzen flogen ihr zu. Das war Henriette Jansen, wie sie die Menschen wollten, wie sie die Menschen suchten, wie sie die Menschen liebten, das niederrheinische Weib, nur feingliedriger als dieses, aber das niederrheinische Weib mit dem straffen Gliederbau, wie es die Männer ersehnten, wenn es bei scharfem Wind über die Dämme schritt, oder die Träume seiner Verehrer in warmen Sommernächten durchpilgerte. Henriette Jansen in ihrem Magdalenenkleid, mit ihrem Partner, dem jungen Stephan tom Heuvel, feierte Triumphe, wurde schon jetzt mit Beifall und Blumen überschüttet, die sie frühestens am ersten Spieltag einheimsen sollte. Erst bei ihrem Abgehen zum Kalvarienberg legte sich das Brausen und Stürmen wie vor einem fernen Gewitter.

Bald darauf wurde auch die letzte Szene zu Ende gespielt und Henriette von der Frau Paramentenpräsidentin und ihren Damen in die An- und Auskleidekammer geführt, wobei viele ihr das Geleit gaben, alle von dem Wunsche beseelt, einen Blick oder einen liebevollen Gruß von ihr mit nach Hause zu nehmen.

Über Freilichtbühne und Umwelt senkten sich bereits längliche Schatten. Die einfallenden Lichter nahmen einen abendlichen Ton an.

Endlich hatte auch Heinrich Verschüren Ruhe und Pause gefunden. Er saß in seinem Regiezimmer bei einer Holländerzigarre, um noch etliche Tagesfragen und eingegangene Briefe zu erledigen, als bei ihm unvermittelt angeklopft wurde.

Es war ihm nicht recht. Er fühlte sich ausgepreßt wie eine Zitrone, denn er hatte alles hergegeben, was die vielstündige Leitung von ihm angefordert hatte. Viel mehr konnte er auch nicht mehr aufstellen.

Heftig schlug er die Beine übereinander.

»Herein!« rief er unwirsch.

Stephan tom Heuvel gab sich die Ehre, noch im blauen Gewand und im sandfarbigen Umwurf des Lieblingsjüngers.

»Nanu, mein Lieber, Sie sollten doch wissen . . .«

»Sie sehen, Herr Kaplan, die Sache hat Eile, sonst wäre ich nicht als tönender Rhapsode in die Türe gefallen. Einer steht draußen und wünscht Sie dringend zu sprechen.«

»Kann warten bis morgen.«

»Der sieht nicht aus, als wenn er gesonnen wäre, bis morgen zu warten.«

»Was, mir gegenüber?«

Der Kaplan machte eine unwillige Geste.

»Das wollen wir sehen.«

»Hochwürden, er sagte fest und bestimmt, daß er keine Ausflüchte wünsche, und ich glaube, der Mann weiß, was er will.«

»Wir befinden uns hier auf Privateigentum, auf eingetragenem Kirchenbesitz, und wenn ich nicht irre, ist der Paragraph von Hausfriedensbruch noch nicht aus dem Gesetzbuch gestrichen.«

»Wenn auch! Trotzdem, er läßt sich nicht abweisen.«

»Wer ist's denn, wenn Sie ihn kennen?«

»Heribert Kästner«, sagte er ruhig.

»Was – der . . .?!«

Heinrich Verschüren fuhr steil in die Höhe, wie ein Apostel, der zu seiner rebellischen Gemeinde zu sprechen gedachte.

»Der Mann kommt zu spät«, sagte er hastig, »jedenfalls zu spät, um meine Entschlüsse noch ändern zu können. Will er dennoch erscheinen – gut, er mag kommen.«

Da ging der junge Lehrer von Appeldorn hinaus ins Freie, um nicht wiederzukommen. Statt seiner war Kästner ins Zimmer getreten. Hut und Stock hatte er draußen gelassen.

Offen und frei schritt er seinem Partner entgegen, bis sie Stirn gegen Stirn und auf Reichweite standen.

»Ich störe doch nicht, Herr Kaplan?«

»Nein, Sie stören mich nicht. Mehr oder weniger ist mein Tagwerk getan und die Regie ist zu Ende.«

»Um so besser für Sie und die Leitung. Aber wäre die Regie auch noch nicht zu Ende gewesen, ich hätte Sie sprechen müssen, und zwar unter jeder Bedingung.«

Der Geistliche zuckte die Achseln.

»Sie belieben es, deutlich zu sprechen.«

»So hab' ich's allzeit gehalten.«

»Das ist mir noch vom Seminar in Kornelimünster bekannt, und ich weiß es zu schätzen. Nur muß ich Ihnen leider dartun, Ihr mir sonst so werter Besuch hat seinen Zweck verfehlt, weil er eben zu spät kommt.«

»Wie – zu spät . . .? Ich verstehe so recht nicht. Auch wüßte ich nicht, daß ich jemals zu spät gekommen wäre in dringlichen Angelegenheiten.«

»Es ist aber so.«

»Ich bitte mir aus, mein Wort nicht bezweifeln zu wollen.«

»Dann muß ich deutlicher werden und Ihr Gedächtnis zu schärfen versuchen.«

»Herr, was fällt Ihnen ein?«

»Was nottut, denn ich habe gewartet wie der durstende Acker auf Wasser, wie der Sterbende auf das Sterbesakrament. Gewartet, immer gewartet . . .«

»Gewartet – auf was denn?!« rief Kästner.

Seine Stimme stach, flackerte hoch.

»Auf das, was erforderlich war, um Sie wieder vor mir, vor Gott und den Menschen rechtlich und ehrlich zu machen – auf Reue und Buße. Gewartet unter Bitten und Flehen, unter bangen und harten Stunden . . . bis gestern gewartet . . . bis es ein Frevel gewesen wäre, die eigene Langmut und die des Herrn noch länger auf den spanischen Reiter zu strecken . . .« Und das Auge des Geistlichen wurde scharf und heiß und stieß ungezügelt in das seines Gegners: »Und heute – Sie kommen zu spät, Herr Heribert Kästner. Noch gestern abend wurde der Schriftsatz vollendet und befindet sich auf der richtigen Fährte . . .«

»Wohin . . .?!«

»Nach Düsseldorf zu. Die Regierung wurde verständigt.«

Ein qualvoller Schrei durchriß das Regiezimmer.

»Also doch . . .?! Ein Zuträger und Denunziant mehr zwischen Himmel und Erde!«

»Ich konnte nicht anders – nicht mehr meiner Person, nicht mehr der Welt gegenüber . . .«

Ein heiseres Lachen schlug ihm entgegen.

»Brav so – Sie Geweihter des Herrn, Sie Mann in der schwarzen Soutane! Das scheint in Deutschland Mode geworden. Aber wenn Sie des Glaubens sind, ich wäre hier an Ort und Stelle erschienen, um Ihretwillen den reumütigen Schacher zu spielen – Sie irren sich bitter. Ihr rückhältiges Schreiben, ich hänge es tiefer, um es aller Welt vor Augen zu führen.« Er lachte: »Ich, Heinrich Verschüren, Kaplan zu Warbeyen, ich tue hiermit einer hohen Regierung kund und zu wissen . . . Nein, nein, nein! Das tangiert mich nicht weiter. Ich kam nur, um mir aus Ihren Händen einen der besten Plätze der Freilichtbühne zu sichern . . .« und seine Stimme knatterte wie ein losgerissenes Segel im Sturm, willens, sich jeden Augenblick aus Rahen und Takelage schmeißen zu lassen. »Ja, einer der besten – denn ich will doch sehen, wie Henriette Jansen den Mut aufbringen kann, in meinem Beisein die Maria Magdalena zu spielen. Also, Herr Kaplan, ist ein solcher Platz noch zu haben?«

Heinrich Verschüren taumelte ein wenig, mußte sich halten.

»Ja«, sagte er mit einer jähen Bestürzung, »für Sie ist einer der besten Plätze der Freilichtbühne immer zu haben . . . und nun: ich denke – wir sind fertig, Herr Heribert Kästner.«

»Fertig?! Jawohl. Aber nur fertig hinsichtlich meines Ansuchens, Henriette Jansen, die mir einst nahegestanden im Leben, Maria von Magdala spielen zu sehen und ihren Mut mir gegenüber bewundern zu dürfen. Aber nicht fertig als Mann gegen Mann, Stirn gegen Stirn und Auge in Auge – nicht fertig Ihnen gegenüber, Herr Heinrich Verschüren.«

Er atmete tief, als er sagte: »Sie hieben mir erbarmungslos das Wort ›Zu spät‹ zwischen die Schläfen. Wenn ich nun das gleiche täte und ebenfalls das Wort ›Zu spät‹ in die Kampfzone führte – was würden Sie sagen, Herr Heinrich Verschüren?«

»Ich?! Wie meinen Sie das?«

»Sie Blindmoll! Sie tun ja, als wenn Sie nicht hörten und sähen. Könnte ich nicht Gleiches mit Gleichem vergelten? Und wenn ich es täte . . . wenn ich gleichfalls vorstellig würde . . . alles bereits bis auf den Kausalnexus festgelegt hätte . . . Herr, Sie, haben Sie noch immer vergessen 'nen brennenden Lichtstumpen in Ihre Laterne zu schieben? Wenn nicht – dann muß ich es besorgen: Das Kännlein ist übergelaufen, übergelaufen wie das Olkännlein der Witwe von Sarepta. Dieses aber war ein wundertätiges Krüglein, ein Krüglein der Spenden und Barmherzigkeiten. Ihres aber ist ein Gefäß der Qualen und Erniedrigungen, der Bitternisse und Tränen. Sie zerfleischten zwei Herzen, und all ihr Blutwasser, ihre Wunden und Schmerzen umgriff dieses Gefäß . . . und Sie ließen es träufen . . . immer nur träufen . . . träufen mit der Gier einer unerbittlichen Otter, die ihr Opfer nicht hergeben wollte . . . eine Schuld, die gen Himmel schreit und nicht ihresgleichen findet, weder hier, noch wo es auch sein mag.«

»Halten Sie ein!«

»Ich denke nicht dran und liebe es nicht, unterbrochene Opferfeste zu feiern. Hören sollen Sie, was Sie alles angestellt haben – Sie Menschenbeglücker, Sie Ormuzd und Ahriman in einer Person!«

»Schweigen Sie. Hier ist geweihte Stätte, Herr Kästner.«

»Die Sie entweihten – Sie Stellvertreter Gottes auf Erden. Nein, das Maß ist voll und des Träufens satt und genug. Ich spanne die Bank und halte Gericht ab. Sie drängten sich zwischen mich und mein großes Geheimnis. Sie ließen mich dürsten, wo ich nach einem Trunk kühlen Wassers verlangte. Ich wähnte die Äpfel aus den Gärten der Hesperiden zu ernten und hatte nur Sodomsäpfel zwischen den Fingern. Unmerklich, aber immer tiefer und nachhaltiger fiel Ihr Schatten über mich her, umnebelte mich, fröstelte mich ein. Und dieser Schatten ist auch zwischen mich und Henriette getreten . . . und Sie rührten sich nicht um Fingersbreite, diesen Schatten von uns zu nehmen. Ja, ich halte Gericht ab. Sie brachten das Weib in Not und Anfechtungen, rückten es scharf an den Abgrund, und wenn ich auch annehmen will: ihr ist noch nichts Schädigendes an der Blüte ihrer Seele geschehen – so liegt trotzdem Gefahr vor, die Reinheit des Weibes in der Reinheit des Weibes ersticken zu lassen.«

»Herr – Sie . . .

»Ja – Sie, ihr das Ehrenkränzlein eines Weibes nicht besser zu machen.«

»Auch das noch . . .!« Und die Gestalt des Kaplans reckte sich auf wie ein Ungewisses in aufsteigender Dämmerung.

Beide Arme wuchtete er schwer in die Höhe . . . hielt sie zwischen Dielen und Decke . . . ließ sie dort anwachsen, als hätten sie Übermenschliches in Form eines schmiedeeisernen Heiltums zu halten . . . und trat mit diesem gewaltigen Heiltum seinem Widersacher drohend entgegen, um die vernichtende Formel zu sprechen und ihn durch das ›Anathema esto‹ vom Leibe der Kirche zu trennen.

»Verflucht sei, wer gegen mich auftritt. Nicht Sie, sondern ich habe zu richten . . . und somit: ich fordere Sie auf, mit mir vor das allsehende Auge Gottes zu treten . . .«

»Fordern Sie nur. Ihnen wird das richtige Urteil schon werden. Der Herr tritt wider Sie auf . . . auch für die, die mein Eigentum, mein ureigener Besitz war . . . und trotzdem brachten Sie noch den traurigen Mut auf, mich bei der republikanischen Regierung diffamieren zu wollen. Ich soll ins Unglück, ins Elend hinein, vor der gesamten Umwelt als Freiwild betrachtet werden. Gut, was Sie anstellten. Ich nahm Kenntnis davon. Dem wurde auch meinerseits Rechnung getragen. Hier dieses . . .« Und mit rascher Hand entnahm er seiner Seitentasche ein versiegeltes Schriftstück. »Auch ich habe die letzten Wochen und Monde um Ihretwillen auf Tag- und Nachtwacht gestanden, jede Ronde verzeichnet, nichts verabsäumt, noch in den Wind geschlagen, auf daß auch Sie bei Ihrer hohen Behörde recht bald die Vigilie Ihres hohen Festtages einholen können. Hier dieses . . . noch heut' geht es ab, bestimmt, an die geheime Pforte des Generalvikariates in Münster zu klopfen.«

Die erhobenen Arme des Kaplans sackten bleiern zu Boden.

»Um gegen mich Klage und Spruch zu erheben?!«

Noch einmal versuchte der Priester Form und Fassung an sich zu reißen, seine Blicke fest und entschlossen auf seinen Gegner zu richten. Aber in diesen Blicken standen schon Lichter, die bereits abirrten oder zu erlöschen drohten.

»Klage und Spruch zu erheben . . .?!«

»Ja – gegen Sie.«

»Und mein Vergehen . . .?« rief es wie aus einem diesigen Wetter.

»Fragen Sie an bei Ihren strumpfigen Gängen, wenn sie auch nur die Seele berührten. Fragen Sie an bei dem Weibe, das Sie sich willig und tributpflichtig machten, das sich von mir wandte, als wäre ich mit dem Aussatz behaftet. Oder glauben Sie, meine Augen hätte eine unbedachtsame Schwalbe verschandelt, ich hätte auf den Ohren gesessen?! Und da fragen Sie noch: worin besteht mein Vergehen? Satt und genug! Nicht weiter davon. Hier dieser Schriftsatz genügt völlig, Ihr vorgesetztes Bischöfliches Ordinariat bis auf den letzten Tiftel wissend zu machen. Warten Sie ab. In wenigen Tagen wird Ihnen in Münster die Vigilie gesungen, wird bald darauf die große Missa solemnis über Sie kommen. Wie Sie dabei abschneiden, ist Sache Ihrer hohen Behörde. Entweder Ihnen klingt ein ›Te absolve‹ entgegen, oder Ihre Sinne verstören sich, wenn Sie hören: Ecce enim in inquietatibus conceptus sum, et in pecatis concepit me mater mea. Denn siehe: in Ungerechtigkeiten bin ich gezeuget und in Sünden hat mich meine Mutter empfangen. In ersterem Falle steht Ihnen das ›Jo triumphe‹ zu, in letzterem bin ich Sieger geblieben. Also warten Sie ab . . . und ich ersuche Sie nochmals um eine geeignete Karte, die mir verstattet, Henriette Jansen aus nächster Nähe als Maria Magdalena zu sehen! Das will ich wenigstens von Henriette noch haben, wo ich um ihretwillen so vieles habe hingeben müssen. Leben Sie wohl . . .«

Er kehrte sich dem Ausgange des Regiezimmers zu, wandte sich aber, als ein kurzer Schrei ihn jählings zurückhielt.

Er sah Heinrich Verschüren . . .

Der Kaplan stand rücklings am Pult, die Hände gefaltet, die Augen haltlos ins Leere gestoßen, als stünde er am Grab des unbekannten Soldaten, um sein eigenes Leid, seine grimmige Not zu verkörpern und Reu' und Leid zu erwecken.

Sein Gesicht ähnelte dem eines Toten.

»Heribert . . . nicht um meinetwillen . . . also du – das Schriftstück, es soll an meine vorgesetzte Behörde . . .?! Tu' mit mir nur, was du willst, liefere mich aus, stelle mich dem Gericht, übergib mich dem Urteil – nur um der Barmherzigkeit willen, lasse das Weib still ihres Weges dahingeh'n, als wäre dieser Brief gar nicht geschrieben . . .«

Sein Kopf sank tiefer, seine Worte krochen am Boden: »Ich will nicht, daß ihr Leid über mich komme . . .«

Seine Kräfte erlahmten.

»Ich will nicht, daß sie verkannt werde, denn sie würde Richtern gegenüberstehen, die ihre seelischen Empfindungen als Mondsteine ansprechen würden. Ich will den Gottesfrieden für sie, denn sie verdient den Gottesfrieden in reichlichstem Maße.

Er drohte niederzubrechen.

Heribert Kästner suchte ihn aufrecht zu halten.

Es gelang ihm mit Mühe.

»Ich will nicht, daß nur ein Hauch von Schuld über sie komme, denn war Schuld da, so bin ich allein schuldig gewesen. Ich will nicht . . .« Seine Worte waren kaum noch zu hören. Noch einmal flackerten sie auf: »Heribert, dein Wille geschehe. Prangere mich an. Um meinetwillen schicke deinen Sendboten aus, bringe mich vor Schrein und Kruzifix – nur sie nicht. Denke daran: du sollst nicht richten und anklagen, nicht verdammen und verwerfen, bevor du nicht weißt: auch ich bin berufen zu verdammen, zu richten, denn ich bin in der Fülle meiner tiefsten Erkenntnis. So!« Wieder legte er die Hände gottergeben zusammen, »und jetzt – gehe hin und wende dich an meine vorgesetzte Behörde.«

»Nein!« rief dieser bis ins tiefste erschüttert. »Jetzt – ich erkenne sie wieder: die Seele und die Stimme von einst und ehedem. Nein, Heinrich Verschüren, jetzt nicht mehr. Ich kann nicht und will nicht. Um ihretwillen nicht, um des geweihten Kleides nicht. Mein Schriftsatz ist tot für die vorgesetzte Behörde. Sieh' her . . .!« Und er nahm das versiegelte Schreiben, zerriß es und warf die einzelnen Fetzen auf das grüne Tuch, des mit Büchern und Papieren bedeckten Tisches.

»Erledigt für mich. Wer bis ins Mark getroffen, sinnt nicht auf Rache. Lebt wohl.«

»Heribert, wenn du noch kannst, reich' mir die Hände.«

»Lass' mich. Ich komme wieder. Jetzt schreien die erregten Sinne nach Ruhe.«

»Dein Wille geschehe«, stammelte der Kaplan stumpf vor sich hin.

Als er das Haupt empornahm, hatte Heribert Kästner bereits das Zimmer verlassen.

Rüstig schritt dieser vom Flur aus über den Zuschauerraum. Die Freilichtbühne lag still und verlassen. Nur auf dem Wege nach Heiligenbaum zu wähnte er Henriette Jansen mit den heiligen Frauen schreiten zu sehen.

Am Eingang stieß er auf Aloys Ferkulum. Er hatte sich gerade von Kostüm und Schminke befreit und gedachte heimwärts zu pilgern.

»Das paßt ja, Herr Lehrer! Wir haben ja die nämliche Route. In 'ner kleinen halben Stunde macht das Personenauto nach Kleve.«

»Soll mir angenehm sein.«

»Sehr obligiert. Aber was mir besonders erfreulich erscheint: Sie haben wohl die Friedenspfeife geschmaucht und das Kriegsbeil begraben? Dann haben wir also auch die Freude, Sie am ersten Tage als Zuschauer begrüßen zu dürfen. O wie werde ich spielen!« Und Ferkulum fiel wieder über sein Komödiantentum her, wie 'ne Maus über 'ne fettriemige Speckseite in einer wohlbestellten Räucherkammer. »Um Ihretwillen, oh! ich werde den Pontius spielen wie einer der ersten Größen unter den Größen, ich werde ihn spielen – ja, um Ihretwillen werde ich ihn spielen«, und Aloys machte den glattrasierten Eierkopf lang und gespensterte mit seinen Perlmutteraugen bedeutsam durch den aufkommenden Abend, »wie der berühmte Heldenkomödiant den noch berühmteren Löwen aus dem gefeierten Stück des englischen Lords verkörperte, daß selbst die dämlichsten Zeitungsschreiber ihm Beifall klatschten mit dem tönenden Zuruf ›Gut gebrüllt, Löwe‹, ich werde ihn spielen . . .« Und nun gab er noch fünf bis sechs Spezialfälle an, wie er den Landpfleger aufzufassen und darzustellen gedächte, um Heribert Kästner durch seine Wiedergabe des Pontius eine ganz besondere Ovation zu erweisen. »Auch hatte ich vor«, sprach er des längeren weiter, »meine Rolle hoch zu Pferde abzumachen, wenigstens auf dem Vollbluthengst Memphis von Dores van Laak in die Gerichtshalle einzureiten, dort abzusteigen und Spruch und Gericht zu eröffnen. Aber der Kaplan lehnte ab, denn diese Leute wissen ja alles präziser als die übrigen Menschen. So ließ ich denn den Vollbluthengst schießen und werde den Pontius ohne Kandare und Pferdeschwanz spielen. E ja . . .!« Und damit hatten sie die Haltestelle erreicht, woselbst sie die Heimreise mit dem Personenauto, das jeden Augenblick von Hanten eintreffen mußte, die Heimfahrt antreten konnten.

Alsbald tutete denn auch der Wagen durch den wunderseligen Frühlingsabend, durch eine Fülle sterbenden Goldes und feierlich dahinschwindenden Lichtes.

Die Schwalben nahmen einen immer tieferen Flug an. Die Fernen einten sich. Himmel und Erde flossen zusammen, als spönnen sich überirdische mit irdischen Fäden zu einem einzigen Gewebe sacht auseinander.

Die letzten Stimmen des Tages versandeten. Nur nach dem Rhein zu ließen sich dann und wann die seltsamen Rufe der Wiesenrallen vernehmen. Aber auch diesen war Ziel und Ende gesetzt; denn der Herr schickte seinen Kardinal Camerlengo aus. Der rief über die Gegend: Der Tag ist zu Ende; betet und gedenkt des neuen in eurem Gebete, vornehmlich des morgigen, der da kommen wird im Geleit des Heiligen Geistes mit tausend und abertausend züngelnden Flämmchen.

Im Gnadenort erloschen die Lichter; auch die Fenster in den breithingelagerten Bauerngehöften und schmalen Katstellen schlossen die Augen.

Nur in der Gnadenkapelle brannte die ewige Lampe wie immer. Als der Küster noch einmal nachsah, um ihr für vierundzwanzig Stunden Speise und Nahrung zu verabfolgen, fand er Heinrich Verschüren vor dem Bildstock der Allerseligsten knien. Der bat ihn, sich um ihn nicht weiter zu kümmern, sondern ihn ruhig gewähren zu lassen. Er habe noch geraume Zeit mit seinem Heiland und Seligmacher zu sprechen. Er besitze den Schlüssel und würde schon fertig. Unter seiner Hut befinde sich die Kirche in bestem Gewahrsam.

Da geruhte der Küster zu schmunzeln und ging auf weichen Schuhen mit seinem Ölkännlein wieder der Sakristei zu, woselbst seine letzten Spuren verhallten.

Die heilige Pfingstnacht war eine Perlenkette von göttlichen Gnadenbeweisen und Barmherzigkeiten.

Als das junge Frühlicht den Hohen Chor versilberte, erhob sich Heinrich Verschüren.

Er tat einen tiefen Atemzug.

Etwas Befreiendes wohnte ihm inne.

Sein Fuß ging nicht mehr den irdischen Hügeln, sondern den ewigen Höhen, den colles aeterni, entgegen.

 


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