Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

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Drittes Kapitel

Eine bange und wenig geruhsame Nacht ging für Joris Jansen dahin, obgleich die Sterne lieblich heraufzogen und der Orion mit seinem lichten Schwertgehänge seine schönsten Glitzerfunken verstreute.

Das ewige Grübeln und Sinnieren machte den sonst so bedachtsamen Mann, diesen vorbildlichen Inhaber und Chef eines Beerdigungsinstitutes wirbelsinnig, warf ihn aus Licht, Luft und guter Gewohnheit und ließ ihm die durchwachten und durchquälten Stunden zu verlorenen werden.

Am Abend noch hatte er die Herren in einer gehobenen Stimmung verabschiedet, dann aber, als die Schatten des Tages dunkler und diesiger wurden, die beiden Ladenhälften sich schlossen, Fipps die letzte Schaufensterbirne abdrehte und das Personal mit Einschluß des Herrn Severin Baumann eine bekömmliche Schlafenszeit wünschte, hatte das alte Suchen und Aufstöbern sich wieder an ihn geworfen. Gewiß, mit dem heutigen Tage schien sich der flaue Betrieb etwas beleben zu wollen, zumal der Sterbefall in Warbeyen einen nicht unbedeutenden Gewinn abwarf, den Baumann mit rund 175 Taler zu buchen gedachte. Auch der geistliche Herr war ihm mit Liebe entgegengekommen, hatte die Tochter in seinen Augen erhöht und erhoben, ihm zugesagt, ihr bei den geplanten Passionsspielen das Kränzlein des Ruhmes um die Schläfen zu winden, sie als Maria von Magdala am Kreuze erschauern, die Wunden des Heilands mit heißen Lippen küssen zu lassen – um der Liebe und der Barmherzigkeit willen, zur Erbauung des Gnadenortes Heiligenbaum und der niederrheinischen Menschenkinder. Alles recht schön und gar nichts dagegen einzuwenden, denn letzten Endes konnte er getrost ein Plus auf sein geschäftliches und seelisches Konto vermerken – aber da war ihm plötzlich so 'ne dumme Geschichte zwischen die Finger geraten, die seinen inneren und äußeren Menschen aufs neue erschütterte: die ihm zugebrachte Novelle von Heribert Kästner.

Gierig griff er nach dem schmalen, zierlich gebundenen Werkchen.

Er las in seinem Schlafzimmer auf der ersten Etage.

Der eingekachelte Ofen brachte eine genügliche Wärme.

Neben ihm erhob sich eine Beige von Buchenscheiten. Zwischen ihnen schilpte unverdrossen ein Heimchen. Jedem andern Sterblichen wäre dieses Schilpen und Schaben lästig geworden.

Jansen ließ sich nicht stören.

Bald darauf stellten sich fünf bis sechs weitere Kollegen von derselben Fakultät ein, konzertierten mit und vollführten ein ohrbetäubendes Lärmen.

Jansen las weiter.

Die Bilder unter dem Himmelreich wechselten, drehten sich mit Glimmern und Glitzern um den geruhsamen Polstern, wanderten dem Niedergang zu oder waren im Aufstieg begriffen.

Jansen las mit Stielaugen und qualvollen Atemzügen das letzte Kapitel.

Jetzt war er fertig geworden.

Kein Tiftelchen fehlte.

»Himmel und Herrgott . . .

Er klappte das Buch zu, schob es verächtlich beiseite.

»Kreuzgewitter und kein seliges Ende! Der Kaplan befindet sich schon in seinem Recht. Er hat richtig gesehen. Meine Henriette ist mit Druckerschwärze behaftet . . . hat sich an den Bewußten geworfen . . . ist in Liebe verfallen . . . ohne mein Zutun, ohne mich zu bitten, das Jawort zu geben . . . ohne alles und jedes . . . Und da müssen der Kaplan und Ferkulum kommen . . . O Henriette . . .

Er erhob sich und warf die Anne zur Decke.

»O Henriette, wie konntest du nur . . .?! wo ich, dein eingeborener Vater . . . Ich wollte um deinetwillen höher hinaus, immer höher hinaus, und nu muß ich sehen . . .«

Sein Atem röchelte, sein Sinn wurde krötig, seine Stimme nahm einen häßlichen Ton an: »Oder du . . . bist du vielleicht das nackte Weib auf dem rosinfarbigen Tier mit 'nem goldenen Ring zwischen den Naslöchern . . .?! das Weib da, das strohblonde Weib, das entblößte, das die Schriftgelehrten als babylonische . . . ja, wie sagen sie doch . . .?!«

Er verschluckte das furchtbare Wort, holte stöhnend die Luft ein, taumelte vor, neben die Holzbeige, drückte seine Stirn gegen die Wand, um nicht niederzubrechen.

»Nein – du, das kann der Himmel nicht wollen!«

Er schluchzte. Heiße Tränen sickerten von der angeweinten Tapete herunter.

Dann wurde er stiller, entkleidete sich, zog die weiße Zipfelmütze über und legte sich bewegt zwischen die Kissen. Aber auch hier die Unrast, das Bitten und Betteln eines bedrängten Mannes, der sich in seinen eigenen Nöten und wirren Seltsamkeiten verzehrte: »Nein, dieser Undank! diese abwegige Kindesliebe! Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohlergehe und du noch lange lebest auf Erden. Aber gar nichts, reineweg gar nichts! Vater unser, der du bist in den Himmeln . . .«

Er drehte das Licht ab.

Der gestirnte Himmel sah lind in die Stube, verklärte alles mit seinem milden Leuchten.

Aber das Vaterunser ging weiter, gesellte sich dem Schaben und Schilpen der emsigen Musikanten zwischen den Buchenscheiten und wollte kein Ende finden.

»O meine Tochter . . .

Der Schlaf war eine rare Sache geworden, und erst als Luzifer in matten Nebelschleiern aufblenkerte, der erste Hahn in der Nachbarschaft krähte, die erste Henne, die ihm zupaß kam, betrat, diese sich plusterte, ihr Federkleid wieder straff um die Taille legte und tat, als wäre gar nichts geschehen, hatte der Ärmste ein dumpfes und tiefes Träumen gefunden. Aber auch Luzifer, der Morgenstern löste sich auf, zersträhnte in dem immer stärkerwerdenden Scheinen, das jenseits des Rheines seine Flügel spannte, als breitete ein Sendbote des Ewigen seine goldenen Schwingen über Gerechte und Ungerechte. Die weite Niederung erschauerte unter lichten Tautropfen und Sonnensplitterchen. Kein Wölkchen unter dem Himmelreich. Was noch gestern grau in grau die Herzen bedrängte, mit dichten Regenfäden die stumpfe Umwelt absuchte, war jetzt so sauber und blank gescheuert wie die Kasserollen und der kupferne Teekessel in der Achterkajüte eines Steamers von Matthias Stinnes und Söhne. Allerhand Achtung! ein festlicher Glanz prägte dem Niederrhein eine heitere Note auf, denn heute war Sonntag, ein feiner, scharfgeschliffener Novembersonntag – der erste des Monats.

»Herr Jansen, es geht schon auf neune.«

»Wie – was . . .?!«

»Es geht schon auf neune, Herr Jansen. Sollen die Stachelbrötchens und der piekfeine Kaffee . . .?!«

»Gleich, gleich! Man ins achtere Stübchen damit.«

»Well, Mynheer.«

Der Alte erhob sich benaut aus den Federn, machte aufs peinlichste Toilette, kleidete sich in tiefes Schwarz, vielfach unterbrochen durch die stoßweisen Miseren des Lufthungers, die ihn heute noch mehr bedrängten als an sonstigen Tagen. Trotz des sonnigen Wetters, er konnte seines Daseins nicht froh werden. Nicht ums Verrecken. Das graue Elend legte ihm bei jedem Atemholen die Hand auf die Schulter. Aber sein Entschluß stand unweigerlich fest. Die verzwickte Affäre mit Henriette und dem aufdringlichen Novellenschreiber mußte geklärt werden. Noch heute. Also auf nach Heiligenbaum! selbst auf die Gefahr hin, mit seinem Herzblatt endgültig brechen zu müssen.

»Auch egal.«

Mit diesem strammen Vermerk nahm er Stiege für Stiege, begab er sich in die Ladenetage.

Gleich darauf saß er vor einem animierenden Frühstück.

Jüllecke Otten, die Betreuerin seines Anwesens, hatte alles aufs beste gerichtet.

Nichts fehlte. Jegliches stand in paßlicher Reichweite: das Kaffeegeschirr mit den übrigen Zutaten, rahmzarte Butter, Stachelbrötchen, frisch aus der Ofenröhre genommen, Schwartenmagen in Scheiben und Edamer Fettkäse.

Beköstigung mit Luft war für Jansen nur äußerst spärlich bemessen, solche für 'ne ausgiebige Verdauung jedoch in reichlichem Maße. In dieser Beziehung konnte er es selbst mit seinem langriemigen Freunde Aloys Ferkulum aufnehmen, dem es ein leichtes war, bei jedem solennen Totenessen ein Pfund geräucherter Mettwurst und 'ne doppelte Portion Schweinerippchen hinterzuschlucken, ohne sich dabei in etwa zu übernehmen. So langte er auch, trotz seines niederträchtigen Ärgers, tapfer zu, verdrückte vier delikate Wecken hintereinander und war gerade dabei, das fünfte zu schmieren und mit einer däftigen Scheibe Käs zu belegen, als er den würdigen Kopf mit dem weißen Adlerflaum und dem Pontakgesicht in die Höhe warf, um wie ein aufgescheuchtes Postpferd ins Ungewisse zu laustern.

Na ja! aus dem Magazin vernahm er deutliches Hämmern, das sich zeitweilig verhielt, um gleich darauf wieder in die Erscheinung zu treten.

»Rattata . . . rattata . . .. rattata . . .

»Christus! und das bei 'nem hellichten Sonntag . . .

Er legte Messer und Stachelbrötchen ab, öffnete das Fenster und rief über den Hofraum: »Herr Baumann, vielleicht . . .?!«

»Zu dienen, Mynheer!«

»Dann bitte, auf zwei Minuten, Herr Baumann!«

»Per sofort!« und die Perle aller Magaziniers und Handelsbeflissenen in der Grafschaft stand alsbald vor seinem Chef und Gönner, den Zipfel des weißen Taschentuches mit Trauerrand über der linken Brusttasche, den leichten Tapezierhammer, mit dem er gearbeitet hatte, noch zwischen Rock und Weste geschoben.

»Herr Baumann, heute ist Sonntag . . . und da das Gekloppe!«

Der Gemaßregelte ließ die Augendeckel herunter.

»Sacer locus«, sagte er wie aus einem dichten Bahrtuch heraus. »Der Kirchhof geht vor. Desgleichen die Toten. Die können nicht warten, Herr Jansen.«

»Das schon, aber der Sarg ist doch fertig, dito innen montiert, und da sollte ich meinen . . .«

»Richtig, Herr Jansen. Bloß die Trauerdekorierung ist noch an die Latten zu nageln . . . und das besorge ich jetzt, denn morgen haben wir voll zu tun, um dem Hause Joris Jansen die alte Nobilität zu belassen. Die Toten wollen auch ihren Ehrentag haben, dito wir und das Beerdigungsinstitut ›Pietas‹ in der Kavarinerstraße zu Kleve. Die Firma muß sagen können: Nunquam retrorsum oder per aspera ad astra, wie ich das noch von der Rektoratschule her kenne.«

Der alte Herr wurde gerührt.

Er tastete nach der Hand seines ersten Kommis.

»Ich danke Ihnen, Herr Baumann. Solche Leute sind wie die Jungfrauen, die noch richtiges Rübsenöl auf ihren Lampen vorzeigen können, ohne erröten und sagen zu müssen: Herr, unsere Dochte besitzen keinen Verzehr nicht. Ne, Herr Baumann, Sie rechnen nicht zu den törichten Jungfern, und dafür meinen gehorsamsten Ausdruck . . . und da kann es immer passieren . . . drum hören Sie mal . . .«

Der Chef holte tief Atem.

»Sie wissen, Herr Baumann, ich habe keinen eingeborenen Sohn nicht, befinde mich also bloß in weiblicher Erbfolge. Schön! indessen meine Tochter ist auf Ladengeschäfte gar nicht gebaut, erst recht nicht auf 'nen Betrieb in 'nem Sargmagazin mit der nötigen Trauergarnierung, kommt somit gar nicht in Frage, und da hab' ich mir so ausspekuliert: wie wär's denn, wenn es später mal heißen würde – in zwei Jahren vielleicht: Beerdigungsinstitut ›Pietas‹, in Firma Joris Jansen und Severin Baumann?«

»Aber Mynheer . . .?!«

Der also Angeredete machte zuerst Anstalten, mit 'nem Freuden-Saltomortale über Kaffegeschirr, Edamer Käse und Schwartenmagen zu voltigieren, beherrschte sich aber und machte ein verzücktes Medaillengesicht, als wäre ihm die Muttergottes von Kevelaer mit den gnadenreichen Worten erschienen: »Herr Baumann, gehen Sie getröstet nach Hause. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's nicht wieder genommen. Sehen Sie nach. In Ihrer Schatulle befinden sich fünfundzwanzigtausend Taler, aber echte königlich preußische Taler, nicht solche, die ihr Dasein den Revoluzern und der Weimarer Verfassung verdanken.«

Der alte Herr schmunzelte gütig. Sein Adlerflaum über den Ohrmuscheln nahm einen leuchtenden Schmelz an. Für etliche Augenblicke hatte er seine Tochter, die infame Novelle und Heiligenbaum beiseite geschoben.

»Na, mein Lieber, wie wär' das?«

»Herr Jansen . . .

Der untersetzte Stumpen mit den strammen Beinchen, dem zu kurzen Hosenzeug und dem lauteren Pflichtgefühl unter dem Sonntagsschemisettchen ruckte energisch zusammen, gab sich als Mann, streckte zwei Finger pielgerade aufrecht, als sei er gesonnen, sie durch das weißgekalkte Plafond zu stoßen.

»O du mein Göttchen! Zu pompös, um's glauben zu können. Aber wenn's Wahrheit werden sollte . . . Herr Jansen, ich nehm's auf die Gabel. Ich schwör's zu Gott dem Allmächtigen: nunquam retrorsum! Niemals zurück! Immer aufs Ganze. Immer vorwärts für meinen gütigen Chef, für mich und die Firma.«

»Soll denn ein Wort sein. Wir sprechen noch später darüber. Für heute langt's nicht mehr. Da muß unsereins seine totale Besinnung haben. Also zu 'ner gelegeneren Stunde. Sonst alles im Lot. Ich hab's eilig, Herr Baumann. Aber verfluchtig . . .

Joris würgte an seiner Halsbinde herum. Die Luftröhre wollte so recht nicht. Ein heiseres Pfeifen stieg auf wie in der Tastatur und der Windlade einer Flûte de travers.

»Bitte, mein Schäschen.«

Der beglückte Magazinier und Teilhaber in spe versetzte sich wieder auf realen Boden.

»Bei diesem Wetter auch . . .! Ganz richtig gedacht. So 'n kleines Pläsiertürchen, das bringt Ozon hinter die Westenknöpfe.«

»Das weniger. Ich möchte auf Heiligenbaum zu.«

»Ah! ich verstehe, um der verehrten Mamsell Tochter 'ne bekömmliche Sonntagsvisite . . .«

»Visite . . .?!« unterbrach ihn der Chef, »'ne Visite?! – jawoll, aber 'ne Visite mit Maifischgräten dazwischen.«

»Oh . . .

Herr Baumann machte ein langes Medaillengesicht.

»Capisco! selbst in den besten Familien . . . und bei Lichte besehen: Fräulein Henriette hat schon so 'n bißchen reichlich von der himmlischen Atmosphäre genossen. Aber das gibt sich, Herr Jansen.«

»Wollen's hoffen . . . und nu heran mit dem Schäschen.«

»Wird gemacht«, und Severin schwamm seines Weges so selig dahin, als habe ihm ein Federlein aus der vergoldeten Schwinge des Erzengels Gabriel eine besondere Schwungkraft gegeben.

»Oh!« sprach er im Abgehen, »in zwei Jahren vielleicht . . . Himmel und Herrgott! dann heißt das: Neumodisches Beerdigungsinstitut ›Pietas‹, in Firma Joris Jansen und Severin Baumann, Kavarinerstraße 15 in Kleve.«

Der Herr Prinzipal sah ihm mit feuchten Augen nach.

»Nicht anders zu machen. Der ist verschwiegen wie 'n Sargnagel, treu wie 'n Sargnagel, denn wo der einmal sitzt, da bleibt er sitzen für ewiglich. Stütze und Stab in einer Person.«

Er wischte sich eine Träne herunter, um dabei eine Strophe von Gideon von der Heide zu summeln:

»Einen goldnen Wanderstab
Ich in meinem Herzen hab'.
Von dem Himmel ist er her,
Zu dem Himmel zeiget er – Amen.«

Eine halbe Stunde später ratterte er in seinem Schäschen, das er allzeit bei seinen sakralen Geschäftstouren in der Umgegend anforderte, die schnurgerade Landstraße entlang, die von halbnackten Buchen und Eichen begleitet, über breithingelagerte Gehöfte und stille Ortschaften fort nach Heiligenbaum führte. Um diese Zeit stand die unermeßliche Niederung so halber verwaist. Kein Leben mehr auf Feldern und Fluren. Die Halm- und Hackfrüchte waren längst eingebracht worden. Auf den umbrochenen Ackerparzellen lag die Ruhe des Schweigens, zitterte ein kaum wahrnehmbares Sehnen nach ferner Frühlings – und Auferstehungsfreude. Ab und zu segelte ein dunkler Vogel unter dem stahlblauen Himmel, drehten sich safrangelbe Blätter von den Ästen herunter. Irgendwo, jenseits der sanften Hügellehne, die sich nach Holland verlief, wurde eine verlorene Geige gestrichen, glaubte man die heiligen Worte zu hören: »In illo tempore dixit Jesus . . .«

Das langsame Schäschen brachte eine gewisse Bewegung in die totenstille Landschaft, knarzte fein säuberlich und kommod seinem Bestimmungsort entgegen.

Der alte Herr liebte ein genügliches Fahren. Jedes Auto war ihm zuwider, schon der ungemütlichen jüdischen Eile wegen, schon aus dem Grunde heraus, nicht genötigt zu sein, den atemnehmenden Benzinduft überschlucken zu müssen. So begnügte er sich mit dem schlichten Gefährt von dem Fuhrunternehmer Henn Kogeleboom, hatte für die Zeit seines Lebens mit diesem ein Abkommen getroffen, ihm bei Anruf ein Vehikel zur Verfügung zu stellen. Beide Parte fühlten sich wohl dabei, lebten sich wechselseitig ein, ohne jemals Molesten und sonstige Unzuträglichkeiten in den Kauf zu nehmen. Sie dachten nicht dran. Ließen eher Gottes Wasser über Gottes Priesterkoppel laufen, um letzten Endes etwaige Kosten gemeinsam zu tragen.

Henn, Fuhrunternehmer und Kutscher in einer Person, ein kleiner abgescherbelter Mann mit lederfarbigem geriffeltem Gesicht, Mauseohren und die seidene Schirmmütze tief in den Nacken gerückt, führte auch heute die Zügel.

»Hia da hüp!«

In der rechten Backentasche barg er allzeit ein sauciertes Priemchen, freute sich daran, um alle drei bis vier Minuten das überschüssige Naß mit der Fixigkeit eines raschen Pfeiles über das Spritzleder des Schäschens zu pfuitzen.

»Henn, auf ein Wörtchen.«

»Bitte, Mynheer.«

»Wie lange wird's dauern bis Heiligenbaum zu? Ich hab' 'ne besondere Eilfertigkeit unter die Weste.«

»Na, wie lange wird's dauern, Herr Jansen?! Wenn ich mein Schimmelpferdchen und die Wegstrecke in Berücksichtigung ziehe – so eine zwei bis drei Stündchen kann's dauern, ohne 'n unbewußtes Malheur in Rechnung zu nehmen. Hia da Hüp . . .

»Schön, denn man zu«, und der kurzatmige Herr, der meistens Gute und Friedfertige, der von den Tränen seiner Mitmenschen, von den Ruhestätten der Abgeschiedenen Kost und Logis bezog, auch bei rührigen Zeiten einen annehmbaren Profit einheimsen konnte, drückte sich ins Polster zurück, versuchte zu dösen, um bei diesem Drusseln und Dösen seinen gerechten Unwillen doch nicht ganz versickern und versintern zu lassen. Der Zweck seiner Mission blieb bestehen. Verlor kein Tiftelchen an Inhalt und Strenge. Immer klaren Wein in die Buddel, selbst auf die Gefahr hin, seiner Henriette die väterliche Huld und Zutunlichkeit entziehen zu müssen. Entweder so oder auf 'ne andere Weise – aber so ging das nicht weiter.

Er tastete nach der Brusttasche, wo selbst er die ominöse Novelle beigesteckt hatte.

»Hier sitzt das und will seine Betätigung haben. Henn, avanti!«

»Hia da hüp!« und abermals sandte das faucierte Priemchen einen haarscharfen Pfeil über das Spritzleder des gemächlich dahinknarzenden Schäschens.

Die Gegend wurde noch vereinsamter und weltabgekehrter. Die vereinzelten Gehöfte traten noch weiter zurück, duckten sich tiefer am Boden. Die Dohlenvögel flogen langsamer unter dem Himmelreich, die überständigen Blätter wagten es kaum, sich von den Bäumen zu schaukeln. In dieser Gegend konnten schon Geschichten passieren, schöne, aber auch traurige und verweinte Geschichten. Nur eine kundige Hand mußte da sein, sie in ihrer ganzen Größe und Reichhaltigkeit niederzuschreiben. Man fühlte, hier war heilige Erde, heilige niederrheinische Erde . . . und wer Ohren hatte zu hören, der hörte: Irgendwo, jenseits der sanften Hügellehne, die sich bis nach Holland erstreckte, ließ sich der Ton einer sachtgestrichenen Geige vernehmen, glaubte man die verheißungsvollen Worte zu hören: »In illo tempore dixit Jesus . . .«

* * *

Schon eine kleine Viertelstunde wartete er.

Er durchmaß das Zimmer nach Länge und Breite, betrachtete die Schildereien an den Wänden, gute Stiche aus dem Kunstverein zur Verbreitung religiöser Bilder in Düsseldorf, solche von den Nazarenern Overbeck und Veith, von Deger und Ittenbach, heute vielfach belächelt, selbst von den Tempelhütern und Leviten der Kirche in die Rumpelkammer verwiesen, denn auch der Klerus liebäugelte bereits mit den schöpferischen Proleten der Straße, mit den lästerlichen Kunstanschauungen der russisch-jüdischen Tscheka.

Wollt euch nicht irren!

Vaterland hin, Vaterland her! War der Herr nicht schon Kosmopolit, Eigenbrötler und Gärteig? ein Revoluzer, gesonnen, alles überragende, jede allzu stolzliche Ähre aus der Gemeinschaft des alleinseligmachenden Feldes zu tilgen? Die Zeit wollte es so. Dem war Rechnung zu tragen . . . und dennoch, was erzählten die köstlichen Stiche nicht alles?! In kindlicher Einfalt, in liebevoller Hingebung an Gott und seine himmlischen Chöre, berichteten sie von den Geschehnissen der Heiligen, aus dem Leben der Jünger, dem Erdenwallen der allerseligsten Jungfrau im Bann blühender Wiesen, durchklingelt von dem silbernen Geplauder eines hüpfenden Bächleins und erfüllten die Seele mit dem Geläut einer Abendglocke, dem Leuchten und Schimmern eines fromm verlebten Tages . . . und das sollte dahin sein?

Der einsame Mann wandte sich der Fensternische zu und sah auf die Straße hinaus. Draußen war's still, fast weltabgekehrt. Nur weiter zur Linken, dort, wo die gekappten Kastanien in brühwarmen Sommertagen einen zutunlichen Schatten verbreiteten – von der Gnadenkapelle her erhob sich ein melodisches Singen und Sagen, ein Rufen und Aufbegehren, das sich mit jeder rinnenden Sekunde merklich verstärkte, ein Zeichen dafür: bald mußten Pedal- und Manualregister alles aufbieten, um dem getätigten Hochamt einen feierlichen Abschluß zu geben. Jetzt jubelten sie auf – alle die tönenden Pfeifen und Zungen: Posaunen, Akkordion, Concertino, Gloria! und darüber hin zitterte die vox angelica wie eine silberne Taube.

Bald mußte sie kommen.

Heribert Kästner trat rücklings.

Er warf sich in einen bequemen Sessel seitlich des Schreibtisches, an dem Henriette Jansen zu arbeiten pflegte oder sich stillen Erbauungsstunden und Betrachtungen hingab.

Hier in diesem schlichten und doch wohnlichen Raum lebte sie ihr eigenes, selbstloses und dennoch glückliches Leben. Nichts fehlte ihr, nichts mangelte ihr. Die Anfechtungen drangen nicht in diesen verschwiegenen Winkel, wagten es nicht, ihr preziöses Magdtum auch nur mit Fingerspitzen zu suchen. Sie war ein stilles und versonnenes Licht, aber ein heißes und verschwiegenes Licht, das sich in sich selber verzehrte. Sie war verschwiegenes Leuchten und verhaltenes Flackern, das sie bis in die innerste Seele bewegte. In einer solchen Stunde hatte sie vor kurzem ihre große Liebe gefunden – in einer Stunde des Flackerns, des Sehnens und Suchens, in einer Stunde, in der der Wille des Weibes sich auflehnte gegen die Neigung des Weibes und sich dennoch umschauern ließ durch das geheimnisvolle Klingen und Singen: »Der du von dem Himmel bist . . .« und so schritt sie über die braunen Schollen von Heiligenbaum, durch das geheimnisvolle Land voller Mysterien und zuckenden Kerzenflämmchen, glücklich in ihrem Beruf, in ihrem Werden und Wachsen – vor sich die Freiheit, die offene Welt, der eherne Wille, sich das eigene Dasein zu zimmern, nicht nur das des duldsamen Weibes, sondern auch das der schaffenden Gefährtin des Mannes . . . und hinter sich, weit zurück in Schwaden und Nebeln die halbvergessene Jugend, die lauliche und gütige Elternliebe in der Kavarinerstraße zu Kleve, das Husten und Hüsteln allda, das grelle Licht der Birnen in den entsetzlichen Auslagefenstern, der warme Duft nach weichen Floren und dunklen Wollstoffen, die verweinten Augen, die Schreibereien zwischen Firma und Friedhofsverwaltung . . . O Gott! und dann der akkurate Herr Baumann mit seinen straffgescheitelten Bügelfalten, seiner Duzfreundschaft mit den Verstorbenen, den klaren Auseinandersetzungen und Kalkulationen bei Privatbegräbnissen und solchen von Bruderschaften und sonstigen Korporationen, seine vorbildliche Treue, selbst bis zum schauerlichen Rande des Grabes . . .

Oh, sie erinnerte sich! In der Kavarinerstraße ging alles wie auf Selfkantpantoffeln. Nichts drängelte sich aus den vorgeschriebenen Diebeln und Fugen. Am Morgen öffneten sich lautlos die Läden, um sich ums Abendwerden wieder lautlos zu schließen, es sei denn, einer sprach noch in letzter Stunde mit verweinten Augen vor, um eine traurige Bestellung zu machen. Das Hämmern, das zeitweilig den weitläufigen Hof mit seinem kurzen ›Rattata‹ übertönte, war kein fröhliches Hämmern. Es war vielmehr mit Werg und Hanf umwickelt und erstickte in seiner eigenen Hülle. Ach, und wie oft klang es ihr zu: Dicke, warme, dunkle Wollstoffe wurden den Etagen entnommen, behutsam auf die Theke gestapelt.

Dann hörte sie deutlich mit der emsigen Elle hantieren, die Zahlen herbeten: »Stück Numero dreizehn. Drei Meter fünfzig . . . etwas reichlich bemessen.«

»Bitte, Fräulein, die appretierten Flore und Kreppe, Fach Numero achtzehn. Können gleich abschneiden. Zehn Meter genügen.«

Ein zuversichtliches Klingeln.

»Tag zusammen. Ich hab' 'ne Bestellung zu machen.«

»'ne große oder 'ne kleine Bestellung?«

»'ne große Bestellung, denn der Postmeister Appels will's nobel haben mit hohen Füßen und echten Beschlägen.«

»Dann bitte: Laden hierneben. Am besten, sich an Herrn Baumann zu wenden.«

»Merci . . .« und immer so weiter.

Wohin man hörte: überall ein laulichwarmes Schlurfen und Gleiten, ein gedämpftes Hämmern, ein Vorbeitragen von fertigen und halbfertigen Sargbrettern, von Trauerkostümen, von ausgebesserten Jettrosetten, das kaum wahrnehmbare Vorüberhuschen von Kakerlaken und einmal bis zweimal in der Woche die gediegene, wenn auch etwas stark angerostete Stimme Ferkulums: »Joris, dein Schnaps ist wieder über alles Bemessen. Er ist gut för die Piere und fördert die ewige Seligkeit. Ich danke dir vielmals.«

Henriette tat einen tiefen Atemzug und streckte die Arme.

Fort damit . . .

Licht, Luft, Freiheit und gute Gewohnheit!

Und sie fand Freiheit und gute Gewohnheit und war wie eine, die in Licht- und Strahlengarben ertrinken wollte, so herrisch und vollbewußt schritt sie durch ihren selbstgewählten Berufskreis, den sie sich mit lauteren Kämpfen in der ganzen Reinheit ihres stolzen Frauentums errungen hatte, durch die weiten Niederungen, wo es nach frischgebackenen Wecken und Broten duftete und sie beim Rufen der Abendglocke bemerkte: siehe, neben dir schreitet die allerseligste Jungfrau und läßt ihr goldenes Haar über die Weizen- und Roggengassen dahinknistern, als gälte es, Heiligenbaum mit einem köstlichen Gewebe von Filigran zu umspannen.

Gnadenreiche . . .! gnadenreich unter den Töchtern des Landes. Hier war sie gesundet, hatte sich das Weib in ihr in seiner ganzen Schöne und Herbheit entfaltet, erschien ihr Gesicht wie eine kostbare Gemme, ihr dunkles Haargeflecht wie das einer burgundischen Prinzessin . . . und hier . . . noch im verflossenen Sommer . . . bei den drei einsamen Pappeln . . . wo die Pilger Rast zu machen pflegen, bevor sie sich anschicken, mit dem letzten Aufflackern ihrer niedergeworfenen Kräfte und in abgetretenen Schuhen ihre Seelen- und Leibesgebresten an das willfährige Ohr der Gottesmutter zu tragen – hier um die Zeiten der Tages- und Nachtgleiche glaubte sie in der Dämmerung Gesichte zu haben.

Und sie hatte Gesichte.

Ein markanter, scharfgemeißelter Kopf stand über dem ihren, der Kopf eines römischen Legaten, ein Stahlhelmerkopf mit verschnittenem Blondhaar und Balduraugen, die wie das helle Blau der Kornblumen leuchteten.

Ein hohes heiliges Licht büschelte in der Dämmerung.

Und in diesem hohen und heiligen Licht eine Stimme: »Henriette, darf ich Gewährung erhoffen?«

»Ja, meine Liebe, die hast du. Nur gib mir Bedenkzeit. Du weißt ja – ich muß mich erst finden. Meine Seele zerflattert sonst unter der Fülle des Tages. O Heribert – du!«

Das scharfe Stahlhelmgesicht beugte sich tiefer.

Zwei mächtige Arme umgriffen die Majestät und Hoheit des Weibes.

Zwei Menschenkinder erschauerten dicht nebeneinander, waren wie eins und kaum noch zu trennen.

Zwei braune Lippen legten sich auf zwei rosige, die wie pralle Weinbeeren schienen . . . und hoch über ihnen dämmerte und tirilierte noch eine verspätete Lerche ob den einsamen Feldern. –

Heribert Kästner schlug die Beine übereinander, flocht die Hände enger zusammen. Er war lange nicht mehr in diesem trauten Zimmer gewesen, wo es ihm jedesmal, wenn er über die reinen, keuschen und lichtweißen Dielen trat, wie das silberne Säuseln von Olivenbäumen aus dem Gärtchen entgegenwehte. Zweimal hatte er für einen erkrankten Kollegen in seiner Vaterstadt Lobberich einspringen müssen, einmal für einen solchen im benachbarten Kranenburg an der holländischen Grenze. Bei seiner Heimkehr an die Knabenschule in Kleve hatte er alle Hände voll zu tun, das inzwischen aufgelaufene Material zu sichten, es seiner Bestimmung zuzuführen und den etwas eingeschläferten nationalen Geist der ihm anvertrauten Jungen wieder lebhafter in Brand und Lohe zu blasen, und wer an gewissen Tagen am Schulhof vorbeimußte, hörte aufs neue den lange entbehrten schnittigen Geigenstrich, den ehernen Gleichschritt der Stimme, der wie der eisenbeschlagene Schuh der jungen Wehrwölfe daherklirrte:

»Laßt fahren nur, laßt fahren.
Hoch steht es an der Zeit!
Noch leben die grünen Husaren,
Noch lebt die glorreiche Zeit.

Noch lebt sie, die alte Wehre,
Noch lebt es das alte Geschlecht;
Dem König des Himmels die Ehre,
Dem König der Erde sein Recht.«

Heribert Kästner hob den durchgeistigten Kopf scharf gegen die Tür an, als wenn die Ersehnte jeden Augenblick eintreten müßte. Aus der Gnadenkapelle drang ein letztes Klingen und Jubeln, wie aus dem Paradiese genommen und die vox angelica schwebte abermals als ein silberweißes Täubchen hernieder, füßelte auf den gegenüberliegenden Dachfirst, um dort sacht zu verstummen.

Das scharfumrissene Gesicht leuchtete auf.

Es leuchtete wie es in Flandern geleuchtet hatte, an den furchtbaren Schleusen von Ypern, es flammte, wie es noch kürzlich in einer Versammlung von schwarzen Fasanen, vor einer sturen, unbarmherzigen Phalanx von Pazifisten und Erfüllungsstrategen aufgeflammt war, als es galt, den gefallenen Helden das zu geben, was die gefallenen Helden verdienten, wenigstens ihnen nicht die ruhmreichen Farben zu nehmen, unter deren Flackem und Zucken sie marschierten, stürmten und fielen . . . und dennoch war es ein anderes Leuchten und Scheinen. Damals ein zuversichtliches, herrisches Leuchten auf Leben und Sterben scharf bis aufs Messer . . . und heute ein solches von unsagbarer Liebe und Sehnsucht, dem man es ansah, wie der Anblick eines solchen Wesens die Sinne froh machte und sie geleitete in den schönen Wahn einer lieben und trauten Verstörung.

Ja, so ein Gesicht, so ein selbstherrliches Aufbegehren mit Balduraugen, die Treue verheißen, Schirm und Schutz und den ewiggleichen, zuversichtlichen und klirrenden Schritt unter den Füßen.

»Da bin ich . . .

»O du . . .! und zwei Menschenkinder erschauerten dicht nebeneinander, stumm in wechselseitigem Geben und Nehmen, trunken vor inniger Gemeinsamkeit der spendenden Opferschale. Sie ließen nicht ab, sich in die Augen zu sehen, Wange auf Wange und Lippe auf Lippe zu schmiegen.

Dabei plauderten ihre Ohrgehänge wie niedliche Glöckchen dazwischen.

»Heribert, du bist lange geblieben. Hier und bei euch hat sich inzwischen manches geändert.«

»Ja, ich bin lange geblieben. Aber du weißt ja, meine Tage waren bemessen . . .« und nun erzählte er ihr von Vater und Mutter in Lobberich, von seinem erkrankten Kollegen allda und in der alten Stadt Kranenburg an der holländischen Grenze, um dabei sacht und glücklich über ihre Flechtenkrone zu schmeicheln.

Er erzählte mit dem freundlichen Lächeln und Plaudern eines Wiesenbächleins, das in Frühlingstagen unter Akelei und Männertreu versonnen seines Weges dahinplätscherte.

»So!« sagte sie herzlich, »und kommst nun zurück in der Fülle des Glückes?«

»In der Fülle des Glückes? Wenn du meinst: ich fühlte nun wieder dein Herz an das meinige pochen, ja, dann kam ich zurück in der Fülle des Glückes.«

»Das auch. Aber da gibt es doch andere Dinge, die einem die Sinne erfreuen. Du wurdest erhöht und erhoben.«

Er ließ von ihr ab und nahm ihre Hände.

»Das weißt du, und ich wollte doch selber . . .«

»Ja, vom Küster der Gnadenkapelle. Er wurde telephonisch verständigt.«

»Von wem telephonisch verständigt?« fragte er unwillig.

»Von Heinrich Verschüren.«

»Wie, von Heinrich Verschüren? Seit wann denn?«

»Seit gestern.«

Er warf Kopf und Nacken auf.

Unter den düsteren Brauen standen kreisrunde Pünktchen.

»Wie kann dieser denn wissen . . .? Sub sigillo des Schulrates wurde lediglich mir . . . und ich wollte der erste sein, dir dies zu vermitteln, dir eine kleine Freude ans Herz zu legen – und nun die Horcher und Austräger an allen Türen und Toren.«

Er sah nachdenklich ins Leere.

»Nein, so was! Immer wieder dieser Heinrich Verschüren!«

»Aber was schadet's?! Es ist doch eine frohe und freudige Nachricht.«

»Wenn auch! Aber ich liebe es nicht, meine Angelegenheiten durch andermanns Mund weitertragen zu lassen.«

»Auch nicht durch den Mund Heinrich Verschürens?«

»Nein, auch durch den nicht.«

Sie löste sich von ihm.

»Wie soll ich das nehmen? Ihr seid doch immer die besten Freunde gewesen.«

»Nicht immer . . . aber Jahre hindurch nahmen wir den nämlichen Schritt auf, strebten nach Schönheit und Wahrheit, schwuren uns in Kornelimünster ewige Treue und waren wie die, die Gott suchen, um in der Anschauung Gottes das Heil zu gewinnen. Noch bis vor Kurzem. Dann begann es heimlich zu bröckeln. Die Zeit änderte vieles, und hier in Kleve gewann ich den Eindruck: du und er – wir beide gleiten immer mehr auseinander. Aber warum das? Ich weise es ab, die Religion auf die Politik zu verpflanzen. Fort damit! Ich habe satt und genug von allen, die gestern ›Hosianna!‹ daherpsalmodierten, um heute fanatischer und sturer ›Kreuziget ihn!‹ über die betörte und tobende Menge zu schreien . . . denn alle diese Menschen freuen sich der dunklen Machenschaften, die jetzt ihre starren Finger auf jedes legen, was einst unsere Heimat fröhlich und froh machte und sich nicht scheuen, in einem Land ohne Ehre zu leben, ohne in ihrer Vaterlandslosigkeit und Felonie vor wilder Scham zu erröten, auch nicht den Mut mehr aufbringen können, ihre Sonderinteressen dem Großen und Ganzen unterzuordnen, das eigene moralische Bettlergelumpe vom Leibe zu reißen. Und Heinrich Verschüren . . .?! Auch er nicht . . .«

»Du irrst dich. Seine Seele ist wie die eines Kindes.«

»Wem sagst du das? Ich kenne doch Heinrich Verschüren. Aber nicht nur die Reinheit und Keuschheit des Herzens allein – wir haben noch für ein anderes Gut in die Schranken zu treten, und wer dieses nicht aufbringt, ist für mich eine tönende Schelle.«

»Heribert, wo führst du mich hin?!«

»Höre mich an. Vor etlichen Monden . . . ich suchte ihn in Warbeyen auf . . . es war bereits spät unter dem Himmel. Zwei Leuchter mit brennenden Kerzen erhoben sich auf einer gespreiteten Tafel. Wir saßen dicht gegenüber. Nichts Böses stand zwischen uns. Im Gegenteil: die Gläser klingelten friedfertig gegeneinander. Plötzlich rief Heinrich Verschüren: Wir alle befinden uns in diesen Zeiten in bitterem Kampf. Priester und Laien haben furchtbar zu ringen. Unser Bollwerk steht zwar, gekrönt vom Turm aller Türme. Wir haben die Tagwacht und die Nachtwacht zu halten . . . und die Frage ergeht: Heribert, wie stehst du zu den Heils- und Glaubenswahrheiten der katholischen Kirche? – Ich bin ihr immer ein treuer Diener gewesen. – Heribert, das tut's nicht allein. Der Satan geht um. Er sucht Unfried in die heißerkämpfte Verfassung zu tragen. – Halt! sagte ich, darüber schweigen die Akten. Ich bin keinem Rechenschaft schuldig. Ich diene meinem Herrn und Heiland, wie ich ihn immer betreute, ich stehe zu einem freien und geeinigten Reich, wie ich zu ihm immer gestanden. Aber wie kommst du darauf, mir solche Fragen zu stellen? Bist du mein Richter, oder dünkst du dich höher denn ich? – Er lachte, und sein Mund sagte bitter: Ich bin ein Gesalbter des Ewigen. Mir wurde gegeben zu binden, zu lösen, die Sünden hinwegzunehmen und daher: die Pflicht liegt mir ob, Volk und Verfassung zu einen, die Errungenschaften der Novembertage zu stählen, alles, was faul und wurmstichig daherstrauchelt zu den Toten zu werfen – zum Heile der Kirche und des ringenden Vaterlandes . . . und wie ich diese Kerze zerbreche und lösche, so zerbreche und lösche ich jeden aus dem Buche froher Gemeinschaft, der mir Widerpart ansagt. Ich kann nicht anders, und er nahm Leuchter und Licht, löschte es aus und warf den geschändeten Wachsstock über die Dielen. – Jählings trat mir das Wort auf die Lippen: Hic niger est – hunc tu, Romane, caveto! oder auf deutsch gesagt: Dieser ist schwarz; vor diesem Römer muß man sich hüten . . . Ich verschluckte das harte Wort, sagte ihm jedoch stracks vor die Stirne: Heinrich, Heinrich, so denkt kein wahrhaft gläubiger und katholischer Priester! Er müßte sich schämen vor Gott und seinem heiligen Lehramt, vor der blutrünstigen Wolke, die noch heutigen Tages über der Quelle im Odenwald steht, wo sie Siegfried erschlugen. Das kannst du nicht denken und wollen, denn tätest du es: dein Geist und deine Anschauungen wären nicht im armen Deutschland zu Hause, hätten hier keine bleibende Stätte mehr, sondern wohnten, sehnten und sorgten sich jenseits der Berge. Finde dich wieder . . . Lasse nicht diesen Dorn im Leibe, sondern reiße ihn vorzeitig aus. Sei duldsam, auf daß dieser Dorn nicht zum Pfahl werde. Er könnte dir das Leben vergällen. Ich selbst – ich will diese Stunde vergessen . . . und du, wenn du kannst – tue dasselbe. Ich reichte ihm die Hand mit einer gewissen Bedeutung. – Er tat das gleiche und meinte: So möge denn das Kettlein nicht brechen. Vielleicht macht der Herr eine Einrenkung möglich.«

»Mein Gott!« rief Henriette, »wie kann so eine Entgleisung nur unter Freunden geschehen?!«

»Lassen wir das! Was ist uns denn letzten Endes Heinrich Verschüren?! Um seinetwillen bin ich nicht hier, sondern um deinen Namen zu stammeln, um mich von dir und deiner Lebensfreudigkeit umschmeicheln zu lassen. Ich bin wissend geworden und doch nicht wissend geworden. Mir blüht eine kostbare Rose entgegen, atmet mich an, winkt mir ihre lieblichsten Düfte zu, und ich weiß immer noch nicht: darf ich sie in meinen Garten verpflanzen. Ich bin wie ein Falke, der um seine Falkin rüttelt und wirbt, ohne niederzustoßen und ihre Liebe zu nehmen. Jetzt tu' ich's, denn ich hab' es satt und genug, noch länger durch ein Durstland mit einer versiegelten Quelle zu pilgern, ohne diesen Born zu zerbrechen und seines lauteren Wassers teilhaftig zu werden. Henriette . . .

Und der Falke war bei seiner Falkin, bevor sie es noch zu hindern vermochte. Er riß sie an sich und bettete ihr Haupt an die hämmernde Brust, als sollte sie alles hören, was in ihrem Inneren vorging: qualvolle Nächte, bitteres Sehnen, Kampf nach dem Höchsten und der verzehrende Wille, sie als seine stolze Gefährtin zu wissen.

Sein Antlitz stand dicht über dem ihren. Sie hatte die Kraft nicht mehr, sich in dieser Umstrickung zu rühren.

»Satt und genug«, stöhnte er auf. »Entweder so oder so. Was soll das heimliche noch? Was gilt mir in dieser Stunde Heinrich Verschüren? Ich bin nicht Herr über sein Tun und Lassen, über seine Einstellung Volk und Staat gegenüber. Diese Stunde für mich. Ich halte sie fest. Ich pflanze sie auf als Planta genista. Leuchtender Ginster. Ein flammendes Symbol und Zeichen. Allen soll es verkünden: Henriette Jansen und Heribert Kästner . . .«

»Heribert . . .

Sie warf sich stürmisch in seine Arme herum. Ihre Augen flackern unstet in die seinen hinüber, wie verschlagene Vögel, betört von einem scharfen Fanal, nicht wissend, wohin sie sich wenden sollen in jäher Verstörung.

»Mein Gott! das kommt so unvermittelt, so jählings . . .«

»Das sagst du schon immer . . . und jetzt, wo selbst der Himmel mir zuspricht, mir verstattet, nach einer sorglosen Zukunft zu greifen, wo die goldenen Äpfel mir in die Hände hineinreifen wollen, ist bei dir wieder das Zaudern und Zagen . . . und sollte selbst Heinrich Verschüren gegen mich aufstehen – ich habe es über, mich noch länger als Treibholz verschleißen zu lassen . . .«

»Du – du . . .! Noch einmal: Gib mir Bedenkzeit! Siehst du denn nicht: ich bin mit mir noch selbst nicht im Reinen. Jahre um Jahre rang ich um meine persönliche Freiheit, um die Kraft, mich auf die eigenen Füße zu stellen . . . und wenn auch eine verzehrende Liebe über mich herfiel – ich denke mir immer: du, Vertreterin eines stolzen Berufes, du stehst auf der Tenne und bist gesonnen, dir statt Hederich und Spreuicht die besten Roggen- und Weizenkörner von der Diele herunter zu schaufeln . . . Was steht höher: Pflicht oder Liebe?!«

»Also da will's hinaus?! – Und mir – mir flammt der brennende Ginster entgegen. Er lodert mir zu: Sei kein Narre! Er weist mir die Pfade. Jetzt aber vorwärts! Sind deine Roggen- und Weizenkörner denn ganz besondere Körner? Springen sie dir denn als goldenes Himmelsmanna von der Schaufel herunter! Gut, ich werte sie ein. Aber denke an mich. Bin ich denn ein Nichts, ein mistiger Strohhalm, ein leichtfertiges Federspiel in den Händen eines selbstherrlichen Weibes? nicht wert und würdig, dir Leib und Seele zu nehmen, in treuer Gemeinschaft mir das Heil zu erkämpfen und des großen Mysteriums der Liebe teilhaftig zu werden?«

»Heribert, alles! aber du weißt nicht, was in meinem Inneren vorgeht. Hier drinnen: bald jubelt es auf, bald schreckt es zusammen, als sähe ich die Totenfrau kommen. Ich greife durch Grau, dann wieder durch eine Fülle von Sternen. Bald will ich in deine Arme hinein, bald an meinem eigenen Frösteln erstarren. Sieh mich doch an – du. Das steht mir doch zwischen den Schläfen geschrieben. Ich bin nicht mein eigenes Ich mehr. Das geht schon so Wochen und Tage . . .«

Sie schlang die Arme so plötzlich um seinen Nacken, preßte ihren Mund so gierig auf seine zuckenden Lippen, daß er sich kaum ihrer verzückten Hingebung zu erwehren vermochte: »Rette mich . . .! Hilf mir . . .! Aber ich flehe dich an: Warte noch ab. Um Weihnachten . . . im kommenden Frühjahr – da wird alles milder und reiner . . . Auferstehung . . .

»Henriette . . .!« Seine Stimme klagte, als wäre nichts mehr zu retten, als zerscherbelte ihm alles zwischen den Händen. »Ich wartete satt und genug, und wenn ich bis Ostern wartete, mir käme immer dieselbe Antwort entgegen.«

Er hielt sie bei den Schultern . . . drängte sie von sich . . . stierte ihr tief in die Augen, als stiege ihm dort ein Gesicht auf.

»Henriette«, mahlte er rauh zwischen den Zähnen, »ich kann mir nicht helfen. Es muffelt brandig dahier. Hier muß was geschehen sein.«

Sie prallte zurück, als knallte eine scharfe Peitsche über sie hin.

»Was soll denn geschehen sein?«

»Das zu beantworten, muß ich schon dir überlassen.«

»Mir?!« schrie sie auf. »Wo ich dich liebe?! Nur gib mir Bedenkzeit . . . stoße mich nicht ganz in die Irre . . . es gibt Tage, die mir die Sinne verstören . . .« und sie weinte und schluchzte, und die beiden seligen und doch unseligen Menschen hörten und sahen es nicht, daß ein müdes Schäschen vorratterte, Herr Joris Jansen sich langsam und etwas verklammt unter dem Spritzleder herausarbeitete und zu dem vermickerten Henn Kogeleboom sagte: »Henn, Ihr verköstigt Euch mit Pferd und Geschirr im ›Fröhlichen Landmann‹. Laßt Euch nichts abgehen; denn wer mit Joris Jansen 'ne Tour macht, nimmt auch schieren Hafer hinter Ganaschen und Maulwerk. In 'ner knappen halben Stunde kann ich retour sein. Also adjüs denn.«

»Adjüs denn, Herr Jansen, und gute Verrichtung.«

»Merci . . .«

Das Kogeleboomsche Schäschen klapperte vergnügt dem ›Fröhlichen Landmann‹ entgegen.

In illo tempore . . .

Ja, in illo tempore trat Herr Joris Jansen, der Chef und Inhaber der löblichen Firma in Kleve, über die Hausschwelle seiner Tochter in Heiligenbaum.

Etwas Richterliches war ihm zwischen Samtweste und Schemisettchen gefahren.

Er fühlte sich ordentlich. Er hatte seit gestern abend noch nicht an Entschlossenheit und Schwungkraft verloren. Leider, trotz seiner geschäftlichen Regsamkeit, er hatte viele Tage seines Daseins verdrusselt und wider Willen und Wollen Dinge groß werden lassen, die er besser als fette Brummer an die erste beste Stubentapete geklatscht hätte. Er ärgerte sich zwar über die Zuträger, die zweifelsohne ihm und seiner Tochter etwas ankleben wollten . . . aber letzten Endes, er war wissend geworden . . . hatte dem Kaplan und seinem Freunde Aloys zu danken, trat in den Vorflur, befreite sich hier von Paletot und Halströster, schob seinen Hut über einen Holzpflock, krauste seinen Adlerflaum aufrecht und begab sich, ohne viel Komplimente aufzustellen, in das Wohn- und Studierzimmer seiner einzigen Tochter.

»Tag!« Mit diesem kargen Gruß warf er sich schwer und widerborstig aufs Sofa. Der pure Zorn war ihm geradezu an den Halszapf gefahren. »Aber nanu . . .!« das hätte er schwerlich erwartet: Hahn und Henne in der nämlichen Falle. Er lachte hell auf, und der sonst so gutmütige Mann hatte glühende Flocken und Schlacken vor Augen. Die Hände krampfhaft über die Krücke seines Stockes gelegt, pfiff er scharf durch die Zähne: »Ich sehe, ich bin hier ungelegen gekommen, das heißt: ungelegen für euch, aber gelegen für mich, denn zwei Minuten später wäre ich vielleicht ein armer Schwalbenfänger geworden, hätte meine Tochter verloren, um sie in der Hand eines mir nicht genehmen Mannes zu wissen.«

»Herr Jansen, ich möchte bemerken . . .«

»Ich bitte, Herr Kästner, was geht hier vor ohne mein Zutun? Das ist ja gottsträflicher als ein dreimaldurchdestilliertes Satansgewitter. Ich dachte zuerst: es ist nur bloß leeres Geschwätze, Hochwürden und Ferkulum haben daneben gefuhrwerkt. Und ich kapitales Untier von Ratten- und Schermausfänger . . .« und der schwere, asthmatische Herr mit dem Diplomatengesicht und dem weißen Adlerflaum an den Schläfen, erhob sich, trat schwerfällig auf seine Tochter zu und fragte mit blutunterlaufenen Augen: »Gib Antwort. Herr Kästner ist mir keine Rechenschaft schuldig. Aber du schuldest sie mir. Henriette, was soll das? Sonst machte ich Nägel mit Köpp, und nu willst du solche verfertigen? Aber ich sage dir hiermit: ich allein schmied sie weiter. Auch in dieser Geschichte.«

»Vater! das ist meine Affäre!«

»Was, deine Affäre?«

»Ja, meine Affäre. Mein ureigenes Recht. Mein überkommenes menschliches Recht über meinen Leib und meine Seele verfügen zu dürfen.«

Sie erstarrte in ihrer eigenen Hoheit.

Joris Jansen prallte zurück. Er suchte nach Luft. Endlich haspelte er einen dünnen Faden herunter.

»Wo ich der alleinige Herr meines Hauses . . . wo Mutter schon lange von mir gegangen . . . wo ich selber nicht weiß . . .

»Vater auch da nicht. Außerdem, warum diese jähe Bedrängnis? Die Angelegenheit ist noch lange nicht spruchreif geworden. Die Liebe braucht stille Entfaltung. Bis heute sind noch keine bindenden Worte gefallen, bis heute bin ich noch keinem verpflichtet . . .«

»Was, keinem verpflichtet?! und da müssen andere kommen, um mir in den Ohren zu liegen: Henriette Jansen und der neumodische Lehrer aus Kleve, die schmeißen ihre Runkelrüben zusammen . . . und ich, Joris Jansen, habe ihnen nur Maulaffen entgegenzuhalten – ich Joris Jansen von der Kavarinerstraße in Kleve.«

Er wandte sich jählings.

»Herr Kästner, wie ist das?«

Der trat zwischen Vater und Tochter.

»Ja, Herr Jansen, ich kann es nicht leugnen. Seit langem bewerbe ich mich um die Hand Ihrer Tochter. So auch heute.«

»Dann verstehe ich nicht. Ein Mann wie Sie ist doch kumpabel, die richtige Tür zu finden.«

In den Schläfen des Gemaßregelten begann es zu hämmern.

»Nicht so, Herr Jansen. In diesem Falle: die Tochter geht vor. Sie bat um Bedenkzeit, ersuchte um Ausstand, vertröstete mich . . . und bevor ich ihr Jawort nicht hatte, fehlte mir auch das Recht, bei dem Vater vorzusprechen und ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten. Das zur Klärung der Sache.«

Joris erbebte. Seine Mundecken zuckten. In dem ganzen Mann war ein anderer Adam gefahren. Er hielt die Hand hin: »Herr Kästner, pardoniert meiner Zunge. So richtig. Nun weiß man doch gleich, mit wem man's zu tun hat, und ich wäre der Letzte gewesen . . . Aber hier,« und er legte die Novelle auf die Schreibtischkommode, »wie konnten Sie nur . . .? Wie konnten Sie in diesem Schriftsatz meine Tochter nur so in die Öffentlichkeit bringen, daß alle stielnäsig und langhörig wurden und sie nicht mal wußten, ob wir beide, Sie und ich, miteinander konform gehen.«

»Herr Jansen . . .

»Lassen wir das. Dafür ist jetzt keine Zeit da. Aber später vielleicht. Für heute nur dies noch. Ja, Herr Kästner, ich wäre der Letzte gewesen . . . und ich kann Sie verstehen, denn Henriette hat was in die Suppe zu brocken. Auch Sie . . . Gewiß, Sie haben Ihre Verdienste als Mensch, als Lehrer und sonstwie . . . Indessen meine einzige Tochter . . .« und der frische Hafer begann wieder zu stechen, die wahnwitzige Liebe um sie steilte sich hoch . . . Er tat einen hastigen Atemzug, um unter heftigen Stößen zu sagen: »Aber alles, was recht ist: Henriette ist auch nicht so ohne. Sie gilt mehr als die anderen Töchter des Landes. Sie ist zu Hohem berufen.«

»Aber Vater . . .

»So ist das. Das weiß ich . . . das sagt mir mein eigener Gusto . . . das sagt mir die Welt . . . das pfeifen die Spatzen von den Jauchefässern herunter . . . damit liegt mir der Kaplan stets in den Ohren . . .«

»Wer?« fragte Heribert Kästner mit aufgerissenen Augen.

»Hochwürden, der Kaplan von Warbeyen.«

Ein verhaltener Aufschrei: »Also wieder Heinrich Verschüren!«

»Jawoll. Eben derselbe . . . und er hat sie wert und würdig befunden zu den kommenden Passionsspielen um die heilige Pfingstzeit . . .«

»Sie doch nicht in den Dienst dieser Bühne zu stellen?«

»Und ob, mein lieber Herr Kästner. Sie wird die Maria von Magdala spielen.«

Er blähte sich auf. »Jawoll, sie allein wird sie spielen.«

»Immer wieder dieser Heinrich Verschüren!«

Er warf sich herum: »Henriette, weißt du darum?«

»Ich weiß es.«

»Und er, der Kaplan – war er in dieser Angelegenheit bei dir?«

»Ja«, sagte sie fest und bestimmt, »schon zu widerholten Malen. Aber erst gestern ist das Projekt spruchreif geworden.«

»Und das ohne mein Wissen?«

Sie lachte kurz auf: »Was soll das? Bin ich nicht frei? und was ich meinem Vater schon sagte, das gilt auch für dich: Heribert, was ich zu tun gedenke und nicht zu tun gedenke, das ist lediglich meine Affäre.«

Er wurde bleich wie die Wand . . . bot ihr die Rechte . . . und schritt der Tür zu.

»Henriette, wir sehen uns in Warbeyen wieder. Noch hoffe ich, wenn es auch schwer fällt zu hoffen. Aber deine Bedenkzeit nehme ich mit mir!«

 


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