Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

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Zehntes Kapitel

Es war schon so. Langsam und feierlich sanken die Sterbelaken über das Beerdigungsinstitut ›Pietas‹, Kavarinerstraße 15 in Kleve.

Joris Jansen war nicht mehr zu retten gewesen. Sanft und selig, ohne nochmals zur Besinnung zu kommen, hatte ihn der Engel mit den düsteren Schwingen zu seinem Herrn und Heiland geleitet.

Die Kavarinerstraße trauerte, Kleve trauerte, selbst die nächste Umgebung des weiten Kreises stand unter einer gewissen Wehmut und Benommenheit, denn Joris' Lebensbuch wies keine faulen Stellen auf, keine Rasuren, und die Wage des Richters meldete: »Gewogen und nicht zu leicht befunden.« Aber er mußte von hinnen. Gott hatte es wollen. Es war nichts mehr zu ändern. Wohin man hörte, überall nur dieselbe Einschätzung und das nämliche herzbewegende Mitleid.

Herr Baumann und Frau waren eine einzige, bedeutsame und ergreifende Trauer. In Joris hatten sie ihren Wohltäter, ihr vierblätteriges Kleeblatt, den Begründer ihres jetzigen Glückes, ihren Freund und Mentor verloren. Der nunmehrige Alleinchef war eine junge Trauerweide ohne Halt und Stecken geworden. Dann aber kam wieder der ganze prächtige, zugreifende und energische Mann aufs neue zum Vorschein. Er marschierte zu Bürgermeister und Stadtverordneten, stellte ihnen das Geschehene lebhaft vor Augen, pries den Verstorbenen über den höchsten Kleereiter der besten Ackerparzelle und ersuchte den Magistrat, den einsamen Weg, der von der Hospitalkapelle zum Friedhof führte, auf allewige Zeiten Joris-Jansen-Straße zu nennen, was auch Beifall fand und einstimmig zur Annahme gelangte.

Das war erreicht, und der Name ›Joris Jansen‹ lebte weiter in Kleve.

Brav so, Herr Baumann!

Auch die Gutsbesitzer van Laak und Thönissen waren nicht müßig geblieben. Gleich nach Eingang der Trauerkunde hatten sie ihre Steilfahnen auf Halbmast hissen lassen und anordiniert: »Für fünf Minuten absolute Ruhe und Trauereinkehr«, und siehe: kein Spaten stieß in den Boden, keine Futterschwinge wurde bewegt, weder Klaue noch Huf ließ sich hören, und als ein übermütiger Mistkratzer es wagte, ein langatmiges Kikeriki über den Hof zu krähen, war Dores van Laak nahe dabei, dem Ruhestörer den Kopf von der Schulter zu drehen.

Selbst vom Dache des ›Blauen Schiffchens‹ in Warbeyen wehte die Flagge auf Halbmast . . . und am Tage selbst . . .

Die halbe Stadt war auf den Beinen, denn sie wollte doch dem braven Joris die Ehre erweisen.

Aloys Ferkulum erinnerte an das dumpfe, getragene Pochen von Schlägeln, an das Dröhnen eines entspannten Kalbfelles, und jedem der ihn sah, trat das schwermütige Lied vor die Seele: Es geht bei gedämpftem Trommelklang . . . Er begriff noch immer nicht so recht, fühlte noch immer nicht mit allen Fasern und Masern, daß ihm ein Rad vom Wagen gelaufen, und erst, als er in einem Auslagefenster der großen Destille auf der Stechbahn eine bauchige Bouteille Anisette gewahrte, dieselbe Anisette, die ihm stets in dem laulichwarmen Stübchen in der Kavarinerstraße anpräsentiert wurde, da erst klangen ihm wieder die eigenen Worte zu: »Nous avons, vous avez – un nu is se weck! ich meine die Anisette natürlich . . .« und da erst fröstelte er in die eisige Leere hinein, die der Tod seines Freundes um ihn ausgetan hatte.

»Joris, mein Joris . . .

Sein Gänsehals wurde zu einem Geierhals, seine vorgestülpten Augen zu richtiggehenden Kulpsaugen, sein Eierkopf zu einem Kopf, der das Unfaßbare nicht zu fassen vermochte und für das eines Irren erklärte, bis er sich der ganzen Umwelt, dem wirklich Bestehenden, der ganzen grausigen Wahrheit nicht mehr zu entziehen vermochte.

Also doch! – also sein Freund Joris Jansen tat nicht mehr mit, lag auf der Walstatt, war wirklich und wahrhaft aus der Grafschaft gegangen und bei seinen Vätern versammelt. Himmel und Elend! und am Tage selbst . . . am Beisetzungstage . . .

Noch einmal riß sich Aloys Ferkulum zusammen.

Es kam über ihn mit der Gewalt eines Großen. Mit seinem pompösen Zylinder, dem aufgebügelten Gehrock, seinem frischgefirnißten Stab mit der blitzeblanken Medaille stellte er sich an die Spitze des Zuges.

»Oremus . . .!«

Das elektrisierte, das zauberte ihm neues Mark in die Knochen.

Alles seinem Joris zu Ehren! Alles nur vom obersten Ende herunter! und von diesem heiligen Willen getragen, marschierte er vor der Geistlichkeit und mit dem mit Silberstreifen bordürten Paradewagen so würdig und doch so gespensterartig einher, als gälte es, den Gaugrafen der heiligen Feme mit Strick, Strang und Grein zu Grabe zu tragen.

»Joris, dir sei die Ehre, die Macht und die Herrlichkeit!« und mit glitschiger Hand schleuderte er beim Weitermarschieren den Medaillenstab zielbewußt bis in die Höhe der zweiten Etage, um ihn ebenso zielbewußt wieder einzufangen, genau so wie es der napoleonische Tambourmajor vor vielen Jahren exekutierte, der bewunderungswürdige napoleonische Tambourmajor mit Kokarde und Bärenmütze, von dem der Dichter aus der Bolkerstraße zu Düsseldorf in seinem Buche ›Monsieur le Grand‹ so ein gar Wundersames verkündet.

»Serviteur, monsieur Joris!« und ob dieser Ovation kam die große Gefolgschaft in ein erhebliches Staunen, erstaunte der Klerus, der doch sonst nur vor einem kirchlichen Wunder erstaunte, erstaunten die versilberten Eisenstäbe des Kirchhofes und alle Kreuze und Kreuzlein, die den weiten Gottesacker bewohnten.

Henriette war während all dieser Zeit eine gemeißelte Statue. Ihr schönes Gesicht gab sich wie immer, blieb ohne die Runen der Verzerrung und die einer wilden Verstörung, und doch war ihr grenzenloses Leid tiefer und herzzerreißender als das aller, die um Joris trauerten und weinten. Sie ähnelte der Mutter der Schmerzen am Fuße des Kalvarienberges. Daß sie ihren Vater in den letzten Monden und Wochen vernachlässigt hatte, wußte sie, aber es war keine Sünde für sie, kam überhaupt nicht in Frage, denn Gottesdienst ging über Menschendienst, die Passion über alle Miseren und Anfechtungen dieser Erde. Später, so dachte sie, würde sie ihm alles doppelt und dreifach entgelten, ihm die Hände unter die Füße legen, ihm seinen Lebensabend mit Diamantsplitterchen und himmlischen Lichtlein besticken, um ihn, wenn Gott ihn abberief, sacht und lind in ihren Armen sterben zu lassen. Nun war ihr das Geschick zuvor gekommen, hatte sie in Starre gewandelt, obgleich ihr Herz daran dachte, sich blutleer zu tropfen.

Die Pflicht hielt sie hoch. Sie fühlte sich im Dienste des Herrn, in seinem kühlenden Schatten und, wo es nottat, unter seinen Lichtperlen von unendlicher Fülle.

Die Getreuen von Heiligenbaum umschatten sie wie Apostel und heilige Frauen, so Imanuel Kerskes, der Erbauer der Freilichtbühne, so Frau Paramentenpräsidentin Anna Berendonk mit ihrem Luischen. Stephan tom Heuvel, der Junglehrer von Appeldorn, ausersehen, den Lieblingsjünger des Herrn zu verkörpern, stand ihr allzeit zur Rechten, Fräulein Philippine Malthus, die geborene Maria Salomea, allzeit zur Linken, und beide ließen nicht ab, ihr die dornigen Pfade weniger dornig zu machen, während die Worte des Kaplans sie wie Psalmen anwehten, wohlig und weich, sie auf ihre hohe Mission hinwiesen und inniglich dartaten: »durch Prüfungen wirst du geläutert, durch Schmerzen erhöht und erhoben und so deines Magdalenentums erst würdig. Fiat pax in virtute tua et abundantia in turribus tuis. Es werde Friede in deiner Veste und Überfluß in deinen Türmen und Speichern.«

»Gott möge es wollen, Hochwürden. Ich weiß es: er wird nicht mangeln. Ihr blühendes Wort auch zur Reife zu bringen, denn es wurde auf seinen Acker gesät und durch ihn selber befruchtet.«

»So ist es, Henriette. In seinem Dienste dürfen wir schaffen und wirken. Selbst in bitterster Trauer. Um so mehr wird uns die Gnade des Ewigen, werden die Spiele geheiligt. Ich sehe es kommen: durch die Heimsuchung wird die Auferstehung der großen Passion eine glorreiche werden.«

»Amen«, sagte die Büßerin im Magdalenenkleid. »Es geschehe zum Heile der Kirche und aller, die für sie leben und sterben.«

Herr Baumann führte sie als nunmehrige stille Teilhaberin in den Stand des Betriebes und den ersprießlichen Aufschwung der Firma ein und gelobte ihr feierlichst, als Geschäftsmann und Kavalier ausschließlich ihre Interessen im Auge zu halten, nichts zu unterlassen oder zu tätigen, was sein Gewissen nur in etwa belaste.

»Lassen Sie das«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Reines Gold ist nicht vollkarätiger zu machen. Das Herz von Severin Baumann wurde mit Apothekergewichten gewogen. Da fehlt nicht ein Quentchen . . . und wirft die Firma einen kargen Gewinn ab – ich werde mich freuen. Ich kann um so reichlicher spenden. Es gibt viele Bedürftige hier und in Heiligenbaum, und kommen Zeiten, die mit dem letzten Sparpfennig rechnen – ich nehme auch das hin. Also, Herr Baumann, ich bin mit Ihnen immer zufrieden ohne linkswärts oder rechtswärts zu schauen.«

Ihre Stimme zitterte.

»Also, mein Lieber: Sie und die stille Teilhaberin können sich nicht besser verstehen. Was mir Irdisches zufiel, ist in Ihre Hände gegeben, als Treuhänder und werter Berater.«

Herr Baumann wollte irgendetwas erwidern, brachte aber kein Wort über die Lippen.

Nur seine Augen schwammen in einem hellen und glücklichen Wasser, und da wußten beide: die Firma fußt so lauter und rein da wie das Gloria in der Weihnachtsmette.

Noch am späten Abend saß er mit seinem Fränzchen im Geschäft, um das Nötigste für den anderen Tag zu bereden, als Aloys vorsprach, noch immer mit Gehrock, Zylinder und Medaillenstab, aber ganz verweht und völlig gebrochen.

Der Chef entsetzte sich.

»Herr Ferkulum – Sie?! Womit kann ich dienen?«

»Sie müssen mich schon exküsieren, Herr Baumann, aber mir fehlt die Atmosphäre.«

»Was für 'ne Atmosphäre?«

»Die von Joris, Herr Baumann, und da Joris mit Tod abgegangen ist, muß ich diese bei Ihnen schon suchen, denn so 'n bißchen Atmung von ihm ist wohl auf Sie übergegangen.«

»Natürlich! Nehmen Sie Platz! Das werden wir gleich haben«, und zu Fränzchen gewendet: »Mein Hühnchen, du weißt ja.«

Jawohl, das Hühnchen wußte Bescheid, es knisterte ab, um gleich darauf mit der stattlichen Anisette-Bouteille und etlichen Gläschen wiederzukommen, einzuschenken und mit blanken Augen aufs herzlichste anzupräsentieren.

»As't üh belieft, Mynheers!«

»Merci!«

Und Ferkulum langte zu, nahm sein Gläschen und sagte: »Meine Herrschaften, bloß stehenden Fußes, um keine weiteren Fisimatenten zu machen. Aber ich mußte diese Atmosphäre genießen, mußte noch einmal diese weihevollen Räume betreten, um 'nen gewissen Weihepunkt in unserer Trennungsstunde zu haben. Joris, du bist von uns gegangen, hast dich empfohlen als Vertreter von bedeutsamen Kompläsanzen, ohne groß Wesen von deinem Ableben aufzustellen. Das ehrt dich, das ist so die richtige Bescheidenheit von 'nem königlichen Kaufmann mit bürgerlichen Errungenschaften und Fakultäten. Möge es dir dort oben behagen. Fühle dich wohl zur Seite des ewigen Vaters. Behaupte dich als Mann und Seniorchef des Beerdigungsinstituts ›Pietas‹, Kavarinerstraße 15 in Kleve, auf dem goldenen Thron der Barmherzigkeiten mit dem der ewigen Mächte, auf daß es dir wohlergehe im Himmelreich und wir stolz sein können auf dich hier in diesem Tale der Tränen. Herr Baumann, meine liebe Frau Baumann – stoßen wir an. Joris, es gilt . . .

Damit hatte er seine Anisette hinter die Binde gegossen.

»Aus!« und er stülpte sein Gläschen auf der Tischplatte über.

* * *

Leuchtende Ostertage gingen über die niederrheinische Tiefebene. Kesselblanke Lichtwolken standen jenseits des Rheines, wanderten in aller Gemütsruhe weiter landeinwärts, brachten fruchtbare Regenschauer oder warmes Scheinen und Glänzen, je nachdem es die Frühlingstage erheischten. In den Bauerngärten standen Stachelbeer- und Johannisbeersträucher in smaragdenen Röckchen, die Obstbäume spannen grüne Seide, die silbernen Birkenstämmchen an der großen Berglehne säuselten mit ihren herzförmigen Blättchen lind gegeneinander, als müßte aus diesem Säuseln sich die Worte des heiligen Thomas von Kempen ringen, die da lauten: »Streit du, o Herr, für mich. Überwältige die unreinen Begierden in mir. Gebiete du den Winden und Stürmen, auf daß sie schweigen. Sprich zu dem Meere: Verhalte dich, Meer! zum Sturmwind: Wehe nicht länger! – und wir werden Ruhe finden im Lande, die wir nötiger haben als die täglichen Brotschnitten, als das Vaterunser auf unseren zagenden Lippen.«

Aber nur wenige hörten darauf. Der finstere Geist der Hierarchie machte die niederrheinischen Herzen stumpf gegen das Ringen um eine nationale Bewegung, gegen die Kraft der zerquälten Hoheit des eigenen Reiches eine Gasse zu bahnen . . . und wie mußte es den nationalen Katholiken die Seelen zerfleischen, als bei der Siegesfeier der alliierten Schacher und Heuchler sich von Rom der Glückwunsch einstellte: »Von Frankreich aus möge sich Gottes Gnade über die ganze Welt ergießen, was menschliche Klugheit auf der Versailler Konferenz begonnen, als Herr Emil Ludwig, geborener Cohn, aus dem Munde des Nuntius Ratti einheimsen konnte: Es ist das Luthertum, das den Weltkrieg verloren! . . . mit anderen Worten: die Hierarchie hat Deutschland in die Knie gezwungen, ihm den Mund mit Kirchhofserde verstopft, es zu den Toten geworfen. Das ewige Licht leuchte ihm in nomine patris . . .«

Nein, im Herzogtum Kleve und den benachbarten Grafschaften kamen die Geister nicht zur Seßhaftigkeit, aber den meisten dämmerte doch der Gedanke: wir müssen aus dem gottverlassenen Irrgang heraus, um wieder den Weg zur Arbeit, zur Treue und damit den zum Aufstieg und zu den Sternen zu finden . . . und wenn ein Ringen käme, das vieles in Trümmer legen würde, möge es kommen: denn an Gott und Vaterland darf das Herz nicht verzweifeln, denn es bringt Einkehr, nimmt die Schlacken und sondert die Spreuicht vom Weizen. Hört die Stimme eines unerschrockenen Mannes: »Fort mit euren gleisnerischen Zungen, mit euren pazifistischen Fahnen! Es ist das alte Trugbild vom Turmbau zu Babel! Keine Verheißungen, keine leeren Formeln und Sonderinteressen – sondern Taten wollen wir sehen, Taten für Freiheit und Ehre. Das überirdische Reich ist kein weltliches Reich. Jenes ist anders denn dieses. Kreuz und Kampf, Mühsal und Leiden will schon der Heiland, wie er denn spricht: Der Jünger ist nicht über seinen Meister. Ich bin nicht kommen den Frieden zu bringen auf Erden, sondern das Schwert. – Ein Christ sein, heißt Kämpfer sein, nicht ein Zänker und Ränkespinner, ein streitbarer Herr wider alles Falsche und Verlogene, wider Verzerrungen der heiligen Botschaft. Die Majestät des Vaterlandes ist es wohl wert, dafür den Tod zu erleiden.«

Hörte Heribert Kästner die Botschaft?

Ja, er vernahm sie.

Hörte Heinrich Verschüren die Botschaft?

Ja, er hörte sie auch. Aber er hörte sie anders. Zwei Männer standen sich hart gegenüber, zwei Männer mit strenggemeißelten Gesichtern, mit leuchtenden Blicken . . . aber wie immer in Deutschland: hinter dem einen wurzelte Hödur, blind wie im nordischen Mythus, regungslos, ohne Bewegung, bis Logi mit dem verderbnisbringenden Mistelzweig zu ihm trat und ihn aufforderte, den vergifteten Zweig auf seinen Partner zu werfen . . . und doch hatten vor wenigen Tagen die Osterglocken über die weite Niederung gesungen und den Jubelruf gebracht: »Christ ist erstanden!«

Bald darauf kam Nachricht von Münster.

Der Kaplan hatte schon lange darauf gewartet. Endlich hielt er den heißersehnten Schriftsatz zwischen den Händen.

Just wie damals, so las er auch heute mit bewegter Stimme und gehobener Freude:

»Bischöfliches Ordinariat.
          J. Nr. 3650

Münster, am Tage der heiligen
Maria Kleophä.            

Pax vobiscum! Voraus sei gesagt: Ihr Vorgesetzter, Herr Jakob Ezechiel Schlüpers, Dechant von Warbeyen, wurde von diesem Schreiben verständigt. Der Herr wird ihm die Kraft verleihen, für die bemessene Zeit, auch ohne Ihr Zutun, die ihm anvertraute Herde zu hirten. Und Ihnen zur Nachricht: der hochwürdigste Herr Bischof betraut Sie mit dem heutigen Tage als Stellvertreter des erkrankten Seelsorgers von Heiligenbaum bis zur Zeit seiner Genesung und wünscht Ihnen ein gesegnetes und ersprießliches Wirken. Hinsichtlich der Passionsspiele seien wir weise. Tragen wir der Zeit Rechnung. Sie ist ärmer denn Hiob. Richten wir uns haushälterisch ein, bemessen wir die Opferschale nicht zu groß und zu reichlich, auf daß die Widersacher nicht kommen und sagen: Da seht ihr! Hüten wir unsere Zungen durch Gleißen und Prahlen, auf daß wir kein Ärgernis geben. Tragen wir durch die Spiele keinen Unfried in die Gemeinden der Andersgläubigen, verletzen wir nicht ihr Fühlen und Denken, denn auch sie sind Geschöpfe des Ewigen. Der hochwürdigste Herr will keine Heißsporne und solche, die sich eifriger geben als die Säulen der Kirche. Er wünscht ein Zusammenleben im Sinne Leo XIII., des weisen und fürsorglichen Papstes. Der Passion alles Hohe und Schöne. Wenn möglich wird das Bischöfliche Ordinariat gelegentlich einen Delegierten nach dort entsenden, um sich auch ihrerseits an der niederrheinischen Kunst zu erfreuen. Mit Gott denn! Noctam quietam et finem perfectum concedat nobis Dominus omnipotens auf daß wir nicht dem Laizismus und dem Nationalismus verfallen.

Josephus Tibus.                
Vicarius Episcopi Generalis«

Heinrich Verschalen tat einen tiefen Atemzug.

Sein heißester Wunsch war erfüllt.

Auch sah er: der Generalvikar wollte ihm wohl – ein Sprungbrett für später, eine stählerne Feder, seinen Ehrgeiz immer höher schnellen zu lassen.

Außerdem: »Auf nach Heiligenbaum! Deo gratias. Nur keine Sorge, Herr Generalvikar. Das mit der Opferschale – das weiß ich schon besser. Die Opferschale soll spenden, soll wachsen und einheimsen wie die Schale des Grals auf der Burg des heiligen Berges. Aus ihrem Blut soll der Kirche neues Leben erblühen, Segen und Sälde.«

Er lächelte.

Sorgfältig kniffelte er das Schreiben wieder in die früheren Falten, bekleidete sich mit seiner Sonntagssoutane, um dem Herrn Dechanten Jakob Ezechiel Schlüpers auch seinerseits von der Bischöflichen Order Kenntnis zu geben.

Dann ging er.

Es war kurz vor Mittagszeit, als er den Schulhof mit seinem lichten Lindengrün passierte, um die Dechanei zu erreichen.

Im links der Türe gelegenen Lehrzimmer standen alle Fenster geöffnet.

Hier amtierte sein Jugendgenosse von Kornelimünster, hier waltete sein einstiger Freund, dem gegenüber er jetzt herb und bitter geworden.

Er wandte den Kopf, um nicht sehen und hören zu müssen. Das erste gelang ihm, aber dem Hören konnte er sich nimmer entziehen. Er hörte.

Ein nadelscharfer Geigenstrich zerriß die Stille des Schulhofes. Dann ein schnittiger Auftakt und aus begeisterten Kehlen klang Ernst Moritz Arndts zündende Weise herüber:

»Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte,
Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß
Dem Mann in seine Rechte.
Drum gab er ihm den kühnen Mut,
Den Zorn der freien Rede,
Daß er bestände bis aufs Blut,
Bis in den Tod die Fehde.«

Heribert Kästner war ganz bei der Sache.

Sein Ich stand auf Kampf.

»Rettet die Jugend! Führt sie und lenkt sie! Erzieht sie im Geiste des Alten, des alten Sängers von Rügen, dessen stählerne Saiten im Sturmlied daherklirrten, als Deutschland in Not war, die napoleonischen Adler zu Geiern wurden und die arme Menschheit bedrängten. Vor den Tage- und Nachtweisen, den hochgemuten Freiheits- und Zornliedern des Unerschrockenen fuhren sie auf, steuerten landeinwärts, um schließlich mit matten Flügelschlägen über die Grenze zu krächzen. Rettet die Jugend! Wir haben sie nötig, denn Wolfszeit und Windzeit wird kommen, wo wir sie einsetzen müssen. Aber nicht wie die dahingemähte Blüte in Flandern. Zu ehernen Männern sollen sie werden, die wissen, wohin Weg und Ziel führt, und nicht wollen, daß hämische Mächte dabei sind, ihnen in Kampf- und Feuersnot den Dolch des Umsturzes in die Rücken zu bohren. Rettet die Jugend!«

So Heribert Kästner, während die erste Strophe über den Schulhof daherklirrte.

Das jähe Hinscheiden Jansens hatte ihn aufs tiefste getroffen, Henriette in Trauer und Flor, in ihrer kirchenstillen und ebenmäßigen Ruhe ihn aufs schwerste gepeinigt. Am Grabe des Vaters war ihre linke Hand noch linder denn früher gewesen, ihr schmerzzerrissenes Magdalenengesicht hatte ihn beim Scheiden noch schwerer erschüttert denn an sonstigen Tagen . . . aber mehr denn je aus seinem Innern heraus rang sich ein Drängen und Aufbegehren, ein Vorstoßen gegen etwas Feindseliges, von dem er nicht wußte, von wannen es herkommen würde. Deutsche Jugend . . .! Henriette . . .! O du mein Niederrhein . . .! Er wähnte einsam mitten in einer dumpfen, ekelhaften Stauflut zu stehen. Er sah Flore und beschmutzte Schleier wie Krähen- und Dohlenvögel darüber hin schwadern. Ein schlammiger Tobel wälzte sich gegen ihn an. Aus ihm drangen die Stimmen falscher Deuter und Propheten . . . die Lamentationen mißbrauchter Kirchengänger, Heuchler und Schreier . . . das verzweifelte Beten eines irregeleiteten Weibes . . . die Schmerzensrufe der eigenen zermarterten Seele: O du mein Deutschland!

Aber nur vorwärts!

Und wieder ein Geigenstrich.

Und nochmals ein schnittiger Auftakt.

Fünfundsechzig Blond- und Flachsköpfe warfen sich hoch.

Fünfundsechzig leuchtende Augenpaare waren auf ihren Herrn und Meister gerichtet.

»Achtung, ihr Jungs! die vierte Strophe!« und die vierte Strophe brauste und stürmte ins Freie, daß davon die zarten Lindenblättchen in ein heftiges Beben gerieten.

»Ihr Jungen – hallo!«

»Laßt brausen, was nur brausen kann,
In hellen, lichten Flammen!
Ihr Deutschen alle, Mann für Mann,
Fürs Vaterland zusammen!
Und hebt die Herzen himmelan
Und himmelan die Hände,
Und rufet alle, Mann für Mann:
Die Knechtschaft hat ein Ende!«

Mit dem letzten Wort hallte die Mittagsstunde vom nahen Kirchturm herüber.

Heribert Kästner brachte Geigen und Bogen an Ort. Er hatte sich manches Bleierne von der Seele gespielt und gesungen.

»Fertig! und auf und nach Hause, ihr Kerlchen!«

»Merci, Herr Lehrer!«

»Vergnügt euch und haltet Gott vor Augen!«

»Tun wir, Herr Lehrer!«

»Denkt auch an Ernst Moritz Arndt, der dieses Lied in bösen Zeiten gesungen. Wir brauchen es heute.«

»Machen wir!«

»Auch an den großen König mit den lichtblauen Augen!«

»Wollen wir auch!«

Eine feste, herzhafte Stimme erhob sich. Es war die eines untersetzten Jungen mit Haaren wie Buttermilch und Wangen, die frischer waren als die von Borsdorfer Äpfeln.

»Herr Lehrer!«

»Was soll's noch?«

»Wir spielen heute in der Mergelgrube, Herr Lehrer!«

»Was spielt ihr denn?«

»Den alten Fritz und den bockigen Windmüller.«

»Recht so! Adjüs denn!«

»Adjüs denn, Herr Lehrer!« und fort war die Jugend, als sei sie von Licht, Luft und Frühlingsfreude aufgeschluckt worden.

Eine Viertelstunde später verließ Heribert Kästner sein Amtszimmer, um sich in der Wirtschaft ›Zum blauen Schiffchen‹ an die bescheidene Mitttagstafel zu setzen.

Der Schulhof war menschenleer, wie ausgestorben.

Kein grünes Lindenblättchen legte sich auf die andere Seite, so still war es mittlerweile geworden.

Nur plötzlich . . . eilige Schritte bewegten sich über den Kies fort.

Eine dunkle Soutane kam von dem nahen Pastorat her.

Heribert Kästner erkannte den Träger.

Es war Heinrich Verschüren.

Wie auf stummes Geheiß hielten beide den Fuß an.

Aber nicht lange.

Der junge Lehrer grüßte kurz und abgerissen und wollte vorüber.

Der Kaplan rief ihn an: »Darf ich für einen Augenblick bitten . . .«

»Na – und . . .

Das markante Gesicht Kästners war für eine knappe Sekundenlänge auf den seines ehemaligen Studiengenossen und nunmehrigen Gegners gerichtet.

»Was soll das, Hochwürden? Seit Monden sind Sie mir geflissentlich aus dem Wege gegangen . . .«

»Das wäre auch heute geschehen. Die obwaltenden Verhältnisse zwangen hierzu. Leider, daß es so kam, aber es ließ sich mit dem besten Willen nicht ändern. Wo Schatten hinfallen, darf man nach lichten Stellen nicht suchen.«

»Und heute . . .

»Ich habe mit Ihnen dienstlich zu sprechen.«

»Dienstlich?! Mit mir?«

»Ja, mit Ihnen, Herr Kästner.«

»Seit wann sind Sie mein Vorgesetzter geworden?«

»Verzeihung! Es ist auch so nicht gemeint, aber es handelt sich immerhin um dienstliche Angelegenheiten, die zwischen uns zur Erörterung stehen.«

»Wer sandte Sie zu mir?«

»Keiner. Nur seine Hochwürden der Herr Dechant gab mir den Rat, mich mit Ihnen ins Einvernehmen zu setzen.«

»Dann bitte.«

»Aber bemerkt sei, ich spreche im Namen der Schulbehörde. Daß ich hierbei den Dechanten erwähne, geschah lediglich auf seinen Rat hin, uns sachlich zu verständigen, alle Unebenheiten bestmöglichst aus dem Wege zu räumen.«

»Ich danke Ihnen. Der Rat seiner Hochwürden wird von mir stets in Ehren gehalten, denn seine Anschauungen und die meinen gehen konform, haben sich in allen Fällen die Wage gehalten.«

»Heribert . . .

Dem jungen Kleriker lag bereits der Name auf der Zunge. Er gedachte ihn vorzubringen, besann sich aber und ließ ihn kurzer Hand wieder fallen.

»Nicht so! Ich meine . . . keine Sentimentalitäten. Sie führen nicht weiter. Bringen nicht den erhofften Erfolg. Steilen vielmehr die errichtete Wand immer höher und höher. Das erbrachten die Geschehnisse im ›Blauen Schiffchen‹ leider so mit sich.«

Um die Mundecken seines Partners zuckte es auf.

»Lassen wir das. Solche Rückschlüsse und Erwägungen verschärfen die Gegensätze.«

»Das will ich eben vermeiden, Herr Kästner.«

»Und Sie führen diese dennoch ins Treffen? Seltsam! und ich dächte doch, Sie wären auf den Rat Seiner Hochwürden des Herrn Dechanten gekommen.«

»Auf seine Bitte, Herr Lehrer. Warum sollte ich dem alten Herrn nicht diesen Gefallen erweisen? Ich verehre ihn innigst. Sein Amtieren ist einwandfrei, ja vorbildlich zu nennen. Er hirtet besser denn einer auf den Fluren von Sichem. Nur hier und da . . . sein Schuh rumpelt zu derb. Durch seine Kanzelreden klingen vielfach noch die Pickelpfeifen der preußischen Musizi, wo die sanften Klänge des Saxophons mehr Berechtigung aufweisen könnten. Die Weltordnung mit ihrem Willen und Wollen hat sich eben geändert. Dem ist Rechnung zu tragen. Wir gehen vielfach einig, um in gewissen Kardinalpunkten anders zu denken. Trotzdem – Sie sehen: ich habe seiner Bitte entsprochen. Alter verpflichtet.«

Heribert Kästner machte eine unwirsche Geste.

»Zur Sache. Lassen wir den prächtigen Herrn bei seiner alten soliden Denkungsart. Er wandelt schon die richtigen Pfade.«

»Er tastet vielmehr durch Nebel«, ereiferte sich Heinrich Verschüren.

»Ich nenne es Licht, Herr Kaplan. Aber nochmals gesagt: ich bitte zur Sache. Was hat der Kleriker dem Lehrer zu sagen?«

»Nur dieses: Sie werden mich für einige Zeit zu vertreten haben, Herr Kästner.«

»Ich – Sie?!«

»Ganz richtig.«

»Und in welcher Beziehung?«

»In Religion und Christenlehre.«

»Und die Gründe hierfür?«

»Sind kurz gesagt. Die hauptsächlichsten sind: Die Diözese Münster ist spärlich besetzt mit geistlichen Kräften. In dieser Hinsicht hapert es an allen Ecken und Kanten. Der Dechant von Heiligenbaum erkrankte, bedarf der Erholung und hofft sie im Allgäu zu finden. Das Bischöfliche Ordinariat genehmigte das Urlaubgesuch und setzte sein Sigillum darunter. Auch ich wurde verständigt.«

»Auch Sie . . .

»Ja, auch ich. Der Generalvikar dekretierte am Tage der heiligen Maria Kleophä: Sie haben Seine Hochwürden bis zu seiner Genesung in Heiligenbaum als Seelsorger zu vertreten. Außerdem: die geistliche Behörde bestellt Sie als Sachwalter für diese geweihte Stätte, um dortselbst im Interesse der geplanten Spiele und der Kirche zu wirken.«

»Also bestellte Sie dorthin?« fragte Heribert Kästner.

Um seine Mundecken kräuselte sich ein schmerzliches Lächeln.

»Ich verstehe: Sie gedenken aus unmittelbarer Nähe die Proben bequemer und sachlicher leiten zu können?«

»So ist es.«

»Herr Kaplan«, und in den Tiefen seiner Augen begehrte es auf, als er fragte, »und sonst aus keinem anderen Grunde?«

Heinrich Verschüren verfärbte sich.

Aber nur für eine Augenblicksspanne.

»Was soll das? Ich bitte mir aus: nur keine Hintergedanken.«

»Noch liegen sie fern, Herr Kaplan. Noch zwinge ich sie . . . noch halte ich sie mit ehernen Fäusten . . . Aber wer garantiert mir dafür: meine Knöchel dürften eines Tages erlahmen, und da könnte es immer passieren . . . Ich warne . . .«

»Herr, das mir?! wo Sie doch wissen sollten: ein geistliches Kleid ist ein heiliges Kleid!«

Eine weiße geballte Hand stieg steil in die Höhe, um von hier aus scharf in die Lüfte zu zeigen.

»Herr, das sollten Sie wissen!«

»Das weiß ich und hab's auch immer so und nicht anders gehalten . . . und trotzdem: ich warne. Mir könnten eines Tages die Knöchel erlahmen . . . und dem möchte ich Einhalt gebieten . . . Ja, Hochwürden, ich warne . . . Ich will nicht, daß böse Gerüchte . . .«.

»Was Sie . . . so wollen Sie kommen . . .

Heinrich Verschüren streckte sich vor. Er sicherte. Er suchte den weiten Platz ab, als wäre ihm ein verdächtiges Geräusch zu Ohren gekommen. Aber nichts ließ sich hören. Kein Säuseln. Nicht die Spur eines Vogels. Der Schulhof lag verlassen und einsam da wie eine Sterbekapelle zwischen toten Eifelbergen.

Das Gesicht des jungen Klerikers kehrte zurück, setzte sich fest in das seines Gegners.

Erst noch ein ersticktes Atmen und Keuchen, ein Ringen und Suchen. Es ebbte zurück wie von stählernen Sehnen gemeistert. Heinrich Verschüren hatte sich wieder unter Zaum und Kandare, als wäre gar nichts geschehen.

Mit Daumen und Mittelfinger knipste er ein zartes Stäubchen von seiner Soutane herunter, um anzudeuten, dieses Gewand ist ebenso lauter wie das eines Seliggesprochenen. Ihm haftet nichts an, was es zu entweihen vermöchte, es sei denn: die profane Welt hätte versucht, ihm etwas Unsauberes auf die blanke Wolle zu spritzen.

»Fort mit diesem Verdacht, mit diesem trügerischen Hinweis! Mein Kleid ist wie das Tuch der Patena. Die Stunde wird kommen, wo es heißt: Weise dich aus oder erwarte das Gericht dessen, der letzten Endes das Urteil spricht: Erhöht oder verworfen. Aber ich sehe, Sie stehen mir in den letzten Wochen und Monden immer entgegen. Früher Schulter an Schulter mit mir, wurden Sie mir der erbittertste Gegner.«

»Sie irren.«

»Meinen heiligsten Plänen rufen Sie ein unerbittliches Halt zu. Der Freilichtbühne, der Passion mit ihren Werten und Barmherzigkeiten stehen Sie schroff gegenüber und sind immer noch willens, ihnen die kalte Schulter zu zeigen.«

»Auch das ist ein Irrtum.«

»Weshalb denn liefen Sie Sturm gegen mich und meine projektierten Spiele, damals im ›Blauen Schiffchen‹, als wir dem alten Herrn von Warbeyen die letzte Ehre erwiesen? Damals . . . Oder war es nicht so? Schoben Sie mein Wort nicht verächtlich beiseite, traten Sie nicht die heiligen Opferkerzen aus, die ich aufstecken wollte?«

»Herr, ich muß mir verbitten. Sie zeigen die falsche Seite einer doppelt falschen Medaille. Die alte Maxime! Sie gingen, bevor Sie meine Gründe noch hörten. Es lag Ihnen besser. Sie wollten aber nicht hören. Jetzt Ihnen ein Privatissimum darüber zu halten, steht mir nicht an . . . und nur das sei gesagt: Herr, die Passion ist mir so heilig und hehr wie die konsekrierte Hostie des Altarsakramentes. Wer daran rüttelt, der rüttelt mir meine stolzesten Tempel aus Mörtel und Fugen. Herr, und was denken Sie sich?! Ich, ausgerechnet ich, sollte mich mit dem Austreten geweihter Opferkerzen befassen, die Spiele verdammen?! Das steht nicht in meinem Katechismus geschrieben. Leuchten sollen die Opferkerzen, leuchten und flammen . . . aber dann erst sollen sie leuchten und flammen, wenn wir aufatmen können, wenn die wilde Not eines einst großen und gefeierten Volkes minder geworden – und dieses Volk wird das deutsche geheißen.«

Ein hartes Gesicht warf sich schroff in den Nacken.

»Ausflüchte und müßige Gedanken eines Auch-Katholiken! und dabei bringen Sie noch den herostratischen Mut auf, mir als Warner entgegenzutreten?! Die Welt verkehrt sich und schickt sich an, durch die Traillen eines Narrenhauses zu stieren. Sie schreit Hurra, wo sie im Staube liegen müßte und beten. Was fällt Ihnen ein?! Nicht Sie, sondern ich habe zu warnen, vornehmlich jetzt, wo Sie berufen wurden, an meiner Stelle das Wort Gottes, das christkatholische Wort, für einige Zeit in die mir anvertrauten Kinderherzen zu streuen, dieses Wort mit dem heutigen Zeitgeist in Einklang zu bringen . . . und da ich weiß, Ihre politische Einstellung mir gegenüber und Ihre Ansichten über die Weimarer Verfassung . . .«

»Herr«, unterbrach ihn Heribert Kästner, »was hat Ihre politische Einstellung und die der Verfassung von Weimar mit Religion und der Mission Christi zu schaffen?!«

»Vieles . . .! und darin liegt auch mein Bangen und Zagen Ihnen gegenüber und meine Warnung begründet.«

»Fürsorglicher Mann – Sie! Samaritan Sie vom lautersten Wasser! Was mich anbetrifft und im Hinblick auf die mir gewordene interimistische Bestallung sei Ihnen dargetan: Ich lehre nach dem Willen und Wollen meines Herrn und Erlösers, nach den Werken meines Gottes, der da war, der da ist, der da ewig sein wird. Ich lehre nach der Satzung und den unverbrüchlichen Heilswahrheiten meines christkatholischen Glaubens . . . und katholisch sein heißt: nach den Geboten Christi handeln und denken, Gott geben, was Gottes, dem angestammten Herrn das, was immer des angestammten Herrn gewesen, den Umstürzeln aufzukündigen, ihre aufgesogenen Lehren auszuspeien, den Sonderbündlern das gefährliche Handwerk zu legen, sie zu den Toten und Mißratenen zu werfen – heißt aber nicht: die dunklen Geschäfte gewisser Mittelsmänner, die den wahren Glauben umnebeln, mit Eifer betreiben, sie als Fremdkörper am wahren und lauteren Körper zu dulden; heißt nicht, wie noch kürzlich geschehen, den lauten Rufer im Kampf der Wagen und Gesänge, der da predigte: ›Es kommt einem schon der Kaffee hoch, wenn man Zentrum und Preußen in einem Namen nennt, denn die Prälaten hassen nichts mehr als den Glanz eines geeinigten Deutschlands‹, in Sumpf und Morast zu verdammen, um andern Tages mit dem nämlichen Rufer Arm in Arm in die Schranken zu treten, um politische Sondergeschäfte zu machen. Katholisch sein heißt Duldsamkeit üben, auf Wache stehen, die letzte Ader der Jugend zu festigen, sie von nationalem und vaterländischem Geist durchbluten zu lassen. Was ich sonst fühle und denke, brauche ich keinem unter die Nase zu binden. Aber die verfluchte Pflicht liegt mir ob, wie 'n Gamsbock den Wachtpfiff zu pfeifen, wenn ich es für nötig halte . . . und liegt Gefahr im Verzuge, dann, Herr Kaplan, wird eben gepfiffen . . . und seien Sie überzeugt, ich weiß schon zu pfeifen.«

»Im Sinne der Junker und Fürstenlakaien, und wäre Ihre Anschauungs- und Lehrmethode an maßgebender Stelle bekannt, Sie wären schon längst von dieser Scholle herunter.«

»Sie barmherzige Seele! Schon Leichenbitter für einen abgesägten Magister in optima forma! Meinen Dank schon im Voraus. Aber es bleibt dabei: ich meine nach meiner Einstellung, nach meinem Gewissen und meinem Ermessen. So und nicht anders. Auch jetzt, wo ich die Ehre habe, Sie zu vertreten. Darauf lebe ich, darauf sterbe ich, ohne mich an Sie, Herr Kaplan, und an Ihre sogenannte Botschaft zu stören.«

»Sie irren. Das Wort Gottes bleibt mächtig. Sie haben sich nach dem Willen Seiner Majestät des omnipotenten Volkes und meinen Intentionen zu richten.«

»Ich richte mich nach meinem Eid, dem bewährtesten Regime, das für mich noch immer mein Gewissen und den einsamen Dulder verkörpert.«

»Der Mann ist eine gestolperte Größe.«

»Herr, Sie sollten sich schämen . . .« und Heribert Kästner hatte Blut und Lohe vor Augen. »Sie sollten vor dem bitteren und entsetzlichen Walten des Schicksals Ihren Hochmut verleugnen, sonst sind Sie nicht wert, das Kleid eines Priesters zu tragen.«

Ein Schrei.

»Das mir?! Das mir – dem Stellvertreter Christi auf Erden?!«

»Herr Kaplan, Sie sind mir kein Fremder. Wir waren schon in Kornelimünster zusammen. Ich kenne Sie wie die innerste Falte meines eigenen Herzens. Ich weiß schon Bescheid. Ich kenne schon Ihre großen und bedeutsamen Seiten, aber auch die, die ich geringer bewerte. Und nun: Stellvertreter Christi auf Erden?! An Ehrgeiz mangelt es nicht. Sie scheinen nach den Bildern des Himmelreiches greifen zu wollen. Lassen Sie sich auslachen, Mann, und wäre die Angelegenheit mit ihren Folgeerscheinungen nicht so betrüblich und ernst, ich würde Ihnen zu Ehren 'nen regulären Purzelbaum schlagen . . .«

»Mensch – Sie! Das verlangt Reue und Leid. Das verlangt auf die Büßerbank, in die Knie hinein. Das verlangt die Strafe und den Zorn des Ewigen. Oder aber« und der junge Kleriker reckte sich auf, streckte die Arme gen Himmel – »erfolgt nicht Abbitte, nicht Reue und Buße, ersuchen Sie mich nicht, Ihr ›Ich armer sündiger Mensch, ich bekenne vor Gott und seinen Geschöpfen . . .‹ entgegenzunehmen – Sie hören von mir. Nur keine Sorge: Sie werden am Leben verzweifeln. Ich weiß den richtigen Weg schon zu finden, an die richtige Türe zu klopfen. Ich warne. Mehr kann ich beim besten Willen nicht aufbringen. Entweder so oder so. Abbitte, oder ich werde vorstellig werden.«

Heribert Kästner sah seinem Gegner still in die Augen.

Er hatte Mitleid mit ihm.

»Ich warte darauf«, sagte er ruhig.

Bald darauf lag der Schulhof verträumt unter dem Himmelreich.

Nur eine linde Brise kam herauf.

Sie schmeichelte von den Altwassern und den nahen Schleusenwerken herüber.

Die zarten Lindenblättchen begannen leise zu säuseln.

Ein Buchfink, der sein emsiges Weibchen beim Nestbau betreute, hub an, einen fröhlichen ›Reiterherzu‹ durch die andächtige Stille zu schmettern.

Ein großer Vogel schraubte über Warbeyen hin.

Er trug silberweißes Licht auf den Schwingen, die sich scheinbar nicht um Haaresbreite bewegten.

Dennoch ging sein Flug immer höher und höher, bis sie in dem silberweißen Licht endlich verschwanden.

 


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