Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

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Achtes Kapitel

Der Generalvikar des Bistums Münster, Josephus Tibus, ein sorgfältig gekleideter, feingliedriger Herr mit dem spitzen Gesicht eines Silberreihers, dem die scharfausrasierte Tonsur wie eine bleiche Oblate auf dem Hinterkopf ruhte, war gerade dabei, dem Verweser des Bistums die letzten Schriftstücke des heutigen Tages vorzulegen und die erledigten in eine dunkle Ledermappe zu bergen.

»Was sonst noch, mein Lieber?«

»Ein Schreiben an die niederrheinischen Pfarrer, das Zentrum betreffend.«

»Ja so! Ich bekenne mich streng zu den Ermahnungen des heiligen Vaters. Da gibt es kein Drehen und Deuteln. Gut, es mag sich in einer gewissen Schlüsselstellung behaupten, seine unveräußerlichen Rechte verfechten, aber ich will nicht, daß unverbesserliche Drahtzieher politisches Falschgeld verausgaben. Der niedere Klerus reitet vielfach auf fahlem Pferde, hört nicht die verwarnenden Signale des Tages oder will sie nicht hören. Dem ist Einhalt zu bieten. Die christkatholische Kirche ist ein Bethaus des Herrn und keine Arena für parteiliche Kämpfe und häßliche Ansagen. Übet Toleranz und würdigt auch die Meinung des Gegners. So nur stehen wir im Dienst aufrichtiger Werktätigkeit. Herr Tibus, wie ist das?«

Das gütige, samtbraune Auge des Bischofs erhob sich: »Also ich denke, in diesem Sinne wurde der Schriftsatz ediert und niedergeschrieben.«

»Bis auf den i-Punkt.«

»Dann her damit«, und mit fester Hand setzte der hochwürdigste Herr seinen Namen darunter. »Das wäre wohl alles?«

»Noch eins. Ein Bittgesuch des Kaplans von Warbeyen aus dem Herzogtum Kleve.«

»Sein Name?«

»Heinrich Verschüren.«

»Heinrich Verschüren?! Den sollte ich kennen. Jedenfalls, mir liegt so ein Klang in den Ohren.«

Der feine Kopf mit der scharfrasierten Tonsur verneigte sich leichthin: »Gewiß, hochwürdigster Herr; diesseits wurde ihm bereits das Imprimatur für sein Passionsspiel gegeben.«

»Ganz richtig. Ich erinnere mich. Heinrich Verschüren! Und seine Dichtung . . . ich las sie nur flüchtig. Herr Generalvikar, was ist Ihre Ansicht darüber?«

»Eine talentvolle Arbeit. Dramatisch gedacht und dramatisch wiedergegeben. Kein Zweifel: ein großer Gewinn für die katholische Weltanschauung. Ich sprach mit dem Regens darüber.«

»Und was sagte der Regens?«

»Seine und meine Ansicht deckten sich völlig.«

»Ja, ja – der Regens! Selbst ein poeta laureatus bis in die kleine Fingerspitze hinein. Seine neueste Kantate hat Sinn und Gemüt, ist mit seraphischem Wohllaut geschrieben. Jetzt – ich befinde mich völlig im Bilde. Der junge Kaplan steht mir greifbar vor Augen. Gute Konduite. Subtiler Katechet und präziser Ausleger der Kirchenväter. Das empfiehlt ihn aufs beste. Aber wenn ich nicht fehlgehe – der Herr Regens sagte mir auch: ein Heißsporn, ein schwieriger Untergebener, ein kleiner Dränger und Stürmer – dieser Heinrich Verschüren.«

Das Silberreihergesicht mit den etwas engstehenden Augen geruhte zu schmunzeln.

Mit unnachahmlicher Grazie bündelte er die Finger der rechten Hand spitz gegeneinander.

»Aber eine Kapazität, hochwürdigster Herr, eine nicht zu unterschätzende Kraft mit unbegrenzten Möglichkeiten. Ich kann sie nur dringend empfehlen. Aus solchen Kaplänen werden brauchbare Generalvikare geschnipselt, wie selten zu finden.«

»So, so!« lachte der Bischof und legte die Feder beiseite. »Mein lieber Josephus, haben Sie doch, bitte, die Freundlichkeit, das Fenster ein bißchen zu öffnen.«

Die weiße Oblate nahm einen bläulichen Ton an.

Der feingliedrige Herr geriet etwas außer Fassung.

Sein Gesicht wurde ernst.

»Aber hochwürdigster Herr, wie soll ich das nehmen?«

»Nu, nu!« meinte der Bischof. »Etwas ruhiger und besonnener von der Kanzel herunter. Nicht gleich mit dem Schopf in den Strudel des Fegfeuers. Drum nichts für ungut, mein Bester. Ich meinte nur so. 'ne alte, rechtschaffene Bischofsmütze darf sich auch wohl dann und wann so 'n kleines Spezialwitzchen erlauben.«

»Mea culpa! Hochwürdigster Herr, ich verstehe.«

Herr Josephus Tibus war wieder eitel Sonne und Freude. Nein – diesem Gütigen, diesem Menschenfreund konnte keiner gram sein.

Er legte die Hand auf die Herzgrube.

»Verzeihet! Benedictus es, Domine, in firmamento coeli.«

»Deo gratias! Und nun zum Gesuch Ihres Gönners. Sein Inhalt . . .

»Ist dieser. Schon geraume Zeit kränkelt der Dechant im Gnadenort Heiligenbaum. Er ist der Erholung bedürftig und erhofft einen Urlaub für die bayrischen Berge kurz nach Ostern bis gegen die Pfingstzeit. Die Ärzte haben ihm den Allgäu als zutunlich empfohlen. Um seine Stellvertretung nun hat sich der Kaplan Heinrich Verschüren beworben.«

»Warum gerade dieser?«

»Er ist mit Land und Leuten vertraut, kennt die Eigenart des kirchlichen Betriebes, weiß die Pilgerzüge zu regeln, etwaige Unebenheiten und Härten aus dem Wege zu räumen. Außerdem: um diese Zeit werden die Proben getätigt, die Szenenbilder geschaffen, und da wäre es im Sinne des Werkes äußerst förderlich, die leitende Hand des Dramaturgen und Dichters in unmittelbarer Nähe der Freilichtbühne zu wissen. Auf diese Weise ist beiden Teilen geholfen.«

Der Bischof nickte.

»Verstehe. Der richtige Ausweg. Das Bittgesuch wird hiermit genehmigt. Das Weitere überlasse ich Ihrem Ermessen. Und nun: bis morgen, Herr Tibus.«

Der Generalvikar neigte sich tief und schwand wie ein Schatten.

Ein langer Atemzug.

»So!« und der hochwürdigste Herr entnahm einer Silberkassette eine lange Zigarre, kerbte sie ein, um dabei mit sichtlichem Wohlbehagen zu sprechen: »Allein und Herr dieser Stunde! . . . und der liebe Gott wird 'nem alten und rechtschaffenen Haupt auch wohl dieses kleine Spezialpläsierchen verstatten. Ut Deus bene vertat, hier diese Zigarre, ich werde sie rauchen«, und siehe: ein fröhliches Räuchlein kletterte friedlich zur Decke.

Drei Tage später hing die Kaplanei von Warbeyen voller Geigen und Baßviolen. Die huben an, gesinnungstüchtig zu brummen und hellauf zu fiedeln. Auch zwitschernde naseweise Quinterchen waren dazwischen.

Heinrich Verschüren saß vor seinem Zylinderbüro.

Ein erbrochenes Schreiben mit dem Siegel der bischöflichen Behörde lag vor ihm.

Er hatte es erst überflogen, dann mit heißem Atem gelesen.

Das langte noch nicht.

Er mußte es nochmals durchkosten. So las er denn mit gehobener Freude:

»Bischöfliches Ordinariat.
J. Nr. 3480

Münster, am Tage der heiligen
Margarita von Cortona.

Pax vobiscum! Der hochwürdigste Herr Bischof hat Ihr Ansuchen wohlwollend erwogen und ihm Rechnung getragen. Hinsichtlich, Ihrer Stellvertretung in Heiligenbaum werden Sie rechtzeitig verständigt. Das Bischöfliche Ordinariat segnet Ihr Passionsspiel und wünscht ihm ein hohes Gelingen. Kämpfen Sie weiter in Christo.

Josephus Tibus,
Generalvikar und Komtur des Sankt Gregorius-Ordens.«

Na also! Und Heinrich Verschüren rieb sich so seelenfreudig die Hände zusammen, als wäre seine Obstkammer noch zentnerweise mit den delikatesten Paradiesäpfeln bestellt, und waren doch alle geworden, wie die Mäuse beim großen Mäusesterben alle werden, wenn etliche Hochwasserzeiten über sie hereinbrechen. Tat nichts! Zwei Tage später stand in allen niederrheinischen Kreis- und Volksgazetten zu lesen:

»Dem Niederrhein wird Heil widerfahren!

Allen Getreuen, Freunden und Gönnern zur Kenntnis! Das Bischöfliche Ordinariat hat entschieden, das Imprimatur wurde gegeben. Viele bedeutsame Kräfte stellten sich bereits selbstlos in den Dienst der hohen und heiligen Sache. Die engere und weitere Umwelt harrt schon klopfenden Herzens auf die weihevollen Tage um Pfingsten. Die Mysterien werden den Gnadenort doppelt und dreifach benedizieren. Alles Nähere bringen die später auszugebenden Prospekte. Aber schon jetzt sei gesagt: Die Opferschale ist groß, und was sie erübrigt, wird denen gegeben, die da mühselig und beladen sind, auf daß Licht werde, wo Finsternis war, auf daß Lächeln ist, wo Tränen die Augen verdunkeln

Heinrich Verschüren
Kaplan.«

Das war kurz, vielversprechend und sonder Flunkern und Prahlen wiedergegeben. Gewissenhaft stand hier Buchstabe neben Buchstabe, Zeile bei Zeile, keine von ihnen sagte zu viel, keine zu wenig. Allem war Ziel und Maß gesetzt, jegliches in harmonischer Weise geregelt. Das wirkte, brachte den ganzen Niederrhein in ein heiliges Schauern, ließ ihn schon jetzt fröhliche Ostern und gesegnete Pfingsten erleben. Die Kreis- und Volkszeitungen flatterten wie übermütige Sprähenvögel von Ortschaft zu Ortschaft, ließen sich nieder, wo's ihnen paßte, flügelten weiter, wo's ihnen so recht nicht behagte.

Eine davon trudelte in die Wirtschaft von Derksen, just in dem Augenblick, als Dores van Laak und Matthieu Thönissen den hinteren Stammtisch beehrten. Sie waren von der Vieh- und Eierbörse in Kleve gekommen und auf dem Heimweg begriffen.

Im ›Blauen Schiffchen‹ genehmigten sie sich einen ›Ollen Klaren met Klöntjes‹.

»Was neues?« fragte van Laak über die Schulter.

Derksen sprang eilfertig zu.

»Hier dieses, Mynheer«, und sein breiter Zeigefinger umriß die Stelle, die in großer Aufmachung die Überschrift zeigte: »Dem Niederrhem wird Heil widerfahren!«

»Merci. Wollen mal sehen.«

Er begann mit stillem Behagen zu lesen.

Sein Kollege löffelte derweilen ingrimmig in seinem Gläschen herum.

Matthieu Thönissen zählte nicht zu den geruhsamen Kostgängern des Herrn. Heute erst recht nicht. Eine niederträchtige Maifischgräte saß ihm zwischen den Rippen, machte ihn fuchsteufelswild, denn seine beste Milchkuh hatte sich in der verflossenen Nacht elend verkalbt, war mitsamt dem zur Welt gebrachten Jungvieh rettungslos in die Rübenschnitzel übergewechselt.

»Schwerebrett und kein seliges Ende!«

Seine Faust legte sich schwer auf die blankgescheuerte Tischplatte.

»Matthieu – du!«

»Was los denn?!«

»Das mußt du hören.«

»Hm!« machte der verärgerte Grundbesitzer, »dann lies man.«

Dores van Laak, allzeit ein frohes Gemüt und immer bereit, 'nem guten Bekannten, wenn er nicht gerade 'nen delikaten Fasanen zur Hand hatte, wenigstens 'nen schön angebräunten Entvogel unter die Naslöcher zu setzen, präsentierte die Anzeige so löblich und warmherzig seinem Kollegen an, als wäre sie aus der Offizin wie 'ne delikate Semmel gekommen.

Begeistert legte er das Zeitungsblatt ab.

»Kiek einer mal an! Ich bin zwar mit Heinrich Verschüren nicht immer Speck und Schwarte zusammen, aber hier gehen wir doch so ziemlich einig nebeneinander, und wenn der Lehrer auch 'ne konträrige Ansicht vertritt, das hier Niedergelegte ist nicht so ohne weiteres von der Futterschwinge zu blasen. Oder Matthieu, vertrittst du 'ne andere Ansicht?«

»Ich?! Nee!« sagte der Griesgram. »An diesem Kaplan kann sich unsereins schon manchmal so 'n kleines Exempel dran nehmen. Der weiß, was er will. Dem gehen die Gäule nicht durch. Der pflastert seine Worte so strack nebeneinander, wie wir's bei unsern besten Zuckerrübenplantagen nicht aufstellen können. Ob's aber stimmt, ob alles bei richtiger Beleuchtung sich auch als das echte Wort Gottes ergibt, das allerdings . . .«

Er zuckte die Schultern.

»Bitte, nochmal. Den letzten Satz hab' ich so recht nicht verstanden«, und Dores las mit gesättigter Stimme: »Aber schon jetzt sei gesagt: die Opferschale ist groß, und was sie erübrigt, wird denen gegeben, die da mühselig und beladen sind, auf daß Licht werde, wo Finsternis war, auf daß Lächeln ist, wo Tränen die Augen verdunkeln.«

»Halt!« rief Thönissen. »Das stimmt nicht. Da sitzt der Fuchs hinterm Haselnußstrauch und zeigt seine verdächtige Lunte.«

Dann ein erbittertes Lachen.

Dem Gutsbesitzer war wieder die verkalbte und eingegangene Milchkuh vor die umdüsterte Seele getreten.

»Nee, mein liebes Kaplänchen, das stimmt nicht! Darunter kann ich mein ›Matthieu Thönissen‹ nicht stempeln. Nicht um 'ne Bratwurscht. Krieg' ich wegen meiner verkalbten Kuh auch nur ein kirchliches Dittchen? Sind wir Ökonomiker nicht mühselig und beladen genug, und glaubt Ihr, die große Opferschale würde spendieren? Haben wir nicht Finsternis und Tränen die Menge – und meint Ihr, 'ne kirchliche Leuchte erschiene und sagte: Hier habt Ihr 'ne Portion silberner Kugeln? Schießt damit die Luderkrähen von Hypotheken von euren Pfannen herunter. Nee! Aber statt dessen powert der Herr Geheime Wirkliche Obergerichtsvollzieher die letzte Gackeleia von der beschmissenen Stange herunter, sagt adjüs und stellt noch 'ne Nachforderung für Fahrt, Kost und Bemühung von fünfundzwanzig Mark fünfzig in Rechnung. Nee, Dores, die große Opferschale bleibt kühl und weiß schon, was sie mit dem Erübrigten anfängt. Das wandert ins Ausland für schwarze Heidenkinder und so oder dient als Fond für die eigene Hilfsbedürftigkeit.«

»Das glaubst du?«

»Und ob! Höre mal zu. Ich will dir was ins Ohr flüstern.«

»Ich höre.«

»Na denn . . . 'ne alte Legende besagt: Kummt da von so ongefähr 'n frummes Nönnchen oder auch wohl so 'n grundgütiges Münchlein von langer Pilgerfahrt in 'ne steinichte Einöd. Also ein Nönnchen oder ein Münchlein . . . zwischen den vier deutschen Pfählen natürlich. Sieht sich verängstigt um, ob keiner es störe. Aber niemand ist weit und breit in der Ronde. So denn in Gottes Namen! Es zieht sich propter reverentiam in ein blühendes Ginsterbüschlein zurück und läßt allda sein Wässerchen fahren . . . Aus!«

»Wie ›aus‹?«

»Den Rest könntest du dir selber ausklamüsieren.«

»Nee, Matthieu.«

»Dann wisse: genau übers Jahr steht genau an derselbigen Stelle ein prächtiges Kloster, ein Kloster mit Refektorium, Schlafgelegenheiten, Scheunen und Ställen, mit Grasgarten und Wieswuchs, mit Ochs, Eseln, Knechten und Mägden und alles was sein ist. So kann die große Opferschale spendieren und tut's auch. Sie scheffelt ein, wir scheffeln aus. Sie bringt Fett und Schmalz unter die Frommen, wir munterieren uns auf an 'nem eingesalzenen Häring. Sie erntet goldenes Weizenkorn, wir nur Frucht, die bereits auf dem Halm sich schon verzweifelt mit dem preußischen Kuckuck herumbalgt . . . und schließlich wachsen noch die eingekleideten Heidenkinder heran, um, wie schon einmal geschehen, uns als schwarze Mohrenjünglinge die französischen Bajonetter mang die Rippen zu setzen. Gott straf mich!«

Matthieu Thönissen erhob sich: »Ja, das mit dem Nönnchen und das mit dem Münchlein . . .! und ich sage dir, Dores: aus dem Opferspiel und der gegenteiligen Ansicht springt noch ein Kniest heraus, der die ganze Gegend verstänkert. Paßt Achtung, wir werden's erleben. Nu aber los denn dafür. Mutter wartet, und ich kann meine beste Kuh nicht vergessen. Adjüs Derksen!«

»Guten Appetit, meine Herren.«

»Merci.«

Sie empfahlen sich eiligst.

Derksen sah ihnen nach und horchte auf das spiegelblanke Plaudern des Bächleins, das nicht weit von seinem Anwesen vorübergluckerte.

*

Die Luft wurde immer milder und sachter. Die Vögel mit den langen Stechern pfuitzten die Schneisen ab, fielen in die mulmigen Erlengestelle und verstanden es trefflich, unter grünendem Stangenholz und verrotteten Blättern zu wurmen und ihre Liebesspiele zu feiern. Achtung! Noch ist Büchsenlicht.

Matthieu und Dores sind da, zwei der gerissensten Grundherren zwischen Kleve und dem Emmericher Eiland.

Mit den scheinbar dümmsten Gesichtern von der Welt wissen diese Kerle die exaktesten Flinten zu führen . . . und siehe: hier blitzte es auf und dort blitzte es auf, ein kurzes Bellen und Bläffen – und das niederrheinische Land war um diverse Liebestragödien reicher geworden.

Schon in Gottes heiliger Morgenfrühe ließ die Singdrossel ihr munteres Schlegelpfeifchen ertönen, die Veilchen und Windröschen erwachten von dem munteren Jubel, bordierten die Bachränftlein, bestickten die Waldparzellen, und hoch über Heiligenbaum kreiste der erste Frühlingsfalke seinen Glorienschein über Gerechte und Ungerechte.

Von der nahen Hügellehne riefen die Äxte, sangen die Zimmermannsbeile ihr scharfes Klingen weit in die Gegend hinaus, schnarchten die Sägen vom ersten Morgenblenkern bis tief in die späte Dämmerung ihre unermüdliche Arbeit herunter. Jedereins war mit heiligem Eifer voll bei der Sache, denn jedereins fühlte: der Niederrhein sieht auf dich, der Kaplan segnet Arbeit und Schweiß, die Engel des Himmelreiches spenden dir Trost und Vergebung der Sünden, denn du stehst im Dienste der Kirche, in sakraler Gottesfron, bist daher gebenedeit unter deinen Mitmenschen, und wo Eifer und Gottesfron durch Besserwisser und Quertreiber mal in 'ne Sackgasse gerieten – dafür war Herr Imanuel Kerskes, der Oberleiter und Zimmermeister, gesetzt, die Sackgasse mit 'nem Eichenheister zu öffnen und dem Eifer und der Gottesfron wieder Luft und gute Gewohnheit zu geben . . . und als der gottesfürchtige Mann den ersten Schnepfenvogel, der die Heiligenbaumer Gemarkung mit seinem langgezogenen Stecher durchmurkste, regelrecht, wenn auch widerrechtlich eingebracht hatte, trat er stolz und großartig vor den Kaplan hin, salutierte und sagte: »Hochwürden, besser konnte man's nach den Planens nicht aufstellen. Mein Wort ist perfekt und läßt sich nicht lumpen. Die Freilichtbühne als solche besteht, und ich kann bloß noch dartun: nu haben die Dekorateure und die Komödiantenspieler ihr Wort zu sagen. Außerdem: meine eigene Rechnung wird möglichst doucement und milde gehalten. Das unterfertige ich pflichtschuldigst mit meinem Namen Imanuel Kerskes.«

»Meister, ich danke. Gott wird's lohnen, und ich werde nicht verfehlen, Ihren Eifer, Ihre Selbstlosigkeit, Ihre Kunstfertigkeit, kurz alles das, was Sie und Ihre Leute aufboten, in preislicher Weise unter die Menschen zu tragen und in meinem Gebet zu gedenken.«

»Soll mir angenehm sein.«

Ganz Heiligenbaum kam in rege Bewegung. Jeder Haushalt suchte den andern an Werktätigkeit zu überbieten. Der Paramentenverein der Frauen und Jungfrauen hatte im ›Fröhlichen Landmann‹ ein Extrazimmer gemietet, um nach gediegenen Vorlagen die vorgeschriebenen Kostüme zu richten. Das stichelte und stickte, bordürte und nestelte von morgens bis abends, während die Kaffeeschälchen nicht leer wurden und Mürbeteigplätzchen die Arbeit munter dahinfließen ließen. Nein dieses Schaffen und Wirken, dieses Rührigsein und Nichtmüdewerden! Auch die Szenenproben begannen, und jedesmal, wenn der Landpfleger auftreten mußte, machte sich Aloys Ferkulum schon früh auf den Weg, setzte sich neben den Führer des Personenautos und deklamierte und memorierte gesinnungstüchtig wie aus einer Synodalposaune über die niederrheinische Landschaft:

»Was muß ich seh'n, was Fürchterliches hören?!
Jerusalem löst sich aus Rand und Band!
Es geht ein Schrei von Dan bis Berseba,
Die Wüste weint und ihre Steine bluten . . .«

um kurz vor Einfahrt in den Gnadenort den ›Schafför‹, wie er sagte, zu veranlassen, die Hupe des Kraftwagens in Bewegung zu setzen und drei römische Tubastöße über Land und Leute zu tuten, ein Zeichen dafür: »Im Namen meines Herrn und Kaisers Gaius Julius Cäsar Octavianus semper Augustus ziehe ich ein, um über Jesum aus Nazareth Gericht abzuhalten und dem widerspenstigen Judenvolk gegenüber meine Hände in Unschuld zu waschen.«

Jedesmal, wenn Ferkulum in dieser Weise eintriumphierte, empfing ihn die Heiligenbaumer Jugend mit frenetischem Zuruf, umscharte ihn, geleitete ihn bis zur Schwelle des Sitzungslokales zum ›Fröhlichen Landmann‹, woselbst er sich nochmals wandte, den fuchsigen Zylinder schief über den Eierkopf rückte und in die düsteren Worte ausbrach:

»Ich, aber ich – ich will: Bringt Wasser mir.
Die Schale her mit lauterm Brunnenquell,
Auf daß ich Zeugnis gebe hier vor aller Welt.
Ich Pontius Pilatus, der Gerechte,
Ich bin nicht schuld am Tode dieses Mannes.
Jedoch sein Blut, es komme über euch
Und eure Kinder . . . und von Golgatha
Wird's bald ertönen mit Posaunenstößen:
Verflucht seid ihr für jetzt und alle Zeiten.«

Dann eine mächtige Geste: »Aus!« Mit der unnachahmlichen Grandezza eines spanischen Granden des Heiligen Officiums entschwand hierauf der Landpfleger aus niederrheinischem Geblüt in den engen Flur des ›Fröhlichen Landmanns‹.

Henriette Jansen jedoch stand inmitten der frommen Bewegung mit der ganzen Innigkeit eines mildtätigen und fördernden Cherubs. All ihr Sinnen war nur auf das eine Endziel gerichtet: das Passionsspiel hoch und hehr zu gestalten, hierdurch die Gläubigen in die Knie zu zwingen, die Lauen und Zweifler gläubig zu machen, ihr eigenes Ich zu verleugnen, die leidenschaftliche Glut, die ihr Innerstes verzehrte, abzudämpfen, oder, wenn nicht anders: diese Glut in den Dienst der Mysterien zu stellen, sie vom Irdischen fortzuführen und mit dem sanften Scheinen des ewigen Lichts zu umkleiden. Das nüchterne Grau des Alltags hatte ihr nichts mehr zu sagen, das leuchtende Lächeln des Tages ihr nichts mehr zu bieten. An das elterliche Haus dachte sie kaum noch, ihren Geliebten vertröstete sie auf geruhsame Zeiten, wo sie frei sein würde, die Erde wieder betreten könne mit ihren Blumen und Blüten, mit ihren Freuden und Anfechtungen. Jetzt aber – sie lebte nur noch in der großen Leidensgeschichte mit ihren Bußpsalmen und Klagegesängen. Sie fühlte mit ihr, sie duldete mit ihr, sie hörte den ehernen Schritt der römischen Söldner über das stumpfe Pflaster von Jerusalem einherklirren. Sie vernahm den harten Marsch gegen den Kalvarienberg, das trostlose Säuseln der verstaubten Ölbäume, das Seufzen und Knirschen des Kreuzes auf den steinichten Wegen, sie sah ihren Heiland, sich selber zu seinen blutigen Füßen hoch oben auf Golgatha . . . und über sie schmeichelte die linde und doch energische Hand seiner Hochwürden, die mit lauterer Zuversicht sich mühte, dem großen Geschehen und Werden eine bildliche und greifbare Wahrheit zu geben. Sein Wort machte das Unmögliche möglich, sein heiliger Eifer konnte dürre Bäume wieder zu üppigem Laub und köstlichen Blüten verhelfen. In illo tempore . . . Ja, in illo tempore: sie lebte und arbeitete in seinen Worten und Werken.

Der Gedanke an das Jenseits, an die Allmacht des ewigen Gottes ergriff sie, vornehmlich wenn die Hügellehne bei Heiligenbaum sich leichthin umschleierte und die ersten Sternlein zu flinzeln begannen. Aber etwas Herbes, Abweisendes haftete ihr an. Ihr zartes Gesicht, das des öfteren wächsern erschien, kerbte sich an den Mundecken ein, wurde wie das der Schmerzensmutter. Die weißen Hände streckten sich zeitweilig aus, als müßte sie mit ihnen die Wundmale des Herrn berühren, sie salben, sie mit köstlichen Narben und Ölen benetzen, und dennoch: sie blieb die Mittlerin und Fürsprecherin, das hohe und hehre Weib mit der eigenartigen und herben Schönheit, wie man es nur in den Gnadenkapellen und an den verträumten Altwassern des Niederrheins findet, die Unbefleckte mit dem unbewußten Gehabe eines mildtätigen und fördernden Cherubs.

Lasset die Kleinen zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.

Und der Cherub gedachte der Worte.

Er hob die Hand, seine Schwingen regten sich in ihrem Schwanengefieder und seine Augen leuchteten.

Und siehe, da scharten sich alle um Henriette, alle, die ihre Schule besuchten und alle, die dem Winke des Lehrers gehorchten: kleine und halbwüchsige, Stumpfnäschen und Spitznäschen, dunkle und flachshaarige, zopfige und solche, deren Köpfe Vater mit 'ner Zweimillimeterschere zugestutzt hatte  . . . und alle lauschten auf ihre Worte, auf das melodische Singen und Sagen, das sie ihrer Geige entlockte. Ja, lasset die Kleinen zu mir kommen, denn auch sie sollen dem Herrn dienen, ihn lieben, ihr Scherflein beitragen, der großen Passion mit kindlichem Herzen das schmerzensreiche Kränzlein um die Schläfen zu legen . . . und alle kamen, keiner fehlte oder ließ sich entschuldigen . . . und aller Augen leuchteten . . . und aller Mäulchen wurden größer und größer, denn täglich wurden Henriettens Worte inniger und zuversichtlicher, sprach die Geige mit Zungen, die denen ähnelten, die aus dem Himmelreich kamen.

»O Fräulein, wie schön! Fräulein, bitte, nochmal die nämliche Stelle! Ach Fräulein . . .!« Und Wort und Weise schmeichelten sich so sinnfällig in die begeisterten Mauseöhrchen hinein, die silbernen Stimmchen folgten so präzise der führenden Geige, daß man des Glaubens sein konnte, fünfundsechzig Lerchen stiegen aus einem blühenden Kornfeld steil in die Höhe.

»Brav so! Schön so!« Und die junge Meisterin nahm den ersten besten Flachskopf beim Wickel, küßte ihn auf die Stirne und sagte: »Das habt ihr fein gemacht. Ihr singt so hübsch wie die Posaunenengelchen am Auferstehungstage. Das wird den Herrn Kaplan aber freuen. Zur Belohnung dafür: übermorgen haben wir 'ne Hauptprobe in der großen Gnadenkapelle. Auch eure Eltern dürfen dabei sein.«

»Ach Fräulein! Ach Fräulein . . .!« Und die kleine Gesellschaft, Zopfige und Hosenmätze, umdrängte sie, umjubelte sie und geleitete sie mit blühenden Gesichtern in das schlichte Haus neben der Kirche, vor dem zwei geschorene Buchsbäume standen, straff und in Paradestellung, als hätten sie tagtäglich vor Henriette Jansen ins Gewehr zu treten.

Das sprach sich natürlich herum: übermorgen Hauptprobe in der neuen Gnadenkapelle.

Noch an demselben Abend erschien denn auch schon eine Deputation des Paramentenvereins, bestehend aus der Präsidentin, einer stattlichen Gutsfrau, nebst zwei Beisitzerinnen.

Die jüngste von ihnen trug einen weißen Karton zu.

Die Präsidentin, ein goldenes Kreuz auf der wohlhabenden Bluse, hub an: »Fräulein Henriette, unsere Herzen sind freudig in Gott, und wir begrüßen sie innigst. Wir hörten, und wenn wir nicht fehlgehen, haben die Kleinen wohl unsern Herrn und Heiland bei seinem Einzug in Jerusalem durch einen weihevollen Psalm zu begrüßen?«

»Ja, so ist es für die Freilichtbühne gedacht, meine Damen.«

»Wie himmlisch!«

Die Frau Präsidentin trat näher.

Ihr goldenes Kreuz geriet dabei in eine sachte und getragene Dünung.

»Nein, diese zarte Idee, den Psalm von Kinderstimmen singen zu lassen! Man staunt, kommt überhaupt nicht aus dem Staunen heraus. Trotz Ihrer bemessenen Zeit muten Sie sich noch übermenschliches zu, bringen Sie Opfer bei Opfer.«

»Aber ich bitte, meine liebe Frau Berendonk . . .«

»Nein, nein, es muß dabei bleiben: Sie bringen Opfer bei Opfer, die fast die Grenze des Erlaubten streifen. Aber eins darf ich sagen: auch wir, die Damen vom Paramentenverein, sind nicht müßig gewesen, haben fleißig bordürt und gestichelt, erstens um der Karitas willen und zweitens, um Ihnen zu Dank und Preis eine kleine Freude zu machen.«

»Mir . . .?!« fuhr Henriette zurück.

»Ja, Ihnen«, versetzte die Gutsfrau mit Nachdruck.

Dabei machte das Kreuz einen energischen Hopser, um sich bald darauf wieder auf der sanften Dünung zu wiegen.

»Diese Aufmerksamkeit war erst für später gedacht, aber was uns heute die Kinder erzählten . . .«

Sie wandte sich.

»Ich bitte, Fräulein Luischen . . .!« Und Fräulein Luischen, die jüngste Beisitzerin, machte sich sofort daran, den Karton zu öffnen, dessen Inhalt auseinanderzupellen . . . und sie pellte sacht auseinander: erst ein schneeweißes Linnentüchlein, dann geflochtene Schnürlein, ein großes weißes Seidenpapier, ein dito rosiges Seidenpapier und dann kam der Inhalt, der eigentliche Kern erst zum Vorschein.

»Bitte, Fräulein Luischen.«

Und Fräulein Luischen bot ihn der Gutsfrau.

Diese nahm ihn mit spitzen Fingern entgegen, ließ ihn niederrieseln und sich in seiner ganzen Schönheit entfalten.

Hierauf hob sie den Kopf mit der Inbrunst eines fetten, trinkenden Perlhühnchens, spreitete den Stoff auseinander, um mit einer äolsharfenweichen und laulichen Stimme zu sagen: Nein, Fräulein Henriette, wir durften nicht länger warten, denn was uns die Kinder erzählten . . . schon heute . . . Hier Ihr Magdalenenkleid! Glaube, Hoffnung und Liebe, Bewunderung und Verehrung für Sie wurden mit dieser Nadelarbeit verknüpft, und wenn wir einen Wunsch äußern dürften, so wünschen wir dieses: Bitte, tragen Sie das Magdalenenkleid bereits an dem Tage, an dem Sie gewillt sind, den Chor der Kleinen in der Gnadenkapelle zu leiten, uns würdig halten, den Einzug in Jerusalem schon vorzeitiger als die übrigen Menschen zu verkosten. Bitte, bitte . . .! es wäre für den Paramentenverein eine ganz besondere Ehre.«

Feuchten Auges nahm Henriette die sinnige Darbietung aus den Händen der Frau Präsidentin, fühlte sie doch, hier strömte ihr der Dank eines übervollen Mutterherzens entgegen.

»Wie lieb und gut von Ihnen«, sagte sie leise. »Wie erfreuten Sie mich. Ja, meine Damen, Ihr Wille geschehe.«

»Ach Sie . . .

Die Frau Präsidentin hielt sich nicht länger.

Das wohlhabende Perlhühnchen war rein auseinander.

Frau Anna Berendonk zog das junge Weib bewegt an die Brust, um dabei heimlich zu schluchzen: »Ich glaube Sie werden mal selig, wenn nicht heilig gesprochen. Mit Gott denn!«

Auch Fräulein Luischen sagte: »Mit Gott denn!« und als Henriette sie bis an die Hausschwelle geleitete, traten die zwei geschorenen Buchsbäume wie preußische Grenadiere ins Gewehr, präsentierten, um den Damen des Paramentenvereins das Honneur zu erweisen. –

Am gegebenen Tage strahlte das Gnadenbild in einem Kränzlein von elektrischen Flämmchen.

Weihe und Würde durchräucherten die Hallen der allerseligsten Mutter, der Gottesgebärerin, der Trösterin der Mühseligen und Beladenen.

Heiligenbaum und Umgebung strömten zu, besonders die Mütter, die ihre Kleinen unter den begeisterten Sängerlein wußten. Ein Summeln und Sagen, ein Schieben und Drängen. Jedereins wollte sein Herzblatt aus dem Chorus herausfinden, der sich vor der Empore des Hochaltares aufgepflanzt hatte – Knaben und Mädchen, Halbwüchsige und Dreikäsehohe, Rotbäckige und solche mit vermickerten Wangen, aber alle in ihrem besten Zeug, mit Schlöppchen und Schleifchen und alle dabei, die feierlichsten und leuchtendsten Augen zu machen.

Aller Blicke waren auf die Sakristei gerichtet.

Noch ein Räuspern und Hüsteln, dann tiefes Schweigen in der Gnadenkapelle.

Henriette Jansen war vor ihre Kleinen getreten . . . im Magdalenengewand . . . mit Geige und Bogen . . .

Hoch und hehr stand sie im Raum.

In strengen Falten legte sich das blaugraue Kleid um ihre geschmeidigen Glieder, enthüllte mehr als es zu verschleiern gedachte, bedeckte die Keuschheit ihrer Seele, ohne ihr dabei den Reiz ihres jungfräulichen Leibes zu nehmen.

Ihr gelöstes Haar fiel in schweren Wellen über die Schultern, über die sanfte Rückenlinie, ringelte sich in leichten Krüseln bis zu den Kniekehlen nieder.

Die Damen des Paramentenvereins fanden sie jetzt wirklich und wahrhaft einer Heiligen ähnlich. Sie gaben es weiter, flüsterten es hierhin und dorthin.

Eine Bewegung entstand.

Der Frau Präsidentin fiel es heiß von den Lippen: »Maria von Magdala!«

So und nicht anders, so hatte die Büßerin am blauen See gestanden, so den Heiland erschaut, so ihn gebeten, ihm die müden Füße mit Spezereien salben zu dürfen.

Die Heilige im Magdalenengewand!

Eine Glocke schlug an.

Sie kündete die elfte Morgenstunde.

Henriette Jansen straffte sich hoch.

Unter ihren Brauen zuckte es auf.

Ihr Haupt ging sacht in die Höhe.

Sehendes Auge, das die Ewigkeit suchte! Und siehe: ihr rechter Ärmel schlug über . . . ein weißer Arm wurde frei . . . der Bogen zog einen silbernen Ton, dem eine Kadenz folgte, die mit unendlichem Wohllaut verzitterte.

Und nochmals ein Strich, ein Locken und Werben, ein klingendes Zeichen – und fünfundsechzig fromme und jubelnde Kinderstimmen huben an ihren Psalter, ihr leuchtendes Hosianna zu singen. Meister Händels unsterbliche Weise aus dem Messias setzte ein, erfüllte die geweihten Räume der Gnadenkapelle, ging zu den Menschen. »Tochter Sions . . .« Ja, Tochter Sions, freue dich, rüste dein Kleid, bestelle dein Haus, denn dein Heiland ist kommen. Heilige Weise! Und die hellen Kinderstimmen gingen dem Erlöser entgegen, schwangen ihm Palmenzweige zu, spreiteten Teppiche zu seinen Füßen, schwangen sich auf, um als silberlichte Tauben mit klingenden Flügeln ihm zu Häupten zu kreisen. Immer reiner, immer klarer, immer herzgewinnender rangen sich die Töne aus beseligten Kehlen, reihten sich dicht aneinander, lösten sich auf, um sich aufs neue zu finden. So klingen die Eiskristalle im Winterwald, wenn ein Hauch sie bewegt, so singt es zwischen den Sternen, wenn der Herr in laulichen Sommernächten seine Bienenschwärme austut und sie mit seinem lieblichsten Lächeln vergoldet. »Tochter Sions . . .« Ja, Tochter Sions, freue dich, lasse nicht ab, deinen Messias zu preisen, lasse deine Palmen rauschen, räume ihm jeden Stein aus dem Wege, auf daß er eintriumphiere im Namen seines Herrn und Gottes, im Namen seiner Thronen und Herzogtümer, im Namen aller Erzengel und gebietenden Mächte. »Tochter Sions . . .« Immer inniger und frohlockender, immer froher und freier – ein einziger Jubel mit Psaltern und Harfen . . . und über den Stimmen und Stimmchen, über den klingenden Taubenschwingen, über das Hosianna der Kleinen: Henriettens führende Geige, die ob allem dahinzog mit dem tönenden Gefieder eines schraubenden Falken unter dem Himmelreich.

Dann Schweigen. Ein Stummsein wie in Anbetung vor Gott.

Nur hier und da ein stilles Weinen, ein verhaltenes Schluchzen.

Die große Gemeinde hatte ihr großes Erleben.

Eine Soutane löste sich aus der erschütterten Menge, eine wohltuende Stimme. Die sagte: »So wird die Passion ihren Heiland in Jerusalem empfangen, um anderen Tages ihr ›Steiniget ihn‹ über den Gottmenschen und Erlöser zu schreien.«

Heinrich Verschüren trat vor.

Er hob die Hand und senkte sie wieder.

»Magdalena im Magdalenenkleide, du bist gebenedeit unter den Weibern.«

Er hob die Rechte und machte das Zeichen des heiligen Kreuzes gegen Henriette, die immer noch stand, als sähe sie den Herrn in Jerusalem einziehen, als winkten die Palmen aus dem Tale Josaphat herüber, als riefen die Schaufaren hoch von den Tempelstufen in Sion.

»Ja, du bist gebenedeit unter den Weibern.«

Dann wandte er sich.

So leis er auch gesprochen hatte, die Worte wurden gehört, flüsterten weiter, traten über die Kirchenschwelle, pilgerten über die junge Saat, in der sich noch kaum ein heuriges Häschen zu legen vermochte, und raunten es den Menschen zu, allen, die es hören wollten: »Du bist gebenedeit unter den Weibern.«

Auch Heribert Kästner hörte davon, und als er es hörte, als die Exaltationen sich immer dichter und verwirrender um die Geliebte spannen, die vom Niederrhein sie immer mehr betörten, sie eine Heilige, eine von Gott Gezeichnete hießen, trat ihm die Galle ins Blut, von hier auf die Zunge und machte ihn bitter.

Seine Hand ballte sich ein. Wurde zur Faust. Und diese Faust legte sich mit ehernen Knöcheln auf das Manuskript seines Kampfromanes, den er in heißer Arbeit vor kurzem im großen und ganzen vollendet hatte.

»Hier mein Paroli, und dieses mein Paroli springt aus diesen Seiten und Zeilen wie eine züngelnde Fackel.«

Er hob die Faust und ließ sie abermals fallen.

»Henriette, bist du denn blind, bist du denn völlig einem finsteren Wahn verfallen?!« Und was er lange unterlassen hatte, das tat er jetzt: er schrieb an sie, aber nur kurz, aus tiefster Bewegung heraus, nur einzelne Sätze, verstreute Worte, abgehackt, mit knappen Interjektionen und Hinweisen gespickt . . .

»Henriette, ich schreie nach dir. Lasse mich nicht in diesen Zweifeln und Ängsten. Ich bange um dich, heute mehr denn jemals zuvor. Ich sehe tiefer als du. Was dich umnebelt, dir Herz und Sinne mit Spiegelbildern umgaukelt – wohin soll das führen? All dieses Klingeln und Weihräuchern – zu was soll es dienen? Du stehst mitten dazwischen. Du weißt keinen Ausweg. Du hörst eine warnende Stimme: der Zweck heiligt die Mittel, ohne die Kraft aufzubringen, dieser warnenden Stimme zu folgen. Es geht durch die katholische Welt wie mit einem Ringen und Zagen, mit einem Fordern, das nur die an sich haben, die geflissentlich provozieren wollen oder zu provozieren gedenken, wenn auch mit frömmelnden Lippen und in Schafskleidern. Katholisch sein heißt dem Herrn dienen und offen und ehrlich seinen Glauben bekennen . . . nicht dem national Denkenden seinen Glauben verekeln . . . nicht ihm die ehrliche Kokarde von der Mütze zerren, ihn so in die zweite Klasse versetzen. Pfui Teufel! Hinter solchen Lippen und Keidern bergen sich letzten Endes Klauen und reißende Zähne. Gewisse Besuche fallen auf. Ich sehe unermeßlichen Schaden dann. Die Zeit drängt . . . wandert ab . . . läßt sich nicht halten. Ich kann nicht mehr warten. Ich klage nicht an, und doch muß ich klagen. Nur das Wort will mir nicht von der Zunge herunter. Die Kanzeln sollen die Liebe predigen, die Glocken von der Allmacht Gottes erzählen – nichts weiter. Ich schließe, aber ich rufe zum letzten: Henriette, höre meine warnende Stimme. Gedenke meiner, wie ich deiner gedenke. Du mußt aus dem Sinnen und Suchen, aus dem warmen Weihrauch heraus. Deine Seele schreit nach Erlösung. In meinen Armen wirst du sie finden. Komm, bevor es zu spät ist.«

»Krauses Zeug«, mahlte er zwischen den Zähnen, und dennoch: er sandte dieses herbe krause Zeug ab, nach Heiligenbaum, in dringender Eile.

Andern Tages kam Antwort . . . von ihr . . . in Gottes heiliger Morgenfrühe.

Er war gerade dabei, seine Klasse aufzusuchen, mit den ihm anvertrauten Schülern einen Marsch durch den Reichswald anzutreten, sie unter freiem Himmel und sprossendem Grün preußische Geschichte zu lehren, ihnen von dem freudigen Opfertod deutscher Jugend an den Schleusen von Ypern zu erzählen, als ihr Brief ihm zugestellt wurde.

Er erbrach Siegel und Schreiben.

Es ähnelte seinem in Knappheit und Kürze. Nur fiel ihm auf: ihre Buchstaben waren härter und steiler geworden.

Er las: »Ich weiß kaum, wie ich antworten soll. Der gerechte Unwille gebietet mir: sei stumm wie das Grab. Das Herz redet mir zu: schreibe . . . und somit – ich schreibe. Was haben Kanzel und Glocken mit meinem Seelenleben zu tun . . . und erst der Kaplan . . .?! Du meinst: seine häufigen Besuche in Heiligenbaum fallen auf. Wem fallen sie auf und wem sollen sie schaden? Du irrst dich. Nicht ich, sondern du gehst durch Nebel, und gedenkst mir, die ich durch Licht schreite, die Pfade zu ebnen? Das alles sagt mir: Die Bitte, die ich an dich richtete: ›Gib mir Bedenkzeit‹, besteht noch, hat noch nicht an Bedeutung verloren. Ich gestehe dir offen: Herr Doktor Verschüren ist mir Hirt und Betreuer geworden. Hochwürden ist gütig zu, mir, wie er allen gütig gesinnt ist – auch dir. Er will nur das Reinste . . . führt mich aus dem Strudel des Alltags . . . hebt mich durch die Feier des Spiels zu höheren Sphären. Heribert, warum willst du mich abtrünnig machen? Mich aus dem Paradies meines Wirkungskreises verstoßen? Du weißt, meine Liebe gilt dir, aber ich will meinen freien Willen behaupten, denn das Weib ist gesetzt, dem Manne Gefährtin zu sein, nicht ihm knechtisch zu dienen. Du, versündige dich nicht. Die Reue wird kommen . . . und zwei Menschenleben stehen am Kreuzweg, können nicht weiter, weil sie Pfad und Richtung verloren. Heribert, nur das nicht, nur das nicht! Meine Hand ist bei dir und schmeichelt dir über die zerrissene Seele, auf daß sie gesunde . . .«

»Gelesen, genehmigt«, sagte er ruhig, so ruhig wie das Kielwasser eines stillen Schiffes dahinschwadert.

Alle Topps blieben hoch. Kein schweres Wetter erhob sich.

Umständlich kniffelte er das Schreiben zusammen und legte es in ein Gefach ab. Dann fiel es ihm langsam von den Lippen herunter: »Henriette, laß anstehen. Aber was komme: ich will nicht am Weibe zerbrechen, sein Fuß soll nicht über meinen Nacken hinweggehn. Mir gleich: manch schlichter Mann mit den alten Gefreitenknöpfen am Rock seines Königs wertet mir mehr als manch hochgestochener weltlicher oder geistlicher Doktor, selbst dann, wenn ihm noch das Epitheton ornans ›magna cum laude‹ beigelegt wurde.«

Er atmete auf.

»Henriette, laß anstehn. Ich kenne die glorreichen deutschen Geschütze. Jedes Rohr hatte seine Devise: Ultimo ratio regis. Möglich, diese Ultima ratio wird auch mir mal durch die arme Seele gerissen. So ober so! Gott helfe, aber ich will nicht am Weibe zerbrechen.«

Jäh fuhr er auf.

»Fort damit! Die Pflicht ruft. Es gibt noch andere Dinge auf Erden.«

Bald darauf war er unter seine Schüler getreten.

Ein freudiger Zuruf: »Morgen, Herr Lehrer!«

»Morgen, ihr Jungen! Wohin geht's heute?«

»In den Reichswald, Herr Lehrer!«

»Was treiben wir dort?«

»Preußische Geschichte und Spiele auf Sicht!«

»Und was vergessen wir nicht?«

»Den neunten November!«

»Und was singen wir jetzt?«

»Was von Theodor Fontane.«

»Und wer war dieser Fontane?«

»Brandenburgischer Dichter!«

»Und was wollen wir singen von ihm?«

»Hans Joachim von Zieten, Herr Lehrer!«

»Los denn dafür!« und in Schritt und Tritt und mit schmetternden Kehlen ging es durch Warbeyen. Hei, wie sie sangen!

»Hans Joachim von Zieten,
Husarengeneral,
Dem Feind die Stirne bieten
Tät er die hundertmal.

Sie haben's all' erfahren.
Wie er die Pelze wusch
Mit seinen Leibhusaren,
Der Zieten aus dem Busch.«

Als sie die Kaplanei passierten, blitzten die stahlblauen Augen des großen Königs durch die prächtigen Strophen:

»Laßt schlafen mir den Alten,
Er hat so manche Nacht
Für uns sich wach gehalten,
Er hat genug gewacht.«

»Bravo, ihr Jungen! Nun habt ihr zu wachen, um dem armen Deutschland wieder eine Gasse zu bahnen!« Und unter Schritt und Klirr ging es dem frühlingsfrohen Reichswald entgegen.

 


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