Reise durch das Biedermeier
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Die Wiener Leopoldstadt

Die gute alte Zeit! Das ist eine Redensart, die von Jahrhundert zu Jahrhundert klingt. Alles Vergangene wird zur Autorität und mit epischem Reize umkleidet. Es mag eine Entschädigung sein für unsere mangelhaften Organe zu einem gegenwärtigen reellen Genuß.

Die gute alte Zeit und das alte gute Wien gehören zueinander wie Eheleute. Bei dem einen denkt man an das andere. Es hat etwas Rührendes, mit welch ängstlicher Emsigkeit sich die Wiener den Glauben zu erhalten trachten, es sei bei ihnen noch die alte gute Zeit und Wien bleibe unverändert. Sie wollen es sich kaum gestehen, daß es hie und da an Geld fehle und ihre Theater nicht mehr so besucht seien.

Es war ein sonnenheller Nachmittag, als ich die Jägerzeile entlangstrich, um den Prater zu suchen. Das ist der Weg der großen Praterfahrten, bekannt und berühmt durch Bilder und Erzählungen. Die Straße ist so breit, stattlich und gerade wie keine andere in Wien. Hier fährt der Kaiser am Ostertage mit sechs Schimmeln. Die reichen Kavaliere aus Österreich, Ungarn und Böhmen suchen und studieren ein Jahr lang nach schönen Pferden und Wagen, nach glänzendem Riemenzeug und blitzenden Livreen, um sich auf der Praterfahrt zu Ostern auszuzeichnen. Erinnert das nicht an unsere kindliche Jugendzeit, da wir keine anderen Sorgen kannten als die für Frack und Hose, die wir an einem Festtage spazierentragen wollten, für Busenkrause und die grüne Tuchnadel, mit denen wir zu prahlen beabsichtigten? Harmlose Jägerzeile! Von einem Ostertage zum anderen erzählen sie hier, was die Esterhazyschen Stuten für Sielenzeug getragen – homerisches Wien!

Die Fahrt von Paris nach Longchamps ist vielleicht ähnlich, man fährt mit schönen Equipagen auch im Hydepark und Regent's Park und zu Berlin Unter den Linden spazieren, aber wo ist an diesen Orten solch kindliches Interesse an Busenkrause und Riemenzeug? Die Leute mit ihren Gedanken sind dort die Hauptsache, nicht mehr die Pferde.

Homerisches Wien! Die Pferde vor Achills Wagen gelten auch für beneidenswert, weil sie historisch geworden sind.

Vielleicht geht es mir nicht allein so, daß ich mich bei aller Schönheit in der Iliade doch immer wie in einer verstorbenen Stadt finde. Genauso ging es mir im Prater. Man darf solche Orte nur in ihrem Lüster sehen. Sie gleichen Theatern, die man nicht am Tage betrachten darf, um nicht alle Illusion zu verlieren. Ein stiller, öder Park mit einer verwirrenden Straßenmenge lag vor mir, als ich aus der Stadt hinauskam. Dünnes Harfengeklimper drang aus einer der vielen Buden, die zerstreut unter den Bäumen umherliegen. Ich ging ihm nach. An einzelnen armen Spaziergängern vorüber, die mehr um des Bettelns als um des Vergnügens wegen herumpromenierten. Würstchen fand ich in einer unbehaglichen Sommerkneipe, ich sah eine vergilbte Harfenistin – aber, fragte ich ärgerlich, wo ist denn eigentlich der Prater?

»Euer Gnoden san recht g'spaßig«, war die Antwort, »Se san jo im Prater!«

Um den Anfang des Leopoldstädter Theaters abzuwarten, machte ich Station im ersten besten Kaffeehause. Was man Kaffeehaus nennt, das ist in Wien zu Hause. Kaffee trinken, Billard spielen, Tabak rauchen gilt als nationale Beschäftigung.

Man treibt mit den Kaffeehäusern auch vielfachen Luxus. Es gibt unter anderem ein »Silbernes«. Indessen ist nicht das Haus von Silber, sondern nur das Kaffeegeschirr.

Als es Abend wurde, machte ich mich auf, das berühmte Leopoldstädter Theater zu suchen. Was hatte ich nicht alles davon gehört! Einen Saal des unauslöschlichen Gelächters, der unerschöpflichen Volkslust, der beharrlichsten Wiener Lieder und Mädchen dachte ich hier zu finden. Denn das Wort »Leopoldstädter Theater« bedeutete immer so viel wie »Vergnügen ohne Ende«.

Das Leopoldstädter Theater ist wirklich ein kleines fideles Häuschen. Es sieht sehr bürgerlich aus, und bei seinem Anblick stellt man sich die Frage, ob nicht das ganze Wien nur zum Spaße errichtet sei, zu einem Modell für ein wirkliches Theater, das man nur einstweilen benutzen und später dem Zufall in seinem Geschick überlassen wolle.

Ein beliebtes Singspiel war angekündigt, ich glaube: »Die Liebe auf der Alm«. Aber der kleine Raum war nur dürftig besetzt, und die Leute verhielten sich still und artig. Ein dicker Mann, der dicht neben mir stand, sagte: »Schaun S', da kummt der Wenzel Müller, der is noch aus der olten guat'n Zeit.«

Wenzel Müller, dieser Liebling meiner Schuljugend, der alte Wenzel lebte noch.

»Jo, schaun S' nur, wia er si umschaut!«

Es war ein freundliches, altes Gesicht. Das Haupt umgeben mit der Würde eines liebenswürdigen Alters. Der Kleine nahm seinen niedrigen Präsidentenplatz ein, ergriff sein bürgerliches Taktstöckchen, lächelte links, lächelte rechts zu seinen Musikanten, als bitte er um Erlaubnis, anfangen zu dürfen, und begann endlich seine Leopoldstädter Ouvertüre, wie wenn er seinen Kollegen, den Wiener Vorstädtern, ein kleines Geschichtchen erzählen wolle, »von g'spaßigen Leuten, die a recht guats Herz hob'n.«

Unter solchen Auspizien gewährte die überaus einfache Musik mit ihren kindlichen, anfänglichen Melodien, ohne Duft, Zauber und Romantik, mit gutmütiger Trivialität und frischem, anspruchslosem Herzen gesetzt, einen ganz angenehmen Eindruck. Es wurde mir recht behaglich, zumal ich merkte, wie sich das Häuschen mehr und mehr füllte und über Wenzel Müllers unschuldige Melodien seine naive Zufriedenheit aussprach.

Seine Melodien sind wirklich aus der Zeit der Unschuld und des alten Wien. Guter Wenzel, heute, da ich dieses Buch schreibe, lese ich, daß du gestorben bist! – Wie öde mag es in der Leopoldstadt sein, wo dein weißer Kopf, deine bewegliche Hand und dein glückliches Lächeln fehlen. Ich kenne nichts von dir als jenen Abend und einige Melodien, aber ich glaube, ich kann den Inhalt deines ganzen Lebens erzählen. Wie du dein Glaserl Wein getrunken, einem hübschen Mädel die Backen gestreichelt, zu Mittag mit gutem Appetit gegessen, kleine Nelkenstöcke gepflegt, einen geblümten warmen Schlafrock getragen und jeden Menschen freundlich behandelt hast, selbst den gelben, leberkranken Nachbar, der die Musik nicht leiden konnte.

Auch die Leopoldstadt liegt im Sterben. Man könnte sagen: vielleicht nur darum, weil es an Talenten fehlt. Aber vielleicht ist der Grund dafür tiefer zu suchen. Auch die Leopoldstädter fangen an, über den Stand der Unschuld hinauszublicken. Ihr bester Komiker, der bekannte Schuster, ist unbeschäftigt. Die Krones ist gestorben, jenes wunderbare Talent der Gemeinheit, die das Unanständige mit Grazie und Zauber produzierte, jenes schöne Mädchen mit den strahlenden Augen und der angenehmen Stimme, mit der ärgsten Liederlichkeit und der vollendetsten Wiener Liebenswürdigkeit, die Krones ist tot. Sie ist auf dem Schlachtfeld geblieben, ein Soldat, der rüstig focht bis zum letzten Atemzug. Keine historische Person wird in Wien so betrauert wie diese Frau. Die Leopoldstädter berufen sich bei etwaigen Anklagen auf dieses Mädchen, so wie die Bonapartisten auf Napoleon. Wien ist die Stadt, wo es noch Zeit und Raum genug gibt, historische Erscheinungen genügend zu würdigen.

Die Krones ist freilich nicht ersetzt worden. Fräulein Jäger gibt sich Mühe, voll Fleiß, Dreistigkeit und Talent etwas Ähnliches darzustellen. Sie reüssiert auch sehr. Die Wiener wissen dergleichen zu würdigen. Aber es fehlt der Funke des Geistes. Es gehört zu nichts größere Genialität als zur Frivolität, die allgemein gefallen soll. Ihr Weg führt ganz schmal zwischen tiefen Abgründen hindurch.

So blieb denn auch dieses Singspiel matt und trivial. Ein solches Volkstheater ohne belebendes Genie wirkt unschmackhaft wie ein Glas abgestandenes Pfennigbier. Die Naivität ohne Folie ist als künstlerische Erscheinung ein lähmender Anblick. Man kann das Alltägliche produzieren, aber man darf dabei selbst nicht alltäglich sein.

Ein wunderliches Gespräch hinter meinem Rücken nahm meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Ein Mann sprach französisch-deutsch, eine Dame wienerisch-deutsch, ein anderer Mann gebrochen ungarisch-deutsch. Das gab ein Trio, an dem Jahn und Professor Zumpt gestorben wären. Die französisch-deutsche Stimme glaubte ich zu erkennen – richtig, es war mein Freund, von dem ich mich in Eger getrennt hatte. Er unterhielt sich industriös mit einer stattlichen Dame.

Das Leopoldstädter Theater ist in jeder Rücksicht Volksversammlung. Man hegt dort die menschenfreundlichsten Gesinnungen, die Damen sind emanzipiert und ohne Vorurteil. Diese Überlegung hatte auch meinen Kommilitonen hierhergeführt. Am Schlusse der Vorstellung verließ die stattliche Dame das Haus am Arme des Ungarn, ihres Liebhabers, der viel Liebe, aber wenig Verdienst haben mochte. Im Gedränge blieb mein Freund zur anderen Seite der Dame, und während der Ungar mit seinem Ellbogen den Weg bahnte, wurden neben ihm mit drei, vier leisen Worten verräterische Unterhaltungen gepflogen.

Auf den Straßen lag eine warme Nacht, die Sterne funkelten, die Lüfte buhlten, und aus dem Hause drang der warme Schein und der Nachklang jodelnder Melodien.

Nach den ersten Begrüßungsworten entwickelte mein Bekannter neben mir uninteressante und unwürdige Ansichten über die Mehrzahl der Weiber, die ich nie glauben werde, solange die Sterne scheinen. Was ich heute gesehen, war ohne Eindruck geblieben, umsonst war der lange Vortrag. Es war Mitternacht, als wir heimkamen, mein Begleiter sprach noch, und die Sterne schienen noch immer.


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