Reise durch das Biedermeier
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Altenburg

Es regnete fleißig und unverdrossen, wie sittsame Mädchen am Nachmittag unaufhaltsam spinnen. Die Räder knarrten, der Regen klatschte ans Fenster. Erschöpft schlief ich ein.

Als ich erwachte, sah ich kleine Landvierecke an beiden Seiten des Weges, von kleinen Gräben eingeschlossen, mit Laubbäumen umpflanzt. Hie und da nickten harmlos einzelne Wäldchen, nicht breiter und länger als kleine Bauernhäuschen. Ich erkannte das Land, es war Altenburg. Bald kamen auch uniformierte Landleute hie und da zum Vorschein. Die Frauenzimmer müssen im Altenburgischen einmal großes Unglück angerichtet haben. Seit der Zeit hat man ihnen eine garstige Zwangstracht angelegt. Vor der Brust tragen sie ein Brett, hinter dem Herz und Busen verkümmern, die Röcke reichen nur bis ans Knie.

Das Erzgebirge trägt einen seiner letzten Zweige in das Ländchen. Es ist merkwürdig, wie sich dieser kleine Distrikt absondert von seinen Nachbarn. Es ist Charakter im Altenburger, sollte er auch nur in der kurzen Jacke liegen, deren Teil unter den Armen steckt. Seine Hautfarbe ist noch schwärzer als die der Braunschweiger. Aber sie ist trauriger, geschmackloser, nicht so mutig wie bei jenen. Sie sieht leidend, gottesfürchtig aus. Auf dem Kopfe trägt der Altenburger ein kleines unreifes Filzkäppchen. Um die Beine weite schwarze Lederhosen, die aber nur bis ans Knie reichen. Es muß viel Lederhandwerker in Altenburg geben. Das Berühmteste in der Stadt sind schöne, solide und wohlfeile Handschuhe. Die Tracht der Landleute sieht steif, gemacht und geschraubt aus, es ist keine Leichtigkeit und Bequemlichkeit darin. Die Leute sehen trübselig daraus hervor, obwohl es ihnen gut geht und sie meist wohlhabend sind. Es ist kein Feuer, keine Genialität in ihnen. Aber treuherzig sind sie und gut und lieben ihre niedrigen Berge.

In die Stadt selbst rollt man bergab schnell hinein. Langsam kommt man wieder heraus. Das ist ein gutes Zeichen, man wohnt nicht übel hier. Man findet viel Aufgeschlossenheit, viel Essen und Trinken, viel Gesundheit und viel schlechtes Wetter. Wenigstens regnete es immer, wenn ich nach Altenburg kam. Aber immer guckten hübsche Mädchenköpfe aus den Fenstern.

Heute war das Glück und Unglück zu groß. In einer engen Straße, durch die der Postwagen donnerte, kam ein dunkelgelocktes Mädchenhaupt aus einem Fenster, und zwar so nahe an meinen Kutschenschlag, daß ich mutwillig hinausfahren und ihr wenigstens eine Locke küssen wollte. Sie fuhr zurück, aber das frische Gazellenauge lachte, ich streckte die Hand aus. Das schalkhafte Kind tat's auch. Ich kannte doch diese volle weiße Hand, die Gazellenaugen und die fliegenden Locken. War das nicht Jerta?

Vorüber flog der Wagen. Der Eilwagen ist das moderne Fatum. Nichts hemmt seine Spanten. Vergeblich schrie ich, ich wolle aussteigen; es ging bergauf und bergab weiter durch das romantische Altenburg. Höhe und Tiefe, Begeisterung und Kot wechseln in dieser Stadt schnell. Prächtig verlassen steht jenseits eines kleinen Wassers das Herrenschloß. Ein Professor neben mir, der bereits die Homöopathie, das öffentliche Gerichtsverfahren, die Dampfwagen, die neuesten geographischen Entdeckungen und die preußische und sächsische Politik erschöpft hatte, detaillierte der Gesellschaft mit der todesverachtenden Redseligkeit deutscher Professoren den Prinzenraub, der da drüben im Schlosse vollendet worden war. Er kannte jedes Fenster und jeden Absatz, dessen sich Kunz von Kaufungen bedient hatte. Er beschrieb so lebendig und genau, daß wir zehnmal fragen mußten, und als der Wagen rechts einbog und das Schloß verschwand, nicht klüger waren als zuvor.

Ich teilte ihm die Notiz mit, daß Kunz damals stark an Hämorrhoidalbeschwerden gelitten habe und daß es nur deshalb mit seiner Flucht so mangelhaft gegangen sei. Der Professor war sehr dankbar für diese Notiz und fragte hastig nach der Quelle. Ich zitierte ihm den Codex Cleromontanus, den er zu Leipzig auf der Schweizer Bibliothek zu jeder Stunde einsehen könne. Er war noch einmal so dankbar. Ich fragte ihn, ob er in Freiberg den blauen Stein gesehen habe, auf dem Kaufungen hingerichtet wurde, und der von Kunzens Blute blau geworden sei. Er wurde blaß vor Neugierde, der Wagen hielt. »Zehn Minuten, meine Herren«, schrie der Kondukteur, ich mußte wissen, ob das Mädchen, das ich gerade gesehen hatte, wirklich Jerta gewesen, und rannte zurück. Der Professor schrie, ich rief im Laufen, ich käme wieder. Er schrie jammernd, er müsse leider aussteigen und werde nicht mehr weiterfahren.

Ich verirrte mich und konnte die Straße nicht finden. Sieben Minuten waren um, ich fand nicht mehr zur Post zurück. Ich mußte mit einem altenburgischen Sechser einen Buben gewinnen, der mich im Trabe zur Post zurückbrachte. Es war der Moment des Abfahrens. Wie ein Paket wurde ich hineingeworfen. Der Professor stand händeringend am Schlage, eine antiquarische Träne glänzte in seinem wissenschaftlichen Auge. »Der blaue Stein«, wimmerte er. Ich konnte ihm nicht helfen, die Pferde zogen an, ich schrie zwar, als ob ein Menschenleben auf dem Spiel stände: »Reisen Sie nach Freiberg«, ob er es aber hörte, weiß ich nicht.

O Jerta, deine Gesichtszüge sind mein Unglück. Als ich noch jung war und den ersten gründlichen Unterricht im Christentume zu Sprottau in der kleinen gewölbten Sakristei erhielt, wo es immer schmählich kalt war, saß mir gegenüber ein schlankes Mädchen. Sie war größer als ich, und ich liebte sie schon damals mehr als das Christentum. Aus ihren großen blauen Augen, die so tief waren wie der See Genezareth, las ich alle Antworten christlicher Liebe, die ich dem Herrn Pastor Primarius zu seiner größten Zufriedenheit gab. Um ihre Lippen hatte sie einen schalkhaften, liebenswürdigen Zug, der mein Herz rührte mit der Seligkeit des Himmels. Ich hätte immer weinen und sterben können, wenn sie mich mit ihren lieben Augen ansah. Es ist ein großes Mysterium, die erste Liebe. Alle späteren Leidenschaften borgen ihren Reiz von ihr.

Ich wußte nichts von Kälte, wenn mir auch die Hände erstarrten, sobald sie da war. Wie langweilig war das Christentum, wenn es einmal zu kalt wurde und sie nicht kam. Mit welcher Angst bemerkte ich, daß wir immer gescheiter wurden. Die dümmsten Bauernjungen wußten schon, daß der Apostel Paulus früher Saulus geheißen habe und daß er das Heiraten verteidigt habe, wenn es nicht anders ginge. Je höher unsere Gelehrsamkeit stieg, desto näher kam das Ende meines Glücks, das Ende des Unterrichts. Und dann war einmal wirklich alles aus. Ich sah sie nur noch von weitem hinter dem Fenster. Manchmal begegnete ich ihr, wenn sie in die Stunde zum Herrn Primarius ging, als ich schon ein kleiner Christ und sie noch eine liebe halbe Heidin war. Daher mag es kommen, daß mir mein Leben lang das Heidentum viel schöner erschienen ist. Ich lebte eine ganze Woche von einem Blick ihrer Augen. Wenn es Abend wurde, schlich ich um ihr Haus und wartete, bis im Untergeschoß das Licht angezündet wurde. Dann aß die Familie zu Abend und ich konnte sie beobachten. Das Fenster war hoch und mit Eisen vergittert; aber ich kam hinauf. Ich hing so lang an den Gittern, als es meine kleinen Kräfte erlaubten, und sah ihr zu, wie sie zu Abend aß, und die Tränen liefen mir über die Backen.

Ihr süßes Angesicht ist für immer die Romantik meiner Liebe geworden, und der Zug um ihren lieben Mund bedeutet noch heute für mich den ersten Liebeszauber.

Daran dachte ich jetzt im Postwagen. Jenes Mädchen in Altenburg glich ebenfalls der lieben kleinen Heidin aus Sprottau und sah doch auch Jerta ähnlich.

Zum Glück wurde es schnell dunkel, so daß mir meine Liebesträume vortrefflich gelangen. Ich drückte mich in die Ecke und schwelgte wie ein türkischer Opiumesser. Selbst die Erinnerung störte mich nicht, daß man mir einst erzählt hatte, die kleine Heidin sei sehr groß geworden und habe einen dicken Justizrat geheiratet.

In Altenburg waren zwei Damen eingestiegen. Sie schienen herzliche Freundinnen zu sein. Ihre Gesichter konnte ich nicht deutlich erkennen. Neben ihnen in den hintersten Sitz gedrückt, hörte ich eine Weile ihren flüsternden Gesprächen zu und schlief dann ein. Als ich erwachte, hielt gerade der Wagen vor einem Posthause. Man leuchtete mit einer Laterne in die Kutsche, ein Lichtstrahl fiel über die Damen. Ich erschrak: das waren die großen Augen meiner ersten Liebe. Auf ihren blassen, edlen Zügen sah man die Spuren von Tränen. Die strenge und stolze Trauer unglücklicher Frauen war in ihnen zu lesen.

Keinen Augenblick zweifelte ich mehr, daß sie das Mädchen aus der Sprottauer Sakristei sei. Ich hob sie beim Aussteigen aus dem Wagen, ihre Hand war kalt, sogar ihr Atem schien keine Lebenswärme mehr zu haben. Sie vergaß mir zu danken und reichte stumm ihrer Freundin die Hand. Ehe ich meine verwirrten Affekte geordnet hatte, waren die Koffer geschieden, die Frauen fuhren von dannen. Ich hatte nicht den Mut gehabt, ein Wort an meine Jugendliebe zu richten. Ohne es zu ahnen, hatte ich eine Poststation lang neben ihr gesessen.

Ich stand schmerzlich bewegt, voll Trauer und Sehnsucht im Torweg und sah der Laterne des Wagens nach, bis sie verschwand.

 

Nach allen Seiten zerstreuten sich die Reisenden. Ich saß mit einem ruhigen, behaglichen Norddeutschen allein in einem winkeligen Gastzimmer. Es war in der zweiten Stunde der Nacht; ein einsames Licht brannte träge auf einem entfernten Tische. Der Norddeutsche rauchte seine Pfeife und sah zufrieden vor sich hin. Meine Gefühle beruhigten sich allmählich auch. Es war still. Nur der Morgenwind schüttelte zuweilen leise an den Fenstern. Ein früher Hahn begann schüchtern und unsicher probierend das erste Signal eines neuen Tages.

Es wurde gemeldet, der Wagen nach Schneeberg sei bereit. Der Morgen war frisch und blies von den Schläfen das Haar und von den Augen die nächtlichen Schatten. Mein Begleiter breitete in der Kutsche seine Füße aus, bedeckte sich mit dem Mantel und drückte den Oberleib bequem in die Ecke.

Der Schwager blies sein Morgenlied, und wir fuhren durch bergiges Land über einen der Pässe, die sich durch das Erzgebirge nach Böhmen hinuntersenken. Für ein mittleres Gebirge fuhren wir auf einem recht hübschen Weg.

Vor Schneeberg hob sich die Straße allmählich, ganz in der Nähe aber fiel sie steil bergab in die Stadt hinein. Schneeberg hat ein ärmlich wohlhabendes Aussehen. Auf allen Hügelspitzen kriechen breit die Häuser herum. Ihre verwitterten, sorgfältigen Holzdächer sehen aus wie verschlafene historische Augen.

Man gräbt hier nach Edelmetallen, ich glaube aber, man hat nicht viel davon. Angeblich soll Silber hier gewonnen werden. Man wollte mich einfahren und meinen Unglauben blamieren, aber ich dankte dafür.

Das ganze Städtchen lebt vom Bergbau, er ist darum nicht bloß ihr Gewerbe, sondern auch ihre Religion geworden. Bekanntlich lebt der Gott eines guten Glaubens auch noch hundert Jahre nach seinem Tode.

Es fing an zu regnen, aber die Kommunalgarde marschierte mutig den Markt und die Straßen auf und nieder. Die Bergknappen mit ihren bleichen Gnomengesichtern spielten melancholische Klarinettenmärsche und trugen lange Picken und Napfmützen. Ich erfuhr, daß der Boden unter der Stadt hohl sei. Da eilte ich so rasch wie möglich davon.

Von der Höhe sah ich zurück nach der silbernen Stadt, der Regen stürzte mit ausgebreiteten Armen auf sie herunter. Sie sah mit ihren grauen Dächern aus, als hätte sie sich eine Regenkapuze über den Kopf gezogen. Die Häuser drängten sich ineinander und in die Berge hinein.

Über Berg und Tal und rauschende Waldwasser ging es nun rasch der österreichischen Grenze zu. Überall sind Bäume, und doch ist's kein eigentlicher Wald. Vorpostenforst, Schutz für Schmuggler, deren Frauen und Kinder nach Brot verlangen. Nachts gehen hier auf den Flußpfaden lange Reihen von Schwärzern, einer hinter dem anderen, über die Berge. Auf dem Rücken tragen sie Zucker, Kaffee und Tabak, in den Händen eisenbeschlagene Stöcke, um sich im Notfall gegen den Jäger zu verteidigen.

Das Erdreich ist hier wunderlich rot, als ob schon viel Blut darauf geflossen wäre. In einem unordentlichen, zerrissenen Walde stößt man plötzlich auf die Grenzsäule, wo Österreich beginnt. Es hebt ganz unscheinbar an, wie ein Priester tritt es auf: in schäbigem Gewande, aber unter der Kutte trägt er blendenden Bischofsornat, die inquisitorische Gewalt und das Herz voll Absolutismus.

Bald lichtete sich der struppige Forst und die erste halbwüste böhmische Ansicht trat vor das Auge. Auf Hügellehnen, die aus einem breiten Talkessel nach allen Seiten aufsteigen, steht hie und da ein blaugraues Haus aus Holz. Es beginnen die nomadischen böhmischen Dörfer, wo sich die einzelnen Hütten zerstreuen und auseinanderlaufen.

Aus einem Talkessel führt der Weg in den anderen. Man kommt bald zu dem ersten böhmischen Städtchen Neudeck. Ich trieb eiligst nach frischen Pferden, man erwartete mich in Karlsbad, Chateaubriand, mit dem ich mich schon lange hatte treffen wollen, hatte mir mitgeteilt, daß er auf kurze Zeit nach Karlsbad käme. Aber ich wurde keiner Antwort gewürdigt; die norddeutsche Postordnung war zu Ende. Wir wurden eine Stunde lang auf offener Straße unserem Schicksal überlassen, dann kam ein kleiner Bub mit zwei Pferden, zog sich eine historische rote Jacke an und fuhr uns weiter. Es ist wenig Gesetz in der österreichischen Post, aber es wird rasch gefahren und die Straßen sind sehr wohlfeil.

Die Sonne goß eine plötzliche Fröhlichkeit über die Gegend. Der Wagen und unsere Blicke streiften lustig bergauf und bergnieder. Ringsum die Berge sind etwas lebendiger als das Erzgebirge. Wegen des geringen Anbaues ist eine ursprüngliche lyrische Ruhe rings über das wellige Hügelland gegossen.


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