Reise durch das Biedermeier
Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Breslau

Es war ein schöner Sommertag, ich saß am Weiher unter dem Schatten eines Birnbaumes und sah den Schwänen zu, die weit genug vor mir unter einer kleinen, gewölbten Brücke umeinander herumspielten und mit den Schnäbeln klapperten. Ihr südliches Spiel verlockte zu angenehmen Gedanken an ein großes Glück, das irgendwo in der Welt auf mich warten müßte. Irgendwo in wärmeren und freieren Zonen, dort, wo die Natur fortwährend empfängt und gebiert. Von Jugend an sehnte ich mich – oft mit großen Schmerzen – nach dem Süden. Es hat Zeiten gegeben, da mich keine blauen oder schwarzen Augen ausschließlich beschäftigten, da es mich schmerzte, die Namen Italien, Libanon, Fez, Marokko und Biledulgerid, zu deutsch: Dattelland, zu hören. Dattelland! Wo diese köstliche Frucht wächst wie bei uns die ordinäre Kartoffel! Und in Fez, da soll der ganze Livius zu finden sein, weil sich dorthin ein Bischof oder Kardinal aus Byzanz in Begleitung des Livius begeben habe; Es gibt zwar für mich schwache Stunden, da ich mich nicht so leidenschaftlich nach dem totalen Livius sehne, aber die geheimnisvollen berberischen Mädchen und die edlen arabischen Pferde, wie locken sie einen armen Deutschen, der Schöpsenfleisch und weiße Rüben gegessen hat und am Weiher dem verführerischen Spiel der Schwäne zusieht.

Ach, und das Hauptwort verschweige ich noch immer. Denn dann muß ich gleich mit dem Schreiben aufhören, und es erfaßt mich eine krampfhafte Sehnsucht. Warst du, jugendlicher Leser, niemals im Theater, wenn Mozarts »Don Juan« gespielt wurde? Hast du nie den Cid gelesen? Sind dir nie die Namen Donna Anna, Guadiana und Cordova geheimnisvoll in die Ohren geklungen? Empfandest du nie den mächtigen Zauber, wenn ein Mädchen mit weichen Lippen vom Schatten am Guadalquivir sprach?

»Aber in Spanien!« Ja, Spanien, das ist das Zauberwort des Südens! Wer doch einmal im alten Maurenreiche Granada unter dunkelgrünen Olivenbäumen liegen könnte und die Zegris und Abencerragen vorüberreiten hörte oder am Tore der Alhambra stünde, wenn der König der Mauren auf seinem rassigen Pferde herausreitet. Der König sieht ernsthaft und weise aus wie der Koran, und neben ihm reitet seine goldene Tochter in überirdischer Schönheit. Sie läßt leise eine Rose fallen, und in der weichen südlichen Nacht, wenn alle Sterne in heißer Liebe strahlen und in tausend Springbrunnen schwellende Küsse zittern, in dieser Romanzennacht, gibst du der schimmernden Prinzessin in den verzauberten Gärten der Alhambra die Rose wieder, die Rose von Damaskus.

Da kam schweißtriefend der Breslauer Briefträger über die Brücke, gab mir einen Brief, verscheuchte die Schwäne, verlangte zweieinhalb Silbergroschen und sagte, der Sommer sei doch eine schlechte Jahreszeit wegen der Hitze.

Das Postzeichen war nicht spanisch, sondern von Leipzig.

Ein Freund schrieb mir, ob ich denn nicht bald käme. Die Weltgeschichte laufe jetzt in einem erschreckenden Tempo ab, und wir würden am Ende gar nichts mehr erleben. Vor einigen Tagen sei erst wieder in Paris eine erkleckliche Revolution vor sich gegangen, und wir säßen ruhig in Deutschland, statt bei solchen Dingen anwesend zu sein. Ob ich mich denn nicht schämte?

Ich lief hastig auf mein Zimmer und schrieb dem Alfons, ich schämte mich. Dann packte ich meine Koffer und war nur unschlüssig, ob ich meine unsterblichen Manuskripte mit all ihren Weltverbesserungsgedanken auch einpacken sollte. Denn die Welt ging also im Galopp, daß ich mich nur wunderte, wie man noch Bücher schreiben könne. Während ich mich selbst damit beschäftigte, dachte ich immer: »Das kommt ja doch alles zu spät. Es wird moutarde après diner sein. Deine umwälzenden Gedanken werden nicht so schnell gedruckt werden können, wie die Reformen eintreten werden.« Aber der kleine Paul, mein neunjähriger, leider auch schon revolutionärer Stubenbursche, gab den Ausschlag und sagte, es sei schade um so viele vergeudete Stunden, ich sollte die Hefte ruhig mitnehmen.

Ich schied, versprach Paul, ihm Wasser aus dem Euphrat gegen die Sommersprossen seiner Schwester mitzubringen, und fuhr neben der Oder hin die kurze Strecke gegen Breslau.

Der Süden, Livius in Fez, Spanien, die Revolution in Paris, mein Freund in Leipzig, all das trieb sich bunt in meinem Gehirn herum und durcheinander. Nur eines wußte ich, das Glück wollte ich suchen, und dazu mußte ich mir einen Platz auf der Schnellpost bestellen.

In Breslau rollte der Wagen am Dome vorüber. Hier steht immer eine große Kirche nur fünfzig Schritte von der anderen entfernt, Bilder des Gekreuzigten verkümmern den Sonnenschein, purpurrote Mesner kriechen wie gekochte Krebse an den Mauern entlang, kleine blauschwarze Kirchenfenster blinzeln wie falsche, tückische Augen, und christliche Verzweiflung ist rings verbreitet. Wenn ich nicht sehr guter Laune war, so wagte ich mich in Breslau niemals in die Nähe des Domes. Es fiel mir immer ein Verbrechergefühl auf die Brust, wenn ich diese steinerne Betrübnis und Zerknirschung sah. Ein eintöniger Nachmittag auf dem Domplatz kann einen verstockten Sünder mürbe machen. Ein konsequentes Christentum ist von jeher wie ein mit künstlichen Blumen aufgeputzter Friedhof. Ich kam von Gottes gesundem Lande, und mich kränkelte diese Atmosphäre an.

Geht man aber hundert Schritte weiter, so empfängt einen das rauschende Breslauer Straßenleben, und der Alp fällt von der Brust. Da ich alles noch einmal sehen wollte, um Abschied zu nehmen auf lange Zeit von den Winkeln dieser vertrauten Stadt, sprang ich vom Wagen und lief auf die Promenade. Alles, was man verlieren soll, erscheint doppelt schön. Die Breslauer Promenaden wirken recht poetisch. In ganz Deutschland sind vielleicht nur die von Frankfurt schöner, und der Hamburger Stieg und die Wiener Basteien wecken vielleicht im gleichen Maße Gedanken und Gefühle.

Auf der einen Seite sieht man den Dom in der breit hinschwellenden Oder schwimmen, mit seinen Kreuzen, seinen platten viereckigen Türmen und seinem ganzen festen Katholizismus. Die gebrechliche Brücke verbindet ihn noch mit der Welt, sonst ist er vollständig von der gemeinen Menschheit abgesondert. Diesseits der Brücke ist ja auch der Breslauer Katholizismus ein munterer Weltgeistlicher mit nachgiebigen, vernünftigen Ansichten, der gerne beide Augen zudrückt. Man lebt munter in Breslau. Die Kopfhängerei hat trotz Steffens und Scheibel nie gedeihen wollen, und die fleischlichen Vergehen sind ein gesuchter Artikel. Wendet man sich auf der Promenade zur anderen Seite, so sieht man, wie sich von der Taschenbastion aus das bergblaue Schlesien, meine ganze schöne Heimat, von Morgen nach Abend hinbreitet und liebeslustig das Haupt an den geharnischten Sudetenritter lehnt.

Ich habe mich nie der trüben historischen Ahnungen entschlagen können, wenn ich auf leichtem Wagen mit rastlos eilenden sarmatischen Pferden ostwärts über diese Fläche hinfuhr. Da herüber kamen aus dem tiefen Osten die Hunnen, die Tartaren und die Kosaken. Flüsse sind keine Grenzen. Der preußische Staat schläft bei offenen Türen, erst das übrige Deutschland ist durch Berge verschlossen.

Auf den Ebenen zwischen Stettin, Königsberg und Breslau wird über kurz oder lang der vorletzte große Krieg geschlagen, hier werden Ost und West zusammentreffen. Ebenen sind ein Übelstand, Flächen ein Unglück, der Krieg hat hier die gefährlichsten Instinkte.

Ach, und auch die Kriege werden prosaisch. Alles Heldentum hört auf, und ein wenig realistische Wissenschaft und Geld werden alles entscheiden. In einigen Jahren gewinnt der Teil den Krieg, der die meisten Eisenbahnen und Maschinen besitzt. Dann wird der letzte Tropfen Blut der Welt ausgepreßt werden. Es ist Zeit, daß ich auf Reisen gehe, die weiten, unbekannten Länder sind der letzte Zufluchtsort der Poesie, bald wird es keine Poeten mehr geben.

Das neue Lebenselement heißt Geld. Wem es gelingt, sich von ihm zu poetischen Gedanken anregen zu lassen, der wird voraussichtlich unser modernster Dichter. Ehre, Ruhm, Liebe, alle Romantik, die sonst die Menschen und Staaten begeisterten und bewegten, sind verbraucht.

Diese Gedanken peinigten mich, als ich von der Taschenbastion herabsah auf den Besitz eines schlesischen Grafen, einen im Abendrot glitzernden Palast, der dicht an der Bastion liegt und glatt und stolz in das gesegnete grüne Land hinausblickt. Auf dem Balkon stand eine stolze, adelige Frau. Ich kannte sie wohl und wußte, daß sie von alter Herrlichkeit und von edlen Geschlechtern träumte.

Von der Promenade aber kam ein schwerer Mann in einem schwarzen Frack. Aus seiner Weste quollen dicke goldene Uhrketten, die bis zu mir herauf blitzten. Er blieb vor dem Palaste stehen, zählte an den Fingern und nickte mit dem Kopfe. Ich kannte ihn. Es war ein sehr bürgerlicher Bankier, von dem es hieß, er wolle gelegentlich den Palast kaufen. Als ihn die Gräfin erblickte, griff sie hastig nach ihrem Taschentuche und zog sich zurück. Die Sonne ging eben unter, der alte Zobten dampfte dunkelblau, das ferne Riesengebirge lächelte unverständliche Worte.

Die Berge sind klug. Sonst erklangen nur Trompetenschall und Jagdgelärm auf ihnen, jetzt verkauft man hier Kaffee und Weißbier. Früher waren sie unzugänglich, jetzt kann jeder Tertianer ihre keuschesten Stellen betasten.

Die Aristokratie ist tot, der Verstand und das Geld, zwei platte Gesellen, ziehen in die Schlösser und regieren die Welt. Die Berge wissen es und schweigen. Die Adeligen wollen es nicht wissen und gehen zugrunde. Die adeligen Frauen weinen und werden interessant. Wenn sie aufgeht und wenn sie sinkt, ist die Sonne am schönsten. Heutzutage muß ein romantischer Dichter adelige Frauen lieben. In solcher Liebe allein wohnen noch Romanzen und Balladen.

Und es ward dunkel auf der Bastion. Die ausländischen Bäume auf der Promenade sprachen mit Blüten und Düften herauf zu mir wie mit Liedern in fremden Sprachen. Eine Nachtigall fing langsam an, in den nahe liegenden Gebüschen zu singen. Liebespaare gingen küssend an mir vorüber, drüben im Palaste erklang eine schöne Stimme zum Klavier. Ich glaube, es war Rektors Abschied. Der dicke Bankier mit den strotzenden Uhrgehängen erschien mir wie Achill mit den unnahbaren Händen. Mir ward fremd-heimatlich zumute. Der Mond ging auf über der Sündenstadt und dem weichen, fruchtbaren Schlesien. Ich hätte weinen mögen, daß ich Abschied nehmen sollte von dem lustigen deutschen Winkel. Von dem Lande, wo ich zuerst geatmet, zuerst geliebt, zuerst gedichtet hatte.

Ich stieg in die Gasse hinab, wo es wimmelt und flutet von weißen Schürzen, fragenden Augen und trotzigen Waden, an denen die Jünglingsblüte Breslaus prüfend mit halbgeschlossenem Augenlide vorüberzieht. Ernst wandelt der Nobile, den Hut tief im Gesicht der hoffende Referendarius, dreist Bruder Studio, schüchtern der Theologe durch die Ohlauerstraße, hält nächtliche Heerschau und erspäht Raum und Gelegenheit, durch den Wink der Parole einen Deserteur zu gewinnen.

Da kam auch Julia mit den schwarzen Capulettiaugen, ein elegisches Mädchen mit christlichen, sanften Gefühlen allgemeiner Menschenliebe. Sie lispelte: »Romeo?« »Schweig, Julia«, sagte ich; »Romeo ist tot. Er ist in Spanien, ich kaufe dir heute die letzten Bonbons.« Sie sah mich fragend an und wollte wissen, wie weit es bis Spanien sei und ob sie mitreisen könne. »Nein, mein Kind«, sagte ich ihr. »Es ist sehr weit –« »Weiter als Mezibor?« – »Weiter als Mezibor und auf einer ganz anderen Seite. Und es ist auch sehr lange her, daß ich für dich schwärmte. Die Zeit ist lang und der Weg ist weit, Gott schütze dir Haupt und Schoß, schwarzäugige Julia, hier sind die letzten Bonbons. Und wenn sich wieder einer so töricht in dich verliebt, wie ich es tat wegen der Madonnenhaftigkeit deiner Züge, und dir auch Bonbons schenkt, so denke mein. Ich küsse dann andalusische Mädchen. Sollte es dir aber schlecht gehen, so vergiß mein, denn ich habe dir's prophezeit. Zerre nicht so an meinem Rock und weine nicht italienische Tränen. Mein Herz ist längst tot und liegt mit meinem Glauben im Sarge.«

Ich bog in die Bischofstraße hinein. Julia stand an der Ecke des roten Hirschen und streckte bittend die Hände aus. Ich sah beim Mondschein, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie trug das historische schwarzseidene Kleid, von dem so viel gesprochen worden war. Nach dem dunklen Tuch, das ihre blendende Schulter bedeckte, schmachtete mancher Jüngling Breslaus. Ich hörte, wie die letzten Bonbons auf die Steine fielen, als sie die Arme ausstreckte. Aber ich hüllte mich in meine unwandelbare Tugend und schritt weiter.

 

Die Pfaffen gestatten zu Breslau kein legitimes Heidentum. Darum nimmt sich alles, was ein gefühlvolles Herz hat, des verpönten Götterdienstes an, und Bacchanalien und Orgien aller Art erfüllen Breslaus Straßen und Nächte. Ein moralischer Protestantismus und gefälliger Katholizismus halten einander hier die Waage. Der letztere wiegt noch etwas schwerer. So ist Breslau eine der liberalsten Städte geworden. Sein Umgang ist groß, seine Häuser sind hoch, es gibt verborgene, weitab gelegene Straßen. Es ist noch viel Romantik in den Mädchen aller Stände. Alle dunklen Haustüren und Hausflure sind des Abends belebt. Die Jünglinge suchen Abenteuer, die Mädchen erwarten sie. Es werden plötzliche Bekanntschaften gemacht wie in der buntesten Ritterzeit. Man fragt nach keinem Namen, es ist noch Straßenpoesie in Breslau. Die Geliebte wohnt draußen, jenseits der Oder, hinter der »Elftausend-Jungfrauen-Kirche«, der Geliebte schläft diesseits hinter den »Barmherzigen Brüdern«. Des Abends reisen sie einander entgegen bis in den breiten Schatten des Jesuitenkollegiums, wo Tag und Nacht die sieben freien Künste und unfreien Wissenschaften gelehrt werden, was heutzutage Universität heißt. Sie wissen nichts voneinander, als daß sie sich sehr lieben. Und wenn die Liebe aufhört, so kommt einige Tage nur eines von beiden in den Schatten der Universität, und dann verschwindet es auch und ein neues Paar erscheint. Das ist der Lauf der Welt. Haben sie sich aber nur zwei Abende verfehlt, so hat das Schicksal sie getrennt und sie suchen sich eine Zeitlang umsonst in dem weiten Breslau und finden sich vielleicht zufällig nach einem Jahre wieder. Dann erkennen sie sich nicht mehr oder beginnen als Fremde eine neue Liebschaft.

Das ist Breslauer Straßenpoesie. Es werden unglaublich viel Verse in Breslau gemacht. Nur läßt man die besten nicht drucken. Damit kein Unglück geschehe, hat man einen schlesischen Musenalmanach als Abzugskanal gestiftet. Jeder brave Schlesier kann hier für ein Billiges seine Verse loswerden, und Dichtervereine und Künstlergesellschaften sind ein stehender Artikel in Breslau. Es wird gereimt, gedichtet, verdünnt, rezensiert, geraucht und geschnupft, als müßte die Welt damit versorgt werden. Namentlich blühen die Scharaden und erfreuen sich enthusiastischer Teilnahme. Der Mond hat großen Anhang. Er scheint aber auch sehr schön in Breslau zwischen die himmelhohen Häuser hinein, auf die breiten Wasserspiegel und die verschwiegenen Gebüsche um die Stadt herum.

Wilhelm Wackernagel versicherte mir immer, der Breslauer Mond sei von ganz besonderer Qualität. Nicht so abgenutzt wie an anderen Orten. Wenn ich zu ihm kam, das heißt zu Wackernagel, so schrieb er auch immer Gedichte an den Mond, und ihre Überschrift war immer: »Es spricht der Mond!« Nur in Breslau weiß man, wie der Mond sich äußert. Dabei saß Wackernagel immer in einem langen preußischen Freiwilligenmantel auf dem Sofa. Die langen blonden Haare hingen ihm mittelalterlich um Kopf und Gesicht, er sah aus wie ein Schüler Ofterdingens, der nur des Mondes wegen von Berlin nach Breslau gekommen war. In seinen großen, deutschen, harmlosen Zügen, in dem klaren, blauen Seherauge lagen alle die schönen Dichterworte, die er noch singen und schreiben wollte. Wackernagel ist einer von denen, die mit brünstiger Liebe und gesundem Kopfe die alte deutsche Poesie studiert und durchgesungen haben. Er ist eine Autorität im Altdeutschen. Auf einer Kegelbahn hat er das Nibelungenlied und den »Percival« und den »Titurel« bis in die innersten Falten gelesen. Auf einer Kegelbahn in Berlin hat er sich in Ermanglung einer anderen Wohnung häuslich einrichten müssen. Dort hat er, in seinen Freiwilligenmantel und seine langen Haare gehüllt, Tag und Nacht gesessen, studiert und gedichtet trotz Hunger und Kälte. Ich habe auch in Breslau nie Geld bei ihm gesehen, und doch war er immer glücklich, das heißt poetisch. Er litt nur zuweilen an Vollblütigkeit, doch schrieb er mir immer die heitersten, vornehmsten Billetts auf spiegelglattem Papier mit sauberen römischen Buchstaben, nahm Holteis Liederspiele gegen mich in Schutz und träumte von einem griechischen Lustspiele, das er demnächst in deutscher Sprache schreiben wollte. Der liebe Wackernagel! Ich war damals ein dummer Mensch, der nicht glauben wollte, daß Goethes »Tasso« mehr wert sei als Schillers »Braut von Messina«. Ich hatte mich deshalb ein Vierteljahr lang in den Breslauer Zeitungen auf Tod und Leben mit ihm herumgeschlagen. Da erweichte er eines Tages mein grausames Herz durch eine schöne, innige Ghasele, und ich ging, ihm meinen ersten Besuch zu machen. Er wohnte bei dem berühmten Chemiker Runge und aß alle Tage Schöpsenfleisch mit ihm. Runge aß einige Monate lang nichts als Schöpsenfleisch, um zu sehen, was dabei aus ihm würde. Wackernagel litt geduldig mit als Opfer der Experimentalchemie, aß mit Runge Schöpsenfleisch und ließ den Mond sprechen.

Seit der Zeit denke ich bei Schöpsenfleisch immer an Runge, der stets gesund war, wie ein geistreicher Quäker aussah und aus einem kleinen Stummel heftig Tabak rauchte, wenn er nicht Schöpsenfleisch genoß. An Wackernagel aber denke ich, wenn mir der Breslauer Mond einfällt, der nach so schönen Liedern aussah, als ich den letzten Abend durch die Breslauer Gassen schlüpfte. Auch damals fielen mir lauter süße Wackernagelsche Verse ein, und ich stand still am trauten Turme, in dessen Nähe er gewohnt hatte, und dichtete im Mondschein ein weiches Abschiedslied. Leider habe ich es vergessen. Es war aber sehr schön.

 

Ich empfand wirklich eine lebhafte Sehnsucht nach dem Monde, ich hätte mich auf das Pflaster legen und den Schein küssen können. Aber es hatte kurz vorher ein wenig geregnet, drum tat ich es nicht. Die nüchternen Leute, die in einer Passion für den Mond viel Überschwenglichkeit und wenig Vernunft finden, mögen sich beruhigen. Für gewöhnlich liebe ich den Mond nicht; er ist mir zu bleich, zu schwindsüchtig, zu kraftlos, zu monoton, zu langweilig. Es stehen noch einige Eigenschaftswörter zu Diensten, wenn es sein muß.

Aber wenn ich einen Raum zum ersten- oder letztenmal sehe, dann ist der Mondschein sein Himmelsnimbus, dann macht er alles so weich, so fromm, so rührend. Es war mir damals am Graupenturme in Breslau, als sähen mich all die lieben Augen im Strahl des Mondes an, denen ich jemals in zärtlicher Neigung zugewendet war. Ich konnte nicht die Züge unterscheiden, aber es war ein süßes Gewirr von all den Mienen, die meinem Herzen wohltun, es im süßen Weh bewegen.

Kuß auf Kuß warf ich dem Monde zu. Ich fühlte, daß der Abschnitt all meiner Jugendneigungen mit diesem Mondschein zu Ende ging. Des anderen Tages reiste ich in die Welt nach Spanien, Babylon und Leipzig. Ich mußte Abschied nehmen von all dem, was küssenswert war unter diesem Monde.

Hinter mir im Schatten des Graupenturmes stand ein langer Mann mit gekreuzten Armen und sah ebenfalls in den Mond. Langsam kam er in den hellen Schein heraus. Wiederum das Bild eines Minnesängers. Breslau hat in vielen schweigsamen Winkeln ungewöhnliche, ernsthaft ganze Figuren. Es hat viele Blätter, die noch niemand umgewendet hat, noch viel unberührte Jugend.

Der Mann war lang, ein magerer grauer Mantel verhüllte kaum seine Länge. Er hatte einen Kopf wie ein ernsthafter Vogel. Weit flogen im leichten Abendwinde die weichen Haare. Fein, spitz und klar wie Luft formten sich nach vorne saubere Gesichtszüge voll kindlicher Unbefangenheit, und die sanften, ahnungsreichen Augen sahen mild wie zwei glückliche Sterne. Ein schwarzes Napfmützchen deutete darauf hin, er sei ein Scholiastenvogel, der sich von Weisheit nähre. Aber in freien Stunden singt er, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und der ist ihm schön gewachsen. Wir gaben einander die Hand und sprachen über den Mond.

Es war Hoffmann von Fallersleben, damals Kustos der Breslauer Universitätsbibliothek. Er lud mich ein, mit ihm zu gehen, und bemerkte, alle alten Poeten würden unruhig auf ihren Repositorien, wenn ihr alter Bekannter Signore Mond sie besuche. Es beginne ein Flüstern von alten unbekannten Liebesgeschichten, daß man nicht Ohren genug habe zu hören. Namentlich der heilige Augustinus erzähle gern von den warmen afrikanischen Abenden seiner Jugend, und der heilige Abälard beschreibe in süßen Stanzen die verführerischen fränkischen Nächte. Hoffmann konnte gar nicht fertig werden zu erzählen. Dann setzt er sich in einen Winkel, macht die Augen zu und läßt alle alten Gedichte durch sein offenes Herz aus- und einziehen wie prächtige Brautpaare. Daher kommt es auch zum Teil, daß er so schöne Gedichte schreiben kann. Er hat auch ein sehr feines Gehör.

Es tat mir leid, seine Einladung abschlagen zu müssen. Aber ich hatte noch zu viele Besuche zu machen, und den Mond brauchte ich notwendig dazu. Ich versicherte Hoffmann, daß es in Breslau sehr viele Fenster gebe, große und kleine, in denen meine Blicke noch während des Mondscheines suchen müßten. Er nickte mit dem Kopfe, denn er ist ein Dichter. Ach, die Geschichten von den Fenstern, aus denen Lockenköpfe und weiße Hände sehen, sind nicht eben lehrreich, aber sehr schön. Hoffmann sagte, das habe seine Richtigkeit. Er freue sich immer, wenn er mich mit unternehmenden Augen und Schritten sehe. Die Klassiker auf der Bibliothek wüßten zwar von schönen Liedern, aber wenig von realen Küssen, der Mensch lebe doch nicht von Brot allein ...

Er wünschte mir glückliche Reise nach Spanien und bat, ich solle ihm drei anständige Balladenthemen aus Granada schicken mit der ordinären Post, aber nicht zu leichtfertige.

Ich habe es versprochen. Er blieb noch stehen auf der kleinen Brücke auf dem Graupenturme, die großen Augen ernsthaft auf den Mond richtend.

Durch unterschiedliche Gassen ging mein Lauf, und der Mond bewegte sich mit und blieb stehen, wenn ich stehenblieb. Wie ein lustiger Pudel. Ich blieb oft stehen. Hinter den meisten Fenstern waren weiße Gardinen; in ein paar Jahren ändert sich viel. Man sieht sich, man begegnet sich, man sucht und findet sich – und verliert sich auch. Mein Gott, die Stadt ist groß. Das Auge ist kein Philister, es ist frevelhaft, die Schönheit der Welt nicht in ihrem größtmöglichen Umfange zu würdigen.

 

Der Mond trat ungeduldig hinter die Häuser der Albrechtstraße, ich mußte weiter. Ich kann nicht im Detail fortfahren, sonst würde meine Abreise zu lange aufgehalten. Ich kann nur bemerken, daß in dieser letzten Breslauer Nacht der Nachtwächter manches abgelegenen Viertels unruhig wurde, weil ein Mann so lange vor manchem kleinen Haus stehenblieb. Die Breslauer Nachtwächter sind wegen ihrer Disziplin und Tapferkeit berüchtigt. Sie halten nichts von der Dichtkunst und verfolgen die Schwärmerei. Sie sind ohne äußere Bildung und schonen kein zartes Gefühl.

So mußte ich denn auch flüchtig an einem Hause der südlichen Innenstadt vorüber, wo ich sonst ein ganzes Jahr lang nicht vorübergehen konnte, weil ich immer genötigt war, einzutreten. Ich hatte in jenem Hause viele ernsthafte Tränen geweint, sein Eckfenster war mir lieber gewesen als die ganze Stadt Breslau. Hinter ihm saß sie alle Abende im Lehnstuhl, die Hände ruhten in ihrem Schoße, und von unten herauf sah sie verstohlen nach der Tür, ob ich eintreten würde. Sie hatte mir immer etwas Trauriges zu sagen. Es ging uns sehr schlecht, und ich konnte ihr keinen andern Trost bringen als alle Tage neue Gedichte. Die lasen wir miteinander und weinten. An einem kalten Wintermorgen mußte sie fort, weit fort. Das war ein sehr trauriger Tag.

Und das arme Fenster, wo tagsüber nicht mehr ihr Kopf, am Abend nicht mehr ihr Licht hinter den Blumen zu sehen war, wie lange habe ich das arme, leere Fenster bedauert, diesen gläsernen Sarg. Jetzt wohnten fremde Leute da. Die Geschichte war schon sehr lange her, aber es fuhr mir doch wieder jener flüchtige Stich in das Herz, nur schwächer als damals. Immer weiter, die Stadt ist groß und das Leben ist lang.

Der alte Pedell Frese war tot, Sturm, sein Nachfolger, hatte die große eiserne Tür der Universität nicht zugeschlossen, ich trat hinein in die schallenden Korridore. Die Jesuiten, die geistreichsten Schufte der letzten Jahrhunderte, die ich wegen ihres impertinenten Verstandes niemals hassen kann, hatten das stolze Gebäude erbaut. Die Jesuiten und Frese sind tot. Es war doch traurig, daß auch er hatte sterben müssen. Er war so römisch lang und sprach immer im pluralis majestatis: »Wir haben beschlossen.«

Es ist ein schöner Raum, um Weisheit zu hören und zu lehren, dies Breslauer Universitätsgebäude. Ich wollte mich schnell erinnern, was ich alles hier gelernt hatte, ich drehte alle Taschen um, sie waren lächerlich leer. Außer Henrik Steffens war mir in diesen Räumen nicht einmal ein Interesse nahegetreten; die klingenden Sporen, die jungen Bärte, die bunten Mützen der Studenten waren mir in den hohen Bogengängen noch immer das Interessanteste gewesen. Die Theologen lasen drei Jahre lang über eine alte abgedroschene Geschichte und noch dazu unzweckmäßiger als auf mancher anderen Universität. Die Juristen trugen drei Jahre über ein anderes Buch vor, und die Philosophie war ganz abgekommen. Nur Henrik Steffens redete stürmisch poetische Gedanken über die Philosophie.

Henrik Steffens ist ein interessanter Mann. Sein Fehler ist nur, daß er mehr sein will. Als ich seine erste Vorlesung im Musiksaale hörte, war es mir, als stünde ich unter dem Wasserfalle des Niagara: betäubendes, überwältigendes Getöse, rings stäubendes Wasser, stockfremde, breitblättrige Pflanzen. Auf einem einzelnen Felsen ein Wilder, der nach einem Wasservogel schießt und dann kopfüber mit der Flinte in das brausende Wasser springt. Es war mir urwäldlich zumute. Und als ich hinauskam in die frische Luft, fing ich plötzlich zu lachen an. Professor Henrik Steffens hatte über Anthropologie gelesen. In dieser Anthropologie fehlten nur die Menschen, aber Berge, Pflanzen und Steine sprachen wunderbar interessante Dinge. Wie er so dastand, der lange Norweger mit den irren blauen Augen und der nach Himmel und Erde zeigenden weißen Hand, dachte ich fortwährend an einen alten Druiden, der die Natur in stiller Einsamkeit belauscht hat, Menschen und den gewöhnlichen Gang der Dinge vergaß, und der nun zurückkehrt in die Stadt, um über Menschen zu sprechen und Novellen zu schreiben. Steffens trug einen feinen blauen Frack mit gelben Knöpfen. In der einen Hand hielt er gegen Ende der Stunde seine goldene Uhr. Ich dachte jeden Augenblick, wenn in irgendeinem Flözgebirge eine Schlucht sich öffnete, er würde sie einem der Zuhörer an den Kopf werfen. Die Uhr natürlich.

Er war eine schöne Erscheinung auf dem Katheder, dieser lang und gerade gewachsene Professor. Sein Kopf ist fein und scharf, die glatten grauenden Haare und einige frühe Falten geben ihm etwas Weises, und doch wird Steffens ebensowenig jemals weise werden, als der Sturm nach dem Takt sich bewegen lernt. Er ist ein Mann der strudelnden Bewegung, der sich die unnatürlichste Mühe gibt, fest zu stehen. Durch sein Gesicht laufen so viele zuckende, spitzige Linien, poetische List, frommer Jesuitismus, ein unreifes Lächeln. All das stürzt sich über- und durcheinander, daß es mit Mühe von dem starken Geiste des Ganzen gebändigt wird, daß man in steter Erregung bleibt bei seinem Anblicke. Und nun kommen die Worte dazu, die sich wie eine unerschöpfliche Flut aus seinem Munde stürzen, eine Welle will eher da sein als die andere. Wie ausgerissene, fremdartig grüne Bäume fliegen auf den Wogenspitzen ungewöhnliche Gedanken mit herunter ins Auditorium, und das Gebrause, der fremdartig übervolle, norwegisch-deutsche Ton, die zischenden Sprachfehler brausen, schäumen, toben rastlos durcheinander, nicht ein Sonnenstäubchen kann sich dazwischendrängen, man wird betäubt, bedeckt und schnappt nach Luft.

Es gibt vielleicht keinen Menschen, der eine solch enorme und schnelle Gedankenproduktion besitzt wie Steffens. Seine Gedanken gehen wie ein brausendes Viergespann mit ihm durch. Wenn er auf das Katheder steigt, so geht es ihm wie der Pythia, die sich auf den Dreifuß setzt. Der Dampf der Weisheit, der Begeisterung umfängt seine Sinne. Die Orakel zerwühlen seinen Körper, er wird von Dämonen herumgeschleudert und zerbrochen. Natürlich hält ein langer, starksehniger Norweger das länger aus als die Pythia, von der die meisten ernsthaft versichern, daß sie ein Frauenzimmer gewesen sei.

Steffens ist eigentlich ein Professor der freien Künste. Er trägt Naturgeschichte und Philosophie, das heilige Donnerwetter der Poesie und die Menschenkenntnis, er trägt dies alles vor wie eine freie Kunst. Er faselt über alles. Aber er faselt im größten römischen Baustile. Er faselt Riesenschnörkel. Bedeutende Poeten sprechen ihm Poesie ab; ich glaube, das ist ein Irrtum: Steffens hat einen belebenden, erzeugend poetischen Blick für das Vegetabile, das Halbtote, das Ganztote. Er macht den Schnee und die Steine und die Berge lebendig, aber er hat ein ganz gewöhnliches, zu unordentliches Auge für die Menschen. Wir sind nun freilich der Ansicht, daß die Menschen in den Novellen die Hauptsache seien. Bei Steffens ist es aber immer der Boden, die Menschen sind nur die Staffage, weil er sie nicht kennt. Es wird nie Maß in ihn kommen, er wird nie ein Dichter werden. Aber ein Poet, und obendrein ein gewaltiger, bleibt er. Seine Novellen mit der altklugen oder im Traume sprechenden Natur sind Kolosse von Ungeschicklichkeit. Große Schachtelkunststücke, aber ein Kunststück ist eben kein Kunstwerk. Wenn er eine Novelle schreiben will, gehen die Rosse mit ihm durch, tief in den Wald hinein. Wenn er nicht weiter kann, steigt er ab, bewährt seine Geschicklichkeit und haut rechts und links Wege durch den Wald, bis er endlich schweißtriefend wieder herauskommt. Diese Arbeit nennt er dann eine Novelle. Es fehlt ihm alle Kunst der Empfängnis. Es fehlt ihm die Dichtkunst, aber nicht die Poesie.

Man erzählt wunderliche Spottgeschichten vom Norweger mit seinen langen Beinen in der Schlacht bei Leipzig, die er so schön beschrieben. Darauf ist aber nichts zu geben. Hinter einem ungewöhnlichen Menschen weist der Haufe immer mit den Fingern her. Es ist auch nicht schwer herauszufühlen, daß Steffens kein Mann der Tat ist. Sein Geist ist ein bunter Renommist der Phantasie. Er ist ein spekulativer Poet. Wer ihm alles glauben will, wird zuverlässig ein Dummkopf, wenn auch ein merkwürdiger. Seine politischen Bücher habe ich immer wie geistreiche Karnevalsentwürfe gelesen. Wenn Steffens einmal Minister des Auswärtigen würde, könnte die Politik auf vierundzwanzig Stunden sehr amüsant werden. Länger würde der Spaß nicht dauern. Wäre ich der König von Preußen, ich ersuchte Professor Steffens, unbekannte Gegenden zu bereisen. Dann könnten wir interessante Bücher erwarten. Er improvisierte neue Welten. Wenn sie sich auch später nicht als richtig erwiesen, sie wären doch unterhaltend. Denn er ist ein kleiner Schöpfer. Es fehlt ihm nur das bißchen Ordnung, mit der der Herrgott geschaffen hat.

Der Mond wollte fort, die Korridore wurden finster, ich glaubte, die Stimme des Henrik Steffens zu vernehmen: »Meine Herren, betrachten Sie die Flözgebirge!« Es war aber ein Irrtum. Steffens war schon nach Berlin gegangen.

Draußen auf der Oderbrücke war viel Amüsement: die lustigen Burschen führten ihre Mädchen zum Tanz hinüber nach der »Goldenen Sonne«. Durch den Dampf der Tänzer blickten die erleuchteten Bogenfenster herüber, die Musik jauchzte und wieherte. Die Mädchen hüpften vor Vergnügen schon auf der Brücke. Es ist ein merkwürdiges Institut, die »Goldene Sonne«. Der Saal ist einer der größten und schönsten der Stadt. Die Musik ist die beste, berauschend und neu. Die Gesellschaft – nun ja, die Gesellschaft ist die bunteste und harmloseste. Sie ist sehr gemischt, der Eintritt ist wohlfeil, eigentlich nur ein Unterpfand, daß man sich mit irgendeinem Genusse stärken wolle. Mit einer gutverpfropften Flasche Bier oder einem Breslauer Likör. Für die an der Tür bezahlten zwei Silbergroschen wird dem Durstigen solch ein Genuß im Saale gratis verabreicht. Hier findet man jeden Sonntag und Montag die entschlossenste Gesellschaft. Entschlossen, sich auf jeden Fall zu amüsieren. Man findet die zuschauende Frau des Bürgers, den tabakqualmenden Handwerker, die leichtfertig springende Dirne. Man findet immer Lärm, und zu jeder Stunde und ohne viel Mühe die besten Prügel. Wie vom Blitz getroffen, fliegt der Übeltäter durch mehrere Zimmer, von Hand zu Hand aus dem Haus hinaus. Aber »in diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht«. Nachdem er die Busenkrause hineingestopft hat, tritt der Deportierte wieder ein, als sei nichts vorgefallen.

Als ich noch Student war, kam ich Sonntags immer an der »Sonne« vorüber, und der Menschenkenntnis halber ging ich gewöhnlich hinein. Damals lockten die neuen Oberontänze – es ist doch entsetzlich, daß auch solch ein Feenprinz altert –, damals scheute ich auch eine massive Prügelei nicht für ein paar schöne Augen. Ich trug noch keinen Vatermörder und haßte noch Hut und Frack.

An einem solchen melancholischen Spätsommerabende war es, als ich jene schwarzen Augen, jene schöne andalusische Figur wild an mir vorübertanzen sah, die im ganzen Julia hieß. Mein Begleiter, ein alter, erfahrener Bursche mit bemoostem Haupte, machte mich aufmerksam: »Sieh, um Gottes willen, diese Augen!« Sie waren wirklich erschreckend und feurig schön. Ich eilte, es ihr zu sagen, mein Begleiter desgleichen. Sie lachte und legte mir die heiße Hand auf den lobpreisenden Mund. Mein Begleiter war im Feuer dieser Augen grob gegen unsere Nachbarn gewesen, und ich sah eben noch in der Ferne sein ruderndes, kämpfendes Pfeifenrohr. Er wurde just hinausgeworfen, als mir Julia ihren Arm bot. Ich geleitete sie nach Hause und kaufte ihr Bonbons.

Ich schmachtete in diesen Augen und las um jene Zeit den Plato. Das war dumm. Denn Julia wußte nichts von Plato. Ich glaubte noch an die Menschheit und an die Tugend. Eines Tages schenkte mir jener erfahrene Student ein Bonbon, das ich den Abend vorher Julia geschenkt und worauf ich geschrieben hatte: »Romeo und Julia«.

 

Das war einer der merkwürdigsten Tage meines Lebens. Ich verwünschte die Tugend und meine Dummheit in einem Atem. Ich verwünschte auch meine burschenschaftlichen Grundsätze, die mich schon in Halle und anderswo um soviel Vergnügen gebracht hatten. Damals, o Plato, schwor ich dir ab!

Diese Erinnerungen trieben mich fort von der Oderbrücke. Ich ging nach Hause und legte mich schlafen. Der Gedanke: »Plato oder nicht Plato« beschäftigte mich bis zur Abfahrt. Zwei Freunde geleiteten mich bis zum »Schwarzen Bären«. Dort tranken wir zum letztenmal eine Schale schlesischen Kaffee miteinander, sie segneten mich, und ich fuhr gegen Babylon. Zuerst gegen Leipzig. Ich sah mich nicht mehr um, da ich mich vor dem Abschied fürchtete, und fuhr ohne Gedanken durch das mädchenfreundliche Liegnitz, ohne Gedanken bis nach Dresden.


 << zurück weiter >>