Reise durch das Biedermeier
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Leipzig

Die Straße nach Leipzig ist so zweifellos und uninteressant, daß sich auf ihr durchaus nichts ereignen kann. Und Leipzig hat auch die Merkwürdigkeit, daß man das meiste darüber zu schreiben vermag, wenn man es nicht gesehen hat. Je länger man da lebt, desto weniger weiß man darüber zu sagen. Wenn man ein bürgerliches hübsches Mädchen sieht, so kann man allenfalls mit ihr schwärmen, falls man gerade nichts Besseres zu tun hat. Kommt man aber öfter mit ihr zusammen, so bleibt nichts Besseres übrig, als sie zu heiraten. Von solch einer Heirat weiß niemand viel zu erzählen.

Bei freundlichem Nachmittagssonnenschein trat ich in das Zimmer meines Freundes. Er saß hinter einem breiten Tische voll Landkarten, reichte mir trübselig die Hand und sagte, es sei gut, daß ich komme, denn er könne nirgends Golkonda finden.

Nach einigen Tagen erfuhr ich, daß er sehr hypochondrisch sei und die Welt aufgegeben habe. Der einfache Grund davon: es gebe so erschrecklich viel zu lernen in der Welt, daß es unmöglich sei, fertig zu werden. Deshalb habe er beschlossen, lieber unglücklich zu sein, als sich noch länger zu quälen. Während er auf das eifrigste Naturwissenschaft und Medizin studiere, laufe ihm Geschichte und Geographie davon, und wolle er diese einholen, würden die andern über Nacht ganz anders. Ein ehrlicher Mensch müsse dabei zugrunde gehen, das wolle er denn auch. Dabei streckte er sich aufs Sofa und machte die Augen zu.

Ich sah ein, daß hier das Glück nicht zu finden sei, weshalb ich auf Reisen gegangen.

Ich wollte nach Paris fahren und war nun in Leipzig. Ich schrieb in den Zeitungen über deutsche Literatur und das Leipziger Theater und wurde kein Revolutionär, wie meine Mutter hoffte, sondern leider ein solider Mensch, der zweiundzwanzig Stunden auf seinem Zimmer ist, wenn's regnet, spazieren geht, wenn die Sonne scheint, vor jedem anständigen Menschen den Hut abnimmt, seine Miete rechtlich bezahlt und hoffentlich einen guten Ruf hat. Das ist aber die Hauptsache in Leipzig.

Das öffentliche Leben einer Handelsstadt sind die Kurse, die Warenpreise, der größere oder geringere Transito. Der Kaufmannsstand ist einer der nützlichsten, aber die Beschreibung seines Lebens ist die langweiligste, denn das Einmaleins ist seine wenig variierte Grundform, die Wechsel sind seine Poesie, die Poesie selbst, vorzüglich die romantische, ist sein barer Gegensatz. Von den Dichtern Phöniziens, Karthagos, des reinlichen Holland, sogar des alten wimpelreichen Venedig meldet uns die Geschichte wenig. Ewig wiederkehrende Ordnung ist des Handels Grundlage, die der Poesie aber reizende Verwirrung, Abwechslung, bunte Unordnung. Dort der Vorteil, ein vertrockneter Geselle in dauerhaften Lederhosen, hier die Lust im bunten fliegenden Gewande.

 

In Leipzig stört einen kein Adeliger, aber hier ist das Terrain, wo man studieren kann, was geschieht, wenn der Adel abgeschafft wird. Der Wert der Ahnen ist abgetan. Das Reich der Bildung sollte anheben. Dazwischen schiebt sich plötzlich aber jenes Etwas, das so wichtig und merkwürdig geworden ist: das Geld. Es ist die ewige Verwechslung zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel, Kleidung und Mensch. Die Industrie ist nicht zu fördern, um an die Stelle des Lebens zu treten. Sie soll das Leben erleichtern, und das erleichterte Leben sollen wir dann erst verschönern lernen. Alles, was wir jetzt erstreben, ist erst das Werkzeug zum Glück. Die Kaufleute aber machen das Werkzeug zum Zwecke. Sie betrügen uns um unsere Zivilisationsarbeit. Sie müssen viel heftiger bekämpft werden als der Adel. Aber sie sind schwerer zu bekämpfen, weil sie jünger und dümmer sind. Ihre Waffen, die gelben Louis d'ors, weiß jeder Feigling und Dummkopf zu führen, die des Adels, die Ambition und die Erinnerung, bedurften der Übung und des Blutes. Ihre Verdienste sind keine Vermächtnisse auf späte Zeiten, die man studieren muß, ihre Wechsel lauten au porteur und müssen auf Sicht gezahlt werden. Sie gewinnen in einem Jahre soviel Terrain wie der Adel in einem Jahrhundert.

Der Ursprung des Adels war doch eine Art Poesie. Glänzende Vorzüge sollten doch wenigstens sein Vater sein. Die Fratze entstand erst dann, als die Vorzüge allgemeiner geworden und die Adeligen in dem lächerlichen Irrtume befangen waren, allein Vorzüge zu besitzen. Aber selbst der Schatten dieser Tendenz hob doch oft noch einzelne dieser Kaste aus der Masse. Einzelne wollten wenigstens edler sein. Der Kaufmann will nur reich sein. Zum Reichwerden braucht er keinen inneren Vorzug.

Er ist der neue Philister, der bis jetzt Frankreich betrogen hat und uns alle auf lange Sicht betrügen wird, wenn wir ihn nicht im Schach halten. Für die Kontore haben wir den Adel und die Regierung des Herkommens besiegt. Freut euch das, ihr revolutionären Götter und Sünder? Ich glaube kaum, daß bei diesen bockledernen Herzen etwas anderes als der »Schrecken«, das historische Wort Dantons verfängt. Sie müssen solange eingeschüchtert bleiben, bis sie lieben gelernt haben. Sagt man doch, daß die Weiber den Mann am innigsten lieben, den sie vorher am meisten gefürchtet. Die Kaufleute sollten die Menschen fürchten, um sie zu lieben.

Leipzig hat vor den Toren ein Schlachtfeld, auf dem viele tausend gute und böse Männer totgeschossen wurden. Mit ihnen unterhielt ich mich über vergangene Zeiten und was die Welt gehofft und gefürchtet habe bei der Schlacht bei Leipzig. Es ist nur traurig, daß die Toten, so laut sie reden, nicht verstanden werden. Und es ist traurig – ich mache mir oft Vorwürfe darüber –, daß ich immer die Plätze der französischen Marschälle suche, die doch meines Vaterlandes Feinde waren und auf meine Brüder einhauen ließen. Namentlich suche ich den Platz des Marschalls der Marschälle, der so viele deutsche Mädchen unglücklich gemacht hat. Kann ich dafür, daß die Poesie die Tochter des Genies ist, daß sie nur die Größe, den Glanz und die Herrlichkeit liebt und dem guten Willen, ja dem besten Willen den Rücken wendet? Ich habe es lange mit den Alliierten gehalten, aber sie konnten mir nichts mehr zu essen geben. Sie waren fertig mit ihrem bißchen Ruhm. Ich werde sie immer mit Pietät behandeln, mehr kann ich als rechtschaffener Poet nicht versprechen.

Der Himmel weiß, wie ich mir die wackeren preußischen Freiwilligen vergegenwärtige, sooft ich nach Möckern komme, wo sie wie Helden gefochten haben.

Preußen und Berlin sind nie so liebenswürdig gewesen als im Jahre 1813, da sie den Mut hatten zu zürnen und die besten Söhne hinzuschicken gegen die Kugeln. Wenn man das deutsche Philisterleben kennt, so weiß man, daß ein solches Verdienst zehnfach anzuschlagen ist. Ich weiß noch, wie wohl es uns tat, als nach der Schlacht an der Katzbach die ersten Freiwilligen zu uns ins Quartier kamen: die Figuren schwankten noch wie die Gerten, es war noch keine empirische Konsistenz in ihnen. Die dünnen Stutzbärtchen kamen erst schalkhaft, schüchtern zum Vorschein, die Hände waren noch fein und weich, die Wäsche war viel zu fein für das Feldlager, sie sangen Körnersche und Schenkendorfsche Lieder. Ich sah meinen Vater den Kopf schütteln. Er hatte die Schwielenhand manches alten Franzosen, der in Italien und Spanien mitgefochten, gefühlt. Er hatte die verwitterten Gesichter, die undurchdringlichen Bärte der alten Kerntruppen gesehen und schüttelte den Kopf zu unserer jungen Romantik.

Damals betete ich alle Abende vor dem Schlafengehen, und wenn der Vater am Tage die Zeitungen bekam, betete ich noch einmal für unsere Freiwilligen, und habe jeden neuen Morgen gefragt, ob ich die Nacht über nicht groß geworden sei, um auch den blanken Reitern folgen zu dürfen.

Es wird in Leipzig sehr viel spazierengegangen und geritten. Die Promenaden sind zwischen den Vororten und der Stadt. Reit- und Fahrwege gehen daneben her, der Reiter kann seiner Dame die Hand reichen, die Dame kann ihr neues Kleid während einer halben Stunde Hunderten zivilisierter Augen präsentieren. Auch gibt es sehr viele Kinder in Leipzig, ich glaube mehr als Erwachsene. Herodes hätte hier entsetzliches Unglück anrichten können.

Übrigens hat sich diese Stadt, die durch viele Jahrhunderte immer der Rücken Europas war, auf den man von allen Seiten her weltgeschichtliche Schläge austeilte, wie eine vorsichtige Schöne konserviert. Sie ist ein ordentliches, solides Mädchen ohne Leidenschaften. Sie hat Kissen voll weißer Leinwand, den Kopf voll alter grauer Hausmittel und Gleichnisreden, das Herz voll polizeigemäßer Zuneigung, die Hand voll zweifelloser, überaus gültiger Münze. Sie ist um und um eine gute Partie, die junge, erbauliche Kaufmannswitwe Leipzig. Mit roher Kriegshand hat man ihr so oft alle Reize angetastet, nach einer Entsagungskur von einigen Jahren ist sie immer wieder hübsch geworden. Nur muß man nicht weit mit ihr schwärmen wollen. Sie ist eine Kaufmannswitwe ohne Perspektive.

Die Promenaden und vielfachen Gartenanlagen haben aus der von der Natur sehr mittelmäßig bedachten Stadt einen Ort geschaffen, in dem sich der Frühling sehr hübsch ausnimmt. Von der Westseite, zwischen den Flugnetzen, die die Leipziger selbst größtenteils erst seit der Schlacht kennengelernt haben, zieht sich grüner Laubwald herauf. Erste Bekanntschaft mit ihm schließt die Stadt im Rosental. Dort sitzen die Musen und Grazien Leipzigs. Die Musen rauchen Zigarren, echauffieren sich durch Marseiller Märsche, kühlen sich durch Eis ab und sind liberal bis zum Teufelholen. Namentlich wenn es kühler wird und sie anfangen, Grog zu trinken. Seit den Bundestagsbeschlüssen spielen sie aus Oppositionsgeist täglich Domino.

Die Grazien sind sittsam und schlagen die Augen nieder. Mit einem Maskulinum gehen sie nicht eher spazieren, als bis sie mit ihm verlobt sind. So darf niemand den König von Spanien anrühren, auch wenn er brennt, als sein erster Kammerherr. Solche Gesetze sind aber den Leipziger Grazien eine Kleinigkeit: das Brennen ist ein extremer Zustand, der sich nicht schickt. Ich habe noch keine brennen gesehen, wenigstens noch nirgends Feuer und Wärme verspürt. Man kann lodernde Gedanken unter sie werfen, sie blasen sie lächelnd aus und sagen ernsthaft: »Das schickt sich nicht.« Wenn man ein hübsches Mädchen sieht, so fragt man nicht: »Wie heißt sie?«, sondern: »Mit wem ist sie verlobt?«

Sachsen ist berühmt wegen seiner hübschen Mädchen. Vor mehreren Jahren war wirklich eine schöne Generation hier. Wir wallfahrten von Halle nach Leipzig zum Meßsonntage, um unseren ästhetischen Ideen auf die Beine zu helfen, die in Halle erlahmten. Man reiste wie zu einem orientalischen Basar. In »Rudolphs Garten« erschienen die Leipziger Türkinnen unverschleiert und schufen die neueste Mode für Deutschland. Man sah ihnen das weltgeschichtlich schöpferische Behagen an. Manche mochte sich wochenlang nicht sattgegessen und Tag und Nacht Clauren gelesen haben, um ins Modejournal zu kommen. Es ist keine Kleinigkeit für das Hinterstübchenleben eines Mädchens, abgemalt zu werden wie Fräulein Sontag und der türkische Sultan, und zwar bloß der Schönheit halber. Daß die Gesichter in den Modebildern alle gleich sind, darauf kommt's nicht an. Man erkennt doch das Kleid oder die Frisur, und einst in späten Tagen, wenn der Mann nicht mehr dran glauben will, daß die Frau schön gewesen, holt sie unter alten vertrockneten Blumen den Kupfer aus der Modezeitung und reicht ihn ihm mit verwelktem, siegreichem Blicke. Und der Mann wird wieder stolz darauf, daß er eine historische Frau besitzt, und erzählt die Geschichte des Abends in der Ressource, in der Harmonie oder im Tunnel.

Man berichtete mir, als ich auf die verschlechterte Generation anspielte, daß in den letzten Jahren sehr viele große Häuser falliert hätten. Das wirke stark auf die Schönheit ein. Die Erklärung ist gar nicht übel. Überfluß, Reichtum, Sorglosigkeit, lauter samtene Tapetenverhältnisse, fördern das Gedeihen der Schönheit. Die Kinder rücksichtsloser Liebe sind nicht nur meist Genies, sondern sie sind auch schöner als die Sprößlinge des mühsam geordneten Ehebettes. Ein guter Kalkulator kann keine schöne Tochter haben: wenn der Chef des Rechnungshofes schöne Kinder zeugte, ich setzte ihn ab, wenn ich sein Herr wäre. Es wäre ein sicheres Zeichen, daß er nicht für sein Amt taugt.

Es ist traurig, daß die Schönheit so wenig mit dem Gedanken zu tun hat, daß sie eine Entschädigung für die Dummheit zu sein scheint. Unter zehn schönen Mädchen sind immer neun dumm, und das ungebildetste Land hat die schönsten Frauen. Ich spreche natürlich von Formenschöne, denn die Natur hat ein Einsehen gehabt, um die Tätigkeit zu wecken. Die geistige Schönheit läßt sich erzwingen.

 

Ein Schauspieler, der gerne gelobt sein will, nennt mir Leipzig immer »den Mittelpunkt der deutschen Literatur«. Und dabei drückt er mir die Hand. Ich verstehe ihn und schreibe den anderen Tag: »Herr X ist ein historischer Schauspieler, dessen Vorzüge nicht bekannt sind.«

Das Zentrum dieses Mitteltums der deutschen Literatur ist Kintschys Schweizerhüttchen im Rosentale, wenn nachmittags die Musen Zigarren rauchen und Domino spielen. Von hier geht Deutschlands Kultur aus. Die Fremden kommen und sehen sich diese Kultur für einen sächsischen Groschen an. Wenn sie zwei Groschen dafür geben, so ist das schon Luxus. Ist gar Buchhändlermesse, so findet man bei Kintschy die literarische Börse. Es treffen auch die »ausländischen« Schriftnotabilitäten ein aus den sächsischen, anhaltinischen und reußischen Herzog- und Fürstentümern, aus dem Harzgau, aus der Lausitz, aus Berlin und aus Gattersleben, wo Krug von Nidda wohnt. Alte Häuser, die keinen Kurs mehr haben, wie Langheim, Müchler und andere, die sich im Sterben verspäten, schicken Abgeordnete. Der Kurs der deutschen Literatur wird gemacht. Die Schriftsteller erscheinen in den besten Röcken und den nachlässigsten, genialsten Physiognomien, die sie auftreiben können. Der humoristische Autor notiert seine besten Witze für diese Nachmittage. Er hält einen Kreis hungriger Bekannter frei, daß sie um ihn herum Spektakel machen und lachen helfen, er stülpt einen Vatermörder um und grüßt alle Welt. Der Dichter legt das Halstuch ab, sieht keinen Menschen an, durchwacht einige Nächte, um die materielle Röte seines unanständig gesunden Antlitzes zu bändigen und durchsichtiger, lyrischer auszusehen. Er lehnt sich an eine Säule und sieht über das Gewühl hinweg nach den Wolken. Wenn ein Sperling zwitschert, so belebt sich sein Gesicht süßsauer auf einen Augenblick. Man fühlt eine Hymne auf die Natur entstehen; er raucht nicht und vergißt zu zahlen.

Der Publizist trägt einen langen, verschwiegenen Rock, sieht malkontent aus wie eine losbrechende Revolution, drückt den weißen Republikanerhut tief in die Stirn, streicht sich den Schnurrbart, daß allen soliden Leuten bange wird, geht forschend, aber totenstill unter den Gruppen herum, drückt hie und da einem ernsthaft die Hand, und wenn man ihn nach Politik fragt, lächelt er höhnisch wie Robespierre und spricht: »Wie ich's vor einem Vierteljahr prophezeite!« Redet ihn ein Buchhändler an, so spricht er ihn an einen Baum fest und schweigt nicht eher, als bis der Mann um Gnade bittet.

In Deutschland und bei Kintschy ist das Verhältnis umgekehrt: die Buchhändler sind die Herren der Literatur, die Schriftsteller ihre gehorsamen Diener. Es ist wie in den Zeiten der römischen Hierarchie: nur diejenigen Entdeckungen wurden gemacht, nur die Gedanken erfunden, die die Pfaffen erlaubten. Außerhalb der Kirche konnte man nicht leben. Jetzt kann es der Schriftsteller nicht außerhalb des Buchhandels. Nur der zahlt einige Taler Honorar für die sublimsten Gedanken.

Hier am Ende des Rosentals hat Seume seine derben Lieder erfunden, drüben aber in einem der äußersten Häuschen von Gohlis dichtete Friedrich Schiller das Lied »An die Freude« und den letzten Akt des »Carlos«. Jetzt hängt unter jenen spanischen Fenstern ein betrübtes schwarzes Schildchen mit den deutschen Worten »Bier und Branntwein bei Johann Gottlieb Nitschke«.

Nördlich und östlich vom Rosentale der Musen strecken langweilige Flächen gähnend ihre bleifarbenen Zungen dem Beschauer entgegen. Um so liebenswürdiger ist es, daß man Naturkünste benützt, um die nächste Umgebung so hübsch wie möglich zu machen und unermüdlich bürstet und putzt, die Reize der spröden Dirne zu kultivieren. Sogar einen kleinen Park hat man zusammenaddiert, mit unglaublicher Anstrengung einen Berg aus Makulatur erbaut, Rasen darüber gedeckt und streng kritisch die Meßdichter hergenommen, um einen Wasserspiegel zustande zu bringen. Der Mond liest darin die schlechtesten Verse. Die einsamen Liebespaare, die am Ufer wandeln, schöpfen daraus ihre überflüssige Unterhaltung, da es für unanständig gehalten wird, stumm zu küssen.

Die gutmütige Natur borgt ihr Grün, verdeckt Blößen mit freigebigen Ästen und Zweigen, und das Ganze sieht jetzt schon so naiv hübsch aus, wie man von einer Gegend nur verlangen kann, der die Erde kaum die Fähigkeit zum Brotstudium gestattet, alle Genialität aber versagt hat. Unermüdlichem Fleiße ist es gelungen, daß man nach zwanzig Jahren nichts mehr davon sieht, wie der Kampf eines ganzen Erdteils hier zerstörte. Ein Denkmal im hiesigen Park nennt den verstorbenen Bürgermeister Müller einen Hauptlenker dieser verschönerten Ausgabe Leipzigs. Solche Leute sollten Plätze in einer Literaturgeschichte der tellurischen Ästhetik erhalten. Sie haben wirksamer für Schönheit gesorgt als mancher Poet sein Leben lang. Sie sind die plastischen Künstler des Frühlingsgrüns und Sommerschattens.

Die abenteuerliche, romantische Liebe, die sich auf den Straßen begegnet, die Liebe aus dem Stegreif, erholt sich jetzt allmählich in Leipzig, seit die Kaufleute ärmer und die Bäume und Sträucher reicher geworden sind. Einst wollte und konnte sie sich nirgends verbergen. Jetzt gedeihen schon immer mehr Schattenpartien. Je dichter der Park wird, desto dünner wird die Leipziger protestantische Moral. Die Natur ist den Moralisten nie grün gewesen. Wird gar noch das Rosental der Stadt einverleibt und sein kleines Tor des Abends nicht mehr geschlossen, dann sehe ich tibetanische Riesenfeste beginnen, und ich weiß, was man in den Kirchen umsonst predigen wird.

Gehörte ich zu den protestantischen Leipziger Historikern, ich regte an, das Rosental auszureuten. Denn von dort her, von jenem immer wiederkehrenden Liebesgrün, jenem beglückenden, säuselnden Schatten droht ihrer Armut das Verderben. Das Rosental ist viel zu katholisch, als daß es gelitten werden dürfte.

Seit einigen Jahren bin ich zu wiederholten Malen nach Leipzig gereist. Ich bin viele Monate lang da über Nacht geblieben; was Wunder, daß meine Reise hier ein wenig anhält. Ich muß erst alle Wirtshauszettel zusammensuchen, die ich hier bezahlt, damit ich erfahre, was ich hier genossen, sonst fällt es mir nicht ein. In Leipzig habe ich immer viel Zeit gefunden nachzudenken, obwohl ich hier eifrig an der Weltgeschichte mitgearbeitet und ein Journal redigiert habe.

Es ist alles anders in Leipzig. Wenn man über eine andere Stadt schreibt, so schreibt man eben, um die Stadt zu charakterisieren. Man charakterisiert aber Leipzig, wenn man über alles, nur nicht über Leipzig schreibt. Ich will nicht sagen, daß Leipzig keinen Charakter habe. Es ist im Gegenteil in Leipzig Hauptsache, einen Charakter zu haben. Denn wer keinen Charakter hat, ist ein schlechter Mensch, und wer seine Miete nicht bezahlt, hat keinen Charakter. Leipzig ist eine artige Stadt und nötigt einen durchaus nicht, über etwas Bestimmtes, Interessantes zu schreiben. Es hat so verschiedene Interessen. Dreiprozentige, vier-, fünf-, sechsprozentige, die Auswahl ist sehr schwer. – Sollten meine Leser nie eine jener wohlkonservierten Kaufmannsfrauen gesehen haben, die ein schwerseidenes Kleid, eine goldene Kette und eine sehr schöne Haube tragen, die äußerst höflich und freundlich sind, die alles vortrefflich finden, was ihr sagt, ja, das Ungezogenste schalkhaft und liebenswürdig nennen und die, sobald man zur Tür hinaus ist, vom Stuhle springen und nicht begreifen können, daß die Polizei solche verworfene Menschen, wie ihr seid, vierundzwanzig Stunden in der Stadt dulde, daß solche Leute in respektable Gesellschaft geladen werden könnten. Sollten sie solche Frauen noch nicht gesehen haben, so wissen sie freilich nicht, was es heißt, eine Kaufmannsstadt zu schildern, der die Elle aus der Tasche guckt, auch wenn sie Boston spielt und über das Christentum spricht. Liebe und Poesie sind Einseitigkeiten. Darum sind sie so schön.

Weil Leipzig keine Augen und kein Herz hat, weiß man nicht, was man darüber sagen soll. Ehe ich nach Leipzig kam, machte ich alle Tage, wenigstens jede Woche, ein Gedicht, wenn es auch nur ein Gedicht fürs Haus war. Seit meiner Leipziger Zeit habe ich keinen einzigen Vers verbrochen.

Aber heroisch wird man. Man fürchtet den Tod nirgends so wenig wie hier. Leidenschaft und Gleichgültigkeit haben oft ein und denselben Ausgangspunkt: Verzweiflung, und wirken darum oft gleich. Oh, ich weiß jetzt, was englischer Spleen heißt, und ich glaube es jetzt aus Eitelkeit, daß es die Geistreichsten waren, die sich aus Langerweile erschossen. Ein Dummkopf langweilt sich nie. Ich war noch nicht geistreich genug in Leipzig, sonst säße ich lange nicht mehr drinnen.

Es ist alles anders hier als sonstwo. Die Polizei ist sehr gut und geniert niemand. Des Sonntags, wenn andere vernünftige Leute und schlechte Christen sind, sind die Leipziger gute Christen und gehen in die Kirche, lassen Ketten über die Straße spannen und Wachen aufstellen, daß kein Frevler Gottes Wort störe, und sind sehr still und feierlich. Sie sprechen vom Jüngsten Gericht und vom Teufel und seiner Großmutter. Es ist überhaupt noch sehr viel Religion im Munde der Leute. Es kommt hier auch die »Leipziger Zeitung« heraus, die an anderen Orten nicht geduldet würde, wo wenig auf Religion, aber auf Geschichte und Reputation gehalten wird.

 

An einem Tage, da die ersten Mädchen in weißen Kleidern unter meinen Fenstern spazierengingen, sah ich mit Freuden ein, daß ich sie verleumdet hatte und daß sie alle schön seien. Sie haben schöne Taillen, eine weiße, europäisch süße Haut, volle Haare und große Augen. Sogar die Bankiers, die vorüberkamen, hatten die Überschuhe ausgezogen, knöpften die Fracks auf und stellten sich wenigstens so, als ob noch empfindendes Leben unter der Kaschmirweste sei. Der russische Gesandte wohnte zwar trotz des Frühlings noch immer da drüben in dem großen Hause, von wo er mit einem mäßigen Fernglas auf meinen Schreibtisch sehen und mich eines schönen Morgens mit einer guten Kugelbüchse totschießen konnte, wenn ich wieder über die Freiheit schreiben wollte. Aber ich wußte, daß sich der Frühling morgen und übermorgen so breit gemacht haben würde, daß mir Rußland nicht mehr gefährlich werden könnte.

Zudringlich und liebenswürdig fällt der Frühling auf Leipzig. Die Bäume strecken ihre Hände bis an die Innenstadt hinein, ganz Leipzig wird von der grünen Natur belagert. Die Promenade umfängt die ganze innere Stadt mit Spaziergangarmen. Zum ersten Male wollte ich mittags nicht in mein treues »Hotel von Bayern« hinein, das mich so lange geschützt hatte vor Unglück und Verzweiflung durch den Umgang mit frischen Fremden.

Engländer sind alle Tage, Amerikaner alle Wochen, Franzosen alle vierzehn Tage bei Tische.

Ich habe die Franzosen immer nur übermütig, die Engländer aber stets hochmütig gefunden. Beim Übermut kann man liebenswürdig sein, beim Hochmut aber nicht, und Liebenswürdigkeit ist auch eine Aufgabe der Kultur.

Hie und da fand sich auch ein Holländer bei unserer Tafel ein. Und so uninteressant mir der Begriff Holland immer gewesen ist, so interessant waren mir die holländischen Individuen.

Einer sah gar nicht aus wie ein Holländer. Er war nicht klein und hatte ein geistreiches, zivilisiertes Gesicht. Nur um den Mund spielte jener fatale Diskontozug, den man hassen muß, weil er das Geld höher stellt als die Schönheit.

Der Mann war vierzehn Tage lang artig und still gewesen, hatte mit Fleiß gegessen und mit Geduld die Leipziger Zeitung gelesen. Er fing an, mir Achtung einzuflößen. Da kam eines Tages ein schwarzäugiger Franzose mit propagandistischen, lebhaften Zügen an den Tisch und warf aus Brüssel Congrevesche Raketen nach dem Haag. Jetzt entwickelte sich der moderne Holländer, der Bissen stand ihm im Munde still, der Ärger zog wie ein Heuschreckenschwarm verheerend über sein Gesicht, die Hände hielten krampfhaft Messer und Gabel, er drängte mit Mühe hie und da einige verstorbene Worte aus der Kehle und sah aus wie ein Italiener. Als der Franzose von der Schuld sprach, die Holland allein fortwährend zahlen solle, da glaubte ich, es rühre den Holländer der Schlag, so fieberisch zuckte alles an ihm. Er ließ die Mittelspeise und den Braten im Stich und ging davon. Das hätte ich nie einem Holländer zugetraut.

Ein zweiter war so ein fahrender holländischer Enthusiast, der zu seinem Vergnügen reiste. Es klingt unglaublich, daß ein Holländer zu seinem Vergnügen reist und Enthusiasmus mit sich herumführt. Aber ich habe diese Seltenheit wirklich gesehen. Er war zu Leyden geboren, hatte zu Leyden studiert, kam von Leyden, trug das orange-schwarz-gelbe Heldenband und war sehr beweglich. Er war ein moderner Holländer, das heißt eigentlich ein Irrtum. Dazu war er kein eigentlicher Kaufmann, unbekannt mit der übrigen Welt, vom Mutterleib aus gutmütig und verliebt.

Sein Entree bei Tisch war, daß er uns versicherte, die holländische Sprache sei die schönste auf der Welt und Holland sei das freieste Land. Wegen der ersten Behauptung wurde er ausgelacht. Alsbald sprang er auf – er war noch bei der Suppe – und verließ den Tisch. Beim Rindfleisch kam er wieder und verteidigte es mit republikanischer Offenheit, daß die Holländer frei, sehr frei, ganz frei seien. Es ließ sich wirklich nichts dagegen einwenden. Sogar die Engländer schwiegen, nur König Wilhelm würde sich schlecht dabei erbaut haben. Der Holländer schnitt herzhaft ins Rindfleisch. Ich sagte ihm, Wienbarg erzähle, die Holländer verehrten ihren König wie die Ägypter einen Ochsen, der im Palast einen Stock hoch vortrefflich gepflegt werde.

Er stand wieder auf wie Petrus, ging hinaus und weinte sehr. Bei der Mehlspeise kehrte er zurück und sagte, die holländische Literatur sei die erste in Europa und über ihre Poesie ginge nichts. Zum Beweise deklamierte er ein Gedicht. Allgemeines Gelächter. Er lachte mit. Ein holländisches Gedicht klingt nämlich, wie wenn ein Unglück passierte. Zum Beweise der vorzüglichen Literatur führte er den Erasmus an. Als ich ihn bat fortzufahren, so sagte er wieder Erasmus und fügte hinzu, man verachte auch in Holland die Homöopathie, der Holländer liebe die reelle Wissenschaft.

Neues Gelächter. Er verachtet uns und ißt mit Leidenschaft Schöpsenbraten. Ich sagte, Erasmus sei ein Schleicher, Hungerleider, ein Diskontogelehrter gewesen, und fragte ihn, ob er wohl wisse, wie lange Erasmus schon tot sei und ob sich eine Nation nicht schäme, seit dreihundert Jahren nichts erfunden zu haben, nicht einmal einen Schnaps. »Nicht einmal den Genever?« sagte er stammelnd. »Nein«, sagte ich unerschütterlich. Und Petrus warf mir den ganzen Spanischen Erbfolgekrieg in einem Blicke zu, ging hinaus und weinte bitterlich.

Mit einem Waterloogesicht kam er wieder, lächelte siegestrunken, machte die Weste zwei Knöpfe weiter auf und sagte vor sich hin: »Chassé.« Neues Gelächter. Er fragte beleidigt, warum wir lachten. Ein französischer Engländer nahm das Wort. »Ich denke immer bei Chassé an Byron, als er von Blücher sagte, er sei der Stein gewesen, über den Napoleon gefallen. Ich gebe nichts für passive Größe. Die Alternative gestatte ich nicht, bei Vollbringung einer Tat ein großer Mann, bei Unterlassung ein Schuft zu sein. So war es aber mit Chassé. Wenn er das Äußerste tat, erfüllte er seine Schuldigkeit. In Ermangelung eines freien originalen Helden wurde er zum Helden. So wie ein Soldat des Cortez, der reiten konnte, ein Halbgott war, weil die Mexikaner nicht reiten konnten. – Die Verhältnisse machten ihn bedeutend. Ein großer Mann aber macht seine Verhältnisse bedeutend.«

»Ach«, sagte ein Franzose, der dazugekommen war, »Chassé ist ein Narr, wie ich noch keinen gesehen. Die Geschichte bringt ihm ein Blatt persönlichen Ruhms auf dem Präsentierteller, er darf nur zugreifen, ein paar alte, langweilige Jahre dafür hingeben und er hätte in einem einzigen Moment die Quintessenz eines ganzen Lebens genießen können. Dazu fehlte ihm aber der Mut.«

»Aber, Mynheer«, wurde der Holländer immer weinerlicher.

»Ich will nicht sagen«, fuhr der Propagandist unbeirrbar fort, »daß ich Chasse geraten hätte, mit einer solch romantischen Fratze zu enden. Aber ich meine, er ist ein prosaischer Nußknacker. Quel bruit pour une Omelette! Wollte er weiter nichts tun, als was er getan, so mußte er vornweg ganz stille sein, nicht renommieren. Jetzt wird er ausgelacht. Fing er doch die Verteidigung so unvorsichtig an, ließ unsere Truppen ungestört die Parallele eröffnen, daß jedermann glaubte, es gehe auf ein Heldenstück hinaus. Oh – monsieur le Hollandais, cela n`est rien.« Der Holländer tat mir in der Seele leid. Es ist ein Zauber um jede Art von Liebe. Ich wärmte eigens Hollands protestantisches Heldentum auf, und das schmeckt wie Schöpsenbraten und Sauerkraut, erzählte von der Schlacht bei Gravelingen und den Wassergeusen, den heldenmütigen belagerten Städten, in denen man lieber Pferde- und Rattenfleisch gegessen als die Spanier geduldet habe. Ich sagte den Engländern, wie einst die City gezittert habe vor dem holländischen Namen Ruyter, ich zitierte die holländischen Maler. Um ihn ganz glücklich zu machen, summte ich leise sein »Oranje boven«. Da trommelte er mit Händen und Füßen, war ganz glücklich und hatte alles vergessen.

 

Der Frühling ging, der Sommer kam. Es war kühl und behaglich im Hotel und objektiv ruhig in meinem Herzen. Da Makkaroni auf den Tisch kamen, beschloß ich, nach Italien zu reisen. Ich teilte das auch einem meiner Nachbarn, den ich nicht kannte, mit. Der nickte bloß mit dem Kopfe. Er war in ein Frikassee vertieft und hatte keine Zeit. Ich wollte es ihm eben noch einmal sagen, als mir der Wirt mit Hand und Auge winkte. Ich kannte jenen Wink, er sagte: »Dein Nachbar ist ein berühmter Mann.«

Es war ein großer dicker Kerl mit schmutziger Leibwäsche, der sehr angelegentlich zu Mittag aß. In seinem Gesicht fehlte alle Klarheit, der Frack war mit rotem Schnupftabak infiziert, wenn er sich etwas vom Essen erholte, stopfte er garstigen, unanständigen Tabak in eine weiche, kraftlose Nase. Die ganze Person kam mir ungewaschen vor. Ich mag nie begreifen, wie ein reinlicher Mensch oder ein Liebhaber oder Dichter oder wer zum Teufel sonst ein Stück Spiegel im Hause hat, Tabak schnupfen kann. Das starke, in saftlosem Fleische baumelnde Gesicht hatte von edlem Ausdruck nur eine kultivierte Schlauheit und eine fein fidele Gourmanderie.

Als die Tafel zu Ende kam, holte er Atem, nahm eine Prise, sah mich an und sprach: »Das machen Sie recht, nach Italien zu reisen, das muß jeder Mann von Bildung. Man muß seine Saison dort zubringen statt in den Bädern.« Die kleinen Augen lächelten dazu, als zerdrücke die Zunge süße Konfitüren.

»Sind Sie nicht ein Herr von Uckermann?« fragte er. »Nein, mein Herr.« »Ach, Sie lächeln, Sie sind ganz gewiß ein Herr von Uckermann.« »Nein, mein Herr, das bin ich ganz gewiß nicht.«

Pause. Man flüsterte mir ins Ohr, es sei ein Herr von Rumohr. Richtig, tief in den halbkahlen Kopf schlich die Stirne hinein. Da waren alle die feinen, glatten Gedanken zu sehen, die sich in Rumohrs Schriften finden.

Seine Manieren sind die eines sicheren Weltmannes, der gerne herzlich tut. Seine Sprache ist geräuschlos und ohne Prätention, wie sie ein objektiver Mann haben muß. Die Unterhaltung mit ihm war, wie sich das erwarten ließ, sehr amüsant.

Ich liebe es sehr, wenn man die einzelnen Dinge, ja oft die größeren Interessen leicht nebenher abmacht, nur berührt und sich im eigentlichen Leben nicht stören läßt. Ich halte das Leben für die Hauptsache und hasse die Geschäfte. Nichts ist mir widerwärtiger, als wenn unsere großen Interessen als Geschäfte betrieben werden, wenn man feierlich wird, sich erst räuspert, das Taschentuch herauszieht, eine Stelle zitiert oder den lieben Gott, den überhaupt die Leute sehr inkommodieren, um Beistand bittet.

Man darf nach meinen Sympathien höchstens etwas davon tun, wenn man unter lauter Gegnern lebt, wo man fortwährend um Leben und Tod seiner Ansichten besorgt sein muß. – Wenn man die große und kleine Erfahrungs- und Wissenswelt durchstudiert, so kommt man allmählich zu der Einsicht, daß jedes Jahrhundert für irgendein neu gewonnenes Terrain leidenschaftlich Partei nahm, daß dieses Terrain in kurzem wie eine bekannte Gegend durch die vielen Reisenden abgenützt war, und daß dann eine neue Jugend der Weltgeschichte kam und das Neueste wieder alt wurde. Darüber soll man nicht die Empfänglichkeit verlieren, man soll in jedem Frühling poetisch sein, mit den Vögeln singen, aber – man soll human werden.

Es ist mir indes nicht unbekannt, daß man nicht in seidenen Strümpfen, mit Handschuhen und einem Paradedegen durch den Wald geht, in dem man erst einen Weg bahnen will. Darum liebe ich meine rauheren Kampfbrüder, die harte lederne Stiefel und groben Filz tragen und schonungslos die große Holzaxt schwingen, um das Gestrüpp aus dem Wege zu räumen.

Während Perioden der Entscheidung gelten in der Weltgeschichte Kriegsgesetze. Es bedarf der schonungslosen Richter. Aber gibt es ein Gesetz, das nicht zu streng wäre? Ich würde auch in Krisenzeiten das leichte Leben eines Herrn von Rumohr in Schutz nehmen.

Die Leichtigkeit Rumohrs, über alles Wichtige hinzugleiten, ist mir angenehm. Er treibt es bis zur Koketterie. Meinethalben. Er liest keine Zeitung, sondern sein Jockei tut es für ihn; er referiert ihm nur, wenn etwas geschieht. Also oft sehr lange nicht. Und es muß etwas Reelles geschehen, ehe dieser Referent daran glaubt. Seit dem Falle Warschaus hatte er bis zum Juni 1833 fast gar nichts geschehen lassen.

Übrigens gab Rumohr der alten Zeit nur noch ungefähr drei Jahre zum Leben, »in zwei Jahren und elf Monaten ist's mit ihr vorbei«, sagte er. Nun, Geduld! Das kann eine Welt schon aushalten, die bereits so viele Jahre gewartet hat. Freilich sind die letzten Minuten im Kerker schlimmer und länger als die ersten Jahre.

Er spricht mit liebenswürdiger Wegwerfung und erlaubter Selbstschätzung von seiner Schriftstellerei. Er will Novellen schreiben, ich habe es ihm mit Eifer geraten. Wir saßen miteinander am Fensterbrett, aus seinen Augen lachte ein kultivierter Fuchs, als er auf eine schlanke, eben vorübergehende Dame wies und sagte: »Die hat mir auch so zugeredet, sie ist schuld, daß ich jetzt nur noch Novellen schreiben werde.«

Ich sagte ihm voraus, unseren deutsch-lyrischen Kritikern werde seine Formeneinfachheit nicht zusagen. Er zuckte die Achseln und lächelte. Der Kellner Georg ward gerufen, wußte aber auch nicht, wo die deutsche unbefangene Kritik zu finden sei.

Es ist richtig, sie tasten mit Rebellenhänden seine steinernen Gestalten ab. Übrigens bin auch ich mit keinem seiner Bücher zufrieden, er weiß sie bloß anzufangen. Aber dieser Anfang voll plastischen Geschmacks ist schon des Versuches wert.

Rumohr ist ein bequemer Mensch, nicht geschaffen, die Welt in großen Schritten zu fördern, aber doch, sie auf kleinen Promenaden zu begleiten, wo sie für spätere Reisen ihre Gesundheit stärkt.

Ich glaube, er ist ohne aristokratische Ader, ich bin aber dessen nicht ganz sicher, da ich in neuerer Zeit viele Pferdefüße aus unscheinbarsten Verhüllungen habe hervorgucken sehen. So die ganze süddeutsche Schule der Aretin, Bangenheim, ein Mann von schönem Geiste und schlechtem Stil; der widerwärtige, altkluge Gagern, eine publizistische Köchin Kotzebues, die »Knochenzulage zum Fleisch«, die über Politik wie über Pfarrhausküchenangelegenheiten spricht.

Rumohr sagte, ich solle mich jetzt nicht um sie kümmern; wenn ich nach Süddeutschland komme, werde ich ihnen doch nicht aus dem Wege gehen können.

Es ist in Rumohr das Goethesche behagliche Wesen, und sobald es nichts Pretiöses zur Schau trägt, mag ich es gerne leiden; es ist ein angenehmer, vornehmer Materialismus, der Wohlbehagen erzeugt. Goethe hat auch nur seinem Wohlbehagen alle Philosopheme angepaßt, die an ihm vorübergezogen sind. Er war im Grunde der subjektivste Mensch, aber er war ein Weltmann, der seine Gedanken zu verbergen wußte, und feiner Ton ist immer Objektivität.

Rumohr glitt herunter vom Fensterbrett und sagte schüchtern: »Sie sind wohl ein Herr von Uckermann?« »Nein, mein Herr«, sagte ich, »ich bin kein Herr von Uckermann, aber ich bin des Teufels.« »Das tut nichts«, erwiderte er, »darf ich fragen, warum?«

Nein, mein Herr, das dürfen Sie nicht; denn Sie würden meinen Teufel nicht erkennen, Sie sind ein Artist, und was die deutschen Lyriker zuviel haben an nebelhafter Poesie, das haben Sie zu wenig. Leben Sie wohl, Gott stärke Ihre Schönheit.

 

Als Mann von Bildung schickte ich auf die Post und ließ mir für den nächsten Wagen einen Platz bestellen. Ich steckte mir für den Notfall einige Bücher in die Tasche, kaufte mir eine Mütze und war mit einem Wort fest entschlossen, glücklich zu reisen.

Als gutes Omen, daß ich wenigstens Bildschönes hören würde, begegnete mir auf dem Thomasgäßchen der Komponist Marschner, der aus Hannover gekommen war, um seinen »Hans Heiling« aufzuführen. Wir sagten uns in aller Eile, daß wir sehr berühmte, vortreffliche Menschen seien und kamen uns mit beispielloser Schnelligkeit näher. Denn es fing an zu regnen, und wir hatten beide nur einen Regenschirm.

Man hat mir gesagt, Marschner wisse sehr wohl, was er wisse. Er wisse sich zu schätzen. Das habe ich auf dem Thomasgäßchen unter dem Regenschirm gar nicht so arg gefunden. Er wußte, daß er beliebte Opern geschrieben habe, er wußte, daß wir keinen Überfluß an Komponisten haben, er wußte, wie wichtig es sei, dramatisch zu komponieren, und er wußte schließlich, daß er mit Eifer, Fleiß und großem Interesse in seiner Arbeit lebe. Ich würde es ihm übelnehmen, wenn er das nicht gewußt hätte. Warum soll einer barhaupt gehen, der sich einen Hut kaufen kann?

Nur die Lumpe sind bescheiden! – Ich hatte mir Marschner größer und ernsthafter gedacht, er ist ein kleiner, feister, fixer Mann mit behaglichem, schlauem Gesicht, spricht wie ein Buch und trägt weiße Halstücher, weil er beinahe blond ist. Wenn ich ihn in großer Toilette des Abends auf dem musikalischen Gerüst bei Lampenschimmer gesehen hätte, so wäre er mir wahrscheinlich äußerlich wie der große Rossini vorgekommen. Auf dem Thomasgäßchen aber ist die Illusion sehr schwierig. Er hat wie Rossini ein vornehmes, wohlgenährtes Gesicht, ein gewisses behagliches Adagio. Aber seine Opern sind deutsch bis auf den letzten Strich. Die klugen Leute sagen, er sei ein Nachahmer Webers. Die Ähnlichkeiten in allen Kunstproduktionen sind in Deutschland das Studium der mittelmäßigen Richter. Sie jagen mehr nach Ähnlichkeiten als nach Genuß. Reminiszenzen, das ist das magische Wort, womit sie sich und andere täuschen. Diese Art der Kritik wird noch lange nicht aussterben, weil sie das bequemste Mittel darstellt, sich selbst in seinen enormen historischen Kenntnissen zu bespiegeln.

Ich sehe diese Helden mit dem Theaterglas bewaffnet das Haupt hin- und herwiegen und bei jeder neuen Nummer der schönen Nachbarin zuflüstern: »O mein Gott, Euryanthe! Freischütz! Oberon!«

Es singt eine Nachtigall wie die andere, und sie ahmen einander nicht nach.

Der gelbe Schwager blies, ich fragte Marschner eiligst, wie, bei welcher Gelegenheit, in welcher Situation und um welche Zeit er seine Opern komponiere, ob vor oder nach Tisch, im Negligé oder im Frack, im Bett oder im Freien, sitzend, stehend oder gehend. Das ist mir sehr interessant, seit ich weiß, daß der berühmte Philolog Reisig zum Beispiel seine besten und tiefsten Studien an der platten Erde, auf dem Bauche liegend, machte. Mein Stubenkamerad auf der Universität, mit dem ich zugleich jene wichtige Notiz hörte, fing von da an, auch Philologie zu studieren und sich auf den Bauch zu legen; ich erwarte alle Tage, daß er berühmt wird. Beethoven komponierte im Schlafrock, und zwar in einem sehr schlechten, den er mit einem Strick zusammenband. Marschner gestand mir, daß er seine besten Gedanken auf dem Spaziergange in einer Pappelallee habe.

Der Schwager blies zum zweiten Male. Für die Pappeln kann ich nicht stehen, es kann auch eine Lindenallee sein –, mein Gemüt ward bewegt durch die Fanfare des Schwagers und durch das Scheiden. Aber für die Allee bürge ich. Der Schwager blies zum dritten Male, ich mußte den Regenschirm und Marschner verlassen. Die Freunde gaben mir ihren Segen und der Wagen fuhr los. Als ich ordentlich verpackt war, fragte ich, ob das auch die Post nach Italien sei. »Ne«, sagte man mir, »die geht nach Anhalt.«


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