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XXVI.

Über Zukunftsträume

»»Es reden und träumen die Menschen viel
Von bessern künftigen Tagen;
Nach einem glücklichen, goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.

Wie Schiller hier sang, so war es stets und wird es auch bleiben. Denn dieses Ringen nach Verbesserung ist das Leben der Menschheit selbst; Unzufriedenheit und Hoffnung sind die Triebfedern, die es im Gange halten. Und wenn einer jener Dichterträume sich verwirklichte und Götter von den Sternen herabstiegen, das Glück würden sie dem Menschen nicht bringen, falls ihm nicht das weitere Streben nach Verbesserung bliebe.

Soll das nun heißen, daß wir keinen Fortschritt gemacht hätten, oder daß dieses Vorwärtsringen, weil endlos, darum unnütz sei? Im Gegenteil. Gerade darin, daß die Sehnsucht nach Verbesserung unlösbar mit dem Bewußtsein der Menschheit verknüpft ist, liegt der Beweis, daß unser Streben im Großen und Ganzen Erfolg hat. Die Menschheit würde sonst überhaupt nicht mehr leben noch leben wollen. Ein Trieb, der niemals Befriedigung findet, stirbt ab; und hier handelt es sich um den Grundtrieb des Lebens überhaupt. Wüßten wir nicht, daß eine Verbesserung wirklich eintritt, so hätten wir den Willen zum Leben längst verloren. Und dieser Wille bedeutet für die Menschen, die ein Bewußtsein ihres allgemeinen Zustandes besitzen, ihre lebendige Fortexistenz als ein Zweig des großen Entwicklungsprozesses der Kultur.

Wenn nun eine solche Weiterentwicklung stattfindet, wie sollen wir uns den unbekannten Weg in die Zukunft vorstellen? Wer möchte nicht etwas davon wissen, wie viele Dichter haben uns nicht schon ihre Träume erzählt? Zuerst möchten wir jedoch fragen: Was soll denn eigentlich besser werden? Die Menschheit selbst oder ihr Behagen? Moral oder Glückseligkeit? Nun, eines wird wohl am anderen hängen. Das aber muß vorweg betont werden: Es kann sich immer nur um einen relativen Zustand des Fortschritts, niemals um eine ideale Vollkommenheit handeln. Zukunftsdichter, die den Anspruch auf eine innere Wahrheit ihrer Erzählungen erheben – mehr als diese innere Wahrheit kann natürlich nicht verlangt werden – dürfen nie behaupten, daß jemals eine soziale Ordnung vorhanden sein könne, in der die Menschen an keinerlei moralischen oder wirtschaftlichen Gebrechen oder an keinerlei seelischen Schmerzen mehr leiden. Ein solcher Zustand ist sinnlos. Das Übel kann niemals aus der Welt schwinden; mit der Unlust verschwände ja eben jener Antrieb zum Streben nach Verbesserung, worin wir die Bedingung des Lebens der Menschheit überhaupt erkannt haben. Der Stillstand und damit der Untergang wäre die Folge eines solchen überhaupt nicht denkbaren Zustandes. Es wäre das gerade so, als wollte man es in der Natur als Idealzustand betrachten, daß alle Niveauunterschiede ausgeglichen, alle Kraftdifferenzen aufgehoben wären; worauf überhaupt nichts mehr geschehen könnte.

Es gibt allerdings auch eine solche Zukunftsphantasie der Vollkommenheit. Die ältere christliche Kirchenlehre hat sie aus der Messiasidee des Judentums aufgenommen, man nennt sie Chiliasmus. Es ist der Glaube, daß vor dem allgemeinen Weltuntergänge Christus auf die Erde zurückkommen und ein tausendjähriges Reich in dieser Welt aufrichten werde, worin es keinerlei Schmerz und Leid, sondern nur eitel Wonne und Glückseligkeit geben werde. Diese Lehre, später von der Kirche verworfen, ist immer wieder bei einzelnen Sekten aufgetreten und hat auch jetzt noch ihre Bekenner. Sie hat aber gar nichts mit der Vorstellung zu tun, die unsere modernen Zukunftsphantasien vertreten, nämlich mit der relativen Verbesserung der Zustände durch einen allmählichen Entwicklungsprozeß. Man darf daher den Glauben an eine bessere Zukunft infolge der kulturellen Arbeit der Menschheit nicht mit dem Chiliasmus verwechseln. Wir können immer nur hoffen, daß in der Welt das Verhältnis der Unlustgefühle zur Lust ein günstigeres werde und der unvermeidliche Rest des Leidens eine edlere Gestalt gewinne.

Wie wäre das denkbar? Eine völlige Änderung der Menschennatur vorauszusetzen wäre Willkür; nur an eine Läuterung dürfen wir denken. Für den Menschen, als sittliche Persönlichkeit, kann es auf die Dauer keinen glücklichen Zustand geben, der nicht mit seiner sittlichen Selbstbestimmung harmonierte; aber umgekehrt gibt der sittliche Charakter keineswegs die Anweisung auf Glückseligkeit, er gibt vielmehr nur das Bewußtsein der Würde; und doch möchten wir auch glücklich sein. Nun ist es wohl klar, daß eine allgemeine Hebung des moralischen Zustandes einen glücklicheren Zustand zur Folge haben würde, ebenso wie umgekehrt eine wahre Erhöhung der Lebensfreude nicht denkbar ist ohne eine ethische Vertiefung. Ist doch eine der Hauptquellen der Unlust auf Erden das Leid, das die Menschen einander zufügen; moralische Besserung würde die Kränkungen, die durch Verbrechen, Gewalttat, Intoleranz, Verfolgungssucht, Verleumdung usw. unser Leben erschweren, erfolgreich einschränken. Daß die Erziehung des Willens in dieser Hinsicht Fortschritte gemacht hat, unterliegt keinem Zweifel; die Ausbreitung der Idee der Humanität beweist dies, die Milderung der Sitten ist klar daran zu erkennen, daß Roheit und Unmenschlichkeit den Unwillen der Gesamtheit viel stärker erregen als früher, und daß, wenn auch nicht die Kraft, unmoralische Handlungen zu vermeiden, so doch das Bewußtsein ihrer Verwerflichkeit der Menschheit lebhafter in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nehmen wir aber einmal an, wir seien in dieser Richtung noch weiter vorgeschritten und zu einem im ganzen befriedigenden moralischen Zustande gelangt, so würde uns immer noch ein wesentliches Moment fehlen. Die bloße Sicherheit von Störungen unserer Lebenssphäre reicht nicht aus, uns zufrieden zu machen; es muß noch ein positiver Inhalt an Lust, an Arbeitsfreudigkeit und Erfolg hinzukommen. Auch das eigene Bewußtsein, moralisch zu handeln, macht an sich nicht glücklich; es gibt nur, wie schon gesagt, eine Vorbedingung der Glückseligkeit. Ein gutes Gewissen ist zwar das beste Ruhekissen, aber auch das beste Ruhekissen soll und kann den Schaffensdrang nicht einschläfern. Wo nehmen wir diesen Lustinhalt des Lebens her?

Daß dieser Lustinhalt nicht bloß aus Zeitvertreib bestehen kann, sondern selbst wieder auf sittlichem Grunde, d.h. auf der erfolgreichen Betätigung unseres sittlichen Willens, mit einem Worte, auf Arbeit beruhen muß, ist einleuchtend. Aber damit die Arbeit Lust gewähre, ist eins erforderlich, das ist Vertrauen zu ihrem Erfolge. Der Erfolg braucht nicht wirklich einzutreten für den Schaffenden selbst, man kann auch auf eine ferne Zukunft hinaus rechnen. Aber dazu ist es eben notwendig, daß man an einen Fortschritt der Menschheit glaubt, nämlich an den Erfolg der sittlichen Arbeit im Sinne einer Erhöhung der Glückseligkeit. Es genügt also zur Besserung des menschlichen Zustandes nicht, daß wir gut sind, sondern es gehört dazu auch das Gefühl, daß die moralische Arbeit nicht fruchtlos ist. Es ist dies der Glaube, daß es eine unendliche Macht gibt, die sich der Gesetzlichkeit der Natur als des Mittels bedient, den sittlichen Willen der Persönlichkeit zu verwirklichen. Diese besondere Kraft des Gemüts besteht in dem Vertrauen, daß trotz aller Schwierigkeiten, trotz eigener Ohnmacht und trotz des Widerstandes der Welt das moralische Gesetz, obwohl es nicht um der Glückseligkeit wegen da ist, doch den Weg, und zwar den einzigen Weg zur Glückseligkeit bedeutet, und daß dieser Weg einem jeden, auch dem Schwächsten und Geringsten, sobald er ihn nur betreten will, durch die Liebe Gottes geöffnet sei; das ist, was man Religion nennt. Dieser Glaube ist eine subjektive Gewißheit, die uns nur als Gefühl gegeben ist. Kommt aber dieses religiöse Gefühl, als eine Vertiefung unsres persönlichen Lebens, zu der moralischen Hebung des Gesamtzustandes hinzu, so scheint es, als sei damit jene zweite Bedingung zur Förderung der Glückseligkeit erfüllt. Das Vertrauen auf die Besserung ist hergestellt in jedem einzelnen; der einzelne, der gut ist, kann auch glücklich sein, weil ihm das Bewußtsein seines guten Willens in seinem Glauben die unbedingte Sicherheit seines Anspruchs auf Glückseligkeit gibt, weil er, selbst unter dem Druck der Welt, doch in innerem Frieden lebt.

Nun zeigt aber die Erfahrung, daß die Zeiten einer besonderen Steigerung des religiösen Gefühls keineswegs immer einen kulturellen Fortschritt, eine Steigerung der Menschlichkeitsidee bedeuten. Und dies ist auch unschwer zu verstehen. Eben weil diese religiöse Überzeugung auf der subjektiven Gewißheit beruht und somit als elementare Macht im Individuum auftritt, die Seele vollständig auszufüllen und von der Welt unabhängig zu machen vermag, darum führt sie auch leicht zu einer falschen Einseitigkeit, einem Verkennen der objektiven Mächte, mit denen die Menschheit zu rechnen hat. Zwei der gefährlichsten Feinde und Vernichter der Kultur haben hier ihren Ursprung, der Fanatismus auf der einen, der Quietismus auf der anderen Seite. Der Glaube, allein auf dem rechten Wege zur Glückseligkeit zu sein, führt dazu, die anderen mit Gewalt auf diesen Weg zu zwingen und überschüttet die Menschheit mit dem Leidensmeer der Ketzerverfolgungen und der Religionskriege; ja er tötet das Heiligste im Menschen, die Freiheit des Gedankens. Andererseits – der Glaube, in der innern Sammlung allein das Glück finden zu können, das eben nicht auf der Welt, sondern nur im gottergebenen Gemüte zu suchen sei, verführt zu einem Verzicht auf die lebendige Arbeit in der Menschheit, zu einer Weltflucht, die den Gütern und Mitteln der Kultur sich feindlich gegenüber stellt. Gewiß beruhen diese Auswüchse auf einer Verkennung des sittlichen Charakters der Religion, sie sind selbst irreligiös. Denn religiös können wir nur die Gesinnung nennen, die das Sittengesetz, d.h. die Achtung von der freien Selbstbestimmung der Persönlichkeit, voraussetzt. Aber schon diese Gefahr der Entartung der Religion belehrt uns, daß die religiöse Förderung für sich eine Besserung des menschlichen Zustandes nicht zu garantieren vermag, ebensowenig wie die moralische; daß vielmehr beide Kulturmächte zwar unentbehrliche Begleiter des Fortschritts, für sich allein aber nicht ausreichend sind, Kultur, Hebung des Menschheitslebens, zu schaffen. Es bleibt eben der Kern der Frage bestehen: Wodurch ist es möglich, den ethisch-religiösen Zustand der Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben und von den Schlacken zu befreien? Es bedarf dazu eines Werkzeuges, das auf anderem Gebiete liegt. Und das ist auch nicht anders zu erwarten. Beide, das Gute und das Religiöse, sind Ideen, sie sind Gesetze, welche die Richtung angeben, in der wir uns bewegen sollen, sie weisen das Ziel; aber dazu bedarf es der Hilfe anderer Gesetze, Tatsachen des Seienden, nämlich der Mittel, diese Bewegung zu bewirken. Es handelt sich um die Überwindung von Widerständen durch Arbeit; woher nehmen wir die Energie dazu?

Der Mensch lebt in Raum und Zeit als ein Teil der Natur, ihren undurchbrechlichen Gesetzen unterworfen. Ein Produkt des Entwicklungsprozesses der Erde ist er heraufgestiegen im Laufe der Jahrmillionen im steten Kampfe ums Dasein aus der Reihe der Organismen, die als minderkräftige Geschöpfe auf der Stufe der Tierwelt stehen blieben. In der Wechselwirkung der Naturkräfte ist sein Nervensystem zu jener Feinheit der Ausbildung gelangt, daß sein Gehirn einen großen Teil des Weltgeschehens in geordneten Formen miterlebt. Diesen ordnenden Vorgang nennen wir Erkennen, und diese Erkenntnis gibt dem Menschen das Mittel, seine Herrschaft über die Natur zu gewinnen, zu behaupten und zu erweitern. Weil wir erkennende Wesen sind, besitzen wir die Fähigkeit, die Ideen des Guten in der Wirklichkeit des Raumes und der Zeit zu vollziehen. Nicht darum, weil es ein Entwicklungsgesetz der Natur gibt, sind Moral und Kunst und Religion entstanden; sondern weil das Gute und Schöne sein soll, darum ist auch jenes Gesetz bestellt; darum, anhebend von den leuchtenden Atomwolken des Weltraums, durch die Arbeitsteilung der Zellen seit undenklichen Zeiten, durch die Bildung komplizierter Organe in Wurm und Fisch und Säugetier, durch die Arbeit zahlloser Generationen hat sich das Gehirnwesen Mensch entwickeln können, um nun mit dem Bewußtsein seiner Aufgabe durch immer neue Jahrtausende zu schreiten, mit der Aufgabe, Vernunft zur Herrschaft zu bringen in der Welt und Natur zu verwandeln in Kultur, in Gerechtigkeit, in Schönheit und in Liebe. Die zeitlose Idee gibt das unendliche Ziel, die Mittel aber, sich ihm zu nähern in der Zeit, gibt allein die Natur. Wollen wir die moralische Vervollkommnung, so müssen wir die größere Beherrschung der Natur erstreben. Einen andern Weg nach oben, der nicht nur momentane Begeisterung, sondern dauernde Besserung gewährte, gibt es nicht.

Es scheint zwar, als existiere ein direkter Weg zur Glückseligkeit durch den Willen des Menschen allein. Ein Doppeltes gilt es zu überwinden: Die Leidenschaften, die Begierden, die uns zu immer neuen Forderungen an die karge Wirklichkeit veranlassen, und die harte Not der Wirklichkeit selbst, den Mangel der Lebensbedürfnisse, die Gefahren der elementaren Mächte im Boden, da wir wohnen, in der Luft, die wir atmen, in Winden, Wolken und Wasser, in den pflanzlichen und tierischen Mitbewerbern ums Dasein. Und es gibt einen Weg des Willens, ihrer Herr zu werden. Entäußere dich der Schätze, die dein Leben vergänglich zieren. Wirf ab den Stolz des Mannes, der nach äußerer und innerer Ehre geizt, wirf ab das Streben nach tätiger Arbeit; ertöte die Triebe, die Dich an Deine Nebenmenschen binden, verzichte auf Freundschaft, auf Liebe, auf Staat und Gesellschaft. Beschränke dich in Nahrung und Kleidung, in Wohnung und Genuß. Verachte Erkenntnis und Kunst. Sinne auf nichts als auf das Band, das Deine Seele mit dem Reiche verknüpft, das nicht von dieser Welt ist. Wenn Du das kannst, so wird sich in Dir eine Welt der Seligkeit auftun, die kein Leid kennt; denn die Not der Welt liegt unter Dir. Auf das Glück verzichten, heißt es gewinnen. Und wenn dein Körper vertrocknet und die Krankheit ihn aufzehrt, wird Deine gesteigerte Phantasie in den Wonnen des Himmels schwelgen. Das ist ein Weg, der oft versucht worden ist, an den Ufern des Ganges, in der Tonne des Diogenes, in den Höhlen des Sinai und in den Klosterzellen des Mittelalters. Aber es ist ein Weg für einzelne Menschen, nicht für die Menschheit. Diese kann nicht die Welt fliehen, sie muß sie bestehen. Und Millionen und aber Millionen von Individuen wachsen herauf, unabweisbar fordern die Massen ihr Recht am Leben. Wie stillt man den Hunger dieser Leiber, dieser Seelen? Wie können sie verstehen, daß Resignation freilich der Weisheit letzter Schluß ist, wenn sie damit anfangen sollen? Nein, erst müssen sie lernen, was Leben ist und Zusammenhang des Lebens, müssen verstehen, was Menschen sollen und können auf dieser Erde, ehe sie begreifen, was sie nicht können und darum nicht verlangen können. Lernen müssen alle, was gegen Begierden wappnet und gegen die Macht der Elemente schützt. Und da gibt es für die Menschheit nur jenen ersten und einen Weg, durch die Erkenntnis, durch die Bildung. Je höher die Bildung der Gesamtheit, um so näher das Ziel!

Im allgemeinen handeln die Menschen nicht schlecht aus bösem Willen, sondern weil sie es nicht besser wissen, weil sie weder sich selbst noch die andern verstehen. Und wenn sie der Not unterliegen und dem Ansturm der elementaren Mächte, der Krankheit, wenn sie sinnlosen Ratschlägen und Aufreizungen Folge leisten, so geschieht es wieder, weil ihnen die Einsicht in den Zusammenhang der Dinge mangelt, weil sie die Hilfsmittel nicht kennen, die ihnen zu Gebote stehen. Der gute Wille ist nichts ohne Intelligenz, und viel gefährlicher als die Bosheit ist die Dummheit. Aber dafür gibt es gegen die Bosheit kein Mittel als den Zwang, gegen die Dummheit aber gibt es eines, das, wenngleich es langsam wirkt, das einzige Mittel ist, auch die Rückwirkung auf den moralischen Zustand zu erzielen; das ist die Befreiung des Denkens, die Erziehung des Verstandes, die Pflege des Gehirns. Von der höheren Einsicht der Menschen allein können wir ihre tiefere Selbstbezwingung erwarten. Denn wodurch lenken wir unseren Willen? Ich schwanke in einem Entschlüsse, bei einer Entscheidung. Sage ich ja, so habe ich vielleicht einen unmittelbaren individuellen Vorteil, etwa einen Geldgewinn. Sage ich nein, so entgeht mir der Gewinn, aber ich begreife, daß dem Gemeinwohl ein größerer Nutzen entsteht. Eine moralische Frage, deren Antwort als solche klar ist. Aber was entscheidet in Wirklichkeit psychologisch? Stets diejenige Vorstellung, die durch ihre Gefühlsbetonung im Vordergrund des Bewußtseins steht. Richte ich meine Aufmerksamkeit auf alle diese Vorteile, die Lust, die mir aus meinem Ja entspringt, dränge ich die entgegengesetzten Vorstellungen in den Hintergrund, so wird das Ja über meine Lippen kommen. Die Bewegung der Vorstellungen aber, die Vergegenwärtigung aller zur Richtigstellung des Urteils in Betracht kommenden Erfahrungen, ist Sache des Verstandes. Und eben diese Fähigkeit, über die zur Sache gehörigen Vorstellungen zu verfügen, erfordert Bildung und Kenntnisse. Dann erst kann ich den Willen im moralischen Sinne angemessen betätigen, wenn ich die Arbeit meiner Vorstellungen im theoretischen Sinne in der Gewalt habe. Daher erziehen wir den Willen auf seiner höheren Stufe durch den Verstand. Wenn die Menschen impulsiv recht handeln, so handeln sie aus einer ererbten, anerzogenen, unbewußten Gewohnheit, die eben durch die Erfahrung des Verstandes zahlloser Generationen entstanden ist. Diese Gewohnheit gilt es zu bilden im Sinne der Kultur. Und die Mittel dazu liegen in der Erhöhung des intellektuellen Zustandes.

Platon untersuchte, ob die Tugend lehrbar sei; die Naturwissenschaft hielt er nicht für lehrbar, sie galt ihm nur als ein artiges Spiel. Die moderne Menschheit ist in dieser Hinsicht zu einer neuen Erfahrung gekommen; sie hat gesehen, daß die Natur in der Tat erkennbar ist, ja daß sie nicht nur das erste ist, was theoretische Erkenntnis gestattet, sondern sogar das einzig Zuverlässige, worauf beweisbare Sätze sich aufbauen lassen. Was das Bewußtsein der modernen Menschheit und ihren zweifellosen Kulturfortschritt vom Zustand der antiken und mittelalterlichen unterscheidet, sind weniger die ethischen, ästhetischen, religiösen Ideen; sie waren in der Hauptsache vorhanden. Es ist vielmehr der Gedanke von der Macht der Menschheit über die Natur, die Überzeugung von der Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis und technischen Beherrschung der Natur. Mit der Naturerkenntnis erwuchs der moderne Mensch. Der Grundzug dieser modernen Kultur ist die Autonomie der Menschheit, d.h. das Bewußtsein von der Selbstgesetzgebung der Vernunft, von der Selbständigkeit des menschlichen Geistes in Wissenschaft, Kunst, Sittlichkeit und Religion. Ursprünglich fließen alle diese Gebiete in bestimmten Grenzen zusammen, und ihren Wert gründen sie auf eine Autorität, die außerhalb der Menschheit gesetzt ist. Je mehr aber sich diese Kulturgebiete scheiden, umsomehr vermögen sie sich frei und ungehindert zu entwickeln. In die eigene, persönliche Glaubensgewißheit legt Luther den Schwerpunkt des religiösen Bewußtseins, durch die Befreiung von allen fremden Rücksichten und Gefühlen gründen Galilei und Descartes den Charakter der Wissenschaft; ein eigenes Gebiet, worin nur das ästhetische Gefallen entscheidet, heischen Kant, Schiller und Goethe für die Kunst, und noch ringen wir in heißem Kampfe, die ethischen Gesetze unabhängig zu gründen von der historischen Last der Gefühle, die mit ihnen verschlungen sind.

In dieser Arbeit der letzten Jahrhunderte ist das Werkzeug, das allein imstande war, die Vorurteile der Jahrtausende zu durchdringen und die Bahn für neue Fortschritte frei zu machen, die Erkenntnis der Natur und ihre technische Beherrschung. Was wir in Moral und Kunst und sozialer Verbesserung erreichen, das bleibt im Nebel schwankender Wertschätzung, von der Parteien Haß und Gunst entstellt, das gibt keinen sicheren Maßstab des rechten Weges. Die Erforschung der Natur aber zeigt uns ein objektives Gebiet, an dem nicht zu rütteln ist. Hier ist eine Gesetzlichkeit, ein notwendiges Sein in all dem unbestimmten Streben und Ringen menschlichen Willens, das eine Handhabe gibt, die Dinge klar und fest zu erfassen. Und Verstand und Arbeit des Menschen bewältigen dieses Gebiet, ein Zeichen, daß diese Gesetzlichkeit die unsere ist. Nicht ein fremdes Ungeheuer lauert die Natur als die ewige Sphinx, die uns in den Abgrund stürzt, sondern aus der klaren, lichten Sonne unseres Geistes strömt der Glanz in das Chaos, und uns selbst finden wir wieder in den geregelten Bahnen der Gestirne, in dem vorgeschriebenen Wechsel der Kräfte, in dem reicher und reicher sich gestaltenden Aufbau der Zellen. In den Gebieten der Ideen glauben wir an die Autonomie der Menschheit, im Naturerkennen haben wir den Beweis. Das ist der Triumph des modernen Geistes. Wird auch für die einzelne Persönlichkeit die Idee der Menschheit dadurch, nicht inniger begründet, so ist doch diese Macht der Erkenntnis von unberechenbarer, sozialer Bedeutung; es liegt darin das Mittel, mit dem Vertrauen in unsere Arbeit auch ihrer Schranken uns bewußt zu werden.

Denn größer als je enthüllt sich der Begriff der Menschheit aus dem Begriffe der Naturbeherrschung. Was waren wir Menschen vor einigen Jahrhunderten? Ein kleines Völkchen auf einem flachen Erdteller unter einer Kristallglocke, woran lichte Fünkchen glänzten, und wir blickten zurück auf wenige Jahrtausende und standen noch genau auf dem Standpunkte des Wissens, Wollens und Könnens wie vorher, höchstens hatten wir das Bewußtsein, daß es Zeiten gegeben hat im alten Griechenland, in denen einzelne Weise weiter waren als wir. Und was hat die Naturerkenntnis aus uns gemacht? Zunächst zerschlug sie das Kristallgewölbe des Himmels und öffnete uns die Unendlichkeiten der Welten. Als Brüder setzte sie uns in das Universum zu den Bewohnern jener Sterne, die, unsichtbar in ihren Weiten, um Sonnen kreisen wie die unsere. Und nachdem sie den Raum uns erschlossen, dehnte sie auch die Zeit unserer Existenz ins Ungemessene. Alles, was wir von der prähistorischen Existenz der Menschen wissen, das verdanken wir nicht der Geschichte, sondern der Naturwissenschaft. Und nun sehen wir unsern Stammbaum heraufkommen von unten und zu immer vollendeteren Gestalten sich entwickeln; nicht durch ein auserwähltes Volk oder ein einzelnes Ereignis in der Geschichte wird uns das Wunder der Kultur gewirkt, sondern angelegt ist es schon durch das ganze Reich der Organismen bis hinauf in die Billionen Jahre, in denen Sonnensysteme bewohnbar werden. So gibt es auch keine Grenze in der Vervollkommnung. Wie unendliche Welten neuen und neuen Kulturen zugänglich sind, so schafft die Natur in der unendlichen Zeit neue und neue Formen im Leben der Körper, so wirkt der Geist neue Stoffe und Kräfte aus der dunkeln Unbestimmtheit des Werdenden, so erzeugt er neue unübersehbare Mittel der sozialen Arbeit, so eröffnet er eine endlose, trostvolle Perspektive in die Verwirklichung des Guten und Schönen; und während die Zukunft mit beglückender Hoffnung wie ein Morgenrot besserer Tage emporsteigt, grenzt sich zugleich in scharfen Linien das Gesetz dieses Werdens ab, daß der einzelne den dunklen Grund zu erblicken vermag, auf dem allein das Licht sichtbar wird, damit er nicht das Unmögliche heischt und Sinnloses erstrebt, sondern mit Vernunft die Begierde begrenzt und sich zu bescheiden lernt, weil die Mittel selbst und damit ihre Begrenzung ihm kein Geheimnis sind. Das ist die bessernde soziale Macht der Naturerkenntnis. Die naturwissenschaftliche Bildung lehrt erkennen, führt den Beweis, daß es nicht die Bosheit der Menschen ist, sondern ein Naturgesetz, wenn die Güter und Mittel der sozialen Arbeit ungleich verteilt sind, und daß ein solcher Zustand niemals gebessert werden kann durch gewaltsamen Umsturz, sondern immer nur durch die redliche gewissenhafte freie Arbeit jedes einzelnen. Die Gefahr der Aufklärung liegt allein darin, daß sie nicht weit genug geht. Erkannten wir als eine Bedingung der Verbesserung der Zustände das Vertrauen in die menschliche Arbeit, so haben wir in der Naturerkenntnis das überzeugende Mittel zur Herstellung dieses Vertrauens zu erblicken.

Wie die Naturerkenntnis uns das Vertrauen zum Erfolg unserer Arbeit gibt, so liefert sie uns auch zugleich durch die Beherrschung der Natur das einzige Mittel, die Lebensbedingungen der Menschheit wirklich zu vervollkommnen. Waren die Fehler der Menschen der eine Feind, so sind die Elemente der andere, den es zum nützlichen Freunde zu machen gilt. Und das ist die Sache der technischen Kultur.

Es ist doch klar, sollen die Lebensbedingungen verbessert werden, daß neue Güter geschaffen werden müssen. Die einzige Quelle dafür ist die Natur, und das einzige Mittel ist die Technik in ihrer Verbindung mit der Naturerkenntnis, um die Arbeitsmengen, die uns in der Natur zur Verfügung stehen, für uns auszubeuten.

Es würde zu weit führen, an die an sich höchst interessanten Einzelheiten, wie dies geschieht, hier auch nur zu erinnern. Man kann überhaupt keine Handlung des täglichen Lebens vollziehen, ohne dabei auf Verbesserungen zu stoßen, die allein der modernen Technik zu danken sind. Dieser Fortschritt ist so rapid erfolgt, daß er mit keiner ähnlichen Entwicklung in der Kulturgeschichte zu vergleichen ist. Es brauchte jemand nur einmal einen Tag in einer Ritterburg des Mittelalters oder selbst nur in dem Weimar Schillers und Goethes zu verleben gezwungen sein, um aller Klagen über die Gegenwart ledig zu werden.

Es handelt sich aber nicht nur um Erhöhung des Komforts, es handelt sich um eine wirkliche Verallgemeinerung der Lebensgüter durch die gesteigerte Macht der Menschheit. Durch die Anwendung der Dampfkraft ist die Gesamtarbeitsleistung der Menschheit ungleich mehr verstärkt worden, als wenn etwa ein Despot die ganze Bevölkerung der Erde zur Handarbeit in seinem Reiche hätte zwingen können. Welch gewaltige geistige Kraft ist dadurch für die Kulturarbeit der Menschheit frei geworden, um immer neue Gebiete zu erobern! Durch die Fortschritte der Technik dringen Zeitungen und Bücher, Abbildungen und Karten in Kreise, denen ihre Anschaffung sonst unerschwinglich gewesen wäre. Das eigene Bild zu verschenken, Nachrichten durch Eilboten in die Ferne zu senden, Reisen zu unternehmen, die Kopien unsterblicher Meisterwerke zu erwerben, abends im erhellten Zimmer zu verweilen, das sind Dinge, die sich ehemals nur Reiche und Fürsten verschaffen konnten. Und wieviel zahllose Nutzartikel, vom Taschenmesser bis zur Nähmaschine, sind sie nicht Allgemeingut des einzelnen und des Haushalts geworden? Aus dem menschenwürdigeren Dasein aber strömt eine Erhöhung des Lebensgefühls, die weit über das individuelle Behagen hinaus eine wirkliche Kulturförderung bedeutet.

Man denke weiter an die völkerverbindende Kraft in dem internationalen Charakter der Technik und Industrie. Das gegenseitige Ineinandergreifen der Erfindungen, der erforderliche Austausch der Stoffe und Gedanken erzwingen einen friedlichen Verkehr, wodurch die Nationen einander schätzen lernen und der gegenseitige Wettstreit schließlich dem allgemeinen Besten dienen muß. Der Satz »der Mensch bedarf des Menschen« wird durch keinen begeisterten Menschenfreund eindringlicher gepredigt als durch den Fortschritt der Technik. Zu einem eng verbundenen Organismus kettet die Menschheit sich zusammen. Die Ideale der Humanität haben kein mächtigeres Hilfsmittel als die Bezwingung der Natur. Indem sie die Not in der Erhaltung und Verteidigung des Lebens erleichtert, ermöglicht sie, die Güter der ethischen und ästhetischen Kultur immer weiteren Kreisen zum Mitgenuß zu bringen.

Hier haben wir neben der direkten Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen deutlich die idealisierende Wirkung des technischen Fortschritts vor Augen. Noch schwerer aber wiegt die sittliche Bedeutsamkeit, die in dem sichtbaren Beweise liegt, daß das Schaffen von neuen Gütern und die Beherrschung der Natur wirklich stattfindet. Man unterschätzt noch viel zu sehr diese ethische Kraft des Technischen, die in dem Bewußtsein des Schaffen-Könnens enthalten ist. Hier zeigt sich der Mensch erst wahrhaft als Mensch, indem er schöpferische Intelligenz ist. Und erst durch die moderne Naturerkenntnis ist dieses Bewußtsein zu einer Kulturmacht geworden. Es ist eine neue ethische Kraft tatsächlich in der Menschheit entstanden, die sich nicht auf die alte Kenntnis des Verhältnisses vom Mensch zum Menschen beschränkt, sondern eine bis dahin nicht wirksame sittliche Beziehung in die Menschheit gebracht hat. An Stelle der gegenseitigen Eindämmung im Wettbewerb der Menschen ums Dasein, wie sie durch die ehemals beschränkten Mittel notwendig war und schließlich zum Eroberungskrieg führen mußte, ist die soziale Zusammenfassung der Menschenkräfte getreten zu einer großen gemeinsamen Arbeit, zur Erschließung des Reichtums der Natur. Das sind sittliche Ideen von ungleich erhabener Tragweite, als sie zuvor in der Geschichte auftreten konnten. Denn es fehlte die Grundlage, das wirkliche Können.

Daß wir diesen Aufschwung der Technik verdanken, ergibt sich aus dem Wesen der Technik selbst. Die ganze fortschreitende Entwicklung der Organismen ist ja nichts als eine natürliche Technik, die nur durch zahllose mißlungene Versuche der Natur zustande gekommen ist. Weil aber Millionen von Jahren dazu verfügbar waren, so ist schließlich doch jener wunderbare Apparat des menschlichen Gehirns entstanden, durch den die vergangenen Zeiten mit der Gegenwart und die endlosen Welträume unter einander verbunden werden. Das Gehirn des Menschen bedeutet tatsächlich den Weltzusammenhang, zunächst im Gedächtnis des einzelnen, sodann in der Wechselverständigung der Individuen. Unsere Intelligenz bestimmt unser Verhalten zu den Dingen. Von der Entwicklung des Gehirns hängt es ab, wie wir uns weiter zum Herrn der Natur und unserer selbst machen können. Durch diesen Apparat setzen wir nun den technischen Prozeß der Natur mit Bewußtsein fort und kürzen ihn dadurch ab. Während die Bilderschrift zum Lesenlernen die besten Kräfte verbraucht, befreit uns die Buchstabenschrift vom Gedächtniskram. Das ist Ersparnis. Dann der Buchdruck, der Telegraph, das Telephon. Oder die Rechnung mit Ziffern, dann die Buchstabenrechnung, die Infinitesimalmethode. Das sind solche Abkürzungsmittel, und der Zeitgewinn ist Kraftgewinn. Das Werkzeug vervielfacht Zeit und Kraft und verwirklicht das sonst Unmögliche. Nun muß die Natur selbst die mechanische Arbeit tun, das Gehirn entlasten, dem Geiste gehorchen. Immer handelt es sich darum, das, was in der Natur vor Existenz des Menschen ganz langsam sich vorbereitete, nun mit Hilfe des Gehirns zu beschleunigen, nämlich den vorhandenen Energievorrat unseres Weltsystems in Bahnen zu lenken, in denen er der Vernunftidee dienstbar wird. Die Verwandlung des blinden Naturgeschehens in bewußtes Schaffen ist nichts anderes als die Kulturentwicklung selbst. Das Mittel, sich selbst zu verwirklichen, ist der Vernunft allein in der Natur gegeben. (Vgl. S. 205). Demnach ist die technische Kultur, die das blinde Werden in zweckvolles Gestalten umsetzt, in der Tat das Grundmittel, Vernunft zu realisieren. Und nur weil in unserm Bewußtsein Gefühl und Wille das unmittelbar Gegebene sind, erscheinen sie uns als das eigentlich Wirkende; in Wahrheit aber bezeichnen sie bloß die uns bestimmenden Ideale, während die treibende Kraft der Bewegung aus der Naturgesetzlichkeit gewonnen werden muß.

Wir haben die Ziele und Mittel erblickt, die der ersehnten Vervollkommnung der Menschheit gegeben sind. Wir möchten nun freilich gern auch die Wege wissen, wie unsere Nachkommen leben und über uns denken, und was sie vor uns voraus haben werden. Das zu bestimmen aber ist unmöglich. Wir können wohl gewisse Analogieschlüsse ziehen, wir können auf eine fortschreitende Verselbständigung der einzelnen Kulturgebiete und auf zu erwartende Entdeckungen schließen, aber ein wissenschaftlicher Wert liegt darin kaum. Zu unvermutbar find die Wechselfälle, die hier eintreten können. Die Wissenschaft kann uns keinen Aufschluß geben, wir sind allein auf die Phantasie angewiesen. Die Phantasie braucht aber keine ungezügelte zu sein, sie kann sich ihr Gesetz durch Vernunft geben, dann wird sie Kunst. Es entsteht die Frage: Ist es berechtigt, jene Zukunftsträume und insbesondere die Verbesserung menschlicher Zustände mit Hilfe des Fortschritts der Naturerkenntnis und der technischen Kultur zum Gegenstande der Dichtung zu machen?

Die Antwort ist eigentlich selbstverständlich. Über die Stoffe, deren die Kunst sich bemächtigen kann, läßt sich von vornherein nichts sagen. Denn die Kunst ist selbständig, das Genie gibt ihr die Regel, und niemand weiß, was das Genie zu leisten vermag, weil es eben das absolute Neue zu schaffen imstande ist. Man kann also höchstens sagen, bis jetzt habe die Dichtkunst aus jenen Stoffen noch keinen Gewinn gezogen. Selbst wenn das wahr wäre, würde es nichts entscheiden. Denn das Gebiet ist erst sehr wenig bearbeitet, weil infolge unseres traditionellen Bildungsganges dem Publikum die naturwissenschaftlichen Grundlagen fehlten. Aber das ist ja gar nicht unsere Frage. Es handelt sich darum, ob der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt auch Mittel für die ästhetische Förderung durch die Poesie bietet. Ich weiß nicht, wie man daran zweifeln kann, und würde nach meinen obigen Ausführungen auf die ästhetische Frage gar nicht eingehen, wenn nicht allen Ernstes prinzipielle Einwendungen erhoben worden wären, wonach das Reich der Zukunftsträume überhaupt poetisch unfruchtbar sein soll.

Man sagt mit Recht, allein der Mensch könne Gegenstand der Kunst sein, alles andere nur, insofern es sich auf den Menschen beziehe; außerdem fordere die Kunst für ihren Stoff, daß er das menschliche Bedeutungsvolle enthalte. Gewiß liegt es im Wesen der Kunst und der Dichtung im besonderen, daß sie durch die Darstellung des rein Menschlichen die Erhöhung des Menschheitsgefühls bewirkt, indem sie uns in eine reinere und höhere Wirklichkeit versetzt. Nun aber frage ich, was gibt es denn menschlich Bedeutungsvolleres als die Zukunft der Menschheit? Natürlich nur, wenn sie lebendig wird im Gemüte des gegenwärtigen Menschen, wenn sie unser Leben und Fühlen, wie wir es in der Erfahrung kennen, vertieft und ersetzt durch Gedanken, die uns ästhetisch ergreifen. Und das sollte nicht möglich sein? Wird nicht gerade das Ewig-Menschliche, die Überlegenheit des Geistigen, in die reinste Wirksamkeit gesetzt, wenn sich die Fülle der Natur uns zu Füßen legt? Wer das nicht begreift, der muß wirklich nicht wissen, was die Natur für den Menschen bedeutet; der muß nicht wissen, daß in der modernen Menschheit die Verachtung der Natur ersetzt ist durch die Einsicht, daß alles Naturgeschehen mit dem Aufstreben des Menschengeistes im innigsten Zusammenhange steht; dem muß es entgangen sein, daß wir tatsächlich mit der Natur leben, nicht im Sinne des Schäferidylls oder des Indianerromans, sondern im Sinne des Verständnisses der Naturgesetzlichkeit, und daß mit diesem Naturverständnis auch ein Naturgefühl viel intimerer und befreienderer Art, als es die Menschheit je besessen, entstanden ist. Gerade je mehr der Forscher und Techniker von allem Gefühlsmäßigen abstrahieren muß, um die Natur als das Gesetzliche kühl und verstandesmäßig vor sich zu haben, umsomehr entsteht dem Publikum das Verlangen und dem Dichter die Aufgabe, die neue objektive Macht wieder im subjektiven Gefühle sich anzueignen. Es gilt, das neue Naturgefühl persönlich zu gestalten. Dabei handelt es sich um eine Idealisierung des Menschen in Anknüpfung an uns vertraute Vorstellungen, aber mit dem neuen Gedankenkreise und den weiten Perspektiven, die uns die wissenschaftliche und technische Entwicklung darbietet. Und darin eröffnet sich ein ungeheures Feld für das wissenschaftliche Märchen, eine echt künstlerische Aufgabe, wenn anders es Aufgabe der Kunst ist, vor unseren Augen eine neue und höhere Welt entstehen zu lassen. Wenn dabei die intellektuelle Seite des Menschen zu ihrem Rechte kommt, so ist dies um so besser; denn sie ist ja an sich wesentlich und um so mächtiger, je höher der Bildungszustand eines Volkes ist. Wenn auch selbstverständlich die ästhetische Teilnahme immer an die Regungen und Stürme des Gefühlslebens geknüpft ist, so werden diese doch nicht weniger durch intellektuelle Interessen verursacht, und die eigentliche Domäne der Kunst, das Liebesleben, kann seine Konflikte auch von dieser Seite her erleiden.

Ja es eröffnen sich in der Einführung der neuen Lebensbedingungen, die durch die Fortschritte von Erkenntnis und Technik geschaffen sind, auch teils neue, teils bisher weniger scharf hervorgetretene Motive, die zur Beleuchtung der Menschennatur und zu überraschenden Effekten in ihrer poetischen Wiedergabe führen. Man denke an die Machtwirkungen, die dem Einzelnen durch Beherrschung der Natur in der modernen Technik gegeben sind. Um einen Gegner im Kampfe niederzuwerfen, bedarf es nicht mehr der Kraft des Schwertes, ein Fingerdruck genügt für den Revolver. Eine Sprengpatrone zerstört Schiffe, das Ausziehen einer Schraube kann Hunderte von Menschen zwischen Wagentrümmern zermalmen, das Zerschneiden eines Drahtes den Weltverkehr stören. Mit der Erleichterung der Rache wachsen aber auch die Anlässe zur Betätigung des Edelmutes und der Selbstbeherrschung. Es liegt eine mächtige erzieherische Kraft in dieser gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen von einander durch die Technik; eine Erhöhung des Verantwortlichkeitsgefühls des einzelnen ist eine der vielen ethischen Rückwirkungen. Wie viele tausende angestrengter, kärglich besoldeter Unterbeamter sind täglich und nächtlich verantwortlich für das Leben von Millionen in treuem Dienste, und wie selten findet dieses stille Heldentum seine Sänger? Der moderne Mensch setzt sich bei jedem Gange auf der Straße, bei jeder Reise, ja durch die Komforteinrichtungen des eigenen Hauses Gefahren aus, die viel mannigfaltiger sind, als selbst Kriege sie mit sich bringen, die aber niemand beachtet, noch zu beachten braucht, weil uns die Fortschritte der Technik auch zur entsprechenden Gewissenhaftigkeit erzogen haben. Hier liegen überall Probleme für den Dichter, das rein Menschliche in seiner Berührung mit den Formen gezügelter Natur auch neu zu beleuchten, und man braucht noch nicht einmal an die heldenmütigen Arbeiten zu denken, bei denen der kühne Forscher in den Schrecken der Polarnacht oder den bakteriologischen Untersuchungen der Infektionskrankheiten sein Leben zum Opfer bringt.

Und nun male man sich Situationen aus, wie sie ein denkbarer Fortschritt der Technik herbeiführen kann, die Erweiterung des Lebens und Treibens durch Bezwingung des Luftraums, ja vielleicht des Weltraums, wenn erst einmal das Rätsel der Gravitation gelöst ist! Warum soll es nicht dereinst gelingen, statt das Riesenkapital, das die Sonnenstrahlen in den Steinkohlen angehäuft haben, aufzuzehren, die unmittelbare Strahlungsenergie zu benutzen, um uns Nahrung und Betriebskraft ohne Vermittelung der Pflanzen zu verschaffen? Welche soziale Umwandlungen müßten sich nicht daran knüpfen, wie viel Not des Daseins gelindert werden? Gewiß werden immer die Kämpfe im Wettbewerb des Daseins bestehen bleiben. Aber so gut das rohe Faustrecht sich zum Rechtsstaate allmählich umwandelt, so können auch diese Kämpfe immer mehr auf geistiges Gebiet verlegt werden, sie werden dadurch auf eine höhere und edlere Stufe gestellt und gemildert. Und nicht erfolglos ist der Kampf der technischen Kultur gegen Elend und Krankheit. Die Einschränkung der Epidemien ist möglich. Wir sind erst im Anfange des Fortschritts, den die Heilkunst noch zu machen vermag. Wenn nun Wissenschaft und Technik auch direkt auf Wachstum und Ausgestaltung des menschlichen Körpers Einfluß gewinnen? Allerdings werden durch die Erhöhung des Kulturlebens immer größere Ansprüche an das Gehirn gemacht, immer rastloser das Einzelleben in die Arbeit hineingezogen. Die Folge ist die überhandnehmende Nervosität. Aber eine notwendige Folge notwendiger Fortentwicklung wird nie geheilt durch ein Zurückgreifen in frühere, einfachere Zustände, etwa durch eine gewaltsame Herstellung des einfachen Naturlebens; sondern die Besserung erfolgt stets durch die Heilmittel, die der Fortschritt mit sich führt. Wird die Menschheit nervöser, so wird sie auch lernen, das Nervensystem selbst den neuen Verhältnissen anzupassen. Eine Generation kräftiger und feiner denkender Menschen wird erstehen, eine Generation, die uns übertreffen wird in der Beweglichkeit ihres Geistes, in der Fähigkeit, die komplizierten Verhältnisse mit der entsprechenden Seelenruhe zu überblicken. Und hier liegt der tiefste Zusammenhang der intellektuellen Kultur mit der ethischen. Wer schnell genug zu denken vermöchte, wem in wenigen Sekunden das alles durch den Kopf gehen könnte, wozu wir Tage gebrauchen, der würde auch imstande sein, seiner Leidenschaften, ja oft seiner Schwächen Herr zu werden. Im Augenblicke des Affekts ist das Bewußtsein ganz vom sinnlichen Reize erfüllt, wir vermögen nicht alle die Gedankenreihen zu durchlaufen, die uns die Folgen unserer Handlung zeigen; wir brauchen längere Zeit, und dann ist es zu spät. Unser Gehirn muß so geübt werden, daß es im Moment sich des ganzen Zusammenhanges seines Zustandes bewußt wird und dadurch das Handeln bestimmt. So wird aus einer intellektuellen Fähigkeit eine moralische Eigenschaft, die Besonnenheit.

In dieser Verkettung alles Menschenwesens mit dem technischen Fortschritt schlummern die neuen ästhetischen Probleme. Jede Großtat, die dem Menschen gelungen ist in der Beherrschung der Elemente, umkleidet ihn mit einem Nimbus des Erhabenen, worin die Würde der Menschheit zu einer ethisch viel wertvolleren Geltung kommt, als etwa in den Kriegstaten jener von der Dichtkunst oft verherrlichten Helden. Es kommt ja hier auf die Gewöhnung des Gefühls an. Mir ist die Geschichte des Staates stets als ein Gewirr von Grausamkeit und Egoismus, Intrigue, Elend und Jammer erschienen, aus dem nur die Märtyrer der Ideen als tragische Helden hervorleuchten. Aber so oft ich, am Bahngeleise stehend, den Zug an mir vorüberdonnern empfand, da überkam mich jenes Gefühl des Erhabenen, des übergewaltigen, des Unnahbaren einer Unendlichkeit, die uns dennoch gehört, ein Gefühl, wie es sonst nur die Natur zu geben vermag, wenn wir auf die Eiswüsten der Gletscher hinabblicken, oder hinauf zum gestirnten Himmel über uns, den trotz seiner Ätherfernen der Menschengeist umfaßt. Und wenn die Zahnradbahn in den Alpen uns sicher über Abgründe und Schlünde mühelos aufwärts trägt, so fühle ich darin den Genius der Menschheit, der die Sklaverei der Schwere abgeworfen hat und die Last der rohen Materie verachten darf. Automobil und Luftschiff sind solche Überwinder der Fesseln von Zeit und Raum. Und so sind mir erträumte technische Fortschritte der Zukunft ein unendliches Gebiet, reine ästhetische Freude zu genießen in dem Bewußtsein, daß die ewige Freiheit der Vernunft siegreich schreitet über den Zwang der Natur, und ihre Geistessonne hell hineinleuchtet in das Dunkel beschränkter Enge unseres Tuns.

Wenn unsere Mittel sich ins Ungemessene erweitern, so erweitern sich auch die Situationen, mit denen die Dichtung zu arbeiten vermag, und ungeahnte Effekte des Erhabenen, des Grotesken und des Humoristischen bieten sich dem Poeten dar. Und dabei sollte das Gemüt zu kurz kommen? Ich meine, so oft das Denken auf die Höhe sich erhebt, daß der Fluß und Drang der Erscheinungen unter dauernden Gesetzen sub specie aeterni gesehen wird, da tritt erst recht jener unergründliche Rest im Menschengemüt in Kraft, jene metaphysische Stimmung, in der wir uns bewußt werden, daß der Wert der Dinge in der Umkleidung liegt, die unser Gefühl ihnen verleiht, jener Rest, den kein Wissen aufschließt, sondern allein die Kunst mitzugenießen lehrt.

Und so komme ich zu dem Schlusse, daß, wie für die ethischen und religiösen Ideale, auch für die ästhetischen der Fortschritt der Entwicklung durch die technische Vervollkommnung auf Grund der Intelligenz geboten ist. Hier liegt der Weg der Zukunft. Es mögen die alten Ideale sein, die im Menschenherzen unsterblich leben, aber neue Formen gewinnen sie durch die neuen Mittel. Daß die Phantasie uns im Reiche des Schönen das Gute als verwirklicht vorstelle, daß das Sittengesetz eine Macht sei, die den Willen auch in der Tat zu leiten hat, daß Gottes Weisheit uns auf diesem Wege emporführe, das sind die zeitlosen Ideen, sie geben uns das Ziel. Aber die Mittel, vorwärtszukommen ein Stück auf tiefem unendlichen Wege, bietet die wissenschaftliche und technische Kultur. Sie ist der Kunstgriff der Vernunft, sich selbst zu verwirklichen.

»Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Toren,
Im Herzen kündet es laut sich an:
In was besserm sind wir geboren.
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.«


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