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XXI.

Wie ist Irrtum möglich?

Wie ist es möglich, daß wir irren? – Diese Frage klingt uns im ersten Augenblicke wunderlich; viel eher erwarten wir die entgegengesetzte Frage: Wie ist es möglich, Irrtum zu vermeiden? Denn es ist eine alte Spruchweisheit: »Irren ist menschlich.« Unzählige Male im Leben verkennen wir unsere Aufgaben und die Mittel, sie zu lösen; so irren wir in unsern Handlungen, weil wir irren in unserm Denken. Und so allgemein ist diese Erfahrung, daß wir geneigt sind, den Irrtum als begründet anzusehen im Wesen des Menschen selbst, daß Leben und Irrtum als untrennbar betrachtet und von den Dichtern als zusammengehörig genannt werden. Ja der Irrtum erscheint als etwas so Natürliches, daß man geradezu zweifelt, ob es dem Menschen überhaupt möglich sei, zur Wahrheit zu gelangen, daß die Frage; »Was ist Wahrheit?« uns erscheint wie ein vermessener Ruf in die dunklen Gründe jenseits des menschlichen Beistandes, wohin zu dringen ehrfurchtsvolle Schauer vor dem Unbegreiflichen uns abhalten.

Aber diese Auffassung, die den Irrtum als das Natürliche ansieht und die Wahrheit als das künstlich zu erzeugende Produkt, kehrt den Sachverhalt gerade um und verwickelt dadurch die Untersuchung. Nicht wie Wahrheit möglich ist, sondern wie der Irrtum entsteht und entstehen kann, das ist die Frage, auf welche es ankommt. Denn man mag zweifeln, an was man will, am Lichte des Himmels, am Boden unter den Füßen, an aller Welt – an einem kann man nicht zweifeln, nämlich an der unmittelbaren Gewißheit desjenigen, was in unserm Bewußtsein ist. Wir sind bewußte Wesen, wir haben Vorstellungen und verknüpfen sie in unserm Denken. Das ist die zweifellose Grundtatsache aller Existenz: Wir finden in uns eine geordnete Welt von Vorstellungen. Hier ist zunächst von Irrtum nirgends die Rede; was wir in unserm Bewußtsein vorfinden, das halten wir auch für wahr. Das Kind sieht den Apfel und hält ihn für wirklich, es hört von Schneewittchen und den Zwergen, und es glaubt daran, d.h. es ist in seinem Bewußtsein nichts vorhanden, wodurch der Eindruck der erfahrenen Wirklichkeit irgendwie in Zweifel gezogen würde. Daß wir auch irren können, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, und nicht alles wahr, was wir dafür halten, das ist erst eine spätere Erfahrung. Die Erkenntnis, daß es überhaupt Irrtum gibt, entsteht lediglich dadurch, daß einander widersprechende Vorstellungen zugleich ins Bewußtsein gelangen. Hier haben wir die erste Bedingung und das erste Kennzeichen des Irrtums – den Gegensatz zweier Vorstellungen, die doch gleichzeitig Geltung beanspruchen. Die Vorstellung von der Röte und Rundung des Apfels ist mit der von seinem Wohlgeschmack ungestört verbunden; wenn das Kind zum erstenmale in einen künstlichen Apfel beißt, so ist die Harmonie der Vorstellungen gestört, es sind jetzt entgegengesetzt Vorstellungen und damit die Zweifel in künftigen Fällen da. Wir halten alles für wahr, wozu wir kein entgegengesetztes Urteil kennen; ein Zweifel ist gar nicht möglich, wenn nicht in unserm Gedächtnisse das Entgegengesetzte parat liegt. Vertrauensvoll gehen wir durchs Leben in der festen, aus der Kinderfibel gewonnenen Überzeugung, daß Xanthippe ein böses Weib war. Wir wissen es nicht anders. Da kommt ein berühmter Gelehrter und behauptet, daß Xanthippe eine sehr liebenswürdige Dame und der athenische Privatdozent Sokrates mit seinem täglichen Spazierenlaufen und ewigen Fragen jedenfalls ein sehr unbequemer Ehemann gewesen sei. Und in dem Augenblicke, Wo Wir dies hören, entsteht der Zweifel. Jetzt sind entgegengesetzte Urteile in unserm Bewußtsein. Und hier erkennen wir auch sogleich den Grund, warum die Meinungen der Menschen so oft auseinandergehen, warum dasselbe Urteil von dem einen für wahr, von dem andern für falsch gehalten werden kann. Darum, weil dem einen die widersprechenden Urteile gegenwärtig sind, dem andern nicht. Dem Unerfahrenen kann man viel vorreden, er wird nicht zweifeln, weil ihm Entgegengesetztes nicht bekannt ist.

Es ist aber das allgemeine Grundgesetz des Denkens, daß das Widersprechende nicht sein kann. Demzufolge sagen wir uns, daß von zwei widersprechenden Urteilen eines falsch ist. Woran jedoch erkennen wir, welches Urteil das falsche ist? Der Gegensatz der Vorstellungen in unserm Bewußtsein bewirkt zunächst nur den Zweifel; was aber entscheidet über die Wahrheit, was zwingt uns, gerade das eine Urteil zu verwerfen und nicht das andere?

Die Sache scheint fürs erste einfach genug. Man braucht ja nur zu sagen, dasjenige Urteil sei falsch, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimme. Julius Cäsar ist an den Iden des März 44 v.Chr. ermordet worden. Wenn nun jemand behauptet, er sei am 5. Mai 1821 auf St. Helena an einer Krankheit gestorben, so ist dies Urteil falsch. Und warum? Weil es die Wirklichkeit nicht trifft. Ganz richtig, nur kommen wir damit nicht weiter; denn sofort erhebt sich die Frage: was ist Wirklichkeit? Woher wissen wir denn, daß jenes Ereignis Wirklichkeit ist, dieses nicht? Vielleicht weil es die Geschichtsschreiber erzählen? Aber können denn diese nicht irren? Ach, wir wissen recht gut, wie oft geschichtliche Ereignisse umgeworfen, als unwahr erkannt, Jahreszahlen und Daten verändert werden. Wenn nun jemand die behauptete Wirklichkeit bestreitet? Schließlich sind wir immer noch auf dem alten Fleck: es stehen sich zwei entgegengesetzte Urteile gegenüber, und um zu unterscheiden, welches wahr ist, müssen wir notwendig erst eine Entscheidung darüber treffen, was wir unter Wirklichkeit verstehen wollen. Da sieht es nun freilich schlimm aus mit der Antwort, denn damit sind wir mitten in den schwierigsten Problemen der Philosophie. Aber es ist nicht zu ändern; die Schlußregeln der sogenannten formalen Logik, die bloßen Schablonen des Denkens können uns gar nichts nutzen, wenn es sich darum handelt, über die Wahrheit eines Urteils, d.h. über die Wirklichkeit seines Inhalts zu entscheiden. Denn Form und Inhalt lassen sich nicht trennen, und man kann nicht denken, ohne etwas, d.h. etwas Bestimmtes zu denken. Wir können über den Begriff der Wahrheit nicht entscheiden, wenn wir nicht zuvor entschieden haben über das Verhältnis von Denken und Sein.

Die naive realistische Vorstellung ist gewöhnlich die, daß es eine Welt von Dingen draußen im Raume gibt, der unser Ich mit seinem Denken gegenübersteht; und wenn wir von jener Welt des Seins etwas erfahren wollen, so muß in unsere Seele etwas hineinkommen, gewissermaßen Abbilder von jenen äußeren Dingen. Unser Denken bestände dann darin, daß diese Abbilder der Dinge, die Vorstellungen, untereinander kombiniert werden, sodaß sozusagen ein Modell jener räumlichen Welt in unserm Bewußtsein nachgebildet wird. Stimmt dieses Modell möglichst mit der äußeren Welt, die wir Wirklichkeit nennen, überein, so hätten wir richtig gedacht; wenn nicht, so müssen wir Fehler bei der Abformung unseres Vorbildes gemacht haben.

Aber von dieser groben Vorstellung, die es gänzlich unerklärt läßt, wie die fremde, räumliche Außenwelt in uns hineinkommen und Bestandteil unseres unräumlichen Bewußtseins werden kann, von dieser unhaltbaren Auffassung müssen wir uns frei machen. Unsere Seele sitzt nicht wie eine Spinne im Netz und fängt sich Abbilder einer äußeren Welt ein, sondern jene ganze äußere Welt ist Inhalt des Bewußtseins, wir selbst sind die Welt, sind nichts anderes als der Inbegriff aller der Vorstellungen, die mit unsern Gefühlen und Willensregungen zusammen in uns aufsteigen und verschwinden; das Bewußtsein von ihrem Zusammenhange bedeutet zugleich den Gegenstand und unsere Vorstellung davon, Wirklichkeit ist nicht etwas Fremdes, von welchem blasse Abbilder die Seele erfüllen, sondern es ist die lebendige Flut der Gefühle und Vorstellungen in uns selbst. Als subjektives Erlebnis geben sie uns in jedem Augenblicke das Gefühl unserer Existenz. Zur objektiven Wirklichkeit, zu der realen Welt, die für alle Menschen als Gegenstand ihrer Vorstellungen da ist, wird das unmittelbare Erlebnis durch die allgemeine Gesetzlichkeit, unter der es für jedes Bewußtsein steht. (Vgl. Abschnitt V und VI.)

Wir haben Träume, wir haben Gebilde der dichtenden Phantasie, wir haben Halluzinationen des Fiebers und des Wahnsinns, und diese Vorstellungen sind sicher Inhalt des Bewußtseins für denjenigen, in dessen Gemüte sie sich vorfinden; und sie haben zweifellose Realität für ihn, sie sind sein Erlebnis; der Träumende drückt die Hand des verstorbenen Freundes, der Dichtende schaut die geschilderte Gegend und die handelnden Personen vor sich. Warum nennen wir dies nicht Wirklichkeit? Warum schreiben wir ihm nicht dieselbe Realität zu wie dem Brote, das wir essen, wie der Sonne, die uns vom Himmel leuchtet? Was unterscheidet die subjektive Erscheinung von der objektiven Wirklichkeit? Eben daß sie wirkt, Wirkung ausübt, daß sie in einem unzerreißbaren gesetzlichen Zusammenhange mit dem Bewußtseinsinhalt aller Menschen steht. Das Erlebnis des einzelnen wird Wirklichkeit für die Gesamtheit, indem die Gesetze eines allgemeinen Bewußtseins ihm die feste Ordnung verleihen, wodurch die Welt der Gegenstände als eine dauernde, jedem erfaßbare, gesetzmäßig gestaltete und gestaltbare uns entgegentritt. Unter diesen allgemeingültigen Formen der Erkenntnis ist die Kausalität, d.h. das Gesetz, nach welchem jedes Ereignis uns unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung erscheinen muß, diejenige, die wir der Einfachheit der Darstellung wegen hier ausschließlich hervorheben. (Vgl. jedoch die Stellen über das »System«, insbesondere S. 187 f.) Wir können also jetzt sagen: objektiv wirklich ist nur dasjenige, was in einem ununterbrochenen, für jedes Bewußtsein geltenden Zusammenhange von Ursache und Wirkung steht. Subjektive Wirklichkeit hat alles, was wir in unserm Einzelbewußtsein vorfinden; objektive Wirklichkeit hat nur der vom Kausalgesetze ergriffene Bewußtseinsinhalt. Die ursächliche Gesetzlichkeit, die wir Kausalität nennen, ist es, welche Wachen und Traum, Wahrheit und Täuschung, Natur und Phantasma scheidet. Wir halten nichts für wirklich, was sich nicht in den Kausalzusammenhang einfügen läßt; andrerseits heißt es die Wirklichkeit eines Ereignisses leugnen, wenn man die Vorstellung seines ursächlichen Zusammenhanges mit der Gesamtheit unserer Erfahrung aufhebt. Um sich hiervon zu überzeugen, möge man nur beliebige Dinge und Ereignisse auf die Gründe hin prüfen, weshalb wir sie für wirklich oder nicht wirklich halten. Das treffliche Essen, die große Geldsumme, die schmerzhafte Wunde, die uns im Traume als Erlebnis begegneten, warum halten wir sie nicht für wirklich? Weil wir selbst und unsere Mitmenschen keine Wirkung davon wahrnehmen, weil wir nicht gesättigt, nicht reich, nicht krank davon wurden. Warum dagegen halten wir die Existenz von Körpern am Nordpol der Erde für wirklich, obwohl noch kein Mensch sie gesehen? Weil diese Vorstellung eine notwendige und unentbehrliche Ergänzung zu der gesetzmäßigen Vervollständigung unserer Erfahrung ist. Die Wirklichkeit von Gespenstern leugnen wir, weil wir sie in keinen Kausalzusammenhang mit der Gesamtheit der Erfahrung bringen können. Wenn wir von einem Ereignis hören, das uns gänzlich außerhalb alles natürlichen, d.h. erklärlichen Zusammenhangs steht, so glauben wir nicht an seine Wirklichkeit, und selbst wenn unsre Sinne seine Beobachtung als unbestreitbar nachweisen, so werden wir eher eine Sinnestäuschung als eine Durchbrechung des Kausalzusammenhangs annehmen. Ja selbst die Annahme einer solchen Durchbrechung des Kausalzusammenhangs, d.h. der Glaube an ein Wunder, ist nur ein neuer Beweis dafür, daß die Wirklichkeit eines Ereignisses uns allein durch dessen ursächliche Verknüpfung mit der Welt unserer Erfahrungen verbürgt wird. Es gibt Dinge, von deren Wirklichkeit die Menschen überzeugt sein wollen, obwohl sie nicht imstande sind, ihre Möglichkeit einzusehen. Da nun das Bewußtsein nur das für möglich hält, was im Kausalzusammenhange steht, so kann es das fragliche Ereignis so lange nicht glauben, bis es nicht eine Ursache dafür gefunden hat. Es soll aber wahr sein. Zu diesem Zwecke wird das Wunder ersonnen, d.h. der Eingriff einer höheren, übernatürlichen Gewalt. Dieser Eingriff wird nur angenommen, um das unerklärliche Ereignis für verursacht, d.h. für wirklich halten zu können. Wenn wir keine andern Gründe mehr sehen und die äußerliche Wirklichkeit doch festhalten wollen, glauben wir an ein Wunder.

Wir sind jetzt in unserer Untersuchung, wie Irrtum möglich sei, soweit vorgeschritten, daß wir das Kennzeichen des Irrtums aufgedeckt haben. Widersprechende Vorstellungen belehren uns, daß die eine von ihnen irrtümlich ist, und diejenige ist die falsche, die mit dem kausalen Zusammenhange der Erfahrung sich nicht in Einklang bringen läßt. Aber es bleibt nunmehr die Hauptfrage zu erledigen, wie es überhaupt möglich sei, daß ein solcher Widerstreit von Vorstellungen in uns entsteht, wie überhaupt unrichtige Vorstellungen ins Bewußtsein gelangen können. Welches ist die Ursache des Irrtums? Wie kann das Denken zu Fehlern kommen?

Machen wir uns recht klar, wonach eigentlich wir fragen. Die Geschworenen sprechen das »Schuldig« über einen Mann, der des Diebstahls angeklagt ist. Nachträglich stellt sich heraus, daß der Verurteilte die Tat nicht verübt hat. Warum war das Urteil falsch? Man wird geneigt sein zu antworten: »Weil der Mann unschuldig war.« Aber das trifft gar nicht unsere Frage, denn es würde nur heißen, das Urteil war falsch, weil es mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, und dies bedeutet nach obiger Erklärung nur, das Urteil ist falsch, weil es falsch ist. Die Frage ist aber nach der Entstehungsursache des Irrtums: Wieso ist es möglich, ein falsches Urteil abzugeben? Daß der Mann unschuldig ist, ist nur der Umstand, an welchem wir erkennen, daß das Urteil falsch war, aber es ist nicht die Ursache, wodurch der Irrtum entstand. Diese Ursache würde vielmehr im Gerichtsverfahren zu suchen sein. Wenn jemand in einer Stadt nach dem Tore gehen will, und er gelangt statt dessen auf den Marktplatz, warum ist er falsch gegangen? Weil er auf den Marktplatz kam? Nein, daran merkt er nur, daß er falsch gegangen. Der Grund seines Irrtums aber liegt darin, daß er an der Ecke statt links – rechts gegangen ist, daß er die falsche Richtung eingeschlagen, die unpassenden Muskeln beim Wenden in Tätigkeit gesetzt hat. Die mangelnde Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist also nur der Erkenntnisgrund des Irrtums, wodurch wir ihn gewahr werden; wir aber fragen nach dem Realgrunde, der das Denken veranlaßte, Fehler zu begehen.

Wie ist es möglich, daß ein psychologischer Vorgang, wie es der Akt des Denkens ist, entgegengesetzte Resultate liefern kann, einmal etwas falsches, einmal etwas Richtiges? Die Vorstellungen und Gedanken laufen doch nicht in unserm Bewußtsein herum wie eine Herde ohne Hirten, die sich in alle Winkel verirrte, wenn sie nicht die Logik zusammentriebe; sondern jeder Vorgang im Bewußtsein muß seine Ursache haben, das Denken kann nur nach Gesetzen vor sich gehen, es müssen bestimmte gesetzliche Beziehungen bestehen, nach denen die Vorstellungen zu Begriffen, die Begriffe zu Urteilen, die Urteile zu Schlüssen sich verbinden. Nehmen wir einen einfachen Begriff, z.B. den des Winters, so sind doch alle die darin enthaltenen Teilvorstellungen in einer ganz bestimmten, gesetzmäßigen Weise verknüpft, wodurch eben für jeden Menschen bei dem Wortklange »Winter« die in diesem Begriff enthaltenen Vorstellungen hervorgerufen werden. Denn wäre diese Verknüpfung nicht nach festen Regeln geordnet, so wäre nicht abzusehen, wie irgend zwei Menschen sich verständigen könnten, wenn bei ihnen die Vorstellungen regellos durcheinanderliefen und bei dem Worte »Winter« sich der eine einen brüllenden Löwen und der andre etwa einen Opernsänger denken wollte.

Wenn nun aber das Denken wie jede geistige Tätigkeit nach psychologischen Gesetzen ordnungsgemäß abläuft,, dann begreifen wir erst die volle Berechtigung der Frage: wie kann es ein irrtümliches Denken geben? Nichts erscheint uns wunderbarer, als daß man auch falsch denken kann. Das falsche Denken erfolgt ja ebenfalls gesetzmäßig; wodurch soll es sich denn von dem richtigen Denken unterscheiden? Ein Ungehorsam gegen Naturgesetze ist sinnlos; es müßte also wohl zwei verschiedene Gesetzlichkeiten geben, eine für die richtigen und eine für die falschen Gedanken? Gibt es aber neben den psychologischen Gesetzen, neben den Naturgesetzen, nach denen alle geistigen Vorgänge ablaufen müssen, gibt es neben diesen auch noch besondere logische Gesetze, die jenen übergeordnet sind, Regeln, die vorschreiben, wie das Denken stattfinden soll? Das wäre eine Moral des Denkens, wie es eine Moral des Handelns gibt, und die Logik würde sich demnach zur Psychologie verhalten wie die Ethik zur Physik. Die Physik im allgemeinsten Sinne lehrt, was da ist, die Ethik, was da sein soll. Bestimmt so auch die Logik Normativgesetze, nach denen man denken soll, im Gegensätze zu den Naturgesehen, nach denen man denkt?

Wie sollte man sich das Zusammenwirken dieser doppelten Gesetzlichkeit vorstellen? Die logischen Gesetze sind doch keine Vereinsstatuten, die man halten kann, oder auch nicht; denn aus dem Verein, dessen Statut das Verstandesgesetz ist, nämlich aus der Welt denkender Wesen, der wir angehören, kann man nicht nach Belieben austreten, es sei denn mit Vernichtung der eigenen Existenz; der psychologischen Notwendigkeit des Gedankenverlaufs kann sich also niemand entziehen, und es bedarf keiner logischen Polizei, die darüber wachen müßte.

Von einem Sollen kann nur die Rede sein, wo es ein Wollen gibt: wenn wir aber gesetzmäßig denken, z.B. eine Rechnung ausführen, was haben wir dabei zu wollen? Wir zählen unsere Barschaft zusammen: »Achtzehn Pfennige und zweiunddreißig Pfennige gibt vierzig Pfennige.« »Fünfzig!« werden wir uns verbessern. Aber – es kommt doch vor, und häufig genug, daß man sich verrechnet. Was geht nun hier vor? Die Zahlenvorstellungen können sich im Bewußtsein nur nach bestimmten Regeln verbinden, und die Überzeugung, daß wir vierzig Pfennige haben, entsteht ganz unabhängig von unserm Willen. Und doch waren beide Resultat psychologisch notwendig, der Rechenfehler kommt ebenso gesetzmäßig zustande wie seine Berichtigung – ohne Ursache könnte er ja überhaupt nicht entstehen. Widerspricht sich da nicht die Wirklichkeit selbst? Ist dies nicht die Aufhebung der Wirklichkeit, die doch nur durch den Zusammenhang gesetzlicher Ordnung besteht im Gegensatz zu chaotischer Willkür?

Wir sehen, daß wir zu unerklärlichen Widersprüchen geführt werden, wenn wir annehmen wollten, die Ursache des Irrtums beruhe auf einer falschen Kombination der Vorstellungen, auf einem Ungehorsam gegen besondere Gesetze der Gedankenordnung. Dem natürlichen Gesetze der Verknüpfung unserer Gedanken steht kein logisches Gebot gegenüber, wodurch der Irrtum gezwungen würde, der Wahrheit ihren schmalen Weg freizulassen, kein autokratisches Quos ego, das in die windige Gesellschaft der Gedanken Ordnung schaffend hineinführe. Seine Ordnung trägt das Denken vielmehr in sich selbst, die psychologische Gesetzlichkeit kann nur logisch begriffen werden. Nicht der Irrtum ist das Erste und Natürliche, die Wahrheit das Errungene, sondern gerade umgekehrt: Alles Empfundene und Vorgestellte als solches ist ursprünglich wahr, und der Irrtum ist erst das Produkt, das beim Prozesse des Denkens sich ausscheidet. Wer paradoxe Sätze liebt, könnte kurzweg sagen: Es gibt gar kein irrtümliches Denken. Das soll natürlich nicht heißen, es gäbe keinen Irrtum, sondern nur, das Denken selbst, als psychologischer Vorgang, kann nicht irrtümlich genannt werden, es ist immer gesetzmäßig; das Denken ist nicht die Ursache des Irrtums, sondern gerade der Vorgang, an welchem und durch welchen wir das Auftreten eines Irrtums erkennen. Das Denken besteht in der Kombination der im Bewußtsein vorhandenen Vorstellungen, und diese kann niemals eine falsche sein. Wenn nun das Resultat dieser Kombination mit den Kennzeichen der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, wenn ein Gegensatz zwischen beiden, also ein Irrtum sich zeigt, so kann seine Ursache, da sie in den Formen des Denkens liegt, nur in dem Stoffe, mit dem das Denken arbeitet, bestehen. Nachdem wir alle andern Ursachen des Irrtums ausgeschlossen haben, kann als solche nur der Umstand übrig bleiben, daß eben nicht diejenigen Vorstellungen im Bewußtsein sind, deren Kombination die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit liefern würde.

Es war ja, wie wir uns erinnern, eine der Bedingungen für die Erkennung des Irrtums, daß die der fraglichen Vorstellung widersprechende im Bewußtsein sei. Wir haben gesehen, daß wir ein falsches Urteil bereitwillig glauben, wenn wir nicht an das ihm entgegengesetzte denken. Es ist nun eben die Eigentümlichkeit unseres individuellen Bewußtseins, wodurch wir irrende und nicht unfehlbare Wesen sind, daß nicht alle Vorstellungen, deren wir fähig sind, jederzeit zugleich in unserm Bewußtsein präsent liegen, sondern immer nur ein kleiner Teil derselben; und es ist die Eigentümlichkeit des Denkens, daß die einzelnen Vorstellungen ins Gedächtnis treten müssen, wenn sie einen Einfluß im Resultate des Denkprozesses gewinnen sollen. Irrtümlich kann das Denken nicht verfahren, aber sein Vorrat an Vorstellungen kann mangelhaft sein, es können diejenigen Vorstellungen aus dem Gedächtnisse verschwunden sein, an denen die Übereinstimmung der vorhandenen Vorstellungen untereinander und mit der Wirklichkeit erst bemerkbar wird. Die unendliche Mannigfaltigkeit menschlichen Irrtums, die ungeheure Schwierigkeit, die das gegenseitige Verständnis unter den Menschen findet, die Unmöglichkeit, auch in den einfachsten Fragen vollständige und absolute Gleichheit der Meinungen aufzufinden oder herzustellen, endlich die unlöslichen Widersprüche, die in Wissenschaft und Leben sich darbieten, dies alles erklärt sich aus dieser Natur des menschlichen Denkens, daß ihm die erforderlichen Vorstellungen immer nur in annähernder Vollständigkeit und Reinheit zu Gebote stehen. Es handelt sich hier natürlich überall um die Denkvorgänge in unserm individuellen Bewußtsein.

Niemals kann der Verstand das Seiende voll erfassen; denn das Tiefste und Innerste unseres Ich, das unmittelbare Erlebnis, ist in seiner Mannigfaltigkeit ein Ganzes: indem wir es zum Gegenstande unseres Denkens machen, zerstören wir diese Einheit, denn wir fassen es unter den Regeln des Verstandes zu neuen Einheiten zusammen. Denken ist sowohl Analyse als Synthesis, und darum können wir in den Resultaten des Denkens immer nur einen Teilinhalt des subjektiv Erlebbaren besitzen und umfassen. Aber wir haben uns ja geeinigt, nur dasjenige als objektive Wirklichkeit anzuerkennen, was unter allgemeingültigen Gesetzen steht; wir müssen uns auf diese Wirklichkeit beschränken, denn sie ist die einzige, die allen erkennenden Wesen gemeinsam ist, die einzige, über die wir urteilen, die wir erforschen und beherrschen, in der wir wirken können. Es ist dies die Welt von Gegenständen in Raum und Zeit, die dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen sind, und die jedermann als die ihn umgebende Natur und Wirklichkeit kennt. Die Begriffe, in denen diese von unserm Verstande zusammengefaßt wird, sind zwar der Art nach für alle Menschen dieselben, aber jeder, Einzelbegriff enthält eine so große Anzahl von Teilvorstellungen und in so mannigfaltiger Verknüpfung, daß schon die unveränderte Reproduktion dieser Einzelbegriffe sehr schwierig und eine große Quelle von Irrtümern ist. Wir haben hier die eine der beiden Hauptquellen der Denkfehler: Die Veränderung der gebrauchten Begriffe während des Denkaktes.

An die zahllose Menge der Fälle, in denen Mißverständnis und Irrtum aus dieser Veränderung der Begriffe während ihres Gebrauches entsteht, läßt sich hier bloß erinnern. Man denke daran, wie sehr die Bedeutung eines Wortes nicht nur im Munde verschiedener Leute, sondern sogar bei ein und demselben Individuum unwillkürlich wechselt, wie kleine Nuancen in der Bedeutung eintreten, Nebenvorstellungen auftauchen und verschwinden, und wie unter dieser Weichheit und Wandelbarkeit des Denkmaterials die Schärfe des Denkens leidet. Wissenschaften, die ihre Begriffe so klar und unverschiebbar, wie die Mathematik in ihren fest begründeten Teilen, definiert haben, sind daher auch keinen Fehlschlüssen unterworfen, während z.B. in der Philosophie die häufige Meinungsverschiedenheit eine Folge davon ist, daß die benutzten Begriffe in den Operationen der einzelnen Denker schwer bemerkbare Veränderungen erleiden, infolge deren der ganze Charakter ihrer Bedeutung sich verschiebt.

Ist der Gedanke, um den es sich handelt, in Form eines Schlusses ausdrücklich dargestellt, so tritt der erwähnte Denkfehler dabei als derjenige Schließfehler auf, den die Logik eine quaternio terminorum nennt. Ein Schluß oder Syllogismus in seiner vollständigen Form besteht bekanntlich aus zwei Prämissen und dem Schlußsatze (Conclusio): »Alle Menschen sind sterblich,« »Cajus ist ein Mensch« sind die Prämissen; »also ist Cajus sterblich« ist der Schluß. Die beiden Prämissen enthalten je einmal denselben Begriff, welcher der Mittelbegriff heißt. Hier ist es der Begriff »Mensch«, und durch diesen wird der Schluß möglich. Ist der Mittelbegriff nicht in beiden Prämissen derselbe, so kann überhaupt nichts erschlossen werden: »Alle Menschen sind sterblich«, »die Donau ist ein Strom« sind zwei Urteile, die keinen Schluß zulassen, weil sie, statt dreier, vier verschiedene Begriffe, also keinen Mittelbegriff enthalten. Wird nun aus zwei Urteilen der Schluß dadurch gezogen, daß man zwei tatsächlich verschiedene Begriffe als identische betrachtet und daher als Mittelbegriff benützt, so wird der Schluß offenbar falsch, und das ist es, was man quaternio terminorum nennt, weil statt dreier Begriffe deren vier eingeführt wurden. »Der Filz wird aus Haaren gemacht«, »der Geizhals ist ein Filz«; »also wird der Geizhals aus Haaren gemacht«. Hier ist die übertragene Bedeutung des Mittelbegriffs »Filz« mit der wörtlichen verwechselt und der Grund des Irrtums ist leicht bemerklich. In sehr vielen Fällen aber ist es schwierig, die unmerkliche Verschiebung des Mittelbegriffs, die Veränderung seiner Bedeutung zu erkennen. »Die Regierung ist der Repräsentant der staatlichen Ordnung. Wer der Regierung Opposition macht, ist ein Feind der staatlichen Ordnung«. Hier ist nicht nur »Opposition machen« und »Feind sein« in unberechtigter Weise gleichgesetzt, sondern vor allem ist das Wort Regierung « im zweiten Satze in gänzlich veränderter Bedeutung gebraucht. Denn es ist nicht mehr darunter verstanden die Regierung als notwendige Vertreterin der staatlichen Ordnung, sondern gewisse Maßregeln und Grundsätze nach denen die leitenden Personen zur Zeit die Regierung führen – Lessing läßt in der Emilia Galotti den Maler Conti sagen, Rafael wäre das größte malerische Genie gewesen, auch wenn er zufällig ohne Hände geboren wäre. Nun ist doch aber gerade die Fähigkeit, den Gegenstand der Vorstellung anschaulich im Bilde darzustellen, das wesentliche Kennzeichen des Malers. Denn es kann jemand eine bis ins einzelne genaue Einsicht davon haben, wie ein Gemälde beschaffen sein soll, aber er kann es nicht darstellen; dann wird er vielleicht ein großer Kunstkenner und Kritiker, niemals aber ein Maler genannt werden können. Soll nun das Wort »malerisches Genie« noch eine Bedeutung haben und nicht bloß für Genie überhaupt stehen, so muß es sich doch auf das Können, auf die Darstellungsgabe selbst beziehen. Wenn aber die Mittel, die Organe dazu fortgenommen sind, wie kann man noch von der Darstellungsgabe sprechen? Rafael ohne Hände ist eben nicht der Rafael, dessen Werke wir bewundern. Jenes geistreiche Wort enthält demnach ebenfalls jene feine Täuschung, die uns vergessen läßt, daß uns die Bedeutung des gebrauchten Begriffs im Verlaufe der Rede entschlüpft ist, daß wir bereits von etwas ganz anderem sprechen. Jeder Begriff, dem man ein Merkmal entzieht, verändert seinen Sinn. Der Tisch ohne Bein ist kein Tisch mehr – wenn man noch von einem Tische spricht, so geschieht es, weil man im Gedächtnis den früheren Zustand beibehält und das durch das Denken selbst aufgehobene Subjekt als ein weiter bestehendes behandelt. So ist der Verstorbene kein Mensch mehr wie der lebendige, der fühlt und denkt, aber die süße Gewohnheit des Lebens behalten wir in unserer Phantasie bei, wenn wir über unfern Zustand nach dem Tode Vermutungen anstellen oder darüber bestimmen, was mit uns geschehen solle, wie z.B. jener Herr, der anordnete, daß man seinen Leichnam seziere; »denn«, sagte er, »ich will doch wissen, woran ich gestorben bin.«

In all den Fällen, auf welche hier nur in Kürze hingewiesen werden konnte, haben wir es mit jener ersten Gruppe von Ursachen des Irrtums zu tun, die darin bestehen, daß die einen Begriff konstituierenden Vorstellungen nicht in ihrer Vollständigkeit und Anordnung im Gedächtnis bleiben, sondern zum Teil fortfallen und durch andere ersetzt werden; hiermit wird das Material des Denkens unvollständig, obwohl das psychologische Gesetz der Vorstellungsverknüpfung ungestört in Wirkung bleibt. Der Bau des Denkens zerfällt, obgleich der Baumeister Verstand die Teile ordnungsmäßig zusammenfügt, weil er sich im Stoffe vergriffen und Holz statt Eisen genommen hat.

Die zweite Hauptquelle alles Irrtums besteht darin, daß, wenn auch die Bedeutung der gebrauchten Begriffe selbst festgehalten wird, diejenigen Momente nicht zur Genüge zum Bewußtsein kommen, die über den Charakter der Wirklichkeit entscheiden. Wir urteilen dann falsch, weil die Vorstellungen nicht im Gedächtnis sind, die zur Abmessung unseres Urteils an der Wirklichkeit, zum Vergleich mit der Gesamtheit der Erfahrung dienen, sodaß wir nicht die tatsächlich in Betracht kommenden, sondern irgend welche willkürlich aufgestellte und gerade sich neu aufdrängende Vorstellungen über die Wahrheit entscheiden lassen.

Zunächst gehört hierhin die große Anzahl von Fehl- und Trugschlüssen, in denen der Entscheidungsgrund von dem fraglichen Urteil selbst, statt von der objektiven Wirklichkeit abhängig gemacht wird. Die bekannten Trugschlüsse des Altertums, »der Lügner«, »das Krokodil«, »der Prozeß« stehen in dieser Reihe. Im »Lügner« z.B. wird der Schluß so geführt: Epimenides, der Kreter sagt, alle Kreter sind Lügner; nun ist Epimenides selbst ein Kreter, also lügt er; also ist seine Aussage eine Lüge, und die Kreter sind keine Lügner; also ist auch Epimenides kein Lügner – – und so weiter in infinitum. Hier entsteht der Widerspruch dadurch, daß man übersieht, worauf es bei Feststellung der Wahrheit ankommt, nämlich darauf, ob der Satz: »Alle Kreter lügen«, allgemeingültig wahr ist oder nicht. Ist er wahr, so ist auch Epimenides ein Lügner und er kann demnach jenen Satz überhaupt nicht aussprechen, – wodurch der ganze Trugschluß hinfällig wird; oder er hat ausnahmsweise einmal die Wahrheit gesprochen, – und das kann ja selbst einem Lügner gelegentlich passieren. In dem Trugschlüsse aber macht man die Wahrheit des Satzes nicht von der objektiven Wirklichkeit, sondern von dem Charakter dessen, der ihn ausspricht, abhängig; und daraus entspringt der Unsinn.

Man sieht hier zugleich, daß sich über die Wahrheit eines Urteils nicht entscheiden läßt nach bloß formalen Gesichtspunkten, sondern stets nur nach seinem materialen Inhalt und daß es darum keine Logik geben kann, die nicht zugleich Rücksicht nimmt auf die Bedeutung der Begriffe, mit denen sie operiert.

Dieselbe Verkennung des über die Wahrheit entscheidenden Kriteriums findet statt, wo bloße Autorität an Stelle der Prüfung tritt. Ebensowenig wie über die Wahrheit eines Satzes dadurch entschieden werden kann, daß jemand von sich selbst sagt: »Ich bin ein Lügner«, kann dies dadurch geschehen, daß jemand behauptet: »Alles, was ich sage, ist wahr«. Wenn dann die Wahrheit der verkündeten Lehre auf diesen Ausspruch begründet wird, so liegt darin offenbar nicht die geringste Beweiskraft. Jedes Prophetentum kommt bei seinen Beweisen in diesen Konflikt mit der Logik. In der Sache selbst hat dies freilich nichts zu sagen, denn es will ja gar nicht auf den Verstand, sondern auf das Gefühl wirken, und für dieses gibt es keinen Widerspruch. Das Kriterium der Wahrheit liegt auf diesem Gebiete im Glauben, d.h. in der inneren Selbstgewißheit des Gefühls, welche logischem Verfahren nicht zugänglich ist.

Verwandt mit dem aus autoritativem Einfluß entstehenden Irrtum ist jener, den wir als Leichtgläubigkeit bezeichnen, nur daß es im ersteren Falle sich gewöhnlich um tiefere Interessen handelt als im letzteren. Die Leichtgläubigkeit beruht auf dem psychologischen Vorgange, daß eine plötzlich erweckte Vorstellung alle übrigen, die ihr widersprechen, so stark zurückdrängt, daß sie dem Bewußtsein entschwinden; jene besonders lebhafte Vorstellung gewinnt dadurch den Schein der Wahrheit, sie wird, da die Gegensätze fehlen, für wahr gehalten. Es ist klar, daß diese Verdrängung entgegengesetzter Vorstellungen um so leichter stattfinden wird, je kräftiger der unmittelbare neue Eindruck ist. Wenn wir hören, ein bekannter Mann sei gestorben, weil er sich vergiftet habe, so wird dies eher Glauben und Verbreitung finden, als die wahrscheinlichere Tatsache eines natürlichen Todes, weil es das Gemüt heftiger erregt. Ein Satz, der in feierlicher Form von Kanzel oder Katheder herab verkündigt wird, darf seines lebhafteren Eindrucks wegen leichter auf Annahme rechnen als ein im Gespräche hingeworfener; ebenso wird Gedrucktes leichter geglaubt als Gesagtes. Die Leichtgläubigkeit ist um so größer, je weniger kritisch das aufnehmende Bewußtsein durch Erfahrung geworden ist. Im Kreise von Kindern und Ungebildeten gelten Sätze, wie »der Lehrer hat es gesagt« oder »es steht in der Zeitung«, als volle Beweise.

Dasselbe Zurückdrängen widersprechender Vorstellungen im Gedächtnisse, das durch momentan lebhafte Eindrücke bewirkt wird, kann auch durch fortdauernde Wiederholung gleicher Eindrücke erzielt werden. Darauf beruht hauptsächlich das Hervorbringen von öffentlicher Meinung durch die Presse, indem jede Zeitung ihre Ansicht dem Leser immer wieder vorführt, und es beruht darauf vor allem die Wirkung der Inserate. Wenn wir dieselbe Anzeige immer und immer wieder lesen, z.B. »das schönste Festgeschenk für junge Damen sind die Tagebuchblüten einer seufzenden Rosenseele von Euphemie Blütenstengel« dann prägt sich allmählich diese Vorstellung ein. Gelegentlich wird man gefragte »Was halten Sie von den Tagebuchblüten einer seufzenden Rosenseele von Euphemie Blütenstengel?« Da dämmert uns ein Unbestimmtes auf – wir haben davon gehört – aber wo und wann? – und man sagt wohl: »Ach ja, es soll ganz gut sein, es ist mir empfohlen worden.« Allerdings, empfohlen ist es uns worden, aber wir haben vergessen von wem – nämlich vom Verleger selbst. Durch solche Nachlässigkeit des Gedächtnisses kommen falsche Urteile in unglaublicher Menge zustande. Zahllose Sätze wiederholen wir im guten Glauben, einen Beweis dafür gekannt zu haben, der uns nur augenblicklich nicht gegenwärtig sei. Tatsächlich aber haben wir nie einen wirklichen Beweis gewußt, ebensowenig wie wir etwas von den Vorzügen Euphemie Blütenstengels kannten.

In den mitgeteilten Beispielen waren die maßgebenden Entscheidungsmerkmale der Wirklichkeit überhaupt nicht zum Bewußtsein gekommen. In andern Fällen reflektierten wir wohl auf die Bedingungen, welche die Wahrheit eines Urteils bestimmen, aber wir übertragen sie, durch irgend welche Ähnlichkeiten verleitet, auf Urteile, für die sie nicht mehr gelten. Wir vergessen die Grenzen, innerhalb deren unsere Bestimmung gilt. Insbesondere verleitet uns der Gebrauch von Gleichnissen neben äußerlichen Ähnlichkeiten in unzähligen Fällen dazu, Sätze, die innerhalb ihrer Sphäre ganz berechtigt sind, auf Verhältnisse zu übertragen, wo ganz andere Umstände der Wirklichkeit herrschen und über die Geltung des Urteils entscheiden. So werden Regeln des Familienlebens unrechtmäßig übertragen auf den Staat, individuelle Neigungen, Berufs- oder Standesinteressen werden für allgemeine Bedürfnisse angesehen, Regungen des Gemüts als überirdische Befehle gedeutet, sittliche Forderungen mit Naturgesetzen verwechselt, Folgerungen des Verstandes über ihre Gültigkeit im Erfahrungsgebiete hinausgedehnt. Es ist unmöglich, hier nur im entferntesten ins einzelne zu gehen, man müßte fürchten, nie wieder »aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen«, das die ganze Geschichte der Menschheit durchflutet.

Das Gesagte möge genügen, die Antwort auf die Frage: »Wie ist Irrtum möglich« zu illustrieren. Irrtum entsteht nicht dadurch, daß das Denken sich etwa gewissen Regeln entzöge – denn dies ist unmöglich – sondern dadurch, daß der Inhalt der Vorstellungen im Bewußtsein kein konstanter ist. Es verändern sich sowohl die gebrauchten Begriffe während des Denkakts, als auch die, welche den Vergleich mit der Wirklichkeit und dadurch die Feststellung der Wahrheit eines Urteils vermitteln. Gäbe es einen so vollkommenen Intellekt, daß er sich in jedem Augenblicke bewußt wäre alles dessen, was die Übereinstimmung oder den Widerspruch eines Urteils mit der Wirklichkeit bedingt, so wäre sein Denken ohne Fehler, sein Wissen ohne Irrtum. Das Bewußtsein des einzelnen Menschen aber ist nicht so beschaffen. Ihm ist stets nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von Vorstellungen gegenwärtig; reicht diese Zahl zur Bestimmung der Wahrheit aus, so nennen wir den psychologischen Vorgang einen logisch berechtigten; reicht sie nicht aus, und dies ist sehr häufig, so führt das psychologische Geschehen auf unbemerkte Widersprüche, und darum ist Irrtum möglich und Irren menschlich. Von der zahllosen Menge alles Erfahrbaren kann der Mensch nur einen kleinen Teil mit seinem Verstände bewältigen und die Erkenntnis aller Wahrheit bleibt ihm ein unerreichbares Ideal. Während wir diesem Ideale der Wahrheit in mühevollem Ringen nachstreben, erleichtert uns die holde Fee Vergeßlichkeit gegenüber den Mängeln und Schwächen des irrsalvollen Daseins die schönen Tugenden der Geduld und Nachsicht zu üben, deren wir selbst bedürfen.


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