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II.

Von der Weltseele zum Weltäther

Das Grundproblem aller Naturerklärung ist gleichbedeutend mit der so einfach klingenden Frage: Worin besteht die Wechselwirkung der Dinge? Die Realität des mathematischen Gesetzes, die den Gedankengang Platons beherrschte, gibt uns nur einen Teil der gesuchten Aufklärung über die Realität der Dinge. Die majestätische Ordnung des Gesetzes steht zu unvermittelt über dem bunten Inhalt der sinnlichen Erfahrung. Es muß noch eine andere Realität geben als die mathematische Form, einen Inhalt in den Dingen, der im Raum sich stößt und treibt, den wir als Empfindung in Ton und Farbe, als Druck und Wärme erleben. Wie kann sich die Wissenschaft dieses Inhalts bemächtigen? Die Geschichte der Erkenntnis geht auch hier von der naiven Anschauung kindlicher Erfahrung aus.

Daß wir unseren Körper bewegen und diese Bewegung auf andere Körper übertragen, ist eine Wahrnehmung, durch die wir überhaupt in unser Ichbewußtsein hineinwachsen. Wir suchen daher zunächst keine Erklärung dafür, sondern nehmen im Gegenteil diese Tatsache als Ausgangspunkt aller Erklärung. Aber auch für die Übertragung und den Ursprung der Bewegung pflegt es für den Menschen, der über seine Umgebung nachzudenken beginnt, eines schönen Tages irgend ein Weltmittel der Erkenntnis zu geben, das ihn plötzlich vor die Frage stellt: Wie ist das möglich? Irgend ein künstlicher Mechanismus, gewöhnlich eine Uhr, vielleicht eine Dampfmaschine oder Ähnliches, bringt dann eine plötzliche Erleuchtung: Es gibt ganz bestimmte mechanische Gesetze, die in den Gegenstände die Bewegung beherrschen, und deren Wirkung wir zugleich in der Empfindung sinnlich spüren.

In einem Uhrwerk freilich können wir noch die Wechselwirkung der bewegten Teile sozusagen mit den Händen greifen. Das Geheimnisvolle, in welchem die Tiefe des Problems der Wechselwirkung unserem Geiste aufgeht, tritt erst dann auf, wenn eine ungewohnte Wirkung durch unsichtbare und untastbare Mittel von uns wahrgenommen wird. Bei jedem, dem physikalische Experimente oder ähnliche technische Verrichtungen nicht vertraut sind, erweckt es stets ein bewunderndes und immer zu neuen Versuchen anspornendes Staunen, zu beobachten, wie die Magnetnadel sich von selbst wieder nach Norden einstellt, oder wie sie durch die Annäherung eines Magnetpols von der einen Seite abgestoßen, nach der anderen angezogen wird. Man kann dann mit Sicherheit auf die Frage rechnen: Wie kommt das? Aber wie kommt es, daß wir an der Erde haften und der geworfene Stein wieder herabfällt? Und warum fällt der Mond nicht auf die Erde, die Erde nicht auf die Sonne? Der Gelehrte wird uns zwar sagen, sie fallen tatsächlich, bloß immer ein bißchen vorbei; Newton hat uns ja gelehrt, daß Stein, Mond und Erde nach demselben Gesetze fallen. Aber dieses Gesetz? Das ist es eben! Wie machen es die Körper, daß sie wissen, was das Gesetz von ihnen verlangt? Warum müssen sie? Und wie macht es das Gesetz, daß ihm die Körper gehorchen? Was verbindet die Magnetnadel und den Nordpol, die Erde und die Sonne?

Wie machen wir es denn selbst, wenn wir uns bewegen? Wenn wir ganz ehrlich sind und uns genau beobachten, so wissen wir es allerdings selber nicht. Es kitzelt uns jemand, und wir lachen oder stoßen ihn fort; es winkt uns jemand, und wir laufen auf ihn zu; wir hören und erheben die Stimme zur Antwort. Wir wissen nicht, wie es geschieht, aber wir machen es eben. Dagegen, wenn wir tot sind, so kann uns ganz dasselbe geschehen, Kitzeln, Winken, Rufen – wir rühren uns nicht. Also, das scheint klar, wir bewegen uns, weil wir lebendig sind. Wodurch aber sind wir lebendig?

Darauf ist nun die uralte Antwort die: Wir leben, weil wir eine Seele haben. Das wäre ja auch ganz schön, wenn man genau wüßte, was eine Seele ist. Es gibt zwar viele kluge Leute, die behaupten, es ganz genau zu wissen, sogar, daß sie unsterblich sei; nur sind die Ansichten darüber leider außerordentlich mannigfaltig. Vielleicht könnte man mit nicht minder gutem Rechte sagen: Wir haben eine Seele, weil wir leben.

Früher habe ich behauptet, man könnte ebensogut annehmen: »Wir haben Vorstellungen, weil es Objekte gibt«, als: »Es gibt Objekte, weil wir Vorstellungen davon haben.« Dieselbe Frage tritt hier wieder auf, nur eingeschränkt auf das Objekt, das wir den Lebensprozeß des menschlichen Körpers, speziell des Nervensystems, nennen. Leben wir als organische Wesen, weil wir eine Seele haben, oder haben wir eine Seele, weil wir als organische Wesen leben? Beides zu bejahen ist richtig und doch nicht genau. Das organische Leben und das Beseeltsein ist wieder nur der Ausdruck für dieselbe Tatsache, von zwei verschiedenen Gesichtspunkten gesehen. Leben und Seele verhalten sich nicht wie Ursache und Wirkung oder wie Grund und Folge. Vielmehr betrachten wir uns als Körper, deren Teile und Organe durch das Nervensystem mit den übrigen Körpern in gesetzlicher Wechselwirkung stehen, so dürfen wir sagen, weil wir solche Körper sind, sind wir beseelt; und betrachten wir uns als Seelen, die als eine Einheit sich ihrer Zustände bewußt sind, so dürfen wir sagen, weil wir Seelen sind, so leben wir. Tatsächlich können wir nicht eins durch das andere erklären. Aber es scheint so, da beide Tatsachen aneinander haften, daß wir das eine erklärt haben, wenn wir das andere zu erklären vermöchten. Wüßten wir genau, wie alle Wechselwirkungen zwischen der Welt und unseren Organen und dem Gehirn vor sich gingen, so wäre uns – vielleicht – geholfen. Nun wissen wir das aber nicht. Dagegen scheint es dem naiven Bewußtsein ganz selbstverständlich, daß wir wissen, was in uns selber als beseelten Wesen vor sich geht. Und das ist ja auch gewiß, daß wir uns als lebendige Wesen in Wechselwirkung mit unserer Umgebung fühlen. Daher ist denn in der Geschichte des Denkens der Versuch, die Wechselwirkung der Körper zu begreifen, nicht von der mechanischen Bewegung, sondern von der Seele ausgegangen. So lange wir eine Seele haben, leben wir und bewegen uns: also wird auch das ganze Universum, da es sich bewegt, leben und eine Seele haben.

Heute erscheint uns dieser Schluß sehr fraglich. Durch die Entwickelung der Naturwissenschaft haben wir eben die Wechselwirkung der Körper als eine besondere Realität kennen gelernt, die in dem Gesetze notwendigen Geschehens begründet ist, während die Erscheinungen des Bewußtseins vom Gefühl der Freiheit begleitet sind. Deswegen sträuben wir uns gegen die Annahme der Weltbeseelung, welche die Natur gesetzlos zu machen droht; zum mindesten ist sie für das Naturerkennen überflüssig. Aber im Beginn der Naturerkenntnis, als Platon den Begriff der Weltseele für die Wechselwirkung der Körper in Anspruch nahm, lag die Sache nicht so. Damals waren die Begriffe Bewegung und Bewußtsein, körperlich und seelisch noch keineswegs in strenger Weise geschieden. Alles Geistige wurde zugleich körperlich gedacht, und so konnte auch die Veränderung des Körperlichen aus seelischen Vorgängen erklärt werden.

Es ist eine volkstümliche Ansicht, welche die wissenschaftliche Betrachtung der griechischen Philosophen schon vorfand und in ihre Weltauffassung mit aufnahm, daß die Seele, insofern sie Leben und Bewußtsein bedingt, ein Stoff sei, der Ausdehnung im Räume besitzt. Das Wort für Seele – Psyche – Anima – bedeutet den Atem, den Lebenshauch. Er ist das Zeichen des Lebens: wir hauchen die Seele aus. Mit dem Atem beginnt und verschwindet das Leben. Und der Atem ist warm; hören wir auf zu atmen und zu leben, so werden wir kalt und starr. Darum gilt die Seele zugleich als Lebenswärme. So wird denn auch die Weltseele als ein seiner Stoff gedacht, der das Universum erfüllt, die Wärme desselben bedingt und das Ganze in Bewegung erhält. Diesen Gedanken hat Heraklit, genannt der dunkle Philosoph, bereits ein Jahrhundert, bevor Platon wirkte, zur Grundlage seiner Welterklärung gemacht. Durch Verschmelzung mit der platonischen Lehre von der mathematischen Wirkungsweise der Weltseele ist daraus eine Vorstellung entstanden, die noch heute der modernen Naturwissenschaft unentbehrlich ist, nämlich nichts Geringeres als der Begriff vom Weltäther.

Wie Platon durch die ewige Geltung des mathematischen Gesetzes der Naturwissenschaft ihr Fundament gab, so lieferte Heraklit ihr eine Anschauung, die ihr den Zusammenhang mit dem bunten Wechsel der sinnlichen Erscheinung zu erhalten vermochte. Denn wenn die platonische Idee die Realität für sich allein in Anspruch nahm, so mußte die sinnliche Empfindung schließlich als trügerischer Schein betrachtet werden, und dadurch verlor sich das Interesse für die Natur. Heraklit dagegen lehrte umgekehrt, daß gerade der unablässige Wechsel, daß die Veränderung selbst das eigentliche Wesen der Dinge sei; die Dinge vergehen; die Veränderung bleibt. Nach Platon ist auch die Veränderung Schein, es bleibt nur das Gesetz. Heute sagen wir: Das Gesetz der Veränderung ist es, wodurch die Natur bestimmt wird. Die Realität eines Zustandes sehen wir darin begründet, daß mit ihm zugleich der auf ihn folgende Zustand notwendig, d .h. durch ein Gesetz, bedingt ist. Wir nennen das Kausalität. Beleuchten wir einen bewegten Körper, etwa einen fallenden Tropfen, durch einen momentanen Lichtblitz, so scheint er zu ruhen: ob er ruht oder wirklich fällt, wird bestimmt durch die Folgen, die an diesen Zustand geknüpft sind, d. h. sein Zustand ist der der Ruhe oder der Bewegung, je nachdem sich seine Lage zu benachbarten Körpern im nächsten Zeitteil verändert; diese Veränderung ist entscheidend über die Natur eines gegebenen Zustandes. Der moderne Gedanke der Naturerklärung ist also, die Natur zu beschreiben als den gesetzlichen Zusammenhang zwischen den Veränderungen der Zustände. Der Wert, den Heraklit auf die Veränderung als das Wesen der Dinge legte, konnte daher wesentlich dazu beitragen, auf den Punkt hinzuweisen, an welchem die Naturwissenschaft den Hebel der Erkenntnis anzusetzen habe, den Platon im mathematischen Gesetze entdeckt hatte. Wenn es möglich wurde, das Gesetz der Veränderung mathematisch zu formulieren, so war damit der Eingang in die Naturwissenschaft gewonnen. Dieses Mittel bietet seit Leibnitz die Differenzialrechnung.

Doch was hat dies mit der Weltseele und dem Weltäther zu tun? Eben dies, daß das Suchen nach dem Gesetz der Wechselwirkung der Dinge im Universum darin bestand, die Vorstellungen von der Weltseele und dem Weltäther auszubilden, bald, indem man sie phantastisch in eins zusammenzog, bald, indem man die mechanische Wirkung im Äther von der zweckmäßigen der Seele zu trennen suchte.

»Die Welt hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird sein, ein ewig lebendes Feuer«, so lehrte Heraklit, und er wollte damit sagen, der Bestand der Welt beruht darauf, daß sie in fortwährendem Vergehen und Neuentstehen begriffen ist. Es gibt nichts Beharrendes, sondern »alles wird umgetauscht gegen Feuer, und Feuer gegen alles, wie Waren gegen Gold, und Gold gegen Waren.« Denn »Feuer« – damit meint er aber nicht bloß die Flamme, sondern die Wärme überhaupt – ist der Stoff, der alles umwandelt und aus dem alles wieder hervorgeht. Die Harmonie der Welt hat ihren Grund in der gegenseitigen Spannung der Gegensätze, wodurch eben alles, was ist, nur die Bedeutung eines Durchgangspunktes besitzt, während der in dieser Spannung bedingte Umtausch der Zustände in einander das wahrhaft Reale ist. Das Feuer, man könnte sagen der Äther, wie man im achtzehnten Jahrhundert der »Wärmestoff« sagte, ist der Träger dieser Umwandlungen. Wer denkt dabei nicht an die Energie und ihre Formen, die das Äquivalent der umzutauschenden Werte mißt, und deren gegenseitige Spannung den Eintritt des Geschehens bestimmt? Es ist in der Tat derselbe Gedanke, der bei Heraklit vorliegt, und was ihm zur modernen Auffassung fehlt, ist nur die Kenntnis des mathematischen Gesetzes, die quantitative Äquivalenzbeziehung und damit freilich das, was die Wissenschaft von der Dichtung unterscheidet.

Wäre dieser Gedanke Heraklits von den Schülern Platons so mit dessen Lehre verbunden worden, daß man die Auffindung des mathematischen Gesetzes der Veränderung als Ziel der Naturerklärung angestrebt hätte, so wäre vielleicht die Entwickelung der Naturwissenschaft in einer weniger verschlungenen Linie verlaufen. Aber der große Nachfolger des Platon, Aristoteles, schlug eine andere Richtung ein, er machte den Zweck zum Prinzip der Naturerklärung. Und Aristoteles, im Mittelalter der anerkannte Philosoph der Kirche, beherrschte die Wissenschaft der ganzen abendländischen Welt. Wir finden daher die Spuren von Heraklit und Platon nur in einer Reihe nebenhergehender Weltanschauungen, die erst dann von maßgebendem Einfluß wurden, als die neuen Entdeckungen der empirischen Forschung das aristotelische Weltsystem sprengten.

In dieser Hinsicht war die Lehre der Stoiker ganz besonders wirksam. Sie nahm den heraklitischen Gedanken auf und übermittelte ihn der Neuzeit in der Form, daß alle Veränderung eine stoffliche Grundlage besitze. Auch die Atomistik des Altertums, die namentlich durch Epikur neue Verbreitung fand, hätte den gleichen, für die Naturwissenschaft kaum entbehrlichen materialistischen Zug unterstützen können. Aber zwei Umstände machten sie für diese Vermittlerrolle weniger geeignet als die stoische Weltansicht. In physikalischer Hinsicht stand nämlich die Atomistik dem herrschenden System des Aristoteles, der die Teilbarkeit der Materie ins Unendliche lehrte, viel schroffer gegenüber als die Lehre der Stoiker, die als Gegner der Atomistik in diesem Punkte wenigstens mit Aristoteles übereinstimmten. Galt doch die aus der stoischen Schule hervorgegangene Schrift »über den Kosmos« durchweg als eine echte Schrift des Aristoteles. Dazu kam zweitens, daß Epikur seiner Moral wegen als ein höchst verwerflicher Philosoph galt, während die strenge Tugendlehre der Stoiker bei der christlichen Welt größeres Vertrauen zu erwecken imstande war.

Die Stoiker sind in der Physik konsequente Materialisten. Für sie gibt es nichts anderes, das wirklich ist, als das Körperliche; denn wirklich sei nur das, was wirkt oder leidet, und das kann ihrer Ansicht nach nur der Körper. Daher ist sowohl die Seele als selbst die Gottheit ein Körper, und auch alle Eigenschaften der Körper haben eine materielle Grundlage; sie gelten als körperliche Ausströmungen der Dinge. Das Zusammenwirken dieser Eigenschaften, das sie sich als eine gegenseitige Durchdringung der Körper mit ihren Ausströmungen vorstellen, denken sie sich nun vermittelt durch einen die ganze Welt durchsetzenden Lebenshauch, das »Pneuma«. Es ist dies eine warme luftartige Substanz, ein feuriger Dunst, daraus alle Dinge hervorgegangen sind, und in das sie sich einst in einem ungeheuren Weltbrande wieder auflösen werden, um diesen Prozeß bis ins Unendliche zu wiederholen. Dieser Weltäther also ist die Urkraft; aber da durch sie die gesamte Welteinrichtung zweckmäßig geordnet ist, so muß sie auch zugleich die Weltseele, die Gottheit selbst sein. Als Vernunft und als Verhängnis enthält so der Weltäther das gemeinsame Gesetz für alles Geschehen. Durch Verdichtung und Verdünnung erzeugt er die Elemente und gibt den Dingen die Spannung, den »Tonos«, die innere Intensität ihres Wesens, Lebens und Beseelung.

Als im sogenannten Neuplatonismus, vornehmlich durch Plotinus im dritten Jahrhundert nach Christus, die Lehren Platons neues Leben gewannen, wurde nun auch die Theorie der Weltseele weiter ausgebildet. Bei Plotin beruht das ganze Dasein der Körperwelt überhaupt auf der Weltseele, die allein den Körpern die Teilnahme an der Idee, d.h. an der unendlichen Weltvernunft, und damit an der Existenz und dem Leben verleihen kann. Nicht die Seele tritt in den Körper ein, sondern sie erfüllt Universum als ein Ganzes, ohne Quantität, ohne Masse, und sie läßt den Körper in sich eintreten. Ihre Selbstbewegung ist die Zeit, und indem der Körper in die Weltseele eintritt, erhält er erst Existenz in der Zeit, er entsteht als sinnlich wahrnehmbares Wesen; sie gibt ihm das Gesetz (Logos) seines Seins in der Erfahrungswelt. Die sinnliche Erscheinungswelt hat also ihren gesetzlichen Zusammenhang in der Wechselwirkung, die als Weltseele das Leben des Universums bedingt.

Will man diese Verbindung und Wechselwirkung der Körper im Interesse der Naturerkenntnis verwerten, so liegt es nahe, nach einer Veranschaulichung zu suchen, und dadurch wird man sich wieder der stofflichen Auffassung der Weltseele als Weltäther nähern. Diese Veranschaulichung findet sich schon in der neuplatonischen Schule selbst. Platon hatte ja bereits gelehrt, daß die Weltseele zwischen den Ideen und den sinnlichen Dingen, entsprechend dem geometrischen Gesetz, vermittle. Dieses Gesetz ist der Raum. Bei den Stoikern erfüllt die Weltseele den Raum. Nun wird der Raum mit der Weltseele selbst für identisch erklärt. Bei Proklus, im fünften Jahrhundert nach Christus, wird der Raum als ein körperliches und beseeltes Wesen betrachtet, das aus dem feinsten Lichte besteht. Das Licht zeigt ein Beispiel der gegenseitigen Durchdringlichkeit von Körpern; so scheint es begreiflich, wie die Weltseele die Körper in sich aufnehmen kann; als lichterfüllter Raum enthält sie die Materie; als lebendige Seele bewegt sie diese; als Gesetz der Wechselwirkung gestaltet sich die Materie zur Ordnung der sinnlichen Dinge. In jedem Zustand ist bereits durch das Wesen der Weltseele der folgende Zustand angelegt, die Tendenz zur Veränderung ist das Wirkliche, was den Dingen als Weltseele innewohnt. Wer nur wüßte, wie diese Tendenz im einzelnen Falle beschaffen ist! Was muß hier an dieser Stelle geschehen, in diesem, Samenkorn, damit es aufgeht, in diesem Fieberkranken? damit er gesundet, in dieser Schmelzmasse, damit sie sich in lauteres Gold verwandelt?

Wer das wüßte, der wäre der Herr der Natur, der große Magus, der die Dinge verwandeln könnte, nicht als ein Zauberer, sondern als ein Wissender ihrer Gesetze. Jeder Zustand ist eine reale und gesetzliche Bedingung der folgenden Zustände; alle Körper stehen durch die räumlich-seelische Kraft des Weltäthers in Wechselwirkung: dieser allgemeine Gedanke ist als Bedingung einer Naturwissenschaft und Naturbeherrschung vom Altertum der Neuzeit überliefert. Aber die Vorstellung ist zu unbestimmt; daher bleibt sie phantastisch. Die Wissenschaft verlangt die Kenntnis des einzelnen, isolierten Vorgangs, die Kenntnis des quantitativen Gesetzes zur Berechnung dessen, was wirklich eintreten muß.

Wir überspringen das Jahrtausend, dessen geistiges Leben fast durchaus vom kirchlichen Interesse erfüllt ist. Das sechzehnte Jahrhundert ist angebrochen, die großen Umwälzungen der Kulturgeschichte haben begonnen. Die Gedanken sind in ihrer Verbreitung nicht mehr beschränkt auf die handschriftliche Vervielfältigung; die Erde ist umsegelt, ihre Kugel steht nicht mehr im Mittelpunkte der Welt, und es gibt Länder, in welchen der Bannstrahl des Papsttums die neue Auffassung der Dinge nicht mehr erreicht. Die Wissenschaft kann aus ihrem Schlummer erwachen. Aber eine Naturerkenntnis gibt es noch nicht. Die Wechselwirkung der Körper ist noch nicht mathematisch gefesselt, die Weltseele feiert zunächst ihre Auferstehung als Spiritus mundi.

Im ganzen sechzehnten Jahrhundert stellt man sich die Körperwelt als belebt vor, und diese Weltseele ist zugleich körperlicher Natur, ein Weltgeist, Spiritus, und ein Element, das den andern übergeordnet ist. Die Auffassung stimmte insoweit mit Aristoteles, als auch er eine allgemeine Lebenswärme, einen Weltäther, als fünftes Element zugelassen hatte. Diese »quinta essentia« die Quintessenz der Alchymisten, hat jetzt durch die Verschmelzung mit den stoischen und neuplatonischen Vorstellungen die Bedeutung des Prinzips aller Wechselwirkung gewonnen. Wer sie herzustellen vermag, der beherrscht die Umwandlung der Dinge; sie ist der eigentliche Stein der Weisen. Agrippa von Nettesheim († 1535) erzählt, er habe den Spiritus mundi selbst aus Gold gezogen, aber nicht mehr Gold daraus machen können, als das Gewicht des Goldes betrug, aus welchem die Quintessenz extrahiert wurde. Denn als ausgedehnte Größe kann sie nicht über ihr eigenes Maß hinaus wirksam sein.

Dieser Versuch ist indessen bereits kennzeichnend für den jetzt erfolgenden Übergang von der Weltseele zu quantitativen Gesetzen. Agrippa mißt die Menge des aufgelösten und des aus der Lösung wieder niedergeschlagenen Goldes, und er bemerkt die Äquivalenz; die Weltseele ist hier eine extensive, mit der Wage bestimmbare Größe. Mag auch immer noch das physische Geschehen als Tätigkeit eines in den Elementen wirksamen Lebensgeistes aufgefaßt werden, dieser Lebensgeist hat doch die Vertrauen erweckende Eigenschaft, Gewicht und Ausdehnung zu besitzen. Er ist nicht mehr der phantastische Kobold, der nur der dunkeln Verschwörungsformel gehorcht, sondern es ist Hoffnung, daß ein durchsichtiges Gesetz seine Umwandlung bestimmt. Siegreich drängt sich dem Bewußtsein der Zeit die klare Überzeugung auf: Wohl mag die Natur ein Reich der Geister sein, aber diese Geister sind nichts anderes als die Gesetze, nach denen die Körper aufeinander wirken; es gibt keine Willkür im Naturgeschehen; die Natur ist erkennbar.

Es war das große Verdienst des berühmten Arztes Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, daß er die Auffassung der Natur als einen gesetzlichen Umwandlungsprozeß zur Geltung brachte. Zwar beruht auch nach ihm die Wirksamkeit der Elemente auf den in ihnen befindlichen »Archei« oder Lebensgeistern. In jedem Elemente steckt ein »Fabrikator«, ein Arbeiter, der für uns durch den Befehl Gottes sorgt Tag und Nacht. Aber dieser Archeus soll die Gesetzmäßigkeit der Welt nicht aufheben, sondern gerade begründen. Die Archei sind nach Ansicht des Paracelsus nicht persönliche Geister, sondern Naturkräfte, die schaffenden Prinzipien oder wirkenden Kräfte in den Dingen, sie wirken nur als stoffliche Elemente. Das Sein der Dinge ist ihr Wirken. Das Leben des Wassers ist seine Flüssigkeit, das des Feuers seine Flüchtigkeit, die wesentlichen Eigenschaften der Dinge sind das, was ihr Leben ausmacht. So wird bei Paracelsus das Leben zum chemischen Prozeß, und damit bereitet er den Übergang zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis durch Maß und Zahl vor. An Stelle der Elemente des Aristoteles, die durch die sinnlichen Eigenschaften »Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit« definiert waren und sich somit jeder exakten Bestimmung entzogen, setzt er die unzerlegbaren Grundsubstanzen, auf welche die chemische Analyse führt. Diese kann die experimentelle Untersuchung mit Hilfe der Wage ermitteln; und so zeigt sich doch wenigstens ein Punkt, wo die Erfahrung, durch eigenes Zusehen und Probieren sich der Natur zu. bemächtigen vermag.

Immer aber waren diese Prozesse noch zu kompliziert, als daß die damaligen Mittel der Erkenntnis einen tiefer greifenden Erfolg hätten erzielen können. Es mußten einfachere Probleme gefunden werden, um aus der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erfahrung Ereignisse herauszulösen, die eine mathematische Darstellung gestatteten. Dies waren die Aufgaben, welche Astronomie und Mechanik darboten; Kepler und Galilei brachten die Lösung.

Kepler bietet in seinem eigenen Entwicklungsgange ein höchst interessantes Beispiel, wie sich im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts der Umschwung von der Seelentheorie zur mechanischen Auffassung gestaltet. Wir können in Keplers Werken literarisch die Umwandlung der Weltseele in die mechanisch vermittelte Wechselwirkung anziehender Kräfte deutlich verfolgen. Es handelt sich um die Bewegung der Planeten.

In der ersten Ausgabe seines Werkes »Mysterium Cosmographicum« (1596) nimmt Kepler noch an, daß die Planeten durch Seelen bewegt werden, die entweder in ihnen selbst oder in der Sonne ihren Sitz haben. Da sich die entfernteren Planeten langsamer bewegen, so meint er, daß entweder die bewegenden Seelen der Planeten um so schwächer sein müssen, je weiter sie von der Sonne entfernt sind, oder daß es eine bewegende Sonne geben müsse, welche die näheren Planeten kräftiger anregt. Auch in den »Paralipomena ad Vitellionem« (1604) schreibt er der Sonne noch eine Seele zu. In der Schrift über den Planeten Mars dagegen, die unter dem Titel »Astronomia nova« 1609 erschien und die beiden ersten der berühmten nach ihm genannten Gesetze enthält, bestreitet er ausdrücklich, daß es bewegende Seelen der Planeten gäbe. Er faßt seine Gesetze als physische auf, die Bewegung als beruhend auf einer körperlich vermittelten Anziehung, als eine reine Wechselwirkung. Schon in einem Briefe an Fabricius im Jahre 1605 hatte er die irdische Schwere, die den geworfenen Stein herabfallen läßt, als eine Kraft betrachtet, die wie der Magnet Ähnliches zusammenzieht; nun überträgt er diese Vorstellung auch auf kosmische Verhältnisse. Die Anziehung ist eine gegenseitige zwischen allen Körpern. Wenn zwei Steine sich irgendwo ohne äußere Beeinflussung befänden, würden sie sich ähnlich wie zwei magnetische Körper einander nähern. Dies gelte ebenso von den Planeten und der Erde in Bezug auf die zu ihnen gehörigen Körper wie auch in Bezug auf den Mond, und wechselseitig von diesem auf die Erde, deren Wasser er erhebt; ja es gelte auch für die Sonne in bezug auf die Erde.

Die Ursache der langsameren Bewegung der Planeten sucht Kepler jetzt in ihrer Trägheit, und in der zweiten Ausgabe des »Mysterium Cosmographicum« macht er endlich folgenden höchst belehrenden Zusatz:

»Wenn man für das Wort »Seele« das Wort »Kraft« einsetzt, so hat man das eigentliche Prinzip, worauf die Physik des Himmels in der Abhandlung über den Mars begründet und im 4. Buche der Epitome Astronomiae ausgebaut ist. Ehemals glaubte ich, daß die bewegende Ursache der Planeten durchaus eine Seele sei, da ich nämlich vollgesogen war von den Lehren J. C. Scaligers über die bewegenden Intelligenzen. Aber als ich erwog, daß diese bewegende Ursache mit der Entfernung sich abschwäche, daß auch das Licht der Sonne mit der Entfernung von derselben sich verringere, so schloß ich daraus, daß diese Kraft etwas Körperliches sei, wenn nicht im eigentlichen, so doch wenigstens im übertragenen Sinne.«

Was könnte bezeichnender sein für die Vertreibung der Weltseele durch das Gesetz der Mechanik als dieses Selbstbekenntnis Keplers? Die Berücksichtigung der quantitativen Verhältnisse fordert eine Erklärung der Naturerscheinungen, die sich aus den tatsächlichen Messungen bestätigen laßt.; eine solche kann die Seelentheorie nicht gewähren. Die Astronomie will von nun ab nach Prinzipien der Mechanik behandelt sein. Und diese bot ihr Galilei dar. In derselben Zeit, in welcher Kepler sich für die mechanische Erklärung der Planetenbewegung entschied, entdeckte Galilei die Grundgesetze der Bewegung.

In Galilei ist die Auffassung überwunden, daß die Wechselwirkung der Körper in einer Betätigung der Weltseele bestehe. Die Bewegung gilt ihm als ein Vorgang, dessen Realität eine Gesetzlichkeit besonderer Art darstellt, die sich mathematisch ausdrücken läßt. Wenn ein Körper in Bewegung ist, so geschieht dies nicht weil ein Lebensgeist in ihm steckt und die Bewegung erhält, verzögert oder beschleunigt, sondern die Bewegung ist selbst eine intensive Größe, sie ist bestimmbar als Wirkungsfähigkeit des bewegten Körpers. Wie diese Erhaltung, Veränderung und Zusammensetzung der Bewegungen meßbar sind, das lehrte Galilei; damit schuf er die neue Wissenschaft, die Mechanik, und damit vertrieb er die Seelenkräfte aus der Materie, indem er eben die neue Realität der Wirkungsfähigkeit der Materie als das Prinzip der Wechselwirkung einführte, woraus der Begriff der Energie sich entwickelt hat. Galileis Weltanschauung ist daher durchaus mechanisch. Die Dinge und ihre Eigenschaften beruhen ganz allein auf der Verteilung der Materie im Räume und ihrer Bewegung, d.h. auf der Wechselwirkung der bewegten Materie mit unserm eigenen Körper. Hiermit ist der Übergang von der organisch-beseelten Körperwelt zur mechanischen Naturauffassung vollzogen. Die Natur hat ihre eigenen Gesetze, und wir erkennen sie.

Diese Grundlage der modernen mathematischen Naturwissenschaft gewinnt ihren vollständigen Sieg im weiteren Verlaufe des siebzehnten Jahrhunderts. Bewegung ist der Inhalt der Wirklichkeit. Aber wir sehen Wirkung auftreten auch dort, wo sinnlich keine Bewegung wahrnehmbar ist, durch den scheinbar leeren Raum hindurch und zwischen den unsichtbaren Teilchen der Körper. Die Weltseele hat ihre bewegende Kraft eingebüßt, die Bewegung jedoch bedarf eines Trägers, der zwischen den Körpern ihre Mitteilung ermöglicht. Somit wird die Weltseele zum Weltäther. Sie verliert ihre psychische Qualität, behält aber die physische Eigenschaft der Ausdehnung und Raumerfüllung. Noch immer stellt sie den feinsten aller Stoffe dar, der aus den kleinsten, mit der größten Geschwindigkeit sich bewegenden Teilchen besteht. Aber sie ist nur noch Stoff, der von Anfang an, von der Weltschöpfung her mit bestimmten Bewegungen begabt ist, und diese nun nicht mehr nach Maßgabe von Lebensgeistern, sondern lediglich nach mechanischen Gesetzen im Räume von Körper zu Körper überträgt.

Auch dieser Begriff des Weltäthers hatte seine Quelle in der griechischen Philosophie und zwar in der Atomistik Demokrits, die, wie schon erwähnt, durch Epikur aufgenommen worden war. Die antike Atomistik bietet eine durchaus mechanische Welterklärung dar. Es gibt nichts als die im leeren Räume nach Gesetzen der Bewegung durch einander wirbelnden und von einander abprallenden Atome. Alles Werden und Vergehen besteht in dem Zusammenfluß und der Trennung dieser Teilchen; die Wechselwirkung zwischen den Dingen ist also durchaus stofflich, sie besteht in den gegenseitigen Aus- und Einströmungen der Atome.

Die mechanische Weltauffassung der Atomistik hatte jedoch gegenüber dem System des Aristoteles nicht aufkommen können. Auch diejenigen, welche die anschauliche atomistische Vorstellung der Materie wohl als vorteilhaft erkannten, konnten sie doch nicht anders zur Naturerklärung verwerten, als indem sie die Wechselwirkung der Atome sich durch eine geistige Kraft, eine Weltseele vermittelt dachten. Denn wie sollten sonst die Atome sich durch den leeren Raum hindurch beeinflussen? Diese Schwierigkeit trug mit zu der früher erwähnten Vorstellung bei, sich den Raum als Weltseele zu denken. Sobald nun aber die Weltseele durch das mechanische Gesetz verdrängt wurde, sobald die Bewegung der Körper als eine selbständige Form des Seins sich auffassen ließ, konnte die atomistische Struktur der Materie wieder zur Naturerklärung benutzt werden. Und die großen Vorteile dieser Theorie zeigten sich dann sofort. Die Atomistik wurde unter dem Namen der Korpuskulartheorie die herrschende Erklärungsform der Natur im siebzehnten Jahrhundert. Und sie ist es bekanntlich, im großen und ganzen bis heute geblieben. Im siebzehnten Jahrhundert waren es die Philosophen Descartes, Gassendi und Hobbes und die Physiker Boyle, Guericke und Borelli nebst vielen anderen, die der Atomistik zum Siege verhalfen. Ihre wissenschaftliche Vollendung jedoch erhielt sie durch Christian Huygens, gestorben am 8. Juli 1695; er gründete die Gesetze der Atombewegung auf Prinzipien der Mechanik, indem er als Grundgesetze aller Wechselwirkung in der Bewegung der Atome die Erhaltung der Summe der Energie aufstellte. Damit beseitigte er die Einwände, welche gegen die Atomistik auf Grund der Eigenschaften der Atome gemacht zu werden pflegen, weil man sich diese weder starr noch elastisch denken könne. Denn im ersteren Falle könnten sie beim Stoße nicht ihre Bewegung zurückerhalten, im letzteren Falle müßten sie aus verschiebbaren Teilchen bestehen. Merkwürdigerweise kann man diesen Einwurf auch heute noch überall hören. Aber auf die Beschaffenheit der Atome kommt es gar nicht an. Ob die Atome starre Körperchen sind, ob sie sich stoßen, oder nicht, das sind Fragen der Veranschaulichung, die die mathematische Konstruktion der Erscheinungen nichts angehen. Wissenschaftlich kommt es nur darauf an, daß die tatsächlichen Bewegungen im mathematischen Gesetze beschrieben sind, d.h. daß man aus der gegebenen Lage und Bewegung der Teilchen die Lage und Bewegung im nächsten Zeitabschnitt berechnen kann. Einen solchen gesetzlichen Ausdruck hat Huygens für die kinetische Theorie der Materie geliefert, wie ihn Newton in seinen berühmten Fernkräften für die dynamische schuf.

Alle diese atomistischen Theorien der Materie bedurften nun eines Weltäthers zur Vermittelung der Bewegungen, insbesondere zur Erklärung der Schwere und der kosmischen Bewegungen. Da gibt es zahllose Hypothesen, bald höchst scharfsinnig, bald wunderlich, bald konsequent, bald ganz phantastisch. Hier will ich nur von Huygens erwähnen, daß er zur Erklärung der wesentlichen Naturerscheinungen mehrere Arten von seinen Materien oder Äthern aufstellte, von denen sich bis jetzt nur die eine ihren siegreichen Platz in der Wissenschaft für die Dauer errungen hat und als der Weltäther schlechthin bezeichnet wird; es ist das Huygens' Lichtäther.

Neben andern unsterblichen Verdiensten um die theoretische wie technische Mechanik – allgemein bekannt ist die Erfindung der Pendeluhr – knüpft sich an den Namen Huygens vor allem die Wellentheorie des Lichts. Indem er annahm, daß der Lichtäther mit seinen Atomen überall zwischen den Poren der wägbaren Körper und im Raum überhaupt sich befände, zeigte er, wie durch Erregung und Fortpflanzung von Schwingungen sich die wesentlichsten bekannten Eigenschaften des Lichts, Reflexion, Brechung, Doppelbrechung erklären ließen. Mit einigen Modifikationen ist diese Hypothese bekanntlich noch immer die Grundlage der mechanischen Theorie des Lichts.

Während in der Theorie des Lichts die Nachwelt den Gedanken Huygens' gegenüber Newtons Emissionstheorie Recht gegeben hat, war er weniger glücklich, obwohl nicht weniger scharfsinnig, in zwei andern Hypothesen, die dazu dienen sollten, einerseits die Gravitation, andrerseits die Kohäsion zu begreifen. Beide Erscheinungen erklärte er ebenfalls durch Stoß oder Druck der Ätheratome. Anfänglich nahm er als Ursache für die Schwere, welche die Körper zur Erde fallen laßt, ein besonderes Gravitationsfluidum an, dessen Teilchen in allen möglichen Richtungen die Erde umkreisen und die Körper gegen das Zentrum drücken. Nachdem Newton die Identität der irdischen Schwere mit der Kraft, welche die Himmelskörper in ihren Bahnen bewegt, nachgewiesen hatte, dehnte Huygens seinen Gravitationsäther durch das ganze Sonnensystem aus, wobei er jedoch zur Erklärung der Abnahme der Gravitation mit dem Quadrate der Entfernung seine Hypothese ungünstig komplizieren mußte. Er ließ es dann unbestimmt, ob nicht das Gravitationsfluidum mit dem Lichtäther identisch sei. Einen besonderen Äther – wobei sich die verschiedenen Äther immer nur durch die Größe und Bewegung ihrer Teilchen unterschieden – mußte er jedoch zur Erklärung der Kohäsion annehmen, derjenigen Kraft, welche die kleinsten Teile der Körper in ganz anderer Weise verbindet, als es durch die Schwerkraft allein möglich ist. Leider war es ihm nicht vergönnt, die Theorie der Kohäsion so weit durchzuführen, als er es für das Licht und die Schwere ermöglicht hatte. Im Briefwechsel mit Leibniz erwähnt er außer dem Druck des Äthers noch »einen andern Umstand«, den er zur Erklärung der Kohäsion verwenden wolle; aber er hat auf die Anfrage seitens Leibniz nicht mehr angegeben, worin dieser andere Umstand bestehe; es blieb ihm keine Zeit zur weiteren Ausbildung seiner Theorie, da ihn der Tod inzwischen abberief (1695). Wir können nicht ermitteln, was Huygens speziell im Auge gehabt hat.

So groß dieser Verlust für die Wissenschaft sein mag, jedenfalls bleibt für Huygens das Verdienst, die mechanisch-atomistische Theorie der Natur auf den Höhepunkt geführt zu haben, den sie nach dem Standpunkt der Mathematik am Ende des 17. Jahrhunderts, überhaupt erreichen konnte. Und das Wort, das sein großer Gegner Leibniz an ihn richtete, wird bestehen bleiben: »Von allen, welche jemals die Atome als Behauptung aufrecht erhalten haben, hat, wie ich glaube, es niemand mit größerer Kenntnis der Ursachen getan, und mehr zur Beleuchtung der Sache beigetragen, als Sie, mein Herr.«

Huygens war der Vollender der Galileischen Gedankenwelt. Galilei hatte die Bewegung des einzelnen Punktes auf Gesetze gegründet und dadurch von der Weltseele emanzipiert. Huygens übertrug diese Emanzipation auf das gleichzeitige Zusammenwirken von Körpern, wie sie z. B. im physischen Pendel, im Stoß der Körper, in der Übertragung der Geschwindigkeiten zwischen Äther- und Körperatomen vorliegt. Anstatt durch die Weltseele wurde die Anpassung der gegenseitigen Bewegungen nunmehr durch Prinzipien der Mechanik bestimmt. Ausreichende Grundgesetze waren aufgestellt, um die Natur als Mechanismus zu definieren, und im Weltäther war das Mittel gefunden, auf mechanische Weise die Wechselwirkung durch den unendlichen Raum zu verbreiten. Wenn später die Fortschritte in der Erforschung der Erfahrungstatsachen zur Energetik, zur elektromagnetischen Lichttheorie und zur Elektronentheorie geführt haben, so beruhen doch auch diese erkenntniskritisch auf denselben Denkmitteln wie die sog. klassische Mechanik, darauf nämlich, daß die Zustände der einzelnen Raumteile und ihre Veränderungen durch Gleichungen zwischen mathematischen Größen gesetzlich zu definieren sind.

Die Weltseele hatte ihre historische Schuldigkeit getan; sie konnte gehen.


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