Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVII.

Religion und Gefühl

Ist Religion der Menschheit entbehrlich? Diese Frage beantwortete ich mit einem entschiedenen »Nein«. Niemals, solange es Menschen als fühlende Wesen gibt, kann Religion aufhören, weil sie auf einer unentbehrlichen Gefühlsbeziehung des Menschen zu seiner Existenzbedingung beruht. Es kann Zeiten geben, in denen diese Gefühlsbeziehung durch andere Kulturinteressen in den Hintergrund gedrängt wird, aber früher oder später wird sie immer wieder ihren bewußten Ausdruck finden. Um dies zu begründen, müssen wir uns zunächst darüber erklären, was wir unter Religion verstehen. Was ist das Eigentümliche, wodurch das religiöse Bewußtsein sich von allem andern, was den Menschen bewegt, so wesentlich unterscheidet, daß der Gegenstand der Religion mit der höchsten und unantastbaren Majestät die Gemüter gefangen nimmt? Sicherlich muß es sich hier um eine Macht handeln, die das innerste und allgemeinste Lebensinteresse der Menschheit trifft.

Scheiden wir von der Religion das dogmatische Gewand, in welches sie durch die Überlieferung gekleidet zu sein pflegt, so bleibt als Kern der Religion ein Gefühl. Nur weil sie Gefühl ist, vermag sie jene volle Gewalt über alle Betätigungen des menschlichen Bewußtseins auszuüben, die wir an ihr erkennen. Gefühl nennen wir die Tatsache, in der uns zum Bewußtsein kommt, daß ein gewisser Teil des Weltinhalts durch seinen absoluten Wert sich von allem andern unterscheidet, indem wir ihn als jene Einheit erleben, die wir unser Ich nennen. Das Gefühl gibt unsern Erfahrungen ihren Wert dadurch, daß sie unsere Erfahrungen sind, d. h. diesem Einzel-Ich angehören. Wodurch unterscheidet sich nun das religiöse Gefühl von den übrigen Arten des Gefühls?

Wir werden nicht fehl gehen, wenn wir die Religion dort suchen, wo die umfassendsten Bedingungen unserer Existenz zusammentreffen, die beiden Realitäten, die als objektive Formen der Gesetzlichkeit das Dasein der Menschheit bedingen. Diese sind das Naturgesetz und das Sittengesetz; oder mit andern Worten: Notwendigkeit und Freiheit, die Bestimmung durch das Denken und die Bestimmung durch das Wollen, das theoretische und das ethische Bewußtsein. Unter diesen beiden Mächten steht das Leben des Menschen. Ein endliches Einzelwesen in Raum und Zeit kann er sich selbst nicht anders denken als dem Zwange des Naturgesetzes unterworfen, und doch fordert der Imperativ des Sittengesetzes von ihm die Verwirklichung des Guten durch seine freie Tat. Ob diese beiden Bedingungen vereinbar sind? Gleichviel wie die Antwort ausfalle, oder ob sie überhaupt möglich ist, der Widerstreit zwischen Denken und Wollen wird von uns erlebt und uns im Gefühle bewußt. Und für das Gefühl ist es unerträglich, daß etwa durch den Zwang der Natur die Forderung des Sittengesetzes unerfüllbar sei. Was uns der Verstand nicht erweisen, der Wille nicht gewähren kann, die Sicherheit, daß das Bemühen unseres endlichen Ich in der Erfüllung seiner sittlichen Aufgabe nicht scheitere an den übergeordneten Mächten des Weltgeschehens, das nehmen wir im Gefühle voraus, in dem Gefühle der Gewißheit, daß unser Ich jenen Mächten nicht hilflos überliefert ist. Wir glauben, daß unser Ich mit der Gesamtheit des Weltgeschehens in einem Zusammenhange stehe, durch den es als ein Selbstzweck in diesem Zusammenhange enthalten ist, und somit nicht verloren sein kann in seiner sittlichen Arbeit. In diesem Glauben, in der inneren Gewißheit, daß die objektiven Gesetzlichkeiten bei Natur und der Sittlichkeit durch eine unendliche Macht mit der Bestimmung unseres eigenen Ich so verbunden sind, daß sie diesem zum Heile gereichen müssen, und in der hieraus entspringenden Gesinnung besteht die Religion. Ich möchte versuchen, die Erklärung kurz zu formulieren, wie folgt.

Religion ist das Gefühl des Vertrauens auf eine unendliche Macht, die meinen eigenen heiligsten Idealen entspricht. Dies ist zunächst nur der nüchterne Ausdruck für eine Überzeugung, welche die mannigfaltigsten Formen annehmen kann, indem sie mein Verhalten zu dieser Macht bestimmt. Sie legt meinem Gewissen Verpflichtungen auf, aber als eine Tatsache des Gefühls verklärt sie diese mit den wärmsten Regungen des Menschenherzens; sie stellt mich einer unendlichen Macht gegenüber, aber diese Macht ist mir nicht fremd und feindlich, sondern ein unendliches Gut, weil sie meine höchsten Ideale realisiert, und indem ich mich an jene Macht in meinem innersten Sein gebunden fühle, erfüllen mich je nach den Bedürfnissen des Gemüts Scheu, Ehrfurcht, Demut, Liebe, Zuversicht, Trost und Hoffnung.

Absichtlich habe ich bei der Bezeichnung jenes Kerns der Religion den Namen »Gott« vermieden, der mir persönlich dies alles in einem Worte sagt. Aber da ja im Grunde alle Streitigkeiten über Religion aus der verschiedenen Auffassung des Wortes »Gott« stammen, so kam es darauf an, einen gänzlich neutralen Ausdruck zu wählen, der jedoch alle allgemeinen Merkmale einer entwickelten Religion umfaßt. Mit Benutzung des Namens »Gott« hat Luther in seinem »Großen Katechismus« (1529) sowohl das Gefühl des Vertrauens wie das Merkmal der eigenen Gesinnung (der »Ideale«) zu vollendetem Ausdrucke gebracht, indem er sagt:

»Ein Gott heisset das, dazu man sich versehen soll alles Guten, und Zuflucht haben in allen Nöthen; also, daß einen Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Glauben des Herzens macht beide, Gott und Abgott. Ist der Glaube oder Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und wiederum wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich), dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.«

Hierdurch ist zunächst der individuellen Gestaltung des Gottesbegriffs freier Spielraum gelassen; es ist nur gefordert, daß jene Macht eine unendliche und eine ideale sei. Damit ist natürlich nicht gemeint, daß sie nur in meiner subjektiven Einbildung bestehe, etwa wie eine ideale Landschaft; sondern das Vertrauen auf die Macht setzt ihre Realität voraus. Es gibt eine solche Macht von absoluter Realität, das ist für den religiösen Menschen zweifellose Gewißheit. Das Wort »ideal« bezeichnet nur ihre Eigenschaften, an welche wir eben dann allein glauben können, wenn sie dem entsprechen, was unserm Herzen das Heiligste ist; es ist damit die Freiheit unserer Vorstellungen von Gott garantiert, ohne welche er uns fremd und erzwungen bleiben würde.

Und wenn jemand gegen diese Fassung einwenden wollte, dann würde ja jene unendliche Macht ganz unbestimmt werden, da die Ideale der Menschen sehr verschieden seien, so ist darauf zweierlei zu erwidern.

Erstens liegt es in der Tat im Wesen des Unendlichen, daß es durch keine endliche Bestimmung erschöpft werden kann. Dies ist eben die unendliche Macht, die unbegreifliche Größe Gottes, daß er für jeden das ist, was dieser von ihm zu fassen vermag, und dabei doch alles und eines bleibt. Und hierin wurzelt die Freiheit des Glaubens, wodurch allein Religion von jedermann aufgenommen und verstanden werden kann, so daß sie ein einigendes Band für alle Menschen zu sein vermag, wie sich diese auch durch Nationalität, Charakter, Bildung und Gewohnheit unterscheiden mögen. Nur dies, daß wir an eine Realität glauben, die allen Wandel der menschlichen Ideale umfaßt, ist der Sinn des Spruches: »Wir glauben all an einen Gott«. Und auch diejenigen, welche dieser Realität den Namen Gottes versagen, können doch an sie glauben.

Zweitens handelt es sich bei jenen Idealen selbstverständlich nicht um willkürliche Phantasiebilder, etwa um sinnliche Vorstellungen, egoistische Wünsche, rohe Anthropomorphismen. Dies würde einer untergeordneten Stufe der religiösen Entwicklung entsprechen. Deswegen sagte ich »meine heiligsten Ideale«. Das »heilig« soll aber bedeuten diejenigen Ideale, welche ich kraft meiner Eigenschaft als Vernunftwesen und in Rücksicht auf meinen Willen als den einer sittlichen Persönlichkeit besitze. Die Idee der Menschheit soll im Gefühl als eine unendliche Macht ergriffen werden, so daß sie aus einem Ideal ein höchstes Gut wird, aus einem leitenden Ziel ein sicherer Besitz des Lebens. Dann liegt, daß ich eben in jene unendliche Macht das Vertrauen setze, meine sittliche Arbeit findet in ihr die Kraft des Gelingens. Hierauf gründet sich hauptsächlich die Unentbehrlichkeit der Religion neben der Moral, um uns gegenüber der Strenge des Gesetzes im Bewußtsein der eigenen Schwäche nicht verzweifeln zu lassen.

Es liegt aber freilich darin auch die Voraussetzung, daß ich eine sittliche Persönlichkeit, ein Selbstzweck bin oder sein will. Wer nicht zugibt, daß ich durch meine Existenz als vernünftiges Wesen die Bestimmung des Sittengesetzes zu erfüllen habe, daß ich überhaupt das Bewußtsein der Pflicht besitze, mit dem ist, allerdings über religiöse Fragen nicht zu verhandeln. Man kann über die Begründung der sittlichen Forderung verschiedene Ansichten haben, aber ihre Tatsächlichkeit muß vorausgesetzt werden. Denn die Begründung der Ethik ist zwar, wie oben dargelegt, unabhängig von der Religion, die Religion jedoch, insoweit sie dies wirklich im höchsten Sinn sein will und nicht in Heuchelei oder äußerlichem Zeremoniendienste besteht, setzt im Menschen den Willen voraus, gut zu sein.

Daß die Religion, wie ich sie hier zu definieren suchte, auf keiner höheren Stufe der Kulturentwicklung durch Moral ersetzt werden kann, daß sie vielmehr eine unentbehrliche Grundlage der Kultur darstellt, läßt sich nunmehr aus dem Einflüsse nachweisen, den sie auf die tatsächliche Gestaltung des Gemütslebens ausübt.

Niemand wird leugnen, daß es Mächte gibt, denen nicht bloß der einzelne in besonderen Lagen, sondern der Mensch als solcher überhaupt unterworfen ist, hilflos und unrettbar durch eigene Kraft. Nirgends wird dies deutlicher als angesichts des Todes, wenn wir der Gefahr gegenüberstehen, die unser eigenes Leben oder das eines geliebten Menschen bedroht. Wenn im Aufruhr der Elemente das Schiff an der Klippe scheitert, wenn die feindliche Granate vor uns zerspringt, wenn tückische Krankheit den gequälten Körper des Lieblings durchwühlt, wenn die Frucht jahrelanger Arbeit, die Hoffnung rastlosen Strebens an einer unmittelbar bevorstehenden Entscheidung hängt, wenn unsere redlichste Bemühung verkannt und mit Haß und Verleumdung vergolten wird, wenn wir ruchloser Gewalt ausgeliefert sind, wo finden wir Rettung, wo sollen wir sie suchen, wenn alle menschliche Hilfe versagt? Der Gegner der Religion sagt: Den Ausweg aus Schwierigkeiten zu finden ist Sache des menschlichen Verstandes, bis zum letzten Augenblick arbeite er mit allen Kräften. Das Schwere zu ertragen ist Sache des menschlichen Willens; mutig und gefaßt füge er sich ins Unabänderliche. Sehr richtig, als Forderung zugegeben. Es fragt sich nur, wie man es macht, um diese zu erfüllen. Der Moralist sagt vielleicht weiter: Wohl bedarf der Mensch eines Haltes in allen Lebenslagen, der ihn den Schicksalsschlägen gegenüber aufrecht erhält; aber diesen Halt hat er in einem guten Gewissen, im Bewußtsein erfüllter Pflicht. Auch sehr richtig. Aber wenn er nun kein gutes Gewissen hat?

Wer ist so weise, so stark, so gut, daß er sich nie einen Vorwurf zu machen braucht? Wer kann sicher sein, daß er ohne Schuld ist? Das ist der heikelste Punkt der religionslosen Ethik. Was tun wir, wenn wir uns selbst anklagen müssen? Zu wem flüchten wir? Und wahrlich, es bedarf keiner Todesgefahr und keiner Sünde, um uns zum Bewußtsein zu bringen, daß wir für uns selbst ohnmächtige Wesen sind, man braucht nur einen Augenblick an die Bedingungen zu denken, unter denen wir leben. Nicht einen Moment lang sind wir der Zukunft gewiß, der nächste kann das Ende bringen oder den unschuldigen Irrtum, der in Schuld und Verderben verstrickt – »zwischen Lipp' und» Kelchesrand«. Auch hier mag man noch zu einem Gedanken seine Zuflucht nehmen, zu dem Gedanken, daß wir nicht leben um unsertwillen, sondern als Glieder der Gesamtheit» Aber was wissen wir von dieser, was wissen wir von dem Zwecke, um dessentwillen wir leiden und vergehen müssen? Wir stehen an der Grenze, wo der Glaube beginnt oder – der Verzicht auf ein Verständnis. Soll uns denn die Hoffnung benommen sein? Wurzelt sie nicht unausrottbar in der Menschenbrust? Der Religionslose hat für sie keine Stätte, er hat kein anderes Vertrauen als die dumpfe Resignation des Glücksspielers, der den günstigen Zufall erwartet.

Und nun das Letzte: Das drohende Unheil ist abgewendet, wir sind gerettet und entronnen gegen Erwartung. Wir atmen auf. Die Entscheidung ist zu unsern Gunsten gefallen. Wir müssen uns ehrlich sagen: Es ist geschehen ohne unser Verdienst. Es konnte auch anders kommen. Ein großes Glück ist uns widerfahren, an tausend andern ist es vorbeigegangen. Wie sollen wir uns verhalten? Gleichgültig das Große und Herrliche hinnehmen? Aber das ist unmöglich; man vergegenwärtige sich nur das Gefühl, das die Vorstellung erregt: wenn diese Kleinigkeit anders war, so war alles anders, so warst du verloren! Und jetzt bist du gerettet, selig! Jauchzen und Jubeln ist der natürliche Ausdruck, doch dem tieferen Menschen kann es nicht genügen. Dank will er, innigen Herzensdank verkünden. Aber wem sollen wir danken? Der Religionslose hat keine Antwort.

Und woher kommt das? Wer die Religion für entbehrlich hält, begeht einen Grundfehler in seiner Weltrechnung, so klug sie ersonnen ist. Eins hat er vergessen in der Menschennatur, und gerade das Wichtigste; nämlich daß der Mensch nicht bloß ein denkendes und wollendes, sondern daß er vor allem ein fühlendes Wesen ist. Gefühle knüpfen sich an all unser Erleben als Lust oder Unlust, Gefühle müssen sich daher auch knüpfen an unsere Beziehung zu den außermenschlichen Mächten, unter denen unser Leben unleugbar steht. Wie man auch die Gewalten sich denken mag, die unter dem Namen des Schicksals über uns gebieten, ja fasse man sie selbst nur als blinde Naturkraft, niemand kann sich dem entziehen, daß er sich zu ihnen in ein Gefühls« Verhältnis setzt. Der Mensch ist eingeflochten in ein unendliches, überlegenes Sein. Und in seinem Erlebnis strömt der ganze Reichtum der Bedingungen des Weltgeschehens zusammen, bedrohend und vernichtend, rettend, bewahrend, erhebend. Und die Einheit dieses Erlebnisses enthüllt sich ihm als Gefühl; sein Gefühl muß sich auch auf diese Unendlichkeit, die ihn umfaßt und trägt, irgendwie beziehen. Das ist nun die religiöse Stimmung, wenn das Gefühl der Abhängigkeit vom Unendlichen sich so erweitert, daß wir dadurch selbst eine befreiende Stellung gewinnen. Und das kann nur geschehen durch das Gefühl der Gewißheit, daß unser endliches Wesen von jener unendlichen Macht nicht zu befürchten braucht erdrückt zu werden, sondern sich in ihr gefördert, erhoben und geborgen weiß. Daher ist Religion das Gefühl des Vertrauens in die unendliche Macht. Wenn wir der Religion aus erkenntniskritischen Gründen die Funktion zuwiesen, das theoretische und das ethische Bewußtsein zu verbinden, Natur und Sittlichkeit als Gesetzlichkeiten zu vereinen, die sich nicht widersprechen, so läßt sich jetzt auch empirisch und psychologisch Religion als das Gefühl nachweisen, das in der Erfahrung des Individuums allein diesen Ausgleich zu vollziehen vermag. Denn es ist ein allgemeines Gesetz der Entwicklung, daß nur das sich erhält, was dem Gedeihen günstig ist. Das religiöse Gefühl ist nun von allen psychischen Zuständen am meisten geeignet, die menschliche Schwäche und Vergänglichkeit gegenüber der Macht und Ewigkeit des Unendlichen zu schützen.

Niemals hätte die Menschheit im Kampfe ums Dasein sich emporringen können zu ihrer stolzen Höhe, wenn sie nur über Verstand und Willen verfügt hätte, wenn sie nicht in dem Glauben an ihre Bestimmung einen Rückhalt gehabt hätte, d. h. in dem Gefühle, daß der Kampf nicht fruchtlos gekämpft wird, sondern um ein höchstes Gut, das auch dem Unterliegenden gesichert bleibt. Nehmt einem Heere die Hoffnung auf den Sieg, und es ist schon verloren! Welches Gefühl aber kann dem Übermächtigen gegenüber allein Befriedigung geben? Nicht Trotz und Schmollen, sondern vielmehr Demut und Ergebung. Wohlverstanden, nicht dem Gegner gegenüber, der uns überlegen ist, den wir aber als Menschen nicht höher schätzen als uns selbst. Hier fordert die Würde den Stolz auch im Besiegten und den Mut des Vernichtungskampfes. Aber dem Übermenschlichen gegenüber versagt das trotzige Herz. Nur wer das Leid, dem er sich nicht entziehen kann, willig auf sich nimmt, der findet die Kraft zu neuem Widerstände, zu frischem Ringen. Und ferner: Nicht Mutlosigkeit und Verzweiflung, sondern Hoffnung, Vertrauen, Zuversicht. Wer sich seinem Geschick gegenüber in die Stimmung verfetzt, in der es ihm als feindliche Macht erscheint, der muß, da er sich ihm nicht gewachsen weiß, an sich und der Welt verzweifeln. Dagegen wird derjenige in der günstigeren Lage sein, der das Vertrauen besitzt, daß ein gütiges Geschick auch dort seine Wege lenkt, wo er den Ausgang nicht versteht. Darum fassen alle vorgeschrittenen Religionen die übermenschliche Macht als eine gütige Gottheit auf, die das Beste des Menschen will, oder als eine weise Vorsehung, die dem guten Ziele entgegenführt.

Nur so kann das Gefühl der Abhängigkeit zum Gefühl der Befreiung werden, daß ich gewiß bin, die unendliche Macht entspricht meinem Ideale des Guten. Was meinem Ich die Richtung des sittlichen Willens gibt, das ist nicht die Notwendigkeit der Natur, sondern das, Gesetz der Vernunft, dem auch die Natur als ein Mittel dient. Und so muß sie auch mir als ein Mittel dienen. Gegenüber dem unabweisbaren Gedanken, daß der einzelne ein verlorenes Stäubchen ist, das im Weltprozesse rücksichtslos zermalmt wird, gibt es nur eine Rettung, das Gefühl der Gewißheit, daß doch dieser ganze Weltprozeß nicht ohne uns ist, daß die unendlichen Sonnen ihre Bahnen ziehen, die Geschichte der Menschheit Leid und Glück häuft und zertrümmert, die Tiefen der Erkenntnis sich öffnen, die mächtigen Taten der Helden des Willens gelingen, die ewige Schönheit vom Künstler enthüllt wird, über allem Vergänglichen die Idee des Unendlichen schwebt, weil in diesem kleinen Ich, dem scheinbar verschwindenden Stäubchen, die ganze unendliche Reihe der Dinge zum Erlebnis sich verdichtet. Diese ursprüngliche Tatsache, daß es Gesetze gibt, Notwendigkeit der Natur, Selbstbestimmung des Willens, Entwicklung des Gefühls im Individuum, und daß die Einheit dieser Gesetze in uns selbst als Einheit unserer Persönlichkeit sich fortwährend vollzieht und wiederholt, sie ist das einzige und unendliche Wunder, das sich nicht leugnen läßt. Und dies Wunder erfüllt uns mit dem Gefühl der Offenbarung: Ich kann nicht verloren sein, denn ich habe Anteil am Unendlichen. Und nenne ich dies Unendliche Gott, so bin ich in Gott, und Gott ist in mir. Wird nun dies Gefühl in mir lebendig, daß es mein Handeln begleitet als die heilige Grundstimmung meines Innern, so habe ich Religion. Und wenn ich Religion habe, so habe ich den Talisman gewonnen, der mich unverletzlich macht im Kampfe ums Dasein.

Solange ich den Glauben nicht besitze, daß eine gütige und unendliche Macht mir Trost und Zuflucht in der Not gewährt, wenngleich ich die empirische Verwirklichung dieser Hilfe verstandesmäßig nicht nachweisen kann, so lange befinde ich mich in dem unlösbaren Konflikt, daß mein Gefühl und mein Wille Ansprüche erheben, die aus der Naturnotwendigkeit des Weltlaufs nicht befriedigt werden können; ich erzittere vor dem Gedanken, daß die gesamte sittliche Arbeit meines Lebens vergeblich ist und vernichtet wird von einem Zufall, der den fallenden Stein mein Haupt treffen, den mikroskopischen Giftstoff in mein Blut dringen läßt. Dieser Gedanke, daß das Edelste der Welt dem gemeinsten Zufall ausgesetzt ist, macht mich unsäglich elend, wenn ich nicht überzeugt bin, daß dieser Zufall von einer höheren Macht zum Heile gewollt ist. In dieser Überzeugung aber kommt das rettende Gefühl zum Ausbruch, daß die Gesetzlichkeit des Naturgeschehens, der ich unterliege, überbaut ist von einer zeitlosen Bestimmung, die mir in meinem Leben entgegentritt als die Bewertung, welche Ereignisse und Dinge durch mich erfahren. Diese Welt der Werte ist unabhängig von der Naturnotwendigkeit, in der sie sich nicht findet; und der religiöse Glaube ist diejenige Form der Wertbestimmung, die mich von der Sklaverei der Erfahrungswelt zu befreien geeignet ist und sich darum im menschlichen Seelenleben entwickelt hat. Denn die unendlichen Mächte, die mich bedrohen, habe ich aufgenommen in mein Gefühl in einer solchen Weise, daß sie mich fördern. Ob die Lebenswoge mich begräbt, ob sie mich emporhebt, ich habe das Vertrauen, daß es mir zum Heile geschieht.

Und wenn es glückt, wenn mein Mühen gelingt, wenn ich einer Gefahr entrinne, ein irdisches Gut erringe, so ist es wieder Religion, die mir die günstige Gemütsstimmung sichert. Denn schriebe ich meinem eigenen Verdienst das Gelingen zu, so würde die natürliche Folge sein: Überhebung und Sorglosigkeit, Hochmut und Leichtsinn. Und die weitere Folge dieser Stimmung würde eine ungünstigere Lage im Kampfe ums Dasein werden. Habe ich aber Religion, so ist mein Gefühl das des Dankes; im Gebet befreie ich mich von dem unwiderstehlichen Druck, den eine Verpflichtung auferlegt, die wir nicht zu vergelten vermögen. Nicht mir schreibe ich das Verdienst zu, sondern Gott; und indem ich mich prüfe, ob ich das Glück verdiene, gewinne ich den Weg, mich würdiger und freier zu machen. Freiheit will ich gewinnen. Freiheit gegenüber den äußeren wie inneren Gewalten gibt nur die Religion. Den Weltwillen kann ich nur bezwingen, indem ich ihn aufnehme in meinen eigenen Willen, indem ich mein Gefühl in Einklang setze mit dem Unabänderlichen, indem ich es auffasse als den Willen Gottes und selbst so zu leben strebe, wie es der Wille Gottes ist nach meiner Überzeugung, kraft meiner heiligsten Ideale.

Wer aus dieser Stimmung heraus sein ganzes Leben gestaltet, der ist fromm. Denn Frömmigkeit ist eine Sache nicht des Bekenntnisses, sondern der Gesinnung. Man wende nicht ein, daß solche Gesinnung schädlich sei, weil sie mutlos mache und schwächlich; man wende nicht ein, daß sie Entschluß und Tatkraft lähme, männlich einzutreten für sich selbst und energisch in der Hilfe für andere, weil das Vertrauen in die Allmacht Gottes zum Fatalismus führe, zum gehen lassen, wie's Gott gefällt, zur kühlen Betrachtung des Geschehenden. Ein solcher Einwand enthält eine vollkommene Verkennung des Sinnes dessen, was Gottvertrauen heißt. Glaube ich an die Allmacht Gottes, so glaube ich damit doch nicht, daß er mit beliebigen Mitteln zu beliebiger Zeit in den Weltlauf eingreife, um ein beliebiges Ziel zu erreichen, das wäre das Verfahren eines experimentierenden Zauberers, nicht das Walten Gottes als des unbegreiflichen Urgrunds der Dinge, den wir glauben. Die Allmacht Gottes bedeutet vielmehr das Vertrauen, daß er wirkt und wirken will nur durch die Ordnung, die er gesetzt hat, und zu dieser Ordnung gehört sowohl die Notwendigkeit der Natur als vor allem die Freiheit meiner Persönlichkeit; der Allmacht Gottes vertrauen, heißt vertrauen, daß die vernünftige Selbstbestimmung in mir, die Pflichterfüllung nach bestem Wissen und Gewissen, zu dem Ziele führt, das Gott will, und daß ich gegen seinen Willen, somit unfromm handle, wenn ich es in irgend einem gegebenen Falle an dieser Anspannung aller meiner physischen, intellektuellen und sittlichen Kraft fehlen lasse. Das ist so klar, daß ich es nicht erwähnt hätte, wenn man nicht häufig von sonst ganz verständigen Menschen diesen Einwand hören könnte.

Wie aber ist es möglich, religiöse Gesinnung zu gewinnen, wenn man sie nicht besitzt? Das freilich ist ein Geheimnis, das sich nicht lehren läßt; das eben ist die Offenbarung, die uns innerlich aufgehen muß. Nur aus voller Freiheit kann diese Blüte des Gemüts entsprießen, und jeder Versuch eines Zwanges wirkt ertötend wie ein Gifthauch. Man kann sehr richtige Begriffe von dem haben, was Religion ist, man kann auch die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit haben, und doch besitzt man sie vielleicht noch nicht im Sinne des frommen Gemüts; bis eines Tages das Geheimnis sich erschließt und unser Dasein mit seinem Eigenlicht durchströmt. Dann liegt Welt und eigenes Leben vor uns wie das Kunstwerk vor seinem Dichter; wir haben die Freiheit gewonnen. Es ist mit diesem Gewinn gerade wie mit der Liebe. Man kann die Liebe theoretisch in ihren Motiven zergliedern, man kann physiologisch und psychologisch den Zustand des Liebenden erklären, aber das Gefühl der Liebe kann man sich weder geben noch nehmen; es kommt über uns und wir verstehen uns selbst nicht mehr. Die Liebe gibt uns überhaupt für das religiöse Gefühl, wenigstens nach der einen Seite hin, das beste Analogon. Diejenige Gesamtstimmung von Gefühl und Willen, die in einer reinen Liebe auf eine einzelne Person sich richtet, wiederholt sich im religiösen Gefühl in Bezug auf das Unendliche. Unsern eigenen Willen einem andern frei unterzuordnen und zwei Willen in einen zu verschmelzen, das kann nur in der Liebe geschehen. Und in der Religion vereinen wir frei unsern Willen mit dem göttlichen. »Nimm die Gottheit auf in Deinen Willen, Und sie steigt von ihrem Weltenthron.« Daher löst sich das religiöse Geheimnis am treffendsten in dem Bilde der Liebe Gottes, der Liebe zu Gott und der Liebe Gottes zum Menschen. Daher ist auch die ethische Forderung der Menschenliebe am leichtesten aus der religiösen Stimmung heraus zu erfüllen, denn in ihr wird die Achtung vor dem Gesetz zur lebendigen Sympathie.

Weil Religion Gefühl ist, so kann sie ihren Ursprung nur im persönlichen Erlebnis des einzelnen gewinnen, und nur weil sie Gefühl ist, kann sie jene Gewalt besitzen, wodurch der Glaube zur absoluten Autorität wird. Aus dem Wesen der Persönlichkeit als der Einheit, in der alle Lebenstendenzen und Lebenserfahrungen zusammenlaufen, entspringt die Gewißheit, daß es Einheiten für den Weltzusammenhang gibt. Aus dem Streben, diese Einheiten zu verstehen, entspringt der Glaube, daß eine übergeordnete Einheit allen Zusammenhang umfaßt. Aus dem Gefühl, daß wir dieser Einheit angehören, entspringt die religiöse Überzeugung. Sie muß ein ursprünglicher, autonomer und persönlicher Akt sein. Und nur im Persönlichen ist der Wirkungskreis der Religion. In jedem einzelnen soll die Religion mächtig sein als die beherrschende Lebensmacht, welche die persönliche Lebensgestaltung leitet und den Willen zum Guten lenkt. Und von Person zu Person mag sie wirken, nicht durch den Inhalt der Lehre, sondern durch das Gefühl, das mit dem Dasein des religiösen Menschen rein durch sich selbst in andern erweckt wird. Dies ist die reale Macht, mit welcher die Person Christi ungeschwächt durch die Jahrtausende wirkt; dadurch überdauert sie alle Angriffe und Bedenken, zu denen die fanatischen Glaubensstreitigkeiten der Dogmengeschichte Anhängern wie Gegnern der Kirche Anlaß geben.

Zwischen den Individuen im Verkehr der Welt herrschen objektive Gesetze, die Gesetze der Natur und der Gesellschaft; und es gelten für die Persönlichkeiten in ihrem ethischen Verhältnis die objektiven Gesetze der Moral. Damit diese beiden objektiven Realitäten zusammen bestehen, bedarf es einer übergeordneten Realität, welche die absolute Bedingung für beide ist; das ist Gott. Aber diese Realität ist als eine unendliche weder von unserem Verstande zu umfassen noch von unserem Willen zu erreichen; sie kann uns nur zugänglich werden im Gefühl. Das Gefühl ist subjektiv. Daher kann uns die Realität Gottes nur gegeben werden als eine subjektive Gewißheit, als eine innere Offenbarung; nicht durch Beweis, wie die Erkenntnis, nicht durch Gebot, wie die Sittlichkeit, sondern allein als Glaube, als eine subjektive Kraft der Person, die objektiven Mächte der Welt und des eigenen Ich der Realität Gottes zu unterwerfen; aber zu unterwerfen durch die persönliche Macht des Glaubens, nicht wieder durch die Mittel jener objektiven Mächte. Deswegen darf man nicht den Schluß ziehen, daß Religion schließlich doch zur Moral nötig sei, weil sie allein die Möglichkeit begründet, alle Kulturgebiete im Sinne einer sittlichen Weltordnung mit den Hoffnungen unserer persönlichen Existenz zu vereinen. Nicht zur Moral ist sie nötig, sondern nur zur Seligkeit, welche Sache des einzelnen ist. Deshalb überschreitet Religion ihr Gebiet und erweckt den Widerspruch des Verstandes und des Willens, wenn sie in irgend einer Form Anspruch macht, Lehrsätze des Wissens aufzustellen oder soziale Ordnungen zu regieren. Das ist Sache der Wissenschaft und des Staates. Die Freunde der Religion können nicht besser für sie wirken, als indem sie alle Gebiete der Kultur in Forschung, Sitte, Staat, Gesellschaft, Leben sich unabhängig und selbständig gestalten lassen, nicht, um dadurch Religion zu ersetzen, sondern um Freiheit und Selbständigkeit der Religion zu sichern und den Namen Gottes nicht unnützlich zu führen in Dingen, zu deren Ordnung er den Menschen andere Mittel bestimmt hat. Gott aber will wirken in den Tiefen des menschlichen Gemüts und von hier aus den Willen führen als das heiligste Eigentum der Person. So allein wird die Macht der Religion nicht gemindert, sondern gestärkt, und ihre Gewalt die höchste, die es gibt. Denn sie ist die ursprüngliche Gewalt. Alle Geschichte, alle Entwicklung der Kultur, alle Fülle des Wissens, alles Gute und Schöne findet statt durch die Wirkung von Persönlichkeiten. Hier betätige sich Religion, hier allein kann sie sich rein betätigen. So gibt es nichts, das nicht Religion aufs Innigste berührte, das nicht durch Religion im Innersten verbunden wäre; nur nicht draußen im Raum, wo der Weltkampf wogt, sondern drinnen im Menschenherzen, wo wir leiden, lieben und hoffen.


 << zurück weiter >>