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XIV.

Die Idee der Zweckmäßigkeit

Die Vorstellung eines notwendigen Geschehens, wie es in der Natur stattfindet, ist unserm Zeitalter so vertraut, daß die Naturgesetzlichkeit sogar vielfach für die einzige Realität gehalten wird, die es gebe. Wenn wir daher versuchten auseinanderzusetzen, welche eigentümliche Art des Seins demjenigen zukommt, was der Philosoph »Idee« nennt, so mußte dies stets im Vergleich zum Naturgeschehen stattfinden. Als charakteristisches Beispiel für die Idee eignete sich hier am besten die Idee der Freiheit; ist doch einem jeden aus dem Gefühl der Willensfreiheit der Gegensatz bekannt, in dem dieses Gefühl mit der Überlegung des Verstandes steht, wonach jeder Naturvorgang notwendig bedingt ist. Hier durften wir daher bei der Schwierigkeit des Stoffes am ehesten hoffen, den Leser für die Einsicht zu gewinnen, daß es sich bei jenem Gegensatz nicht um einen Widerspruch handelt, sondern um zwei verschiedene, durch die Einheit der Persönlichkeit mit einander verknüpfte Welten, die theoretische und die ethische. Die Freiheit bildet nicht eine Grenze, an der die Naturerkenntnis irgendwo Halt machen müßte, sondern eine Forderung, die nicht an die Natur, sondern an uns gestellt wird, um uns von der Natur zu unterscheiden, um in der Welt der Werte die Idee des Guten zu verwirklichen.

Diesem Gegensatz von Denken und Wollen entspringt eine neue Forderung, deren Grundsatz sich als Idee der Zweckmäßigkeit bezeichnen läßt. Das Wirkliche soll gut sein, aber es bleibt meist ein frommer Wunsch. Ist eine wirkliche Einrichtung, ein Vorgang, eine Handlung so beschaffen, daß sie der Idee des Guten entspricht, so nennen wir sie zweckmäßig. Insofern bezieht sich das Zweckmäßige auf die praktische Lebensgestaltung überhaupt.

Da wir aber nicht bloß denkende und wollende, sondern vor allem fühlende Wesen sind, so erleben wir das Wirkliche und das Gute stets zugleich als Zustände der Lust und Unlust. Aus dieser Mannigfaltigkeit der Gefühle, die ja alles Leben begleitet, läßt sich unter der Idee der Zweckmäßigkeit eine besondere Art von Gefühlen absondern: die ästhetischen Gefühle. Wie weit auch das Seiende und das Seinsollende in der Erfahrung auseinander fallen, inbezug auf ihren Gefühlsanteil lassen sie doch eine Vereinigung zu. Und an die Vorstellung dieser Vereinigung knüpfen sich dann Gefühle, in denen die Menschen, wiewohl das Gefühl eigenstes Besitztum des einzelnen bleibt, trotzdem zu einer Übereinstimmung gelangen. Hierdurch entsteht ein neues Realitätsgebiet, das der Kunst. Insofern Natur und Sittlichkeit als Objekte des Gefühls auftreten, werden sie Stoff für die Kunst.

Hier ist irgend eine wirkliche Tatsache, eine Landschaft, eine menschliche Handlung, ein Charakter. An dem gegebenen Naturgegenstand können wir nichts ändern. Unter der Idee der Freiheit sagen wir zwar, daß dies oder jenes anders sein sollte, wir können indessen diesen Anspruch des Willens nicht vollziehen; das, was sein soll, vermögen wir in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht wirklich zu machen, das Wirkliche nicht, wie es sein soll. Die Kunst aber überbrückt diese Kluft mit Hilfe des Gefühls. Zwar an der Natur kann sie nichts ändern, am Sittengesetz auch nicht; aber sie kann beide in der Vorstellung zu einer Einheit verbinden, und hierdurch wird ein neues Gefühl erzeugt, das Gefühl des Schönen. Wenn die Landschaft, die Handlung, der Charakter so vorgestellt werden, wie sie sein sollen, so entsteht dadurch freilich keine Wirklichkeit in der Natur oder Moral; aber es entsteht das Gefühl einer solchen Wirklichkeit. Die Natur wird als schön gefühlt, wenn sie vorgestellt wird, wie sie sein soll; die sittliche Handlung wird als schön gefühlt, wenn sie als wirklich vollzogen vorgestellt wird. Diese neue Realität des ästhetischen Gefühls baut eine neue, eigene Welt auf neben der Natur und der Sittlichkeit, das ist die Kunst; neben dem Guten entsteht das Reich des Schönen. Das Gefühl, mit dem wir eine tapfere Tat, ein treffliches Mahl oder dergleichen selbst erleben, ist nicht ästhetisch; das eigentümliche, selbstlose Gefallen, das als ästhetisch bezeichnet wird, tritt erst dann auf, wenn der Gegenstand des Gefallens das Gefühl nicht direkt, sondern durch die Vorstellung davon erregt.

Und eben hierdurch, indem es ästhetisch wird, erlangt das subjektive Gefühl seine objektive Bedeutung. Nur dann ist unser Urteil ein rein ästhetisches, wenn die Allgemeingültigkeit des Gefühls nicht etwa durch ein Interesse bedingt wird, das sich auf einen zu erreichenden natürlichen oder sittlichen Zweck richtet; in diesem Falle hätten wir es mit den Anwendungen der Naturerkenntnis oder der Praxis des sittlichen Lebens zu tun. Für die Kunst darf vielmehr lediglich das Gefühl in Betracht kommen, das die Vorstellungen von den zu erreichenden Zwecken hervorrufen, und in dem freien Spiel der Vorstellungen von Zwecken lösen sich die unnahbaren Gewalten des Naturgesetzes, und des Sittengesetzes zur Harmonie des Schönen auf. Das Gesetz, unter dem das Reich der Natur und das Reich der Moral sich im lebendigen Gefühle der Menschheit zu einer neuen Realität, der Realität des Schönen vereinigen, kann man die Idee der Zweckmäßigkeit nennen. Nicht ein wirklicher Zweck, sondern nur die Vorstellung des Zweckmäßigen soll im künstlerischen Schaffen erreicht und im Gefühle erlebt werden. Unter dieser Idee erweist sich die Kunst ebenfalls als ein Mittel, Übereinstimmung von Subjekten hervorzubringen, nämlich Übereinstimmung im Gefühl. Erkenntnis und Wille werden nicht aufgehoben, sondern verbunden im Gefühl; so zerstört die künstlerische Gestaltung weder die Notwendigkeit der Natur noch die Freiheit des sittlichen Handelns, sondern sie vereinigt sie als Gefühl zu einem allgemeinen Menschheitsbewußtsein, zu einer Harmonie der Gefühle. In diesem Sinne kann man von einer ästhetischen Weltanschauung sprechen, welche dem Wissen wie dem Sollen ihr Recht läßt.

Von der Gestaltung des Gefühls begreift man, daß sie sich nur im Subjekt vollziehen kann. Wenn man nun bedenkt, daß es Ordnungen gibt, nach welchen sich Gefühle übereinstimmend in den Subjekten gestalten, und daß uns die Werke der Künstler solche Ordnungen in der Erfahrung aufweisen, so leuchtet es wohl auch ein, daß es überhaupt objektive Gesetze gibt, die doch nur in und an den Subjekten Wirklichkeit gewinnen. Denn was bedeutet die objektive Schönheit einer Beethovenschen Symphonie für die Welt von Tauben, oder ein Rafaelsches Gemälde für eine Welt von Blinden? Wie sich hier die Schönheit nur vollzieht im Gefühl sinnlich wahrnehmender Wesen, so vollzieht sich auch die Natur nur in der Erkenntnis denkender, das Sittengesetz im Willen sich selbst bestimmender Wesen. Und nun ist es kein Widerspruch mehr, daß die Kultur im Reiche der theoretischen Erkenntnis unter anderem Grundgesetz sich aufbaut als im Reiche des Willens oder Gefühls. Die Sterne, die am Himmel leuchten, sind für die Erkenntnis Naturnotwendigkeit; wenn aber das Erlebnis, daß wir den Sternenhimmel erblicken, inbezug auf das damit verbundene Gefühl realisiert wird, so daß ein Produkt entsteht, das dieses Gefühl in jedem Menschen wieder erweckt, z. B. ein Gedicht, so haben wir unbeschadet des astronomischen Sternenhimmels eine ästhetische Einheit, ein Objekt der Kunst.

Es ist nun hier nicht die Absicht, weiter auszuführen, wie sich das Gebiet der Kunst auf die Idee der Zweckmäßigkeit in ähnlicher Weise aufbaut wie das Reich der Sittlichkeit auf der Idee der Freiheit (vergl. Abschnitt XXIII). Nur inbezug auf die Natur kurz erläutert werden, wie die Idee der Zweckmäßigkeit nicht verstanden werden darf. Denn ähnlich, wie man die Naturerkenntnis durch die Idee der Freiheit stören und beschranken wollte, hat man auch in ausgedehntester Weise in der Natur von der Idee der Zweckmäßigkeit irreführend Gebrauch gemacht.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß man, wie alle Vorgänge, so auch die Erscheinungen der Natur und ihr überraschendes Ineinandergreifen unter dem Gesichtspunkt des Zweckes betrachten kann. Wenn man Ernährung und Wachstum einer Pflanze oder die Verpuppung einer Raupe oder die Tätigkeit irgend eines unserer Organe beobachtet, so zeigt sich dies alles so zweckmäßig eingerichtet, daß es scheint, als könnten wir zur Erklärung dieses Zusammenstimmens der verschiedenartigsten Kräfte die Vorstellung des bewußten Zweckes nicht entbehren. Dennoch haben wir es dabei mit nichts anderem zu tun, als mit dem Naturgesetz der Wechselwirkung, mit dem Begriffe des »Systems« (s. S. 85). Man täuscht sich vollständig, wenn man meint, eine bessere Erklärung dadurch zu geben, daß man den Zweck in das Naturgesetz hineinverlegt, daß man etwa den Kräften der Materie »Zielstrebigkeit« oder dergleichen mystische Tendenzen zuschreibt. Vielmehr verläßt man damit das Gebiet der naturwissenschaftlichen Erklärung aus Gesetzen (s. »Seelen u. Ziele« V). Die Täuschung beruht auf Folgendem.

In der Pflanze, dem Tier, in jedem Organ und jeder Zelle sehen wir immer ein verhältnismäßig abgeschlossenes einheitliches System vor uns, und das Ergebnis, das aus dem Zusammenwirken aller Teile entsteht, ist somit schon gegeben; es ist tatsächlich nur durch die Einheit der verbindenden Form vorhanden. Das Denkmittel der Kausalität reicht allerdings zur Erklärung des Vorganges nicht aus, sondern es gehört eben dazu das des Systems. Man darf sich die Einheit eines Systems nicht bloß denken, wie die eines Ganzen, wobei doch jeder Teil noch seine Selbständigkeit behält, wenn man auch ihre Verbindung löst. Die Einheit des Systems bedeutet vielmehr, daß seine Elemente ohne das System gar nicht in unverändertem Sinne bestehen, daß sich Systeme und Elemente erst gegenseitig in ihrem Zusammen als Inhalt bestimmen und ein in sich geschlossenes Ganzes, eine individuelle Existenz erzeugen. Will man dagegen, wie manche Naturforscher, diese Einheit der Erzeugung wegdenken und allein in den Bestandteilen die Ursachen aufsuchen, weshalb sie ein System bilden können, so bleibt uns nichts anders übrig, als in jedem Element diese Einheit noch einmal besonders zu denken, d. h. den Teilen ein unbewußtes Streben nach dem Ganzen beizulegen, Das heißt dann eine »zielstrebende« Kraft, eine im einzelnen Teil vorgebildete Beziehung. Man hat aus dem Gesetz des Systems durch Übertragung auf die einzelnen Teile und durch ihre Isolierung ein Etwas gemacht, das es im Zusammenhange der wirklichen Natur nirgends geben kann, sondern nur in unserer Vorstellung eines gesetzten Zieles. Und doch liegt in den biologischen Einheiten nichts anderes, als was schon der richtig gefaßte Begriff der Wechselwirkung mit einbegreift. Es kommt schließlich nicht auf den Namen an; meint man aber, daß zielstrebende Kräfte etwas anderes bedeuten als das Gesetz einer Veränderung in Rücksicht auf die Gesamtheit eines Systems überhaupt, so läßt man sich durch den Namen irreführen. Man dehnt dann den Begriff des Zwecks willkürlich auf ein Gebiet aus, mit dem er nichts zu tun hat, denn Zwecke bestehen nur für bewußte Wesen. Gewiß hat die Natur einen Zweck, aber nicht in sich selbst, sondern immer nur als Mittel für eine Persönlichkeit. Die Zwecke liegen nicht in der Natur, sondern über der Natur.

Sobald wir auf ein Naturgeschehen stoßen, das wir nicht ohne Hilfe des Zweckbegriffs erklären können, so ist dies allerdings jedesmal das Zeichen, daß hier eine vorläufige Schranke unserer Erkenntnis liegt. Aber es ist kein Zeichen, daß wir hier vor einem »Innern« der Natur stehen, dessen Verständnis uns überhaupt verschlossen wäre. Es ist nur das Zeichen für eine neue Aufgabe der Erkenntnis. Diese Aufgabe ist alsdann mit denselben Mitteln in Angriff zu nehmen, die überhaupt der Naturwissenschaft zu Gebote stehen, und sie ist zu lösen durch Zurückführung der Erscheinungen auf die Grundsätze des Naturerkennens. Die Idee der Zweckmäßigkeit gehört zu diesen Gesetzen nicht. Sie ist uns, wie überhaupt für jede Gestaltung unseres Lebens, so auch für unser Naturerkennen ein Leitfaden, die Probleme zu stellen und die Mittel der Untersuchung zu wählen. Aber als Erklärungsmittel ist sie nur ein Notbehelf dort, wo das Naturgesetz auf dem gegenwärtigen Standpunkte unseres Wissens noch nicht ausreicht. Daß die Naturwissenschaft zahllose Dinge noch nicht erkannt hat, gibt uns kein Recht, ihre Prinzipien zu verlassen. Alles Geschehen ist bedingt durch räumlich-zeitliche Beziehungen des Inhalts, die in konstitutiven Gesetzen begründet sind. Auf diese allein sind die Erscheinungen zurückzuführen. Das gilt auch von den biologischen Einheiten. Nur befinden wir uns inbezug auf diese erst in den Anfängen, in den vorbereitenden Schritten der Erkenntnis, ähnlich wie die ersten zwei Drittel des siebzehnten Jahrhunderts, ehe die Differenzialrechnung erfunden war, vor den Problemen der mathematischen Naturwissenschaft standen. Es fehlt uns noch der Kalkül, der das Gesetz des Systems als Bedingung zur Erzeugung geschlossener individueller Gefüge ebenso mathematisch darzustellen gestattet, wie die Differenzialrechnung das Gesetz der Veränderung in Gleichungen festlegt. Die Biologie hat jetzt ihre Kepler und Galilei, sie soll erst noch ihre Newton und Leibniz und einst ihren Helmholtz bekommen. Das ist die Hoffnung der Zukunft.

Will man die Aufgabe der Naturforschung durch Einführung geheimnisvoller, zweckmäßig wirkender, innerer Bestimmungen umgehen, so verläßt man das Gebiet der Wissenschaft und begibt sich in das Reich der Dichtung. Ganz indiskutabel ist es, etwa von psychischen Kräften zu sprechen. Wir wissen ja, daß das Psychische unter den konstitutiven Bedingungen der Natur keine Stelle hat. Mit solchen Unklarheiten sucht man nur ein noch unbefriedigtes Erkenntnisbedürfnis durch die Mittel der Phantasie zu stillen, indem man etwas noch nicht Erklärtes durch etwas überhaupt Unerklärliches, etwas Unbekanntes durch etwas Unerkennbares ersetzt. Was sollen denn diese zweckbestimmenden Kräfte sein? Bestimmungen sind entweder Naturgesetze, d. h. konstitutive Einheiten, wodurch Inhalt in Raum und Zeit gesetzlich geordnet wird, oder es sind Ideen, d. h. regulative Einheiten, wodurch Ziele über der Natur gesetzt werden. In der Natur Ziele im Sinne der Idee durch die Natur selbst zu setzen, hat keinen Sinn, weil das Ziel doch einen Inhalt, der in ihm vereint wird, voraussetzt, dieser Inhalt aber in der Natur immer erst erzeugt wird mit der Einheit des Gesetzes zugleich, also im System. Der Zweck kann niemals etwas erzeugen, sondern nur beurteilen, die Natur aber ist die Gesetzmäßigkeit, die erzeugend, konstitutiv, schaffend tätig ist; sie stellt eben die Seite des Bewußtseins dar, wodurch es sich seinen Inhalt gibt. Der Zweck bedarf zu seiner Verwirklichung des Gesetzes, daß etwas Wirkungen in bestimmter Weise auszuüben vermag, aber er selbst kann keine Wirkung ausüben. Wenn die Atmung der Zweck der Lunge ist, so entsteht dadurch noch keine Lunge, sondern es müssen Bedingungen vorhanden sein, die Zweck und Organ, Atmung und Lunge zugleich erzeugen. Was man in der Natur fälschlich Zweck nennt, das ist die Funktion des Organs, die sich in seiner Abhängigkeit von der Umgebung ausbildet. Der Zweck ist kein Naturgesetz, aber er weist auf ein Gesetz hin, das uns im einzelnen noch zu erforschen bleibt. Setzen wir für dieses noch Unerforschte hypothetisch den Zweck, so haben wir einfach der Natur etwas angedichtet.

Alle Bestimmungen in der Natur sind Bestimmungen der Wechselwirkung. Das gilt bereits vom Anorganischen, nur sind dort die Einheiten nicht so eng geschlossen wie im Organischen, so daß sie sich unter Kausalbeziehungen verstecken. Sieht man genauer zu, so ist es nicht möglich, den einfachsten Vorgang, den Inhalt eines Raumteils, einen chemischen Stoff zu definieren, wenn man nicht zugleich seine Beziehungen zu andern Raumteilen einführt, mit denen er ein Ganzes bildet, das als Ganzes auf ihn selbst zurückwirkt. Ein Volumenteil Wasserstoff ist nicht etwas an und für sich Bestimmtes, sondern was er ist, ist er nur dadurch, daß er Beziehungen der Größe, der Lage, der Ausdehnung, des Drucks zu andern Raumteilen hat, daß er, falls gewisse Temperaturen und gewisse andere Stoffe gegeben sind, mit diesen bestimmte Verbindungen eingeht usw., und nur in dieser Wechselwirkung ist ein Körper bestimmt. Also ist die Einheit des ganzen Systems für jeden Teil des Raumes die Bedingung, daß er in bestimmter Weise erfüllt ist; und jede Abänderung eines Teils des Systems wirkt auf das Ganze, jede Abänderung des Ganzen auf den Teil zurück. Man ändere den Druck eines Gases, und mehrere seiner übrigen Eigenschaften ändern sich ebenfalls. Die Teile wirken nicht bloß auf einander, sondern haben ihre Realität immer erst in ihrer Zugehörigkeit zu einem System durch diese Einheit. Das gilt in der ganzen anorganischen Natur, in der man von Zwecken nicht zu sprechen pflegt, ebenso gilt es aber in der organischen Welt. Es gibt überhaupt keinen Sprung vom Anorganischen zum Organischen. Der Begriff des Systems führt ganz allmählich von den einfachen Einheiten zu den komplizierten der lebendigen Welt, so daß auch eine scharfe Grenze, wo man vom Leben sprechen darf und wo nicht, gar nicht existiert. Selbst der Begriff des Individuums zerfließt an dieser Stelle. Es tritt das um so klarer hervor, je mehr die Chemie von einer statischen zu einer dynamischen Wissenschaft wird und im Gesetze der Massenwirkungen die chemischen Prozesse als Systeme in ihrem Werden enthüllt. Das Studium der kolloidalen Lösungen, der Katalyse, der Oberflächenenergie füllt mehr und mehr die scheinbare Lücke zwischen anorganischen und organischen Systemen aus.

Zur Grundlegung der Biologie reicht überall der richtig gefaßte Begriff des Systems aus, nämlich die Einheit der Wechselerzeugung von Bestandteil und Gesamtheit. Denn dieser begründet die Einheit des Individuums. Das bedeutet keine neue synthetische Einheitsform, sondern nur ein verwickelteres energetisches Gefüge, ein in sich stärker abgeschlossenes System. Es gehört nicht der Biologie allein an, aber es tritt dort als unentbehrliche und ausgezeichnete Form des Systems auf. Die Konfiguration dieser Systeme zeigt Eigentümlichkeiten der Hemmung von Energie-Intensitäten, wie sie im Schwellengesetze ausgesprochen sind und zum Begriff der psychophysischen Energie führen. Hierbei auftretende Erscheinungen charakterisieren den Gesamtverlauf der energetischen Wirkung im organischen Gebiet dahin, daß in den Organismen Prozesse, die von ihnen einmal durchlaufen sind, wieder durchlaufen werden können, wenn auch nur eine Teilursache des ursprünglichen Verlaufs eingreift, während einfacher gebaute Gefüge einer vollständigen Wiederkehr der Ursachen zur Wiedererzeugung eines Zustandes bedürfen. Die Tatsachen der Vererbung, der Reproduktion, und der Gehirnvorgänge beim höheren Gedächtnis, deren Gleichartigkeit Richard Semon in seinem Gesetz der Mneme (1904) festgestellt hat, liefern den wissenschaftlichen Nachweis, wie der Begriff des Systems genügt, um bis zur Erklärung der kompliziertesten Vorgänge organischer Erscheinungen ohne Hilfe der Zweckidee zu führen. Es konnte dieser Gedankengang hier nur angedeutet werden. Er findet in meinem Buche »Seelen und Ziele« eins ausführlichere Darstellung in den Abschnitten IV und V.

Die regulative Zweckidee herbeiziehen heißt nur einem willkürlichen Mystizismus den Boden bereiten. Der Mensch ist nicht bloß Natur, aber insofern er Natur ist, durchdringt er sie ganz. Unser Leben und Erkennen bewegt sich nicht am Rande der Natur, ohne sie zu verstehen, sondern die Gegenstände, die wir erkennen, die besitzen wir auch so, wie sie sind, die sind wir selbst. Das war der Grundzug in Goethes Lebensführung. Er bemächtigte sich der Dinge, indem er sie durchlebte. Deswegen mochte er es nicht leiden, daß man ihm die Natur auseinanderriß, deswegen wendete er sich gegen die unberechtigte Spaltung der Natur in ein Äußeres und ein Inneres. Es gibt kein anderes Innere der Natur als den gesetzmäßigen Zusammenhang der Dinge in Raum und Zeit. Und »ins Innere der Natur«, so sagt Kant, »dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde.«

Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist es, die gesetzliche Bestimmtheit, welche die Natur ausmacht, immer klarer zu lösen von den Phantasiebildern, die wir aus unserm Selbstgefühl in sie hineintragen. Wenn ich jene Zweckbestimmungen Phantasiebilder nenne, so heißt das natürlich, Phantasiebilder werden sie erst dadurch, daß wir sie in die Natur hineinverlegen; sie besitzen keine Realität in der Natur, sondern ihre Realität haben sie über der Natur im Wesen der Persönlichkeit. Wir können die Naturwissenschaft nur dadurch von dem Druck befreien, den die Rücksicht auf die höchsten ethischen, ästhetischen und religiösen Ideale ihrer freien Forschung auferlegt, wenn wir offen anerkennen, daß die Ideen nicht in der empirischen Natur, im Reiche der theoretischen Erkenntnis anzutreffen sind, weil sie eine andere Realität besitzen. Darum kann auch keine Forschung das widerlegen, was wir als die Forderung der sittlichen und religiösen Persönlichkeit wollen und glauben; und somit gewinnen wir für Freiheit und Glauben eine Realität, die ebensowenig vom Standpunkte der Erkenntnis angreifbar ist, wie sie Eingriffe in das Gebiet der Naturerklärung zu machen vermag. Es war die Absicht dieser Ausführungen, auf die Unabhängigkeit der Welt der Werte hinzuweisen, deren Gestaltung mit den Worten Idee und Persönlichkeit bezeichnet zu werden pflegt.


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