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XIX.

Religion und Bekenntnis

Religion ist nicht Erkenntnis, sondern Gefühl; und dieses ist nicht logisch und braucht es nicht zu sein, nur darf es auch nicht die Energie des Denkens hemmen. Aber, so wird man mit Recht sagen, mag das theoretische wie das religiöse Bewußtsein seine Objekte nach eigenen Gesetzen erzeugen, gleichwohl sind sie im lebendigen Menschen beide vorhanden, der denkende und der fühlende Mensch sind dieselbe Person, und in der Einheit der Person muß daher Wissen und Glauben ohne Zwiespalt bestehen können. Gewiß, und dies wird geschehen, sobald die Person sich dieser ihrer Doppelbeziehung bewußt ist; sie wird dann imstande sein, den religiösen Inhalt ihres Vorstellungslebens rein zu erhalten von allen Störungen des theoretischen Zwanges, der aus der historischen Entwicklung des Kulturlebens stammt.

Es ist wahr, wir können den Weltzusammenhang nicht in unser Gefühl aufnehmen, ohne uns gewisse Vorstellungen zu machen über das Verhältnis dieses Weltzusammenhanges zu unserm Ich und zu der unendlichen Macht, der wir vertrauen. Damit hierbei weder das Wissen noch der Glaube beeinträchtigt werde, gibt es, wie mir scheint, zwei Wege für den religiösen Menschen, zwischen denen die Wahl freisteht; und diese Wahl darf nur frei vollzogen werden aus dem eigenen Bedürfnis des Gemüts heraus. Ich meine, entweder Religion ohne Dogma, oder ein Bekenntnis, dessen Glaubenssätze den Charakter rein religiöser Wertbestimmungen tragen.

Religion ohne Dogma. Dieser Weg wird denjenigen nahe liegen und der sympathischere sein, die von der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Dinge herkommend die Vermittlung mit dem religiösen Leben suchen. Sie werden sich sagen, daß es mit dem Wesen der Religion, als des Vertrauens in die unendliche Macht, nichts zu tun hat, wie wir speziell die Mittel uns vorstellen, die jener Macht durch ihr eignes Wesen oder das Wesen der Welt zur Verfügung stehen, wenn wir nur die Gewißheit jenes Vertrauens in uns erleben. Ob wir uns die Welt von Gott geschaffen denken, oder ob wir ihre Entwicklung als eine Entfaltung des göttlichen Wesens betrachten, ob wir die Natur als einen Mechanismus oder als einen Organismus ansehen, ob wir die Seele als eine unveränderliche Substanz oder als eine Funktion des Lebens auffassen, das sind an sich höchst wichtige Fragen, aber es sind theoretische Fragen. An ihrer Beantwortung hängt nicht das religiöse Fühlen, sondern, wie auch die Antwort ausfallen möge, das Resultat kann stets unter religiösem Gesichtspunkt betrachtet werden. Dies beweist die Geschichte der Kirchen und der Philosophie: es gibt keine Theorie der Natur und keine Vorstellung von Gott, die nicht mit der Kraft religiösen Lebens verbunden sein könnte; wobei selbstverständlich zugegeben ist, daß die verschiedenen Stufen der Religion sich durch ihre geringere oder größere Vervollkommnung als Kulturzustände unterscheiden. Aber das Ewige der Religion liegt eben darin, daß sie nach den wandelbaren Einsichten der Menschen in den Weltzusammenhang nicht zu fragen hat; darum ist sie ein allgemein menschliches Besitztum und dem einzelnen so unendlich wertvoller als alle Wissenschaft. Darum ist sie in dem abergläubischen Wilden nicht minder mächtig als in dem hochzivilisierten Kulturvolk. Darum kann der wissensfremde Naturmensch, dem die Sterne sich mit der großen Kristallkugel des Himmels um die Erde drehen, oder der ungelehrte Mann, der nichts weiß von dem Energieaustausch der Molekeln, religiös nicht anders fühlen wie der Forscher, der auf der Höhe des Wissens sich über die Gesetze der Natur Rechenschaft gibt. Denn unser Wissen ist allzumal Stückwerk, und es kommt für die Religion nicht darauf an, wie klein oder wie groß das Stückchen Wahrheit ist, das in einer bestimmten Zeitperiode oder für einen einzelnen Menschen widerspruchslos dasteht, sondern es kommt darauf an, mit welchen Gefühlen der inneren Bescheidenheit und Ehrfurcht wir der erklärten Wahrheit gegenüberstehen; nicht bloß dieser, sondern auch dem Unerklärbaren, von dem immer ein Rest bleibt. Es ist wahr, daß die Natur ein undurchbrechlicher Kausalzusammenhang ist; daß wir diesen erleben und mit Gefühlen begleiten, bleibt darum nicht minder wahr. Und wenn diese Gefühle als die Gewißheit auftreten, jener Kausalzusammenhang in Raum und Zeit ist ein Mittel, damit der Selbstzweck der sittlichen Person in ihm verwirklicht werde, so bestehen die religiösen Werte als Realität unbeschränkt durch die Realität der Natur. Man sollte nur, wenn »wahr« dasjenige heißt, was durch Erkenntnis feststeht, nicht von religiösen »Wahrheiten«, sondern besser von religiöser »Gewißheit« sprechen. Nenn diese kann als Gottvertrauen bestehen, wie auch inhaltlich die für wahr gehaltene Lehre lautet. Deshalb ist das Mißtrauen gegen die sog. Vernunftreligionen berechtigt, die es für erforderlich erachten, die Ergebnisse philosophischer Weltbetrachtung in Übereinstimmung zu bringen mit den Bedürfnissen des Gemüts. Es liegt darin immer die Gefahr, daß die Religion in Dogmen verkörpert und mit diesen verwechselt wird, wenn die persönliche Gewißheit des Gefühls durch die überzeugende Kraft eines Weltbildes ersetzt werden soll. Daß Erkennen und Glauben zusammenstimmen, daß unser innerstes Fühlen sich überall bestätigt sieht durch die Ergebnisse der Forschung, das ist ein willkommener Zustand, wenn er besteht, aber er ist an sich weder unentbehrlich, noch ist es erstrebenswert, ihn durch Opfer des Intellekts oder des Gefühls zu erkaufen. Er ist vielleicht vorhanden auf der Höhe des philosophischen Bewußtseins, aber für die Gesamtheit der Menschen, bei den zahllosen Abstufungen der Bildung, kann er nur als ein Ideal gelten, das für alle zugleich unerreichbar ist und doch ein Ziel bleibt. Denn die Wirklichkeit der Erfahrung ist Entwicklung, ist fortwährendes Ringen nach Beseitigung von Widersprüchen, und wo diese gelingt, tun sich neue Fragen auf, und das sollen sie. Erkenntnis ist ein unendlicher Prozeß. Das religiöse Gefühl aber ist Ruhe in sich selbst, ist Frieden der Seele. Religion ist Vernunft, jedoch,, in einem Bilde zu reden, gewissermaßen der Schwerpunkt der Vernunft, der in Ruhe bleibt, wie auch die Arbeit der Vernunft nach allen Richtungen sich ausdehnt.

Aber sollen nicht wenigstens einige Grundlehren von der Religion unzertrennlich sein, etwa der Glaube an Unsterblichkeit und an Gott? Sicherlich wird Religion für die meisten Gläubigen, insbesondere für den Christen, sich vornehmlich auf diese Lehren gründen; doch unbedingt in ihrem Wesen liegt es nicht. Tatsächlich gibt es Religionen ohne diese Dogmen, und selbst eine hochentwickelte Religion ist ohne sie denkbar. Dies ergibt sich schon aus der Unbestimmtheit der Begriffe Unsterblichkeit und Gott, die dem Glauben den freiesten Spielraum lassen. Schleiermacher nennt die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, wie die meisten Menschen sie vorstellen, geradezu irreligiös. Denn diese Unsterblichkeit ist nur ein Hängen am Leben. Der wirklich Religiöse hat ja bereits seine Unsterblichkeit in dem Gefühle seiner Einheit mit dem Unendlichen; so zu leben, daß wir das Ewige in uns aufnehmen, heißt unsterblich sein. Und wer eine religiös sittliche Persönlichkeit ist, wie kann der vergehen? Als zeitliches Individuum, ja, aber als Persönlichkeit ist er eine Selbstbestimmung des Bewußtseins, für welche Raum und Zeit erst als Mittel sich darstellen. Von diesem Bewußtsein kann man weder sagen, daß es sterblich noch daß es unsterblich ist, weil es überhaupt nicht in der Zeit ist.

Selbst ohne den Glauben an Gott kann religiöses Leben bestehen. Zwar für meine Person verstehe ich nicht, wie jemand am Dasein Gottes zweifeln kann, weil mir ohne diese höchste Einheit der Zusammenhang aller Weltbedingungen weder denkbar noch für das Gefühl zugänglich wäre. Aber ich begreife wohl, daß mit dem Wesen des religiösen Gefühls nicht notwendig eine Vorstellung von Gott in einer der Formen verknüpft zu sein braucht, die mit diesem Namen belegt zu werden pflegen. Der Atheismus ist zwar meist irreligiös, aber er braucht nicht notwendig irreligiös zu sein, und Schleiermacher sagt sehr richtig, daß die wahrhaft Frommen das, was sich Atheismus nennt, sehr gelassen neben sich sehen, insofern es etwas noch Irreligiöseres gibt. Denn zur Religion ist es nur unentbehrlich, daß man das Gefühl des Vertrauens auf eine unendliche Macht, die unsern heiligsten Idealen entspricht, lebendig als beherrschende Stimmung in sich trägt. Diese Macht könnte aber wohl etwa als eine allgemeine Weltidee oder in irgend einer andern als theistischen Form vorgestellt werden. Wer sich diese Einheit nicht als eine persönliche denkt, begeht meiner Ansicht nach einen Fehler im Denken, aber sein Gefühl und seine Lebenshaltung kann religiös sein. Nur dann freilich, wenn auch das Gefühl des Vertrauens auf die Idee einer Weltordnung fehlt, dann dürfte Religion ihren Inhalt verlieren.

Wollen wir das Hindernis, wodurch sich so viele durch ihre Erkenntnis von der Religion getrennt fühlen, zum Heile der Menschheit forträumen, so müssen wir jenen umfassenden Spielraum weit offen halten, in welchem Religion gestattet, ihres Segens ohne Dogma teilhaft zu werden. Und wer in dieser Weise religiös ist, ohne das Bedürfnis zu haben, seinen Gefühlen als Mitglied einer Gemeinde öffentlich Ausdruck zu geben, tritt damit nicht aus der religiösen Gemeinschaft heraus. Auf der andern Seite aber darf die volle Freiheit des Glaubens an ein überliefertes Bekenntnis auch nicht durch die Ansprüche einer theoretischen Weltauffassung beschränkt werden. Aus der Notwendigkeit des Naturgeschehens, aus abweichenden Resultaten der Forschung von überlieferten Lehren darf niemals ein Grund entnommen werden, das Festhalten am religiösen Werte dieser Lehren anzugreifen oder gar als Mangel an Konsequenz, Mut oder Ehrlichkeit zu tadeln.

Es gibt vielmehr noch einen zweiten Weg für den religiösen Menschen, die Arbeit der Erkenntnis in ihrer vollen Freiheit anzuerkennen, ohne an den Sätzen eines ihm zur innern Gewißheit gewordenen Glaubens wankend zu werden. Er besteht in dem Festhalten an einem positiven Dogma mit dem Bewußtsein, daß es sich dabei um eine rein religiöse Wertbestimmung handelt. Es ist dies der Weg, auf welchem das Christentum, ohne im Geringsten aus seinem religiösen Charakter herauszutreten, das moderne Zeitbewußtsein in sich aufzunehmen vermag.

Was als Glaubenssatz ausgesprochen wird, dem kommt nicht die Geltung eines theoretischen Urteils zu, es wird nicht behauptet, daß sich der Inhalt desselben aus der Erfahrung in der Natur nachweisen lasse. Christi Geburt, Leben, Tod, Auferstehung, in welchem Lichte sie sich auch der historischen Forschung darstellen mögen, sie kommen für den Glauben nur in Betracht, insofern sie als Offenbarungen Gottes religiöse Gewißheit enthalten. Wer annimmt, daß, gegenüber der Bedingtheit des Menschen in der Natur, durch Christus und seine Lehre die Freiheit der sittlichen Persönlichkeit und damit die Seligkeit des Menschen gewährleistet ist, der gründet diese Annahme vielleicht darauf, daß gewisse Vorgänge vor Jahrhunderten sich in Palästina so und so abgespielt haben; dann hat er nur eine theoretische Gewißheit von dem Lebenswerke Christi, und dieselbe kann ihm durch kritische Untersuchungen geschmälert werden; aber dann ist er auch kein gläubiger Christ. Gründet er dagegen seine Annahme auf religiösen Glauben, so kann ihn keine historische Ermittlung beirren. Denn was diese lehrt, ist immer nur die geschichtliche Einkleidung einer göttlichen Offenbarung. Das wahre Objekt seines Glaubens ist nicht der historische Christus, wie ihn die Erkenntnis nach ihren Gesetzen gestaltet, sondern die religiöse Tatsache der Gotteskindschaft des Menschen, die der Name Christus bezeichnet; nicht daß in der Welt dies oder jenes geschehen ist, sondern daß es eine Heilsordnung gibt, durch welche die Arbeit der sittlichen Person ihres Erfolges oder, theologisch gesprochen, der Mensch seiner Seligkeit gewiß ist. Dieses Urteil aber bezieht sich auf Werte, deren Realität in persönlichen Gefühlen besteht, und Gefühle kann man, wie bekannt, nicht widerlegen. Wenn nun etwa gewisse Berichte der Evangelien von der Kritik angezweifelt, oder gewisse Ereignisse von der Erkenntnis als nicht wirklich geschehen, angebliche Offenbarungen als historisch vermittelte Meinungen nachgewiesen werden, so entsteht immer noch kein Widerspruch, wenn diese Berichte und Ereignisse trotzdem als Ausdruck des religiösen Gefühls beibehalten werden, das sich in ihnen ausspricht. Denn es kommt für den Wert einer Religion doch gar nicht auf die empirischen Mittel an, auf die Zeitereignisse, die bei ihrer Stiftung wirksam waren; diese erschienen selbstverständlich den Gegnern ganz anders als den Unbeteiligten, und diesen wieder anders als den Gläubigen; für ein religiöses Ereignis besteht vielmehr seine Wahrheit in dem, was es als Gefühlsvorgang für die Gläubigen ist, und eben dieser Gefühlsvorgang, wie er sich in der Tatsache der Entstehung des Christentums ausspricht, ist das Unbestreitbare. Der Glaube hat sich als eine Realität erwiesen, und erweist sich als solche jeden Tag. Wer außerhalb dieses Glaubens steht, kann durch seine Kritik vielleicht verletzen, überzeugen kann er nicht. Denn jeder, für welchen die überlieferten Berichte Teile seines Glaubens geworden sind, deren Realität religiös unentbehrlich für ihn ist, der verleiht ihnen auch die empirische Realität, indem er die widersprechenden Behauptungen einfach aus seinem Bewußtsein ausschließt. Solche Bestreitungen seitens der Forschung betrachtet er als eins der unbegreiflichen Mittel, durch welche die natürliche Entwicklung schließlich doch dem Heilszweck dienen muß. Andererseits entsteht, auch im Bewußtsein des Gegners kein Widerspruch; denn vom Standpunkt der Erkenntnis aus wird eine widersprechende Glaubensaussage als eine subjektive Illusion behandelt, die ihrerseits psychologisch zu erklären ist. Bei richtiger Trennung der Gefühls- und Erkenntniswerte braucht sich also keine der beiden Realitäten von der andren stören zu lassen.

Eine Grenze gegenüber der Erkenntnis wird trotzdem für den Glauben gezogen, aber nicht durch den Inhalt der Erkenntnis, sondern durch die Religion selbst, daß nämlich der Glaubensinhalt nicht seinem eigenen Zwecke widersprechen darf. Dieser Zweck ist, das Vertrauen zu vermitteln, daß die sittliche Weltordnung durch die Arbeit der menschlichen Gemeinschaft durchführbar sei. Was also dem Wesen der sittlichen Person widerspricht, hat auch kein Recht als Objekt des Glaubens.

Hierin liegt das einzige Mittel, die Stufen der Vervollkommnung einer Religion zu beurteilen. Die Naturreligionen, die Gott oder die Gottheiten wie Naturkräfte durch Kausalität wirken lassen, sind daher mit der steigenden Kultur dem Untergange geweiht gegenüber der Religion, die in den Naturkräften die Mittel sieht, wodurch Gott die Freiheit des Sittengesetzes realisiert. Ein Glaube an eine Gottheit, die menschlichen Leidenschaften zugänglich ist, sich durch Opfer bestechen läßt, oder durch unsittliche Mittel wie Zauberei und dergl. wirkt, ein solcher Glaube begibt sich des Rechts, gegenüber dem Widerspruch der Erkenntnis sich auf den Gefühlswert seiner Objekte zu berufen; denn nicht jedes beliebige Gefühl, das dem Menschen genehm erscheint, ist religiös, sondern nur ein solches, das sich auf die Realisierung der sittlichen Persönlichkeit bezieht»

Sittlich unberechtigt und damit sich selbst vernichtend wäre auch eine Religion, welche die Mittel zur Verwirklichung der sittlichen Arbeit aufhebt, also die Freiheit der Selbstbestimmung, oder die Freiheit der Erkenntnis. In allem, was der Glaube innerhalb der ethischen Grenzen fordert, ist er der Erkenntnis keine Rechenschaft schuldig; wenn er aber der Erkenntnis verbieten will, ihrem Gesetze uneingeschränkt nachzugehen, wenn er Vorschriften machen will über das, was gewußt werden kann, so überschreitet er sein Gebiet, er wird selbst zur Theorie und setzt sich damit der Widerlegung aus. Ein grasses Beispiel: Wenn es aus religiösen Gründen, d.h. um das Vertrauen zu Gott zu bewahren, für jemand nötig wäre, die Bewegung der Erde zu leugnen, so muß dieses Recht dem subjektiven Glauben zugestanden werden, insoweit damit ein Werturteil über die Einrichtung der Welt ausgesprochen werden soll. Wenn aber eine Glaubenslehre damit ein Resultat der Wissenschaft als Objekt der Erkenntnis zurückweisen und mit Gewalt zerstören will, wenn sie der Forschung Halt gebietet, so ist sie in diesem Falle nicht mehr Religion; sie entäußert sich ihrer der Erkenntnis unzugänglichen Freiheit, sobald sie das sittliche Recht der Wissenschaft angreift. Und die Folge ist dann, daß sie in diesem Punkte das Schicksal irrtümlicher Erkenntnis teilt und im Kampfe der Kulturentwicklung unterliegt. Es ergibt sich aus dieser im Wesen der Religion liegenden Selbstbeschränkung ihrer Lehren auch das Recht des Staates, sich gegen kirchliche Dogmen zu verwahren, die den Begriff des Staates als eines Mittels zur Verwirklichung des Sittengesetzes aufheben. Diese Grenzen sind natürlich sehr schwer zu ziehen, da es sich um den Staat hier nur handelt, insofern er eine sittliche Macht vertritt, nicht aber um die gerade herrschende Regierungsform, und da den streitenden Parteien die Objektivität des sittlichen Urteils leicht verloren geht.

Nicht also durch die Ergebnisse der Wissenschaft kann eine Beschränkung des Glaubensinhalts begründet werden, sondern nur durch die Forderung, daß er in den Grenzen des Religiös-Sittlichen bleibe. Diese Grenzen können aber nicht allein durch den Inhalt des Dogmas überschritten weiden, vielmehr auch durch seine Form. Dies geschieht, wenn der Inhalt, gleichviel wie er laute, nicht durch freie Selbstwahl angeeignet, sondern durch äußere Mittel aufgezwungen werden soll. Der Glaubenszwang widerspricht an sich der Religion; denn religiöse Werte können nur erzeugt werden durch Gefühle, welche die freie Selbstbestimmung der sittlichen Persönlichkeit zur Voraussetzung haben.

Das Irreligiöse des Glaubenszwanges ist durchaus nicht zu verwechseln mit der religiösen Forderung der Autorität. Die Unterwerfung unter die absolute Autorität Gottes ist ein Bestandteil des religiösen Lebens; das fromme Gemüt will der unendlichen Macht Gottes und seinem Gebote bedingungslos überliefert sein, und es will seine eigene Schwäche auf die Realität dieser absoluten Macht stützen. Aber das will es nur aus eigner freier Entschließung, aus innerer Zustimmung, nicht auf Grund eines äußeren Zwanges. Diese Autorität widerspricht also nicht der Autonomie der Vernunft, sondern setzt sie voraus. Sie kann die Selbständigkeit der einzelnen Kulturgebiete nicht begründen, wie es die Idee der Menschheit verlangt, sondern nur dem frommen Gemüt seine Seligkeit sichern. Sie führt daher auch nicht auf eine heteronomische Begründung der Erkenntnis oder Moral; denn sie muß diese Gebiete als autonom anerkennen, um sie überhaupt in der Einheit des Glaubens an Gott zusammenschließen zu können. Daß eine bestimmte Lehre auf göttlicher Offenbarung beruhe, gibt ihr erst dann Autorität, wenn sie als eine innere Offenbarung im persönlichen Erlebnis des einzelnen erwacht. Dies aber kann niemals durch äußere autoritative Mittel erzwungen werden. Ein solcher Zwang ist vielmehr der größte Feind echter Religiosität, und es ist hauptsächlich diese formale Seite des kirchlichen Dogmas, welche die verbreitete Abneigung gegen das religiöse Leben zur Folge hat.

Solange der Staat, wenn nicht durch seine Gesetze, so doch durch seine Institutionen, und die Gesellschaft durch ihre überlieferte Gewohnheit einen gewissen Zwang ausüben, solange wird gerade den selbständigen Naturen die freiwillige Unterwerfung unter die Macht der Religion erschwert. Die Zugehörigkeit zur Kirche gilt als gern gesehen, ja, sie ist für gewisse Berufskreise nicht zu umgehen; die Abwendung von der Kirche ist unliebsam und erweckt Mißtrauen. Kirchliche Formen sind mit dem öffentlichen Leben, mit der Jugenderziehung verflochten, die Kirche selbst ist politisch nicht unabhängig. Diese Verquickung von religiösem Bekenntnis mit gesellschaftlicher Anerkennung wirkt tatsächlich in der Form eines beständigen Zwanges, selbst wo ein solcher rechtlich nicht besteht und sittlich nicht beabsichtigt ist. Historisch ist das alles verständlich, aber die historischen Formen den neuen Lebensansprüchen anzupassen, das eben ist die Forderung der Zeit. Der moderne Mensch will Autonomie, Selbstbestimmung auf Grund des Vernunftgesetzes. Das religiöse Leben tritt ihm meist in der Form des autoritativen Zwanges gegenüber. Deshalb glaubt er, Religion müsse überhaupt bekämpft werden, weil sie die Autonomie der Vernunft aufhebe. Das ist ein Fehlschluß; aber um ihn als solchen zu erkennen, muß freilich erst anerkannt werden, daß es dem Wesen der Religion widerspricht, sich durch andre Mittel zu behaupten als durch das Gefühl der innern Gewißheit.

Vernunft ist Einheit des erkennenden, des wollenden und des fühlenden Bewußtseins, Einheit der Gesetze von Natur, Sittlichkeit und Leben, Einheit der Gesetzgebung überhaupt als Selbstbestimmung. Daß eine solche Einheit besteht, nicht nur in unserm vergänglichen Ich, sondern als eine unendliche Macht der Weltgestaltung zur Verwirklichung des Guten, das ist das Gefühl des Vertrauens, das die Religion gewährt. Meine Ausführungen suchen zu zeigen, daß keine wissenschaftliche Erkenntnis uns verwehren kann, diesem religiösen Gefühl uns hinzugeben, sei es, daß wir auf einen dogmatischen Zusammenschluß verzichten, sei es, daß wir in historisch vermittelten Glaubenssätzen den Ausdruck unsrer religiösen Überzeugung finden. Nur muß es allem Zwang entzogen sein, wie ein jeder seinen Weg zu Gott findet, und es gibt dafür keine allgemeingültige Vorschrift als die einschränkende, daß wir nicht aufhören als eine sittliche Persönlichkeit der verpflichtenden Kraft des Sittengesetzes uns bewußt zu bleiben.

Nur noch einige Worte zur Aufklärung gegenüber den Einwänden, die gegen die Trennung der Objekte des Glaubens und des Wissens gemacht zu werden pflegen.

Wer das Gefühl der Gewißheit hat, daß seine heiligsten Ideale als eine reale und unendliche Macht existieren, dem kann man natürlich nicht beweisen wollen, daß er diesen Glauben nicht besitze. Aber jene, die sich selbst für »Ungläubige« halten, sagen dann, sein Glaube sei eine subjektive Erdichtung, eine täuschende Vorstellung, der kein wirkliches Objekt entspreche. Mit einem Worte: Die Trennung der Glaubensobjekte von denen des Wissens führe zum Illusionismus.

Dieser Einwand beruht auf dem Irrtum, daß man nur das glauben könne, was man weiß. Aber Glauben heißt »für wahr halten« aus subjektiven Gründen, Wissen aus objektiven Gründen. In den subjektiven Gründen sind neben theoretischen vor allem Motive des Willens und Gefühls vorhanden, in den objektiven nur theoretische. Deswegen brauchen eben die beiden Gebiete sich nicht zu decken, und dasjenige des Glaubens ist das weitergreifende. Also, sagt man, so gebt ihr ja zu, daß die religiösen Werte subjektiven Charakter tragen, also sind sie nur Illusion! Nur? Ein merkwürdiger Schluß! Alle Realität ist ja doch subjektiv vermittelt. Zahnschmerzen sind doch wohl auch subjektiv, aber wer einmal hat daran glauben müssen, wird an ihrer Realität nicht mehr zweifeln. Für ihn sind sie keine Illusion. Und selbst die Illusion hat Realität, Wonnen und Schrecken erleben wir auch im Traum. Indessen, es wäre mit der Realität der Glaubensobjekte schlecht bestellt, wenn sie sich auf diese Art der Realität beschränken müßten; dies bestreiten wir ja gerade. Die Beispiele sollten nur zeigen, wie eben die subjektiven Realitäten die Entscheidung darüber bringen, daß wir selbst als fühlende Wesen noch in einer ganz andern Art existieren, als sich durch objektive Gründe mit Hilfe der Erkenntnis nachweisen läßt. Es ist nicht die durch das Wissen vermittelte objektive Realität, die unsere Existenz garantiert, sondern unser Dasein hängt an der subjektiven Tatsache, daß wir jene erleben, jeder auf seine Weise. Und ebensowenig, wie dieses Selbstgefühl Illusion ist, ebensowenig sind die Glaubensobjekte Illusion; natürlich nicht alles, was irgend jemand gerade zu glauben Lust hat, aber dasjenige, was ihm zu glauben unerläßlich ist, insofern sein Selbstgefühl als sittliche Persönlichkeit daran hängt. Man ist nur heutzutage so gewöhnt, Realität mit Naturgesetzlichkeit und Gegenständlichkeit in Raum und Zeit zu identifizieren, daß es nicht jedermann versteht, was es heißt: Es gibt auch eine Realität der Freiheit, ein Reich der Werte, dessen Allgemeingültigkeit nicht darin besteht, in Raum und Zeit nach Naturgesetzen sich zu fügen, sondern barm, Einheiten des Bewußtseins zu bilden, Persönlichkeiten, für welche und durch welche erst die Dinge in Raum und Zeit ihre Objektivität erhalten. Daß es überhaupt Naturerkenntnis gibt, nehmen wir an, weil wir innerlich gewiß sind, daß unsere Erfahrung auf einer durchgängigen Gesetzlichkeit beruht, die wir als Raum, Zeit und Inhalt überall antreffen müssen. Und so ist es die subjektive Realität, die ihrerseits bewirkt, daß die objektive keine Illusion und die Erkenntnis kein Gaukelwerk unseres Verstandes ist.

Der Mißbrauch, der mit der Religion getrieben worden ist, indem man sie als Zwangsmittel für irdische Zwecke benutzte, hat das Mißtrauen großgezogen, das uns so vielfach die Freiheit des Glaubens hemmt. Aber es ist auch eine Intoleranz von seiten der Erkenntnis, das Recht des Glaubens nicht gestatten zu wollen. Nur seine Übergriffe verdienen bekämpft zu werden. Daß auch das Recht der Erkenntnis im letzten Grunde auf einem Glauben beruht, bedeutet an sich keinen solchen Übergriff. Man darf darauf nicht unwillig entgegnen: Warum dann überhaupt noch Erkenntnis? Warum begnügen wir uns nicht mit dem Glauben? Dann haben ja wohl diejenigen recht, welche die Umkehr der Wissenschaft predigen und der Kirche die alleinige Befugnis zusprechen, zu entscheiden, was wir glauben dürfen?

Gegen diese kulturfeindliche Folgerung schützt uns die Unabhängigkeit beider Realitäten in ihren Mitteln, Objekte zu erzeugen. Im »letzten Grunde« ruht die Möglichkeit der Erkenntnis auf dem Glauben, daß es eine Einheit der Bestimmung für alles Seiende gibt, aber dieser »letzte Grund« ist eben die Einheit der Vernunft selbst. Gerade als Glaube bewirkt sie, daß wir die Erkenntnis als ein selbständiges Gebiet der Realität mit ihr allein zugehörigen Gesetzen anerkennen müssen, eine unabhängige Richtung der Kultur. Ohne die objektive Ordnung des Gesetzes in Raum und Zeit wäre die Welt sinnlos; sie ist eine unumgängliche Bedingung dafür, daß die Selbstbestimmung der Persönlichkeit sich durch ihre Arbeit als eine sittliche Macht erweise. Verlangt die Religion, daß wir die Welt als Mittel zu unserer sittlichen Vervollkommnung behandeln, so verlangt sie auch, daß wir die Herrschaft über die Welt erlangen. Und das können wir nur, wenn wir ohne jede Rücksicht auf unsere Wünsche, Hoffnungen und Ideale mit unbeschränkter, vorurteilsloser Forschung die Objekte bearbeiten, im heißen Bemühen und Ringen der Erfahrung feststellen, was da ist, um die Natur unsern Zwecken zu unterwerfen. Die Natur dient der Kultur nicht in Form der Erkenntnis, wenn man sie nach Magier-Art beschwört oder nach Stimmungen des Gemüts sich zurechtlegt, sondern nur, wenn man sie zergliedert und berechnet nach der Methode ernster Naturforschung und ihre Gesetze zu enthüllen sucht durch die Mühe der wissenschaftlichen Arbeit. Es gibt nur ein Ziel für die Erkenntnis, die Widerspruchslosigkeit des Weltinhalts. Soweit dieser Weltinhalt widerspruchslos festgestellt ist, soweit ist er eine Realität; ob diese unserm religiösen Glauben entspricht, darauf kommt es nicht an, weil dieser durch einen etwaigen scheinbaren Widerspruch in seiner Geltung als Wert nicht beeinträchtigt werden kann. Die Objekte des Wissens, die uns die Forschung enthüllt, sind für den Glauben immer nur die Mittel, deren wir uns zum Ziele unserer sittlichen Arbeit zu bedienen haben. Das Ziel steht fest, die Mittel haben wir durch die Erkenntnis zu gewinnen; und sie rein zu gewinnen ist eine Bedingung dafür, daß uns die Annäherung an das Ziel, die Verwirklichung des höchsten Gutes, gelingt. Daher ist die Forderung der vollen Freiheit der Wissenschaft geradezu eine religiöse Pflicht. Aber das feststehende Ziel des Glaubens darf nicht verwechselt werden mit dem Ziele der Forschung. Dieses eben steht nicht fest und darf nicht festgestellt werden. Das hieße die Forschung aufheben. Darin liegt der Fluch der Scholastik. Es gibt keine theoretische Wahrheit, die aus einer andren Quelle stammt als aus der Forschung. Eine Einmischung des Glaubens in das Gebiet der Erkenntnis bedeutet eine Verfälschung der Wirklichkeit in Raum und Zeit durch Hineintragen von Werten, die in ihr nicht vorhanden sind, sondern über ihr liegen; es hieße die sittliche Arbeit überspringen, die allein zum Ziele führt, und somit das Ziel verfehlen; es hieße die Welt der Gesetzmäßigkeit in Willkür auflösen; es hieße damit die Herabwürdigung ihrer göttlichen Bestimmung selbst vollziehen. Und dies würde sich im Kulturleben über kurz oder lang dadurch zeigen, daß an die Unfreiheit und den Verfall der Wissenschaft sich die Unfreiheit des persönlichen Bewußtseins, damit der Verfall der Sittlichkeit, der Gesellschaft und der Religion selbst knüpfen würde. Der Glaube, der sich die Erkenntnis zu unterwerfen sucht, begibt sich aus seiner Freiheit in das Feld, wo ihre Waffen gelten, und dort unterliegt er, weil er seine Bestimmung verleugnete. Dort soll er unterliegen.

In dieser entschiedenen Erklärung liegt nun zugleich die Zurückweisung des Einwandes, daß unsere Anerkennung einer Realität der Glaubensobjekte über der Natur zum Supernaturalismus und Mystizismus führe. Ein Vorwurf wäre dies doch nur dann, wenn dadurch das Gebiet der Erfahrung dem Eingriff übernatürlicher Gewalten überantwortet würde. Aber gerade diese Gefahr religiöser Schwärmerei wird verhütet, wenn man sich die ganz anders geartete Realität der Glaubensobjekte klar macht; sie sind eben nicht Teile der Natur, kosmische Kräfte, Ursachen, die in Raum und Zeit wirken, sondern sie sind Beziehungen des Naturgeschehens auf Zwecke, die nicht in der Natur liegen und deshalb nichts an ihr ändern. Alle Unterschiede in der Natur sind Unterschiede des Inhalts in Raum und Zeit und nur durch ihre eigene Gesetzlichkeit bestimmt. Aber mit welchen Gefühlen wir diese Unterschiede in unser persönliches Leben aufnehmen, darüber sagt uns die Naturnotwendigkeit nichts. Und nur in diesem Reiche der Wertbestimmung durch die Persönlichkeit befinden wir uns jenseits der Natur. Die Anerkennung einer ursprünglichen, daher nicht weiter zu erklärenden Tatsache als der Voraussetzung der Entwicklung alles Geschehens ist niemals zu umgehen; dieses ursprüngliche Wunder allein, daß es Gesetze gibt und Persönlichkeiten, die sich derselben bewußt sind, das ist das Überempirische, in welchem unsre Einheit mit Gott wurzelt. Allerdings liegt hierin ein supernaturalistisches und mystisches Element, und das ist auch im religiösen Leben unentbehrlich; es ist das geheimnisvolle Rätsel des Menschendaseins, daß wir wollen und fühlen, daß wir Gesetze vorschreiben, wie wir sein sollen, und doch in der Natur uns nur zu erkennen vermögen, wie wir sein müssen. Dieses Rätsel löst die Religion im Gefühl der Gottesgemeinschaft. Aber die Befürchtungen, die man mit Recht an die Übergriffe des Supernaturalismus und Mystizismus knüpft, sind keine Folgen unseres Standpunktes. Alle Möglichkeit der Erfahrung beruht auf einem transcendentalen Grunde, der nicht mehr Erfahrung ist. Wollte man hieraus schließen, daß ja dann die Arbeit der Erfahrung überflüssig ist, daß man sich begnügen sollte, sich auf die Transzendenz des Persönlichen zurückzuziehen, sich in mystischer Grübelei der Weltflucht zu ergeben, so würde man das Wesen der sittlichen Arbeit verkennen und damit das Recht der Religion selbst aufheben. Nicht in der überempirischen Wurzel liegen die Gefahren, welche die Religion mit sich führen kann und mit sich geführt hat, sondern in dem Mißbrauch der Religion im Empirischen. In der irdischen Gemeinschaft der Menschen dürfen nur die Mittel dieser Wirklichkeit gelten, die treibenden Gefühle sind zu zügeln durch das Gesetz der Vernunft; auch das ist eine religiöse Forderung, daß wir die Grenzen der Religion innehalten und sie nicht berechtigten Angriffen aussetzen.

Wenn die Objekte des Glaubens ihre eigenartige Realität bewahren, wenn sie sich vor allem davor hüten, ihre persönliche Gewißheit noch künstlich theoretisch stützen oder gar aus der wissenschaftlichen Erkenntnis erst begründet zu wollen, so ist damit nicht gesagt, daß alsdann die religiösen Vorstellungen von dem Fortschritt der Kultur ausgeschlossen würden. Die Kulturentwicklung ist bedingt durch den Fortschritt der Erkenntnis, denn dieser enthüllt und erweitert die Beziehungen zwischen den menschlichen Individuen und ihrer Umgebung, er verstärkt und verfeinert die Mittel, wodurch die Persönlichkeit ihrer sittlichen Aufgabe sich bewußt wird. (Vgl. Abschn. XXVI.) Dies wirkt zurück auf die religiösen Vorstellungen, nur nicht in dem Sinne, daß sie dadurch erst ihre Geltung erlangen, sondern so, daß sich der religiöse Kern reiner von der Einkleidung ablöst, die aus dem jeweiligen Bildungszustande der Zeit, des Volkes, des Individuums stammt. Daher das Streben, aus dem historischen Ausdruck des Glaubensinhalts solche Bestandteile zu entfernen, die der gegenwärtigen Weltanschauung zu widersprechen scheinen. Die Berechtigung dieses Strebens fällt uns nicht ein zu bestreiten; aber sie beruht auf einem andern Grunde als die Verwerfung des Widerspruchs innerhalb der Erkenntnis. Nicht darum, weil der Inhalt des Wissens anders lautet als der Ausdruck des Glaubens, brauchten wir an dem letzteren zu korrigieren; denn es kann wegen der Andersartigkeit der Wert- und der Erkenntnisurteile zwischen diesen kein logischer Widerspruch bestehen. Wohl aber widersteht es dem persönlichen Gefühle, mit denselben Worten etwas auszusprechen, was im Glauben gewiß ist, als Erkenntnisurteil aufgefaßt aber andern Erkenntnissen widerspricht. So hat z.B. der Ausdruck »auferstanden von den Toten« für den gläubigen Christen einen tief religiösen Wert als die Gewißheit, daß die sittlich-religiöse Persönlichkeit eine Realität besitzt, die in ihrem zeitlichen Dasein nicht aufgeht; wörtlich genommen bezeichnet er dagegen eine Begebenheit, die sich nach moderner Auffassung nicht widerspruchslos in den Naturzusammenhang einreihen läßt. Nun wäre es grundfalsch, aus der naturwissenschaftlichen Unmöglichkeit, das Ereignis zu erklären, auf seine Unmöglichkeit als Glaubensobjekt zu schließen, etwa zu sagen: Dies kann ich nicht verstehen, also kann ich es nicht glauben. Vielmehr, für wen der Glaube daran eine sittliche Notwendigkeit ist, weil ihm das religiöse Vertrauen nur auf diese Weise vermittelt ist, der braucht das physische Ereignis nicht zu verstehen, er bedarf keiner weiteren theoretischen Vermittlung. Wer an den physischen Vorgang wörtlich glaubt, der rückt ihn eben damit über die Natur hinaus als ein Wunder; darin liegt kein Widerspruch mit der Naturwissenschaft, sondern nur mit der naturalistischen Weltanschauung, die über der Realität der Natur keine andere kennt. Der Widerspruch entstände erst, wenn der Glaube verlangte, daß der physische Vorgang in der Natur widergesetzlich vermittelt sei, weil die Auferstehung eine theoretische Behauptung wäre, die nach Naturgesetzen undenkbar ist. Dadurch wäre eine Durchbrechung der Naturgesetze gefordert, und danach würde das Gefühl des Zwiespaltes erzeugt, daß wir mit denselben Worten eine Glaubenswahrheit sagen, die für die Erkenntnis einen Widerspruch ausdrücken. Aber dann sagten wir auch keine Glaubenswahrheit mehr, sondern überschritten die dem Glauben durch das sittliche Ideal gezogene Grenze.

Weil aber diese Unterscheidung nicht jedermanns Sache ist, wäre es allerdings zu wünschen, daß die historische Einkleidung des religiösen Gefühls der theoretischen Richtung des jedesmaligen Zeitbewußtseins entgegenkäme. Ohne Schädigung der Glaubensgewißheit könnte doch die Sprache der Religion sich allmählich dem allgemeinen Bildungsstande so anpassen, daß sie den Widerspruch derer nicht herausfordert, welche die tiefere Unterscheidung der Realität von Natur- und Glaubensobjekt nicht zu vollziehen wissen; sie sollte dies tun, nicht, weil sie dadurch ihre Gewißheit durch Erkenntnisgründe zu verstärken vermöchte, sondern um der Bereitwilligkeit der Gemüter, sich gewinnen zu lassen, nicht Schwierigkeiten zu schaffen, die nur aus der historischen Entstehung, nicht aus dem innern Wesen der religiösen Lehre folgen.

Dies gegen den Einwand, daß unsere Trennung des Glaubens vom Fortschritt der Erkenntnis die Religion erstarren lasse und sie dem Entwicklungsprozeß der Kultur entziehe. Nur das Hindernis wollte meine objektive Darlegung forträumen, daß jemand meint, sich für ungläubig erklären zu müssen, weil ihm gewisse Formulierungen des Bekenntnisses theoretisch unhaltbar erscheinen, und daß er umgekehrt von dem »Gläubigen« für ungläubig erklärt wird, weil die Gewißheit seines religiösen Gefühls gerade nicht der Vermittlungen und desjenigen Ausdrucks dieser Vermittlungen bedarf, die einem andern infolge seines persönlichen Entwicklungsganges heilig und unentbehrlich sind. Die Freiheit ist nach beiden Seiten zu wahren. Und weil eben der Bildungszustand und die Einsicht der Menschen so sehr verschieden sind, ihre religiösen Gefühle aber dabei übereinstimmen können, so ist es keine Unwahrhaftigkeit oder Doppelzüngigkeit, es ist vielmehr nicht zu vermeiden, daß die überlieferte und von der Pietät geschützte Form gewisser religiöser Urteile von einem Teil der Hörer naiv nach ihrem Wortlaut, von einem andern Teil lediglich symbolisch oder als dichterische Einkleidung aufgefaßt wird. Wenn nur diese Auffassung den religiösen Wert nicht trübt, so braucht sich der sittliche Ernst daran nicht zu stoßen. Der religiöse Zweck des Wunderglaubens ist doch die Vermittlung der religiösen Gewißheit. Wer der Vermittlung durch Wunder nicht bedarf, der mag die Erzählungen von solchen als poetische Ausschmückungen durch die Sage, als die psychologische Begleiterscheinung jeder mächtigen Wirkung auf die Volksseele betrachten; die subjektive Realität dieses Glaubens und seine Wirkung in der Geschichte kann er nicht leugnen. Jedenfalls aber darf er nicht denjenigen als einen Schwachkopf bemitleiden, der für die Realität der Wunder eintritt; es sei denn, daß diese als Durchbrechungen der Naturordnung gedeutet werden und damit das Verwerfungsurteil des Verstandes herausfordern. Wohl aber können sie als ursprüngliche Anordnungen Gottes gedacht werden, durch welche überraschende Ereignisse im Naturlauf an menschlich unberechenbarer Stelle hervortreten. Und zu diesem Naturlauf gehören auch die psychischen Vorgänge. Dies enthält keinen innern Widerspruch von dem Standpunkte aus, daß die gesetzliche Gesamtordnung der Natur ein Mittel ist, um die Verwirklichung sittlicher Personen zu erreichen; denn die ursprüngliche Tatsache, von welcher alle relative Naturerklärung ausgeht, kennt ja niemand, und wenn man sich auf den Standpunkt der Laplaceschen Weltformel stellt, so ist es nur nötig, einige sowieso unbekannte Differenzialquotienten einzuschieben und eine etwas andere Anordnung der Atome im Raume zur Zeit t = o anzunehmen, um zu erklären, daß zu einer bestimmten Zeit gewisse Erscheinungen eintreten mußten, die dem bisher bekannten Gange der Erscheinungen gegenüber wie kausal nicht begründet auftraten, obwohl sie es tatsächlich waren. Wem dies dem Prinzip der Einfachheit in der Natur zu widersprechen scheint, der wolle dabei nur bedenken, daß diese scheinbaren Unstetigleiten des Naturlaufs gar nicht auf die Objekte geschoben zu werden brauchen, sondern ebensogut aus Prozessen des Zentralnervensystems der Menschen gewisser Zeitepochen hervorgehen können. Auch die pathologischen Vorgänge und die großen Volkspsychosen sind ja naturgesetzlich. Alle diese Arten, mit den Wundern sich abzufinden, sind berechtigt, weil man dann, man mag sie glauben oder nicht, ihre Realität als Glaubensobjekte und als Wissensobjekte reinlich auseinanderhält. Unberechtigt sind nur die rationalistischen Vermittlungsversuche, welche die berichteten Wunder für objektive Tatsachen erklären, aber sie nicht aus einer überempirischen und nichtzeitlichen Bestimmung ableiten, sondern so umdeuten wollen, daß sie als natürliche Ereignisse erscheinen. Dadurch wird ihnen der religiöse Wert genommen; denn es wird das, was nur als Objekt des Glaubens Realität besitzt, in die Reihe der kausalen Naturvorgänge hineingesetzt und damit seines Gefühlswertes entkleidet.

Sollte man nun endlich der vorgetragenen Auffassung den Vorwurf machen, sie sei Dualismus, so kann sie ihn ohne Beschwerde ertragen. Denn ein solcher Dualismus ist unvermeidlich, da die Bedingungen der Erfahrung selbst ihn enthalten. Wir sind Naturobjekte und wir sind Persönlichkeiten. Wir erkennen durch die Gesetze des Verstandes, und wir besitzen Willen und Selbstgefühl. Wohl gibt es einen berechtigten Monismus der Erfahrung: Alles was in unser Bewußtsein tritt, kann und muß im Zusammenhang einer einheitlichen Entwicklung betrachtet werden. Aber daß es eine solche überhaupt gibt, setzt immer voraus, daß es Einheiten gibt, in denen ein Selbstzweck gesetzt ist, nämlich die sittlichen Persönlichkeiten. Der Inhalt der Erfahrung in Raum und Zeit hat außer seiner gegenständlichen Realität auch eine Realität als Welt der Werte. Diese doppelte Beurteilung läßt sich nicht aufheben. Aber damit ist nicht gesagt, daß es eine doppelte Wahrheit gibt. Jedes der beiden Reiche, das erkennende wie das bewertende, kann von dem andern seiner Bestimmungsweise unterworfen werden. Die Werte können, als Gefühle der Individuen, in die Gesetzlichkeit der Natur eingereiht werden; die Naturgesetzlichkeit kann als ein Mittel für die Welt der Werte aufgefaßt werden. Hierin eben liegt das Beineinende der Persönlichkeit. Daß jene beiden Welten im letzten Grunde einem Zwecke dienen durch ihre gemeinsame Bestimmung zur sittlichen Weltordnung – das ist die eine Wahrheit, aber sie läßt sich niemand aufzwingen. Der Gegensatz der sittlichen Welt und der Natur ist nur zu vereinen durch eine freie Tat des Bewußtseins, durch eine Weltanschauung, die das Erlebnis im Denken, Fühlen und Wollen als verschiedene Richtungen der einen persönlichen Selbstgewißheit auffaßt. Diese Weltanschauung von größter Einheitlichkeit ist der Monismus der Persönlichkeit.


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