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VI. Der Taoismus nach Laotse

Das Werk des Laotse hat in der chinesischen Philosophie, ja im ganzen chinesischen Leben einen ungeheuren Einfluß gehabt. Dieser Einfluß war aber nicht mit einem Male da, sondern entwickelte und steigerte sich erst allmählich. In den Gesprächen des Konfuzius findet sich bereits eine Auseinandersetzung mit einigen Anschauungen des Laotse teils in zustimmendem, teils in modifizierendem Sinn. Mongtse, der Vertreter des Konfuzianismus um die Wendung des 4. und 3. vorchristlichen Jahrhunderts, erwähnt den Namen Laotse nirgends, obwohl er sich mit verschiedenen seiner Nachfolger kritisch auseinandersetzt. Erst in der Sammlung der Aufzeichnungen über die Sitten, die aus der Hanzeit stammt, aber natürlich auf Quellen höheren Alters aus sehr verschiedenen Zeiten zurückgeht, wird Lao Tan verschiedene Male als ein Mann genannt, bei dem Konfuzius Rat geholt hat.

Trotz dieser spärlichen Erwähnung finden wir, wie die Lehren Laotses dennoch einen steigenden Einfluß auf die Gestaltung der konfuzianischen Lehren ausgeübt haben. In der »Großen Wissenschaft« und in »Maß und Mitte«, die beide der Tradition nach vor Mongtse liegen, wenn auch die moderne chinesische Forschung sie in die Zeit nach Mongtse verlegt, findet sich ein metaphysischer Unterbau der konfuzianischen Gesellschaftsstruktur, der eine stille Auseinandersetzung mit Laotse an vielen Orten durchblicken läßt. Was die taoistische Literatur anlangt, so finden sich Werke von angeblichen Schülern des Laotse wie des Torwarts vom Hanku-Paß, Kuan Yin Hsi, dem Laotse, wie schon erwähnt, das Taoteking hinterlassen haben soll. Allein diese Werke sind ziemlich sicher als Produkte späterer Zeit anzusprechen, ebenso wie die vielen Schriften, z.B. in Form von buddhistischen Sutras, die den Laotse oder Lao Kün oder T'ai Schang Lao Kün, wie er später genannt wird, als Urheber angeben.

So viel scheint sicher zu sein, daß wir Laotse nicht isolieren dürfen. Er gehört zu den verborgenen Weisen, die in der Lebensgeschichte des Konfuzius namentlich gegen Ende eine so große Rolle spielen. In jenen Kreisen waren Anschauungen wie die des Laotse allgemein verbreitet. Aber diese Gedanken tauchen damals nicht zum erstenmal auf. Es handelt sich um Geheimlehren, die von alten Zeiten her überliefert sind, wie denn die spätere Sage den Gelben Herrscher (Huang Ti) als Begründer der taoistischen Anschauungen feiert. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß sich auch im Taoteking Zitate solcher älteren Aphorismen finden. Manche derartige Weise sind uns nur dem Namen nach überliefert, wie z.B. der Meister Hu K'iu Lin oder sein Schüler Po Hun Wu-Jen. Von anderen berichtet die Legende einige Züge. So besonders von Liä Yü K'ou, von dem unter dem Namen Liä Dsi ein Werk in acht Büchern erhalten ist. Er wird auch von dem Philosophen Dschuang Dsi (ca. 335-275 v. Chr.) ausdrücklich erwähnt, nicht als eine Figur der Fabel, sondern als eine wirkliche Persönlichkeit, der sich allerdings die Sage schon so weit bemächtigt hatte, daß ihm übernatürliche Wunderkräfte zugeschrieben wurden.

Es wäre sehr angenehm, wenn wir in dem Werk des Liä Dsi eine authentische Schrift aus dem 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. vor uns hätten. Allein das ist nicht der Fall. Wir dürfen für die Redaktion des Buchs wohl nicht über das 4. nachchristliche Jahrhundert zurückgehen. Dennoch liegt dem Buch natürlich älteres Material zugrunde. Die Entwicklung der Lehre bei Liä Dsi geht nun dahin, daß die Probleme des Taoteking mehr metaphysisch ausgestaltet sind. Das Denken setzt sich mit den Antinomien von Raum und Zeit, mit dem Problem der Entwicklung der verschiedenen Arten der Lebewesen auseinander und noch mancherlei derartigen Fragen. Dabei ist der Naturalismus noch stärker und einseitiger herausgearbeitet als im Taoteking. Das Tao wird immer mehr zu einer metaphysischen Substanz, die alles Werden und Vergehen veranlaßt und in die Erscheinung projiziert, ohne selbst jemals in die Erscheinung zu treten. Charakteristisch ist, daß in Form von Gleichnissen manche Geschichten erzählt werden, die z. T. ins Wunderbare spielen und die Kraft einer auf Vereinheitlichung gerichteten Yogapraxis zeigen sollen. So finden wir bei Liä Dsi neben dem mystischen das magische Element entwickelt.

Eine historische Persönlichkeit ist dann Yang Tschu. Seine Lehren hatten zur Zeit des Konfuzianers Mongtse schon einen solchen Umkreis von Schülern und Anhängern gewonnen, daß Mongtse ihn unter seine hauptsächlichsten Gegner zählt. Er bekämpft ihn wegen seines Egoismus, der jede staatliche Verbindung ablehne und auflöse. Indem er kein Haar hergeben wolle, um der Welt zu nützen, zeige er seine Selbstsucht, die alles Zusammenleben der Menschen unmöglich mache. Was eigentlich das Anziehende an den Lehren des Yang Tschu war, das bewirkte, daß seine Anhänger fast ebenso zahlreich waren wie die von Konfuzius und Mo Ti, dem dritten großen Philosophen neben Laotse und Konfuzius im 6. Jahrhundert, erfahren wir aus Mongtse selbstverständlich nicht. Doch haben wir in dem Buch des Liä Dsi eine Darstellung der Lehren des Yang Tschu, die die Darstellung seines Gegners Mongtse recht gut ergänzt. Danach war Yang Tschu ein Schüler des Laotse, der freilich dessen Lehren nicht voll verstanden, sondern einseitig entwickelt hat. Es ging in dieser Hinsicht dem Laotse nicht viel anders als dem Konfuzius. Wie sich die Lehren des Konfuzius im Hauptzweig seiner Schule zunächst in einseitigen und mehr oder weniger kleinlichen Ritualismus verwandelt haben, so die Lehren des Laotse bei Yang Tschu in einen einseitigen und darum beschränkten Naturalismus. In Dschuang Dsi wird einmal erzählt, wie Yang Tschu bei Laotse Belehrung sucht (Buch VII, 4). Er fragt, ob ein Mensch, der eifrig und stark, von alldurchdringendem Verstand und allgegenwärtiger Klarheit und unermüdlich im Forschen nach dem Tao, mit den weisen Königen des Altertums in eine Linie gestellt werden könne. Laotse weist ihn ziemlich derb ab, dann fährt er fort: »Der weisen Könige Wirken war so, daß ihre Werke die ganze Welt erfüllten, und es doch nicht so schien, als gingen sie von ihnen aus. Sie gestalteten und beschenkten alle Wesen, und die Leute wußten nichts davon. Ihr Name wurde nicht genannt, und doch machten sie, daß alle Wesen innere Befriedigung hatten. Sie standen im Unmeßbaren und wandelten im Nichtsein.«

Wir sehen hier Yang Tschu als einen Jünger von Laotse. Aber wir sehen auch in seiner wesentlich intellektuell gerichteten Art eine Abweichung von dem eigentlichen Standpunkt des Laotse. Diese Art paßt sehr gut zu den Geschichten und Reden, die im siebenten Buch des Liä Dsi von ihm erzählt werden. Auch diese Ausführungen zeigen ihn als einen rücksichtslos scharfen Denker, der die Anschauung des Laotse vom Gehenlassen, Nichtsmachen, kurzum von der restlosen Einfügung des Menschen in den Naturzusammenhang herausarbeitet. Aber es fehlt ihm das Gütige und Weite des Laotse. Deswegen wirkt alles übertrieben. Alle Aktivität wird abgelehnt. Ein pessimistischer Fatalismus übergießt das ganze Leben mit seiner Lauge. Es ist der bittere Nachgeschmack, der im Becher bleibt, wenn der Würztrank ausgetrunken ist. Alles ist ganz eitel. Gut und Böse sind vollkommen gleichgültig, ganz ebenso wie alle anderen Unterschiede unter den Menschen. Daß von diesem Standpunkt aus jede Kultur nur etwas Lächerliches ist, und daß jeder Versuch einer staatlichen Organisation oder gar jede Beteiligung am öffentlichen Leben von vornherein abgewiesen wird, ist für ihn selbstverständlich. Ein konsequenter Egoismus, Fatalismus und Pessimismus ist alles, was von der reichen Welt des Laotse bei ihm noch übrig bleibt. Aber es ist verständlich, daß gerade das Radikale und Frivole seiner Anschauungen in einem untergehenden Geschlecht Anklang fand und zur Mode wurde. Durch seine Freiheit von allen Bindungen hat Yang Tschu sicher als auflösendes Ferment gewirkt in dem chinesischen Denken jener Jahrhunderte. Man versteht, wie Mongtse in seinen Anschauungen ein schleichendes Gift sah, das beseitigt werden mußte, wenn die Menschheit nicht zerfallen sollte.

Wer die Lehren des Laotse vollkommen in die chinesische Philosophie übergeführt hat, das ist Dschuang Dsi, der jüngere Zeitgenosse des Mongtse. Dschuang Dsi ist eine blendende Erscheinung des chinesischen Geisteslebens. Er ist der Dichter unter den chinesischen Philosophen des vierten Jahrhunderts, und er hat auch tatsächlich auf die spätere Dichtung des chinesischen Südens ebensosehr eingewirkt wie auf die spätere Philosophie. Über sein Leben ist kaum etwas bekannt. Die paar biographischen Züge, die man aus seinen Werken zusammenlesen kann, genügen gerade, um festzustellen, daß er ein wesentlich innerliches Leben bei äußerer Dürftigkeit geführt hat. Er hat konsequent jede Einladung von Fürsten, als Ratgeber an ihren Hof zu kommen, abgelehnt und hat die Boten, die ihm solche Anträge machten, recht derb abgefertigt. Auf der andern Seite hat er sich auch nicht aus der Welt zurückgezogen, sondern lebte schlecht und recht als Familienhaupt, nicht ohne manchmal in finanzielle Schwierigkeiten zu kommen. Dabei aber war er mit den Geistesströmungen seiner Zeit durchaus in Berührung. Er war mit der Schule des Konfuzius in Fühlung, allerdings nicht mit ihrem orthodoxen Zweig, aber mit einer Richtung, die sehr Wesentliches überliefert hat. Den Meister Konfuzius hat er im tiefsten Innern verehrt, namentlich nach der großen Wendung, die Konfuzius im 60. Jahre erlebt hat. Über diese Wendung der geistigen Richtung von Konfuzius erfahren wir gerade durch Dschuang Dsi einiges sehr Wertvolle. Außer diesen Beziehungen finden sich auch Beziehungen zu dem Philosophen Huitse, der als Dialektiker und Politiker einen gewissen Namen erlangt hatte. Er scheint der mittelchinesischen Schule der sogenannten Sophisten nahe gestanden zu haben. Von seinen überaus zahlreichen Schriften ist leider nichts Nennenswertes mehr erhalten. Aber gerade aus Dschuang Dsi erfahren wir manches über seine Anschauungen. Er scheint sich hauptsächlich mit logischen Distinktionen abgegeben zu haben. Dschuang Dsi hat oft mit ihm disputiert, wohl mehr als Übung in der Wechselrede als in der Hoffnung, ihn überzeugen zu können.

Über alle diese Beziehungen, die natürlich auf das Denken des Dschuang Dsi nicht ohne Einfluß waren, ragen die Einflüsse, die er von Laotse empfangen hat, weit empor. Dschuang Dsi gibt uns nicht nur taoistische Lebensweisheit, sondern eine richtige taoistische Philosophie. Seine philosophischen Grundlagen finden sich in den ersten 7 Büchern, dem sogenannten inneren Abschnitt. Alles übrige sind Parerga und Paralipomena. Das erste Buch heißt »Wandern in Muße«. Es bildet die Exposition des Ganzen. Das irdische Leben mit seinen Schicksalen und Einflüssen wird verglichen mit einer kleinen Wachtel, die durch den Busch flattert, während das Leben in seliger Muße frei ist von allen Kleinlichkeiten. Es wird verglichen mit dem ungeheuren Vogel P'ong, dessen Flügel wie hängende Wolken durch den Himmel fahren, wenn er sich aufmacht vom Südmeer ins Nordmeer zu fliegen. Von besonderer Wichtigkeit ist das zweite Buch »Vom Ausgleich der Weltanschauungen«. Hier wird die Lösung der philosophischen Streitfragen der Zeit vom taoistischen Standpunkt aus gegeben. Jene Zeit war eine Zeit des Kampfes der Weltanschauungen. Die alte religiös fundierte Weltanschauung war längst zusammengebrochen. An ihrer Stelle erhoben sich die verschiedensten, einander oft diametral entgegengesetzten Auffassungsweisen, die in dialektischem Kampf miteinander sich befanden. Dschuang Dsi hat im Anschluß an das Taoteking alle diese entgegengesetzten, in logischen Auseinandersetzungen begriffenen Anschauungen in ihrer notwendigen Bedingtheit erkannt. Da keine Seite ihr Recht beweisen konnte, fand Dschuang Dsi den Ausweg von der Disputation zur Intuition, durch die der Standpunkt der Einheitsschau des Wesens erreicht wird. Dieses Buch beginnt mit der großartigen Rhapsodie vom Orgelspiel des Himmels und schließt mit dem rätselvollen Gleichnis vom Schmetterlingstraum, in dem Leben und Traum als zwei Gebiete einander gegenübergestellt werden, von denen niemand sagen kann, welches wirklich und welches unwirklich ist.

Im dritten Buch kommt die praktische Anwendung dieser Erkenntnis. Es gilt den Herrn des Lebens zu finden, nicht irgend eine besondere einzelne Lage zu erstreben, sondern den Hauptlebensadern nachzugehen und sich mit der äußeren Stellung abzufinden, in der man sich vorfindet; denn nicht eine Veränderung der äußeren Verhältnisse ist es, die uns retten kann, sondern eine andere Einstellung zu den jeweiligen Lebensverhältnissen vom Tao her. Dadurch ist der Zugang gegeben zu der Welt, die jenseits der Unterschiede ist.

Im vierten Buch führt der Schauplatz aus dem Einzelleben hinaus in die Menschenwelt. Es zeigt den Weg, wie man hier wirken kann. Auch hier gilt es, das Umfassende des Standpunktes zu wahren, sich nicht zu binden – in irgendwelche Vereinzelung hinein. Denn die Vereinzelung gibt zwar Brauchbarkeit, aber gerade diese Brauchbarkeit ist der Grund dafür, daß man verwendet wird. Man wird eingespannt in den Zusammenhang der Erscheinungen, wird ein Rad in der großen Gesellschaftsmaschine, aber eben dadurch zum Berufsmenschen und einseitigen Fachmann, während der »Unbrauchbare«, der über den Gegensätzen Stehende eben dadurch sein Leben rettet.

Das fünfte Buch handelt vom »Siegel des völligen Lebens«. Es zeigt durch verschiedene Parabeln, wie die innere Berührung mit dem Tao, die das wahre absichtfreie Leben gibt, einen inneren Einfluß über die Menschen ausübt, vor dem jede äußere Unzulänglichkeit verschwinden muß. Es sind Geschichten von Krüppeln und Menschen von monströser Häßlichkeit, durch die diese Wahrheit gerade wegen des Paradoxen der äußeren Verhältnisse am deutlichsten sich kundgibt. Der Gegensatz zwischen dem inneren Kleinod und dem »härenen« Gewand der äußeren Erscheinung hebt sich dadurch um so schärfer hervor. Hier haben wir eine Seite, die dem Taoismus auch in seiner späteren Zeit etwas Paradoxes verliehen hat. Noch bis in die Märchenliteratur hinein können wir verfolgen, wie ein ganz mächtiger Zauberer oder ein rettender Gott als zerlumpter Bettler auftritt, der in Schmutz und Verkommenheit an irgend einer Straßenecke sitzt. Es läßt sich ganz deutlich erkennen, daß in dieser Auffassung etwas liegt, das eine gewisse Verwandtschaft hat mit dem christlichen »Ärgernis des Kreuzes«. Auch im Christentum zeigt sich die äußerste Selbstverleugnung und Erniedrigung als der Weg zur Erhöhung und Seligkeit. Dennoch ist ein großer Unterschied der Auffassung vorhanden. Im Christentum ist die Selbsterniedrigung verkündigt als Weg zur Erhöhung. Die Erhöhung, die Seligkeit und Herrlichkeit – also das eine Glied des ewigen Gegensatzes – ist die Absicht und das erstrebte Ziel, das Leiden und die Niedrigkeit ist nur der Weg dazu. Dabei ist nicht selten die Einstellung die, daß der Weg des Leidens in dieser kurzen Zeitlichkeit der Kaufpreis ist für eine Herrlichkeit ohne Maßen, die von grenzenloser Dauer ist. Der Standpunkt des Taoismus ist davon insofern verschieden, als die Niedrigkeit und Häßlichkeit nicht mehr etwas ist, das durchgemacht werden muß. Sie ist kein Zustand, den man mit einem anderen vertauschen möchte. Sondern wenn man den übergreifenden Standpunkt der Wesensschau erlangt hat, ist man über die Gegensätze wie Glück und Unglück, Leben und Tod überhaupt hinaus, von denen keiner an sich dem Tao näher steht. Denn diese Gegensätze sind gleich notwendige Glieder eines ewig wandelnden Kreislaufs. Es wäre verkehrt, wenn man den einen Pol dauernd ausschalten und den andern verewigen wollte; das wäre einmal eine Unmöglichkeit, und dann bliebe man noch immer verhaftet in die diesseitige Welt der Erscheinungen.

Als Huitse den Dschuang Dsi fragte, ob es wirklich Menschen ohne menschliche Gefühle gebe, antwortet dieser unbedingt mit Ja. Huitse sprach: »Ein Mensch ohne Gefühle kann doch nicht als Mensch bezeichnet werden.«

Dschuang Dsi sprach: »Da ihm das ewige Tao des Himmels menschliche Gestalt verliehen hat, so muß er doch als Mensch bezeichnet werden können.« Huitse erwiderte: »Die Gefühle gehören aber doch zum Begriff des Menschen.«

Dschuang Dsi sprach: »Diese Gefühle sind es nicht, die ich meine; wenn ich sage, daß einer ohne Gefühle ist, so meine ich damit, daß ein solcher Mensch nicht durch seine Zuneigungen und Abneigungen sein inneres Wesen schädigt. Er folgt in allen Dingen der Natur und sucht nicht sein Leben zu mehren.«

Huitse sprach: »Wenn er nicht sein Leben zu mehren sucht, wie kann dann sein Wesen bestehen?«

Dschuang Dsi sprach: »Das ewige Tao des Himmels hat ihm seine Gestalt gegeben, und er schädigt nicht durch Zuneigungen und Abneigungen sein inneres Wesen. Aber Ihr beschäftigt Euren Geist mit Dingen, die außer ihm liegen, und müht vergeblich Eure Lebenskräfte ab ... . Der Himmel hat Euch Euren Leib gegeben, und Ihr wißt nichts Besseres zu tun, als immer wieder Eure Spitzfindigkeiten herzuleiern.« (Buch V,6)

Zu den wichtigsten Büchern in Dschuang Dsi gehört das sechste: »Der große Ahn und Meister.« Es behandelt das Problem des Menschen, der zu dem großen Ahn und Meister, zum Tao, den Zugang gefunden hat. »Die wahren Menschen fürchteten sich nicht einsam zu sein. Sie vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten keine Pläne. Darum hatten sie beim Mißlingen keinen Grund zur Reue und beim Gelingen keinen Grund zum Selbstgefühl, Darum konnten sie die höchsten Höhen ersteigen, ohne zu schwindeln; sie konnten durchs Wasser gehen, ohne sich zu benetzen; sie konnten durchs Feuer schreiten, ohne sich zu brennen. Sie hatten während des Schlafens keine Träume und während des Wachens keine Sorgen. Ihre Speise war einfach, ihr Atem war tief. Sie kannten nicht die Freude am Leben und nicht die Abneigung vor dem Tode. Sie beklagten sich nicht über ihren Ausgang aus dem Leben und jubelten nicht über ihren Eingang ins Leben. Gelassen kamen sie, gelassen gingen sie. Sie vergaßen nicht ihres Ursprungs, sie strebten nicht ihrem Ende zu. Sie nahmen hin mit Freude, was kam, und was ging, das ließen sie wieder fahren, ohne weiter daran zu denken. Das heißt ›nicht durch das Bewußtsein den Sinn beeinträchtigen und nicht durch Menschliches dem Himmlischen helfen wollen‹.«

In diesem Sinn werden auch die tiefsten Fragen des Leids und des Todes mit großer Souveränität behandelt.

Das siebente Buch »Für den Gebrauch der Könige und Fürsten« bildet den Abschluß und handelt von dem Herrschen durch Nichtherrschen. »Der höchste Mensch«, heißt es da, »gebraucht sein Herz wie einen Spiegel. Er geht den Dingen nicht nach und geht ihnen nicht entgegen. Er spiegelt sie wider, aber er hält sie nicht fest.«

Fassen wir zusammen. Dschuang Dsi zeigt eine Weiterbildung des Taoismus von Laotse insofern, als er seine Methoden einführt zur Lösung der philosophischen Fragen seiner Zeit. Er umgibt die Lehren mit dem schimmernden Gewand einer poetischen Sprache und bildet scharfpointierte Gleichnisse, durch die er das Unaussprechbare der taoistischen Konzeptionen magisch aufblitzen läßt. Das Gleichnis tritt bei ihm an die Seite des Paradoxons, um das Unnennbare zugänglich zu machen. In seinem Nachwort sagt er daher auch von seiner Methode:

»Gleichnisreden biet' ich zumeist
Und alter Reden Worte gar viele,
Aus vollem Becher täglichen Trank,
Nur daß der Ewigkeit Licht ihn umspiele.«

Was das Sachliche anlangt, so können wir ohne weiteres feststellen, daß er sich ganz direkt auf der Linie des Laotse hält. Auch er lebt in den Tiefen des Tao, auch ihm ist die Welt der Erscheinungen ein wesenloser Traum – ob Dschuang Dschou oder ein Schmetterling, ist gleichviel, das eine ist ebenso Traumdasein wie das andere. – Er hat auch ein Leben der Verborgenheit geführt wie sein Meister. Ob er Schüler hatte, wissen wir nicht. Immerhin scheint es, daß ein großer Teil dessen, was unter seinem Namen überliefert ist, nicht von ihm selbst stammt, so daß eine Art Schule sich gebildet haben muß. Auf alle Fälle ist es klar, daß er einen ungeheuren Einfluß auf die Philosophie und auf die Literatur ausgeübt hat. Dafür spricht schon die Zusammenstellung des Dschuang Dsi mit Laotse in dem häufig gebrauchten Ausdruck »Lao Dschuang« als Bezeichnung der taoistischen Anschauungen, wie der Zusammenhang des Laotse nach dem Altertum hin durch den entsprechenden Ausdruck »Huang Lao« angedeutet wird, bei dem »Huang« auf Huang Ti, den »Gelben Herrscher« sich bezieht, der als Schutzpatron des Taoismus ebenso verehrt wurde wie Yaf und Schun als die Patrone des Konfuzianismus.

Der Einfluß des Dschuang Dsi zeigt sich besonders in der Literatur des Südens. Die Poesie von Tsch'u, die als neuer Kunstzweig aus den Yangtsegebieten die chinesische Kultur bereicherte, steht in ihrer Weltanschauung ganz unter dem Bann des Dichterphilosophen.

Eine merkwürdige Ausbildung fand der Taoismus in Hanfetse. Hanfetse war ein Prinz aus der Herrscherfamilie des Staates Han, der gerade zu seiner Zeit in großer Gefahr schwebte. Er suchte einen Plan zur Rettung seines Vaterlandes bei seiner Regierung zur Annahme zu bringen, fand aber kein Gehör damit. Darauf wandte er sich nach dem Staat Ts'in im Westen, der unter dem nachmals als Ts'in Schï Huang Ti bekannt gewordenen Herrscher anfing, die Herrschaft im ganzen Reiche durch Vernichtung der übrigen Staaten an sich zu reißen. In Ts'in war damals Li Sï allmächtiger Minister. Mit Li Sï zusammen hatte Hanfetse eine Zeitlang den Unterricht des Konfuzianers Hsün K'ing besucht, und es hieß allgemein, daß er der Bedeutendere der beiden Freunde sei. So ist es denn erklärlich, daß der Herrscher von Ts'in, der ihn bereits aus seinen Schriften kannte, mit Freuden bereit war, ihn zu verwenden. Es scheint, daß Li Sï eine nicht ganz klare Rolle gespielt hat. Jedenfalls wurde Hanfetse bald nach seiner Ankunft in Ts'in ins Gefängnis geworfen, sei es auf Anstiften oder unter stillschweigendem Dulden von Li Sï. Dort hat er sich dann im Jahre 233 v. Chr. ermordet, um einem schlimmeren Schicksal zu entgehen. Seine Schriften aber fanden in Ts'in nach seinem Tode große Beachtung.

Zu jener Zeit waren die Einflüsse der verschiedenen Kulturzentren: des nördlichen des Konfuzianismus, des südlichen des Taoismus und des zentralen der Schule des Mo Ti bereits in gegenseitigen Austausch getreten. Ein Sammelwerk wie das Lü Schï Tsch'un Ts'iu (Frühling und Herbst des Lü Bu We) zeigt diese Art von neuem Eklektizismus ganz deutlich. Man stellte sich vielfach nicht mehr auf den Standpunkt einer der streitenden Schulen, sondern entnahm an Gedanken da und dort, was etwa in den Allgemeinbesitz der damaligen Zeit übergegangen war. Hanfetse war nicht rein eklektisch, sondern hatte einen durchaus einheitlichen Standpunkt, den er durch Gedankenmaterial aus allen Schulen stützte. Seinen Zentralgedanken entnahm er dem Gedankengebäude der mittelchinesischen Staatsmänner. Es war der Gedanke, die Ordnung und Regierung des Staates durch geeignete Gesetze und Maßregeln durchzuführen. Dieser Gedanke stand im Gegensatz sowohl zum Konfuzianismus, der die Ordnung nicht durch die richtigen Gesetze, sondern durch die richtigen Menschen bewirken wollte, als zum Taoismus, für den es das Höchste war, wenn überhaupt nicht geordnet wurde. Der Gedanke der gesetzlichen Grundlage des Staates ging aus den Anschauungen des Mo Ti hervor, war aber ebenso das Eigentum der großen Staatsmänner jener Zeit. Übrigens steht die Art, wie der Konfuzianer Hsün K'ing die Sitte als Mittel zur Ordnung auffaßt, ebenfalls diesen Gedanken nahe. Hanfetse entnahm dem Konfuzianismus die starke Betonung der Autorität und des Rechts des Herrschers, die er zu einer vollkommen absoluten Monarchie übersteigerte, und die Bedeutung der Verwendung tüchtiger Menschen. Aber alle diese Gedanken sind umschlungen von gewissen taoistischen Prinzipien. So ist es durchaus erklärlich, daß er sich auch ausdrücklich mit der Kommentierung und historischen Beispielsammlung zu Aussprüchen des Laotse abgegeben hat.

Wir hatten gefunden, daß Laotse das Nichthandeln betonte als die beste Art, wie alles getan wird, und wie er betont, daß gerade die höchsten und weisesten Herrscher sich so zurückzuhalten verstanden haben, daß das Volk kaum von ihrer Existenz eine Ahnung hatte. Dieses Nichthandeln des Herrschers betont auch Hanfetse. Aber er gibt ihm eine andere Bedeutung. Bei Laotse ist das Nichtstun das höchste Tun, insofern dadurch die Natur des Herrschers mit dem kosmischen Einflüssen in Einklang kommt und auf diese Art mit der Notwendigkeit einer Naturgewalt ganz im Verborgenen wirkt. Nur ein ganz außergewöhnlich großer und weitherziger Mann – einer, der in seinem Ich die Welt liebte – konnte diese Art des Waltens durch Nichthandeln nach Laotse ausüben.

Bei Hanfetse liegt die Sache ganz anders. Für ihn ist das Nichthandeln der Bequemlichkeit und der Sicherheit des Herrschers wegen da. Wozu braucht sich der Herrscher anzustrengen? Es genügt, wenn er tüchtige und arbeitsame Beamte wählt. Die werden es sich nicht nehmen lassen, die ganze Arbeit für ihn zu tun, sodaß er in Ruhe das Glück der hohen Stellung genießen kann, ohne sich weiter anzustrengen. »Er macht das Nichtsmachen, und nichts bleibt ungemacht.« Scheinbar ganz in Übereinstimmung mit Laotse – aber freilich nur scheinbar.

Ein anderes kommt dazu. Es ist nicht nur bequemer für den Fürsten, die Beamten für sich handeln zu lassen, es ist auch sicherer. Denn wenn etwas schief geht, so trifft die Verantwortung die, die es gemacht haben, und der Monarch selbst bleibt unverantwortlich und kann die ungeschickten Beamten strafen.

Könnte man sich hierbei fragen, ob diese Ausführungen, die den Fürsten aus dem Regierungsmechanismus vollkommen ausschalten, letzten Endes nicht bloß den Zweck haben, dem Herrscher ein süßes Nichtstun zu bereiten, damit er die Staatsgeschäfte nicht durch sein Eingreifen störe, so zeigt sich doch wieder, daß Hanfetse letzten Endes nach der Art des Macchiavelli seine Ratschläge doch nur den Fürsten gibt. Das ergibt sich aus dem zweiten Grundsatz, den er vertritt. Laotse hatte gesagt, daß man des Reiches scharfe Geräte nicht den Leuten zeigen dürfe, so wenig wie man den Fisch der Tiefe entnehmen dürfe. Er hatte damit gemeint, daß man die Leute einfach und zufrieden halten solle, damit sich nicht die Begierden regen und allerlei Listen und Tücken den Frieden der großen Einfalt stören. Hanfetse nimmt diesen Grundsatz auf, aber er gestaltet ihn ebenfalls charakteristisch um. Der Herrscher soll nämlich die Beamten zwar immer in Atem halten, damit jeder seine Aufgaben möglichst vollkommen erfülle. Aber die letzten Fäden soll er immer selber in der Hand behalten. Er soll geheimnisvoll und unsichtbar sein wie Gott, unerwartet und plötzlich im Belohnen und Strafen, um die Gesinnung zu fördern, die seinen Zwecken dienlich sei. So hat er Lohn und Strafe als die starken Hebel unbedingt selbst in der Hand, die er ansetzt, wie sie seinen Zwecken, die er nie verrät, entsprechen. Die Macht und die Furcht, die aus dauernder Unsicherheit hervorgehen, sind die Mittel, die Hanfetse den Fürsten rät. Wir sehen hier Gedanken des Laotse vollkommen umgebogen zu einem System schwarzer Magie. Das stimmt ganz gut überein mit seinen Anschauungen über die menschliche Natur. Für Laotse war die menschliche Natur in ihren Ursprüngen in Harmonie mit dem Weltall und seinen Gesetzen. Nur das Begehren war die Quelle alles Übels, das mußte unterdrückt werden. Für Hanfetse ist das Begehren der Kern der Menschennatur. Natürlich ist das Begehren böse von Anfang an. Dennoch muß es gepflegt werden; denn es ist die einzige Handhabe, durch die der Fürst die Menschen in seine Dienste zwingen kann. Ein Mensch, der nichts begehrt, der nichts mehr fürchtet, nichts mehr hofft, ist unbrauchbar für den Fürstendienst, ja gefährlich. Einen solchen Menschen schafft man am besten beiseite. Den andern muß man kräftig mißtrauen. Ein Fürst darf nie seinen Beamten trauen, denn sie sind im geheimen seine Feinde; nur dadurch, daß er sie durch dauernde Unsicherheit in Schranken hält, hat er sie zu seinem Dienst bereit. Er darf aber auch nicht Weib und Kind trauen; denn sie bilden sonst nur die Werkzeuge, deren sich ehrgeizige Beamte zu ihren Zwecken bedienen. Vertrauen ist die Wurzel aller Übel. Vielmehr muß man die Menschen nur als Mittel lieben. Man liebt ein Pferd, weil es gut laufen kann; ein König liebt seine Untertanen, weil sie für ihn kämpfen; man liebt einen Arzt, weil er Wunden heilen und das Blut stillen kann. In seiner Liebe muß man vorsichtig sein: Ein Wagner wünscht, daß die Menschen reich und vornehm seien, nicht weil er es ihnen gönnt, sondern weil er sonst seine Wagen nicht los wird. Ein Sarghändler wünscht, daß die Leute sterben, nicht weil er sie haßt, sondern weil sonst niemand seine Särge kauft. So muß der Fürst auch immer dessen eingedenk sein, daß seine Nachkommen seinen Tod wünschen müssen, nicht weil sie ihn hassen, sondern weil sie der Lage der Dinge nach Vorteile davon haben. Darum muß er immer vorsichtig sein gegen Menschen, die von seinem Tode Nutzen haben.

Diese Grundsätze führt Hanfetse mit eisiger Kälte in ihrer Anwendung auf alle staatlichen Verhältnisse durch. Daraus leitet er eine unbedingt tyrannische Machtpolitik ab. Feste Prinzipien gibt es nicht, sondern was jeweils dem Fürsten nützt, ist zu verwenden; rücksichtsloser Opportunismus ist das einzige eines vorurteilsfreien Herrschers würdige Prinzip. Die Gesetze müssen streng sein und mit unfehlbar mechanischer Sicherheit funktionieren wie Naturgewalten. Nur dadurch bleibt der Fürst oberhalb jeder Verantwortung, denn nicht er ist es, der die Menschen tötet, sondern sie töten sich selbst, wenn sie in die Zähne der automatisch funktionierenden Strafmaschine geraten. Außerhalb des Fürsten darf es niemand im Staate geben, der frei ist, das ganze Leben ist umschränkt vom Zaun der Gesetze. Aber nicht nur die Handlungen, auch die Reden und Gedanken dürfen nicht frei sein. Nur wenn auch die Neigungen und Ansichten der Leute in Übereinstimmung mit den Zwecken des Fürsten sind, ist der Fürst seiner Leute sicher. Darum ist auch alle Liebe und Gnade auf Seiten des Fürsten zu verurteilen, weil dadurch ein Motiv in die Regierung kommt, das sich mit ihrem Mechanismus nicht verträgt. Nur wenn dieser Mechanismus lückenlos ist, ist er wirklich wirksam.

Es ist seltsam, was Hanfetse aus dem Taoismus gemacht hat, wiewohl man Punkt für Punkt sieht, daß alle seine Folgerungen streng logisch aus den Worten des Laotse abgeleitet werden können. Hanfetse war ein kühner Denker, der sich durch keine Erwägungen der Güte und Regungen des Herzens im Maschinengebäude seiner Gedanken stören ließ. Diese kalte Konsequenz hat er, wie schon angedeutet, mit Macchiavelli gemeinsam. Es ist aber bezeichnend, daß dieser Verteidiger und Lehrer der Tyrannen der Welt durch seinen eifrigsten Schüler, den Ts'in Schï Huang Ti, den Tod im Kerker gefunden hat, und daß sein Freund und Mitbruder Li Sï, der ihm zu diesem Tod verholfen hat, nicht weil er gütiger gewesen wäre als er, sondern weil er der Meinung war, solche Grundsätze besser als einziger Diener seines Herrn durchführen zu können als in Gemeinschaft mit einem so tüchtigen Genossen, nur wenige Zeit später von dem Sohn des Fürsten, den er zum Kaiser der Welt gemacht hatte, aus Dankbarkeit in der Mitte entzwei geschnitten wurde.

Wir sehen aus diesem Beispiel, wie sich die Verhältnisse in China gestalteten zur Zeit, als die alte Kultur ihren Untergang erlebte. Aus der schönen, freien Welt mit dem hohen Himmel darüber, aus dem stillen, friedlichen Bereich des ewigen Sinnes, den ein Laotse dem entzückten Auge enthüllt hatte, war eine finstere Hölle geworden, in der alle Dämonen tanzten. Hanfetses Lehren verhalten sich zum Taoismus des Laotse ebenso wie die spanischen Autodafes und die Hexenprozesse des Mittelalters zu den sanften Lehren des Nazareners, in dessen Namen sie vor sich gingen.

Nach Hanfetse finden wir noch einmal eine Enzyklopädie der taoistischen Lehren in den Werken, die unter dem Namen Huainantse bekannt sind. Sie gehen zurück auf den Enkel des Kaisers Wu Ti aus der Handynastie, Liu An, der zum Fürsten des Bezirks Huai Nan ernannt worden war. Er war dem Taoismus sehr ergeben und sammelte eine große Zahl von Gelehrten und Magiern an seinem Hofe, durch die er ein Sammelwerk über taoistische Wissenschaft zusammenstellen ließ, das zunächst den Namen Hung Liä Tschuan (Aufzeichnungen über die Große Klarheit) trug, später aber den Titel Huainantse erhielt. Nachdem er sein Vermögen in alchimistischen Versuchen aufgebraucht hatte, wurde er in politische Intrigen verwickelt, die ihm die Nachfolge als Kaiser des Reiches bringen sollten. Das Komplott wurde jedoch entdeckt, und der Prinz gab sich im Jahre 122 v. Chr. selbst den Tod. Doch behaupten spätere taoistische Schriftsteller, daß sein Verschwinden aus der Welt darauf zurückzuführen sei, daß es ihm gelang, unter den Unsterblichen Eingang zu finden.

Seine Lehren zeigen, wie die Vereinigung der nördlichen und südlichen Gedanken inzwischen Fortschritte gemacht hatte und wie die zeitweise hochgehenden Wogen der mittleren Schule, die den Anschauungen des Hanfetse ihre Schärfe gaben, sich inzwischen ausgelebt hatten. Alle jene listigen Methoden, die Menschen zu knechten und den Tyrannen zur Macht zu verhelfen, waren nicht nur für ihre Urheber verderblich geworden, sondern das Werk, das sie zustande gebracht hatten, indem sie dem Haus von Ts'in zur Weltherrschaft verhalfen, war nach kurzem Bestand ebenfalls zusammengebrochen und mit ihm die ganze alte chinesische Kultur. Es war über die Kraft gegangen. Inzwischen war die Handynastie hochgekommen, die zunächst mit voller Wucht den Aberglauben der Volksreligion pflegte, ehe sie im Konfuzianismus die brauchbarste Stütze für die Ordnung des Staates entdeckte und ihm zu der Stellung verhalf, die er, nicht ohne große Schwankungen und schwere Krisen, nachher Jahrtausende lang inne gehabt hat.

Huainantse bietet nun einen sehr interessanten Versuch, den Taoismus und den Konfuzianismus in seinem Sammelwerk zu vereinigen. Auch er geht vom Tao aus, das ja wenigstens dem Namen nach im Konfuzianismus ebenso wie im Taoismus die Grundlage bildet, wenn auch, wie wir gesehen haben, dasselbe Wort in jenen beiden Schulen doch etwas verschiedene Bedeutungen hat. Bei Huainantse finden sich hymnenartige Verherrlichungen der Allmacht und Allgegenwart des Tao, wie sie gelegentlich auch früher schon in taoistischen Schriften vorkamen. Dabei läßt sich nicht verhehlen, daß er nicht immer die Höhenlage der ursprünglichen Auffassung erreicht. Statt des wesentlich Qualitativen, das dem Tao bei Laotse zukommt, wird es doch stark quantitativ belastet. Manche der Ausdrücke sind so beschaffen, daß das Tao mit der Welt irgendwie zusammengehört, daß es die allgegenwärtige und doch magischer Verengung fähige Weltseele ist. Die Welt der Erscheinungen und der individuellen Unterschiede und die Welt jenseits der Erscheinungen und der individuellen Unterschiede beginnen als Diesseits und Jenseits auseinanderzubrechen. Kein Wunder daher, daß man magische Mittel suchte, um vom Diesseits ins Jenseits hinüberzugehen oder das Jenseits ins Diesseits hereinzuziehen und so die Unsterblichkeit, d. h. Todlosigkeit zu erlangen vom Standpunkt des Geborenseins aus. Man will das Geborensein, das diesseitige Leben festhalten, ohne den Preis des Sterbens, des Austritts aus dem Leben in der Erscheinung dafür zu bezahlen. An die Stelle dieses Preises tritt die Kunst der Magie. Wir werden uns noch mit diesem Problem zu beschäftigen haben, wenn wir den Zaubertaoismus behandeln. Hier mag es genügen, die feinen Sprünge des Gedankengebäudes anzudeuten, durch die jener Nebel hereindringen konnte.

Die Wirkungen der konfuzianischen Schule, wie sie in der Metaphysik der Werke »Große Wissenschaft« und »Maß und Mitte« sich ausgestaltet hatte, zeigen sich bei Huainantse darin, daß er an die Stelle des Begriffs Te, Leben, der bei Laotse das individuell gewordene Tao bedeutet, den konfuzianischen Begriff Hsing, Natur, Wesen gebraucht. Das Wesen des Menschen ist wie das Tao ursprünglich ruhig und rein und wird nur durch das Zusammentreffen mit den Objekten, die Begierden und Gefühle auslösen, getrübt und unruhig. In seiner Reinheit ist das Wesen des Menschen mit dem Tao eins. Dieses ursprünglich reine Wesen wohnt im Menschen. Es wird wohl vorübergehend bedeckt, wie Wolken die Sterne bedecken, es wird schwankend, wie im Tosen der Wellen der Himmel zu schwanken scheint; aber wie im Aufruhr der Elemente der Nordstern für den Schiffer den Kurs zeigt, den er zu nehmen hat, so ist auch das tiefste Wesen dem Menschen mitten im Getriebe des Lebens der Leitstern.

Die Pflege dieses Wesens ist für Huainantse ziemlich einfach. Da es ursprünglich gut ist und nur durch äußere Einflüsse und die Reaktion darauf verdorben wird, so genügt es, diese äußeren Anlässe zu entfernen, und der Mensch wird von selber recht. Immerhin ist das Begehren etwas, das von Huainantse anerkannt wird als notwendig zur Natur des Menschen gehörig, das nicht vollkommen beseitigt werden kann. Aber soweit das Begehren einfach auf die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse geht, ist es nicht schädlich und braucht nicht bekämpft zu werden. Nur soweit es Phantomen nachgeht und den Menschen »außer sich« bringt, ist es vom Übel und muß bekämpft werden. Da jedoch das Gute im Wesen des Menschen begründet ist, so braucht der Mensch kein Handeln und keine Anstrengung, sondern er darf einfach seiner inneren Stimme gehorchen, dann wird er von selber gut. Das Gute ist daher leicht zu tun, weil es natürlich ist, während das Böse schwer ist, weil es der Natur widerspricht und den Menschen dazu bringt, daß er sein eigenes Wesen verdrehen muß.

Damit übermäßige Begierden, die zum Bösen führen, nicht entstehen, ist es nötig, daß die Unterschiede im Besitz und Genuß, die zwischen den Menschen bestehen, nach Möglichkeit aufgehoben werden. Denn wenn die Menschen nichts Begehrenswertes bei anderen sehen, werden sie sich nicht zu Neid und Streit hinreißen lassen. Die ideale Welt des Huainantse ist also so beschaffen, daß möglichste Einfachheit herrscht, damit allgemeine Zufriedenheit das allgemeine Glück der Gesellschaft bedinge.

Bei der Art der Abfassung des Werkes kann es nicht wundernehmen, daß sich auch gewisse Widersprüche darin finden. Entgegen der Annahme, daß das Gute der Natur ganz selbstverständlich innewohnt, sodaß es sich nur darum handelt, es durch Bildung und Erziehung frei zu machen, steht doch auch die andere Auffassung, daß Gut und Böse natürliche Veranlagungen sind, die schicksalhaft dem Menschen zu eigen sind. Es gibt edle Menschen, die sind von selber gut, weil sie gar nicht anders können. Sie brauchen es nicht zu lernen und zu üben, da es in ihrem ursprünglichen Wesen begründet ist. Wieder andere gibt es, die sind trotz aller Erziehung und aller Bemühungen nicht zu bessern, weil das Böse in ihrer Natur steckt. Diese Anlagen sind ebenso notwendig wie ein schönes oder ein häßliches Gesicht, an dem sich durch allen Schmuck nichts Wesentliches ändern läßt. Der Einfluß der Erziehung und Kultur erstreckt sich nach dieser Auffassung nur auf die große Menge der Mittelmäßigen, die in sich die Möglichkeiten nach beiden Seiten haben. Dieser Widerspruch zwischen Notwendigkeit (Schicksal) und Freiheit ist freilich etwas, das sehr schwer, wenn überhaupt, zu überwinden ist. Auch Konfuzius hat es einmal ausgesprochen, daß die höchsten Heiligen und die geringsten Narren nicht zu ändern seien, obwohl auch er der Meinung war, daß die Menschen von Natur einander nahe stehen und nur durch Gewöhnung einander fern rücken.

Fassen wir zusammen, so müssen wir sagen, daß sich bei Huainantse kaum Ansätze von selbständiger Gedankenbildung finden, daß aber das eklektische Werk immerhin seine Verdienste hat durch die geschickte Art, wie es die verschiedenen Richtungen der vorangehenden Zeit in ein einheitlich geschlossenes System zu bringen unternimmt und das Gute würdigt, wo immer es sich findet. Auch ist über das Ganze ein Hauch milder Güte gebreitet, aus der ganz sicher die Persönlichkeit des Prinzen selber zu uns spricht, der durch seine Gelehrten dieses Werk hat zusammenstellen lassen.

Mit den Werken des Huainantse sind wir am Ende dessen angekommen, was man als philosophisch-schöpferische Literatur des Taoismus bezeichnen kann. Allerdings hat der Taoismus auch auf die Philosophen anderer Schulen eingewirkt, ebenso wie wir schon von Dschuang Dsi an konfuzianische Einflüsse im Taoismus finden. Solche konfuzianischen Philosophen, die sich mit auf taoistische Lehren stützen, sind z. B. Tung Tschung Schu und Yang Hsiung, ebenso wie der Skeptiker und Materialist Wang Tsch'ung.

Weit wichtiger als diese Einflüsse des Taoismus, die sich namentlich bei den Dichtern der konfuzianischen Richtung bis in die neueste Zeit herein finden, und die besonders in Zeiten politischer Unruhen die besinnlicheren unter den Staatsmännern aus der Arena des Tageskampfes in die stillen Berge und an das Ufer des großen Meeres geführt haben, ist die religiös magische Strömung des Taoismus, die dann auch ins Volk gedrungen ist.

Die klassische Philosophie Chinas zeichnet sich in bemerkenswerter Weise durch ihren Mangel an Aberglauben aus. Es gibt wohl kaum eine klassische Literatur aus jener Zeit, die so ruhig und souverän an diesen Tiefenregionen vorüberschreitet. Es wäre indes ein Irrtum anzunehmen, daß jene Tiefenschicht im chinesischen Volk überhaupt gefehlt habe. Sie bestand unter und neben den philosophischen Höhen weiter, wie das stets der Fall zu sein pflegt, wo sich das Denken einzelner in reinere Höhen erhebt.

Mit den unruhigen Zeiten zu Ende der klassischen Periode, mit dem Zusammenbruch der alten Kultur hing es zusammen, daß jene Tiefenschichten nun wieder emporquollen an die Oberfläche.

Die Vorbedingungen hierfür waren durch verschiedene Umstände gegeben. Die nördliche Richtung hatte im Konfuzianismus den Ahnenkult von jeher betont. Konfuzius selbst war dabei frei von jedem Aberglauben. Der Ahnenkult war für ihn nur die religiöse Form für die Durchführung der ethischen Pflicht der Kindesliebe nach dem Tode der Eltern. Er hat sich absichtlich nie bestimmt darüber ausgesprochen, ob die Toten Bewußtsein haben oder nicht. Aber es war nur zu verständlich, daß die feierliche Beschäftigung mit dem Tod durch Begräbnisriten und Ahnenkult ihre Wirkungen hatte. Der Gespensterglaube, der mit dem Ahnenkult ursprünglich gar nichts zu tun hatte, fand in ihm wenigstens einen Anhaltspunkt, und so entwickelte sich im Volksglauben mit der Zeit eine reiche Hierarchie von Göttern und Dämonen der verschiedensten Art, die alle irgendwie mit den abgeschiedenen Seelen von Menschen in Verbindung gebracht wurden. Die Lehre des Mo Ti, der sonst so rationalistisch und utilitaristisch gesinnt war, hat mit ihrem resoluten Theismus und ihrer Betonung des Glaubens an höhere Wesen diese Richtung noch mehr bestärkt. Die feingebildeten Skeptiker und die massiven Materialisten kamen dagegen nicht an. Götter und Dämonen hielten aufs neue ihren Einzug.

Aber auch die südliche Richtung des chinesischen Geisteslebens zeigte gewisse Ansatzpunkte für diese neue Geistesart. Schon bei Dschuang Dsi finden sich eine Menge Gleichnisse von Adepten und »wahren Menschen«, die alle irgendwie als Magier auftreten, »die, wenn die Wasserfluten bis zum Himmel aufschäumen, nicht ertrinken und die inmitten eines Feuers, in dem Steine und Metalle zerschmelzen und die Berge zu Asche zerbröckeln, nicht heiß werden«. Daraus hat sich dann in jenen Zeiten der Glaube entwickelt in den taoistischen Kreisen, daß es zu Lebzeiten möglich sei, sozusagen mit Haut und Haar dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu entgehen, sich aufzuschwingen als seliger Genius zu unsterblichem Leben. Wir sehen bei Dschuang Dsi ganz deutlich, daß es sich dabei um mystische Erlebnisse einer sublimen Yogapraxis handelt, wenn »das Herz wird wie tote Asche und der Leib wie dürres Holz«. Aber der Zug zur massiven Ausmalung dieser überintellektuellen Erlebnisse und ihre Projektion in eine bunte Märchenwelt des Aberglaubens hinein ist sehr leicht verständlich.

Dazu kommt, daß eine neue Naturphilosophie, die auf den Gelehrten Tsou Yän und seine Schule zurückgeht, im Anschluß an die Dualkräfte des Lichten und Schattigen aus dem Buch der Wandlungen und an die fünf Wandelzustände des Wäßrigen, Feurigen, Metallischen, Pflanzlichen und Erdigen aus dem Buch der Urkunden eine dynamische Naturanschauung geschaffen hatte, die dem Wunder weit die Türen öffnete. So war man auf alchimistische Gedanken gekommen. Man wollte die geheimen Wunderkräfte der Natur benützen, um die »Goldpille«, das Elixier des Lebens, herzustellen, das dem Leib des Menschen Unsterblichkeit verleiht.

Es kamen äußere Gründe hinzu, diese Anschauungen zu fördern. Die chinesische Kultur geht von dem Flußgebiet des Gelben Flusses aus. Erst in jener Zeit dringt sie in das Yangtsebecken vor. Dort fand sie aber nicht etwa kulturlose Wilde vor, sondern ebenfalls eine hochentwickelte Kultur, die freilich ganz andere Züge zeigte. Vor allem hatte sich hier eine blühende, gedanken- und gestaltenreiche Mythologie erhalten. Diese Mythologie übte nun besonders auf die Südrichtung der chinesischen Philosophie einen starken Einfluß aus. Schon Dschuang Dsi entnimmt den reichen Schatz seiner Gleichnisreden zum großen Teil aus jener Quelle. Besonders sehen wir die Gestalten dieses Mythus in den Elegien von Tsch'u ein buntes Leben führen, das von hier aus in die chinesische Literatur einströmt. Mit dem Vordringen nach Süden war aber gleichzeitig das Meer erreicht. Die altchinesische Kultur ist kontinental. Jetzt kommt sie mit der maritimen Einflußsphäre in Berührung. Wie bei jeder maritimen Kultur taucht hier der Sonnenmythus verbunden mit dem Mythus des Meeres auf. So treten die Erzählungen von den drei Inseln der Seligen auf, die fern im Osten im Meer liegen und die bewohnt sind von seligen Geistern, die aller irdischen Schwere entnommen sind.

Naturgemäß war es der Taoismus, der, an sich dem Süden nahe stehend, diese neuen Mythen besonders eifrig aufnahm. Denn in ihm waren eine Reihe von Tendenzen vorhanden, die diesen Mythen entgegenkamen. Wir haben schon den Pessimismus des Yang Tschu und die Weltflucht des Dschuang Dsi zu besprechen Gelegenheit gehabt. Alle diese Stimmungen boten Anknüpfungspunkte für die Ausmalung einer jenseitigen besseren Welt, die irgendwo im Raum verloren der Auserwählten harrte, die aus dem Lebenskampf sich flüchtend in ihr den Frieden fänden.

Der Grund, weshalb diese Richtung das ganze chinesische Denken auf Jahrhunderte hinaus durchdrungen hat, war, daß die neue Religion von einer ganzen Anzahl von Fürsten der vorchristlichen Jahrhunderte besonders gepflegt wurde. Die Magier, die im Besitz all jener Geheimnisse waren, hießen Fang Schi, was man beinahe mit »Zauberer« übersetzen kann. Und sie waren gern gesehen an den Höfen der Fürsten, die zu ihrer irdischen Macht gerne die irdische Unsterblichkeit dazu erlangt hätten. Manch einer dieser Fürsten ist an den Latwergen, die ihm seine Hofmagier brauten, in ein besseres Jenseits hinübergeschlummert. Es trifft sich merkwürdig, daß die beiden mächtigsten Herrscher um die Wende der Zeiten in gleicher Weise diesem Zaubertaoismus anhingen: Ts'in Schï Huang Ti, der, nachdem er die Welt unter seinem Zepter vereint hatte, auch die Dauer des Genusses seiner Macht sich sichern wollte, versammelte Magier aus allen Orten in großer Zahl. Er pilgert selbst zum heiligen Berg des Ostens, dem Taischan, dem er persönlich opferte und dessen Gottheit, die über Leben und Tod waltet, seither im Taoismus eine große Rolle spielt. Er sandte Boten aus hinaus ins Ostmeer; eine ganze Schar von Jünglingen und Jungfrauen segelten hinaus ins unbekannte Meer, um die Inseln der Seligen zu entdecken. Er versammelte Hunderte von Zauberern an seinem Hof, um das Lebenselixier zu brauen.

Aber auch der Begründer der Handynastie stand dem Taoismus sehr nahe. Eine Reihe seiner Helden und Ratgeber, wie der rätselhafte Tung Fang So, in dem man schon hundert Jahre nach seinem Tod eine Reinkarnation von Laotse sah, oder wie sein treuester Freund Tschang Liang († 189 v. Chr.) standen den taoistischen Zauberkünsten nahe. Charakteristisch ist die Legende, die sich über Tschang Liang gebildet hat. In seiner Jugend begegnete er einem uralten Manne, der da saß und die eine Sandale vom Fuß hatte fallen lassen. Tschang Liang hob sie ehrfurchtsvoll auf, worauf der Alte ihn für fünf Tage später an einen bestimmten Platz bestellte, wo er ihm wichtige Offenbarungen übermitteln wollte. Als Tschang Liang ankam, war der Alte schon da, schalt ihn wegen seines Zuspätkommens und bestellte ihn auf einen andern Tag. Aber erst das dritte Mal gelang es Tschang Liang, der sich nicht hatte schrecken lassen, zur rechten Zeit zu kommen, und nun gab der Alte ihm ein Buch, dessen Studium ihn zum Lehrer eines Kaisers machen werde. Zugleich bestellte er ihn für 13 Jahre später an denselben Platz, wo er ihn in Gestalt eines gelben Steins (Huang Schï) wiedersehen wolle. Das Buch verlieh Tschang Liang die Weisheit, mit der er seinem Herrn und Freund zum Erfolg verhalf. Als er nach 13 Jahren an jenen Platz zurückgekehrt sei, habe er in der Tat einen gelben Stein gesehen, in dem er seinen alten Lehrer wieder erkannt habe.

Ein Nachkomme dieses Tschang Liang, der im Jahr 34 n. Chr. geboren wurde, war Tschang Tao Ling. Er ist geboren am T'iän Mu Schan in der heutigen Provinz Tschekiang in der Nähe der Yangtsemündung. Früh schon wandte er sich den taoistischen Lehren zu – das Taoteking soll er schon mit sieben Jahren beherrscht haben –, verschmähte alle weltlichen Ehren und Schätze und ging nach dem Westen, der geheimnisvollen Gebirgswelt von Setschuan, der noch heute der Herkunftsort aller Wunder und Geheimlehren in China ist. Dort traf er nach einem Aufenthalt voll Askese und Meditation auf übernatürliche Weise den Laotse selbst, der ihm eine magische Geheimschrift überreichte. Später kehrte er nach dem Drachen- und Tigerberg (Lung Hu Schan) in der Provinz Kiangsi zurück, wo er die Unsterblichkeit erlangte. Seine Nachfolger und Nachkommen haben dann später von den Herrschern der We-, T'ang- und Sungdynastie Grundbesitz zugewiesen bekommen, und auch die Mongolen erwiesen sich freigebig. Der Titel T'iän Schï, »Himmelsmeister«, wurde erblich in der Familie. Es ist wie beim tibetischen Dalai Lama auch immer dieselbe Persönlichkeit, die sich wieder verkörpert, in diesem Fall Tschang Tao Ling, der immer beim Tod des jeweiligen Himmelsmeisters sich in einem Kind der Familie wieder verkörpert, was stets auf übernatürliche Weise bekannt gemacht wird. Man hat das Amt des Himmelsmeisters zuweilen als Taoistenpapst bezeichnet. Nicht ganz mit Recht; denn der Himmelsmeister hat zwar die unbedingte Herrschaft über alle Dämonen und Geister, die seinen Zauberrunen widerstandslos unterworfen sind, aber auf die taoistische »Kirche«, soweit man von einer solchen reden kann, hat er doch nur einen im wesentlichen moralischen Einfluß ohne klare verfassungsmäßige Grundlage.

So weit können wir die Entwicklung des Taoismus verfolgen. Er hat sich dann später unter dem Einfluß und im Kampf mit dem eindringenden Buddhismus zu etwas ganz Anderem entwickelt, als ursprünglich in ihm angelegt war. Allein die Darstellung dieser Veränderungen gehört nicht mehr in einen Überblick des Taoismus im Anschluß an Laotse, sondern in eine allgemeine Geschichte der chinesischen Religionen.

Laotse trifft Yin Hi an der Grenze. Holzschnitt


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