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Vorwort

Wenn man heutzutage es unternimmt, Laotse zu übersetzen, so bedarf das in den Augen sämtlicher Sinologen vom Fach einer ausdrücklichen Entschuldigung. Denn kein chinesisches Werk hat seit ungefähr hundert Jahren die Übersetzertätigkeit so sehr auf sich gezogen wie gerade der Taoteking. Das Rätselhafte und Schwierige des Textes gibt so viel zu denken und zu sinnen. Und da der Taoteking ein Werk ist, dessen Verständnis auch unter den chinesischen Gelehrten nicht eben häufig angetroffen wird, so pflegt der Mut des angehenden Sinologen der Aufgabe gegenüber zu steigen. So gut wie die chinesischen Literaten ihm nicht gewachsen sind, fühlt er auch in sich die Berechtigung, ihn, falls es nicht anders sein kann, mißzuverstehen. Ja diese Berechtigung zu individueller Auffassung pflegt noch wesentlich weiter zu reichen. Es soll in der deutschen Literatur mehr als eine freie Nachdichtung des alten Weisen umlaufen, die ihre Quellen nicht im Studium des chinesischen Textes hat, sondern in einem intuitiven Erfassen dessen, was andere, weniger geistvolle Übersetzer bei der Wiedergabe des Textes in englischer oder französischer Sprache sich an philosophischem Tiefsinn haben entgehen lassen, wobei seltsamerweise die Seelenverwandtschaft meist so weit geht, daß der alte Chinese in seinen Gedanken eine auffallende Übereinstimmung mit dem jeweiligen Übersetzer zeigt.

Man kann bei dieser Überfülle der Übersetzungen billig fragen, warum nun noch eine weitere dazukommen solle. Zwei Gründe sind es, die mir den Mut gegeben haben zu der vorliegenden Neuherausgabe. Der erste liegt in dem Plan des ganzen Unternehmens. Unter den Urkunden der Religion und Philosophie Chinas, selbst wenn, wie es beabsichtigt ist, nur das Allerwichtigste gegeben werden soll, darf das kleine Büchlein, das einen so großen Einfluß ausgeübt hat, nicht fehlen. Auch kommt es gerade dadurch, daß es so mitten drin steht in seinem natürlichen Zusammenhang, in eine Beleuchtung, die geeignet ist, manches, das in seiner Isoliertheit befremden muß oder unverständlich bleibt, aufzuklären und richtigzustellen. Der zweite Grund ist, daß gerade unter den vielen modernen Wiedergaben des alten Chinesen es sich vielleicht ganz gut macht, wenn er selbst auch einmal wieder zu Wort kommt.

Die Literatur über Laotse ist nicht klein. Bei ihrer Durcharbeitung habe ich die Erfahrung gemacht, daß das Neue, das über Laotse gesagt wird, in keinem Verhältnis zu der Masse des Vorgebrachten steht. Im Gegenteil, man kann beobachten, daß gewisse Dinge von einem Buch ihren Weg durch alle folgenden machen, indem sie teils anerkannt, teils bestritten werden. Bei dieser Lage schien es weniger darauf anzukommen, aus den vorhandenen europäischen Büchern wieder einmal ein neues zusammenzustellen. Vielmehr schien es eher wünschenswert, aus der chinesischen Literatur etwas beizubringen. So wurde denn sowohl bei der Übersetzung als auch bei der Erklärung durchweg auf chinesische Quellen zurückgegriffen. Die europäische Literatur wurde nicht vernachlässigt, aber doch erst in zweiter Linie berücksichtigt. Immerhin dürfte wohl keines der wichtigeren Probleme, die mit Beziehung auf den Taoteking zur Diskussion stehen, unberücksichtigt geblieben sein. Auch schweigendes Vorübergehen ist unter Umständen eine Art der Berücksichtigung, namentlich wo der Platz mangelt, um auf alle Details einzugehen und die eigene Ansicht ausführlich zu begründen. Gerade was Laotse anlangt, werden ja täglich neue Entdeckungen gemacht, und es wäre vielleicht verlockend gewesen, auch mit einer aufwarten zu können. Statt dessen wird manchem manches als veraltet erscheinen, das hier über den Taoteking beigebracht ist. Anderes wieder, das man gern entschieden sähe, mußte zweifelhaft gelassen werden. Aber das geht nun einmal so in der Welt. Man kann es nicht jedem recht machen. Alles in allem verdanke ich der Beschäftigung mit dem kleinen chinesischen Werkchen manche schöne Stunde ruhigen Schauens, und wenn es Leser gibt, denen es ebenso geht, so ist dieser Versuch einer Neuübersetzung nicht umsonst.

Dem Dozenten an der juristischen Fakultät der neuen Deutsch-Chinesischen Hochschule in Tsingtau, Herrn Dr. jur. Harald Gutherz, der diese Ausgabe durch Überlassung des von ihm stilisierten Märchens in den Erläuterungen zu Abschnitt 80 bereichert hat, sowie Herrn Oberlehrer Friedrich Boie in Thorn, der die Güte hatte, die Korrekturen zu lesen, sei auch an dieser Stelle herzlicher Dank gesagt.

Tsingtau, 1. Dezember 1910
Richard Wilhelm

 

 


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