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Einleitung

Persönlichkeit des Verfassers

Was wir von dem Verfasser der vorliegenden Aphorismensammlung historisch Beglaubigtes wissen, geht sehr eng zusammen. Es ist so wenig, daß die Kritik, die auf dem Gebiet der Sinologie noch in den Anfangsstadien der Schärfe ist, vielfach gar nichts mehr davon bemerkte und ihm samt seinem Werk im Gebiet der Mythenbildung den Platz anwies. Der Autor selbst würde seiner ganzen Art nach auch dagegen wenig einzuwenden haben. Auf Berühmtheit hat er nie Wert gelegt, und er hat es verstanden, sich vor den Augen der Welt gut zu verbergen, sowohl zu seinen Lebzeiten als auch nach seinem Tode. »Sein Streben war, sich selbst zu verbergen und ohne Namen zu bleiben«, ist das Urteil des chinesischen Geschichtsschreibers Sï-Ma Tsiën (163-85 v. Chr.) über ihn. Diesem Geschichtsschreiber verdanken wir die wesentlichen Daten über sein Leben, mit denen wir uns abzufinden haben. Der Name Laotse, unter dem er in Europa bekannt ist, ist gar kein Eigenname, sondern ein Appellativum und wird am besten übersetzt mit »der Alte«. Der Versuch, »Lao tse« mit » die alten Philosophen« wiederzugeben und somit nur einen Sammelnamen für viele Weise aus dem Altertum darin zu sehen (H. Gipperich), ist sprachlich unmöglich. Lao heißt »senex«, nicht »vetus«. »Veteres« heißt auf chinesisch »Gu Jen«. Er hatte den Geschlechtsnamen Li, der an Häufigkeit in China den deutschen Namen Maier noch übertrifft; sein Jugendname war Erl (Ohr), sein Gelehrtenname war Be Yang (Graf Sonne), nach dem Tode erhielt er den Namen Dan, bzw. Lau Dan (wörtlich: altes Langohr, sinngemäß übersetzt: alter Lehrer). Er stammt wohl aus der heutigen Provinz Honan, der südlichsten der sogenannten Nordprovinzen, und mag wohl ein halbes Jahrhundert älter gewesen sein als Kung, so daß seine Geburt auf das Ende des 7. vorchristlichen Jahrhunderts fällt. Im Lauf der Zeit hatte er am kaiserlichen Hof, der damals in Loyang (in der heutigen Provinz Honan) war, ein Amt als Archivar bekleidet. Damals sei es gewesen, daß Kung bei seiner Reise an den Kaiserhof mit ihm zusammengetroffen sei. Über dieses Zusammentreffen der beiden Heroen ist in der chinesischen Literatur viel die Rede. Außer in dem erwähnten historischen Werk wird auch in dem Werk Li Gi, das der konfuzianischen Schule entstammt, ferner in den – allerdings ziemlich späten – »konfuzianischen Schulgesprächen« (Gia Yü) sowie in der taoistischen Literatur von verhältnismäßig früher Zeit an dieses Zusammentreffen direkt oder indirekt erwähnt. Jedenfalls war dieses Zusammentreffen in der Zeit der Handynastie (zwei Jahrhunderte v. Chr.) schon so geläufig im Volksbewußtsein, daß wir in den berühmten Grabskulpturen in Westschantung (bei Gia Siang) eine bildliche Darstellung davon finden, wie Kung bei seinem Besuch dem Laotse als Ehrengabe einen Fasan überreicht. Über die Gespräche, die bei dieser Gelegenheit geführt wurden, finden sich mannigfaltige Berichte. Sie stimmen alle darin überein, daß Laotse über die Heroen der Vorzeit, die geehrten Vorbilder Kungs, ziemlich absprechend urteilt und ihn von der Hoffnungslosigkeit seiner Kulturbestrebungen zu überzeugen sucht, während Kung seinen Jüngern gegenüber sich voll Hochachtung über den unfaßbar tiefen Weisen äußert, indem er ihn mit dem Drachen vergleicht, der sich zu den Wolken erhebt. Im ganzen läßt sich der Stoff der aufgeführten Unterredung aus den Äußerungen des Taoteking sowie aus den Erzählungen von dem Zusammentreffen Kungs mit den »verborgenen Weisen« in »Gespräche« Buch 18 ungefähr zusammenstellen. Es ist klar, daß sich über den Wortlaut dieser Unterredung nichts Zuverlässiges mehr feststellen läßt. Ob man die ganze Unterredung, wie Chavannes in seiner Übersetzung Sï-Ma Tsiëns (Les mémoires historiques de Se-Ma Tsien, Bd. V, Paris 1905, S. 300 f.) geneigt ist, ins Reich der Fabel zu verweisen hat, ist schwer zu entscheiden. Zu denken gibt ja, daß sich in den »Gesprächen«, wo mehrere andere derartige Begegnungen erwähnt werden, nichts darüber findet. Oder ist »Gespräche« XVIII, 5 eine etwas bösartige Polemik gegen die von taoistischer Seite verbreitete Begegnungsgeschichte? (Laotse soll aus Tschu stammen). Dann wäre die Stelle ein indirekter Beleg. Jedenfalls wäre der Sachverhalt dann aber später vergessen worden; denn die Kommentare verstehen unter dem »Narren von Tschu« nicht Laotse.

Als die öffentlichen Zustände sich so verschlimmerten, daß keine Aussicht auf Herstellung der Ordnung mehr vorhanden war, soll Laotse sich zurückgezogen haben. Als er an den Grenzpaß Han Gu gekommen sei, nach späterer Tradition auf einem schwarzen Ochsen reitend, habe ihn der Grenzbeamte Yin Hi gebeten, ihm etwas Schriftliches zu hinterlassen. Darauf habe er den Taoteking, bestehend aus mehr als 5000 chinesischen Zeichen, niedergeschrieben und ihm übergeben. Dann sei er nach Westen gegangen, kein Mensch weiß wohin. Daß auch an diese Erzählung sich die Sage geknüpft hat, die Laotse nach Indien führte und dort mit Buddha in Berührung kommen ließ, ist verständlich. Bei den späteren Auseinandersetzungen zwischen den beiden Religionen behaupteten beide, daß der Religionsstifter der andern bei dem der eigenen Religion gelernt habe. In Wirklichkeit ist der Han-Gu-Paß nur im Westen des damaligen Staates Dschou, aber noch mitten in China. Irgendeine persönliche Berührung zwischen Laotse und Buddha ist vollkommen ausgeschlossen. Man hat da spätere Zustände in das historische Bild zurückgetragen.

Aber dabei blieb es nicht. Gerade weil das Leben des »Alten« der Forschung so wenig Anhalt bot, konnte die Sage um so freier damit schalten. Die Persönlichkeit des verborgenen »Alten« wuchs immer mehr ins Riesengroße und zerfloß schließlich zu einer kosmischen Gestalt, die zu den verschiedensten Zeiten auf Erden erschienen sei. Die albernen Spielereien mit der Bezeichnung Laotse (die auch mit »altes Kind« übersetzt werden kann) brauchen in unserem Zusammenhang nicht erwähnt zu werden.

Aus dieser Spärlichkeit und Unsicherheit der Nachrichten ergibt sich klar, daß wir über das Werk des Laotse wenig Aufschluß gewinnen können aus seiner Lebensgeschichte. Wie alles Geschichtliche, so löst sich auch das Lebensgeschichtliche für den Mystiker auf in wesenlosen Schein. Und doch spricht uns aus den vor uns liegenden Aphorismen eine originale und unnachahmliche Persönlichkeit an, unseres Erachtens der beste Beweis für ihre Geschichtlichkeit. Aber man muß das Gefühl für solche Dinge haben, streiten läßt sich darüber nicht. Schließlich kommt der Frage kein entscheidendes Gewicht zu. Der Taoteking ist jedenfalls vorhanden, einerlei wer ihn geschrieben hat.

 

Das Werk

Weit mehr als von dem persönlichen Lebensgang des Verfassers ist von seinem Werk in der chinesischen Literatur die Rede. Zum mindesten ein Ausspruch daraus wird in den Gesprächen des Kung erwähnt und kritisiert (Buch XIV, 36). Nun ist ja nicht ausgeschlossen, daß dieser Ausspruch aus weiter zurückliegenden Quellen stammt, die auch unabhängig von Laotse zugänglich waren. Aber wir sind auf diese Bezeugung nicht allein angewiesen. In erster Linie wird man in der taoistischen Literatur nach Zitaten suchen müssen. Und in der Tat fehlt es hier auch nicht daran. Es läßt sich konstatieren, daß von den 81 Abschnitten des Taoteking in den bedeutendsten taoistischen Schriftstellern der vorchristlichen Zeit weitaus der größte Teil sich zitiert findet, so schon in Lië Dsï (herausgegeben im 4. Jahrhundert v. Chr.) 16 Abschnitte. Dschuang Dschou (bekannt als Tschuangtse), der glänzendste Schriftsteller des Taoismus, der im 4. Jahrhundert lebte, hat seine ganzen Ausführungen durchgängig auf die Lehren des Taoteking basiert, so sehr, daß er sich ohne sie nicht denken läßt. Han Fe Dsï, der 230 v. Chr. unter Tsin Schï Huang Di starb, hat in Buch 6 und 7 eine teilweise sehr ausführliche Erklärung von zusammen 22 Abschnitten. Huai Nan Dsï endlich, ein Zeitgenosse Sï-Ma Tsiëns (gest. 120), Buch 12, erläutert der Reihe nach, meist durch historische Beispiele, 41 verschiedene Abschnitte. Im ganzen bekommen wir mindestens dreiviertel der Abschnitte auf diese Weise bezeugt. Das sind ganz günstige Verhältnisse für ein Werkchen von der Kürze des Taoteking. Es spricht aber auch dafür, daß der Taoteking keine buddhistische Fälschung aus später Zeit ist, es sei denn, daß man ihn auch der großen Fabrik Sï-Ma Tsiën & Co. entstammen läßt, die entdeckt zu haben Mr. Allen die Ehre hat.

In der Handynastie wenden sich mehrere Kaiser dem Studium des Taoteking zu, so besonders Han Wen Di (197 bis 157 v. Chr.), dessen friedliche und einfache Regierungsart als direkte Frucht der Lehren des alten Weisen bezeichnet wird. Sein Sohn Han Ging Di (156–140) legt endlich dem Buch die Bezeichnung Taoteking (Dau De Ging, d. h. »das klassische Buch vom Sinn und Leben«) bei, die es seither in China behalten hat.

Han Wen Di soll das Buch von Ho Schang Gung (dem »Herrn am Fluß«) erhalten haben, der auch einen Kommentar dazu geschrieben habe. Über die Person dieses Mannes, dessen Namen niemand weiß, ist man sich keineswegs im klaren. Auch chinesische Autoren (allerdings aus späterer Zeit) haben seine Existenz bezweifelt. Doch beginnen von jener Zeit an die Kommentare häufiger zu werden. Im Katalog der Handynastie sind allein drei aufgeführt. Der älteste der zuverlässigen Kommentare, die jetzt noch vorhanden sind, ist der von Wang Bi, dem wunderbar begabten Jüngling, der im Jahr 249 n. Chr. im Alter von 24 Jahren starb. Von da ab häufen sich die Kommentare aller Schattierungen. Selbst der Begründer der gegenwärtigen Mandschudynastie hat unter seinem Namen einen sehr berühmten Kommentar herausgeben lassen. Es würde zu weit führen, hier das Detail aufzählen zu wollen. Daß ein Werk wie der Taoteking in den Stürmen der alten Zeit auch manches zu leiden hatte, so daß der Text keineswegs in glänzendem Zustand ist, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Die Erklärungen zu den einzelnen Abschnitten werden sich genauer damit zu beschäftigen haben. Die Einteilung in Abschnitte ist nicht ursprünglich, nur die zwei Hauptteile vom » Sinn« (Dau) und vom » Leben« (De), nach den Anfangsworten der betreffenden Teile, scheinen ganz alt zu sein. Sie wurden dann in der Bezeichnung »Dau De Ging« zusammengefaßt. Die von uns beibehaltene Einteilung in 37 und 44 Abschnitte und die – nicht immer sehr zutreffenden – Überschriften, die in der vorliegenden Auflage weggelassen sind, gehen angeblich auf Ho Schang Gung zurück.

Die ältesten Holzdrucke finden sich in der Zeit der Sungdynastie.

 

Historische Stellung

Das Licht des chinesischen Altertums konzentriert sich in den beiden Brennpunkten Kungtse und Laotse. Um ihre Wirksamkeit würdigen zu können, muß man sich die historischen Verhältnisse vergegenwärtigen, unter denen sie gelebt haben. Das ist ohne weiteres klar für Kungtse. Er lebt in der Wirklichkeit. Darum ist er mittendrin in historischen Beziehungen. Die »Gespräche« z. B. sind voll von Erwähnungen und Beurteilungen historischer Persönlichkeiten der Gegenwart und der Geschichte. Würde man diese Beziehungen alle streichen, so bliebe er unverständlich. Eben darum steht er dem europäischen Geistesleben, das andere historische Zusammenhänge hat, bis auf den heutigen Tag so fremd gegenüber, und andererseits ist das der Grund, daß er das chinesische Geistesleben Jahrtausende hindurch so ungemein stark beeinflußt hat. Was Laotse anlangt, so scheinen die Verhältnisse ganz anders zu liegen. Kein einziger historischer Name ist in seinem ganzen Büchlein genannt. Er will gar nicht in der Zeitlichkeit wirken. Darum verschwimmt er für das historisch gerichtete China in nebelhafte Fernen, da ihm niemand zu folgen vermag. Und eben das ist der Grund, warum er in Europa so große Wirkungen ausübt trotz des räumlichen und zeitlichen Abstands, der ihn von uns trennt.

Sehr gut schildert der japanische Kommentar des Dazai Shuntai die Grundsätze der beiden. Erst gibt er einen kurzen Überblick über die Zeitverhältnisse und fährt dann fort, Kungtse habe das Volk angesehen wie Kinder, die aus Unvorsichtigkeit dem Feuer oder Wasser zu nahe gekommen und die man unter allen Umständen retten müsse. Er habe wohl erkannt, wie schwer die Rettung sei, aber die Verpflichtung zu retten sei darum doch nicht von ihm gewichen. So habe er jedes erdenkliche Mittel versucht, um die Lehren der alten Heiligen auf dem Thron, in denen er das Heilmittel sah, zur Anwendung zu bringen. Darum sei er die beste Zeit seines Lebens rastlos umhergewandert, um einen Fürsten zu finden, der geneigt gewesen wäre, diese Lehren anzuwenden. Nicht leere Geschäftigkeit oder eitle Ruhmsucht habe ihn zu diesen verzweifelten Anstrengungen gebracht, sondern die unerbittliche Pflicht zu helfen, weil er sich im Besitz der Mittel zur Hilfe wußte. Und als schließlich alles vergeblich war, weil die Verhältnisse so sehr aus den Fugen waren und ihm die Umstände auf keine Weise zu Hilfe kamen, da habe er resigniert. Aber auch dann noch habe er seine Verpflichtung nicht vergessen und habe im Kreise seiner Jünger und durch seine literarische Tätigkeit eine Überlieferung geschaffen, durch die wenigstens der Grundriß der alten guten Gesellschaftsordnung der Nachwelt aufbewahrt würde und seine Lehren als Samenkorn auf die Zukunft kämen, daß, wenn die Verhältnisse sich je wieder günstig gestalteten, ein Anhaltspunkt vorhanden wäre, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Laotse dagegen habe erkannt, daß die Krankheit, an der das Reich litt, keine solche war, der man mit irgendwelchen Medizinen – und wären es die besten – beikommen könne. Denn der Volkskörper war in einem Zustand nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Wohl hätten in früheren Zeiten auch böse Zustände geherrscht, aber damals sei das Böse sozusagen verkörpert gewesen in irgendeinem Tyrannen, während der Grimm des Volkes in starker Reaktion sich um einen edlen Neuerer geschart und so mit energischer Tat an Stelle des Alten eine bessere neue Ordnung gesetzt habe. Anders zur Zeit der endenden Dschoudynastie. Weder starke Laster noch starke Tugenden seien vorhanden gewesen. Das Volk seufzte zwar unter dem Druck seiner Oberen, aber es hatte nicht mehr die Kraft zu einer energischen Willenstat. Die Fehler waren keine Fehler und die Verdienste waren keine Verdienste. Und tiefgreifende innere Unwahrhaftigkeit hatte alle Verhältnisse durchfressen, so daß nach außen hin Menschenliebe, Gerechtigkeit und Moral noch immer verkündigt wurden als hohe Ideale, während im Innern Gier und Habsucht alles vergifteten. Bei solchen Zuständen mußte jedes Ordnen die Unordnung nur mehren. Solch einer Krankheit ist nicht mit äußeren Mitteln zu helfen. Besser, man läßt den angegriffenen Körper erst einmal zur Ruhe kommen, damit er durch die Genesungskräfte der Natur sich erst wieder einmal erhole. Das sei der Sinn der Vermächtnisses gewesen, das er bei seinem Scheiden aus der Welt in den 5000 Worten des Taoteking hinterlassen habe.

Diese im Auszug wiedergegebenen Ausführungen erklären zur Genüge die Geschichtsmüdigkeit Laotses, und warum er kein einziges historisches Beispiel in seinem Werkchen erwähnt. Wenn auch in anderem Rhythmus und mit anderer Betonung, hat um die Mitte des 18. Jahrhunderts Rousseau in seinem »Zurück zur Natur« dieselbe Wahrheit verkündet.

Dennoch würde es verkehrt sein, Laotse aus dem Zusammenhang des chinesischen Geisteslebens herauszuschälen; denn er ist mit tausend Fäden damit verknüpft. Wohl fällt das Geschichtliche als solches nicht in seinen Gesichtskreis. Aber er hat das chinesische Altertum dennoch gekannt, wozu ihm ja schon seine Stellung am Reichsarchiv Gelegenheit bot. Und er hat seine Lehren verkündigt in Anknüpfung an und unter unbedenklicher Verwertung von alten Weisheitssprüchen. Sein Buch ist voll von Zitaten, sowohl ausdrücklichen als auch – und das vielleicht noch mehr – stillschweigenden. Schon der eine Umstand, daß Abschnitt 6 des Taoteking von Lië Dsï dem Gelben Kaiser, einem mythischen Herrscher der grauen Vorzeit, zugeschrieben wird, zeigt, daß offenbar manches im Taoteking steht, was auch anderwärts überliefert war. In derselben Richtung hegt es, wenn Tu Tao Giën (nach St. Julien) alle die Stellen, die mit »also auch der Berufene« beginnen, einem ebenfalls auf den Kaiser zurückgeführten Buch (San) Fen (Wu) Diën entstammen läßt. Im einzelnen wird es schwer oder unmöglich sein, allen solchen Zitaten auf die Spur zu kommen. Es ist für die Sache auch vollständig gleichgültig, da ein so starker einheitlicher Geist durch das ganze Werk geht, daß alles, was darin steht, tatsächlich zum Eigentum des Verfassers geworden ist, mag es stammen woher es will. Uns genügt hier die Tatsache, daß Laotse ebensogut die Fortsetzung einer alten chinesischen Geistesrichtung bedeutet wie Kungtse. Ja es geht das sogar aus den Schriften der konfuzianischen Schule selbst hervor. Die Begriffe des Tao (Dau), von uns übersetzt mit » Sinn«, und des Te (De), von uns übersetzt mit » Leben«, finden sich ebenfalls in den konfuzianischen Schriften in kardinaler Stellung. Sie erscheinen dort nur in anderer Beleuchtung, ja man ist vielfach in der Lage, eine direkte gegenseitige Kritik, die die beiden Richtungen aneinander üben, zu beobachten. So ist gleich der Anfang des Taoteking eine Kritik des einseitig historisch als »Weg der alten Könige« gefaßten Begriffs des Tao, wie er bei denen um Kungtse gang und gäbe war. Die Stelle in den Gesprächen des Kungtse, die sich mit der Auffassung des Te (De), wie sie Laotse vertritt, beschäftigt, wurde oben schon erwähnt. In andern Dingen wieder herrscht zwischen beiden Richtungen vollkommenes Einverständnis, so z. B. in der hohen Wertung des »Nichthandelns« als Regierungsprinzip. Ein unversöhnlicher Gegensatz besteht in der Wertung des Li (Sitte, Anstandsregeln), das für Kungtse im Zentrum steht, während Laotse darin nur eine Entartungserscheinung sieht. Das hängt einerseits mit dem skeptischen Standpunkt, den Laotse der ganzen Kultur gegenüber einnimmt, zusammen. Andererseits scheint er gerade auch darin auf ältere Wertungen zurückzugehen als Kung, der sich in all diesen Stücken bewußt mit den Gründern der Dschoudynastie identifiziert. In dieser Hinsicht haben die späteren Taoisten ein richtiges Gefühl für den Tatbestand gehabt, wenn sie ihre Heiligen zum großen Teil der Zeit vor der Dschoudynastie entnehmen (vgl. Fong Schen Yen I). Das alles gibt uns einen Fingerzeig dafür, daß Laotse mindestens ebenso mit dem chinesischen Altertum geistige Fühlung hat wie Kungtse, der den überlieferten Stoff sehr stark nach seinen Anschauungen umredigiert zu haben scheint. Gerade daß in diesem redigierten Stoff, sowohl im »Buch der Urkunden« (Schu Ging) als besonders im »Buch der Wandlungen« (I Ging), noch so viel »Taoistisches« steht, ist der beste Beweis für unsere Auffassung.

Daß Laotse trotzdem sich in dem Strom des damaligen Lebens, da die Leute alle so stolz darauf waren, daß sie es so herrlich weit gebracht (vgl. Abschnitt 20), zeitweise vereinsamt fühlte, dieses Los teilte er mit andern selbständigen Denkern aus allen Zeiten, und es scheint ihm ja auch nicht besonders schwergefallen zu sein, sich mit diesem Schicksal abzufinden.

Laotse hat nicht wie Kung eine Schule gegründet. Dazu hatte er weder Lust noch Bedürfnis. Denn ihm lag nicht daran, eine Lehre zu verbreiten. Er hat für sich einen Blick getan in die großen Weltzusammenhänge und hat, was er geschaut, mühsam in Worte gebracht, es gleichgesinnten Geistern der späteren Zeit überlassend, selbständig seinen Andeutungen nachzugehen und im Weltzusammenhang selbst die Wahrheiten zu schauen, die er entdeckt. Das hat er auch erreicht. Es hat zu allen Zeiten einzelne Denker gegeben, die unter den vergänglichen Erscheinungen des menschlichen Lebens den Blick erhoben zu dem ewigen Sinn des Weltgeschehens, dessen Größe alles Denken übersteigt, und die darin Ruhe gefunden haben und Leichtigkeit, die es ihnen ermöglichte, den sogenannten Ernst des Lebens nicht mehr so gar ernst zu nehmen, weil ihm kein wesentlicher Wert an und für sich innewohnt. Aber auch sie bleiben Einzelne. Es liegt in der ganzen Art dieser Lebensdeutung, daß sie sich nicht in Massen pflegen läßt. Sie haben auch nicht alle die »reine Lehre«. Jeder einzelne von ihnen, von Lie Yü Kou (Lietse) und Dschuang Dschou (Tschuangtse) an, den schon Erwähnten, über den »Epikureer« Yang Dschu und den »Philanthropen« Mo Di (Metse), die beiden Sündenböcke des orthodox-konfuzianischen Mong Ko (Mencius), zu dem Soziologen Han Fe (Hanfetse), dem Zeitgenossen Tsin Schi Huang Dis, und dem »Romantiker auf dem Thron« von Huai Nan, Liu An (gewöhnlich Huainantse genannt), hat jeder seine eigene Art und macht daraus, was er eben kann.

Aber auch in späterer Zeit ist gar mancher, der als treuer Schüler Kungs im Lebenskampfe stand, durch die Schläge des Lebens zur Selbstbesinnung gebracht worden und hat alle weltliche Pracht und Mühsal dahingegeben für einen stillen Winkel im Gebirg oder an der See und hat in den Zeilen des Taoteking eine Deutung gesucht für seine Erfahrungen. Ein Beispiel für unzählige andere mag genügen. In der Nähe von Tsingtau liegt ein Gebirge namens Lau Schan, das in der chinesischen Literatur weithin gerühmt wird als Insel der Seligen. Romantische Felsenklüfte umschließen verborgene Klöster, die aus ihrem Versteck von Bambushainen und inmitten einer teilweise fast subtropischen Flora den Blick aufs weite blaue Meer eröffnen. In dieser Bergeinsamkeit hat schon mancher hohe Beamte, der gescheitert ist im Getriebe der Parteien am Kaiserhof, seinen Frieden gefunden in Betrachtung einer reinen Natur und in der Beschäftigung mit den Sprüchen des Taoteking. Es ist eine Beschreibung der berühmten Stätten des Lau Schan vorhanden, nur abschriftlich verbreitet in jenen Klöstern, von der ich mir ein Exemplar verschaffte. Sie stammt aus den wilden Zeiten, als die zerfallende Mingdynastie von dem gegenwärtigen Herrscherhaus verdrängt wurde. Ein kaiserlicher Zensor hat die unfreiwillige Muße seines Alters dazu verwendet, diese Aufzeichnungen zu machen. Fast jede Zeile zeigt den Einfluß der Worte des »Alten«. Gleich die Einleitung beginnt mit einer Ausführung, die seinen Geist verrät: »Wahren Wert erhält ein Wesen dadurch, daß es infolge seiner Berührung mit den Tiefen des Weltgrundes in eignem Licht zu leuchten vermag. Allein: große Kunst kennt keine Verzierung, großes Leben scheint nicht, ein großes Juwel hat rauhe Schale. Wie läßt sich das vereinigen? Eben durch die Erkenntnis, daß echtes Licht nicht erst der Anerkennung durch die Menschen bedarf, ja sich seines Glanzes fast schämt. Die Bedeutung der guten Gaben von Himmel und Erde beruht nicht darauf, daß sie für menschliche Zwecke brauchbar gemacht werden können. Ja man kann sagen, was nicht so viel innere Größe besitzt, daß von außen her gar nichts mehr hinzugefügt werden kann, das verdient überhaupt nicht groß genannt zu werden.« Aber die Wirkungen, die von Laotse ausgehen, beschränken sich nicht auf China. Der schon erwähnte Japaner sagt von sich: »Obwohl zweitausend Jahre später geboren, war ich doch mein ganzes Leben lang bemüht, in treuem Festhalten an den Lehren Kungtses an ihrer Verwirklichung mitzuarbeiten. Aber man mag auch von mir sagen, daß ich meine Kraft überschätzte. Nun bin ich nahe an Siebzig, und schnell nähern sich meine Tage ihrem Ende. Mein Wille ist noch ungebrochen, aber meine körperlichen Kräfte werden mählich müde. Da sitze ich und sehe den Veränderungen aller Zustände zu, wie alles dem Niedergang entgegengeht. Und ob ein Berufener unter uns aufstünde, auch er könnte nicht mehr helfen. Das sind dieselben herbstlichen Zustände wie damals, als Lau Dan seine 5 000 Zeichen niederschrieb. In dieser letzten Zeit ist weit besser als der ›Sinn der alten Könige‹ das ›Nichthandeln‹ des ›Alten‹.«

In einem der genannten Klöster des Lau Schan, der »Höhle der weißen Wolke« (Be Yün Dung), ist vor Jahren in spiritistischen Sitzungen vermittels der in China weit verbreiteten Methode der Psychographie ein zweibändiges Buch entstanden, in dem der Reihe nach die Heiligen und Weisen des chinesischen Altertums ihre Lehren aus dem Grabe verkündigen. Das Buch ist, wie alle derartigen Erzeugnisse zu sein pflegen. Es enthält manches Geheimnisvolle, manches Dunkle, manche Stelle von poetischem Reiz, aber nichts, das ihm irgendwie einen über das psychologische Interesse hinausgehenden Wert verleihen könnte. Die Worte, die jene verstorbenen Heroen aller Richtungen den Jüngern verkünden, sehen sich in ihren Grundgedanken fabelhaft ähnlich und stimmen alle überein mit den persönlichen Ansichten des Leiters der spiritistischen Sitzungen. Eine Stelle in dem Buch wirkt besonders belustigend: »Als nämlich Laotse seine Lehren verkündigt (in denen er sich im Verlauf der Jahrtausende, seit er den Taoteking geschrieben, ziemlich konsequent gleich geblieben zu sein scheint), unterbricht er sich plötzlich und erklärt, er werde eben nach London (Lun) in England (Ying) berufen, wo man seiner bedürfe, er werde zu gelegener Zeit in seinem Unterricht fortfahren.« Hat der alte Priester in seinem weltabgeschiedenen Bergkloster, das damals noch keines Europäers Fuß betreten hatte, wohl eine Ahnung davon gehabt, daß Laotse in Europa – Mode zu werden beginnt? Wie dem auch sei, jedenfalls ist es Tatsache, daß die Fäden, die von Laotse ausgehen, heutzutage sich auch in Europa immer mehr anzuknüpfen beginnen. Das schlagendste Beispiel dafür ist Leo Tolstoi, der in seiner Lehre vom »Nichts-Tun« eingestandenermaßen sich in Beziehung zu Laotse wußte, den er sehr hoch einschätzte. Aber auch die Schar der Übersetzungen des Taoteking, die gegenwärtig verbreitet werden, beweisen den Zug der Zeit zu dem verborgenen Alten.

Man wird im Bisherigen vermissen, daß von den Beziehungen Laotses zum Taoismus, den nächstliegenden, wie man denken sollte, nicht die Rede war. Das geschah mit Absicht; denn Laotse ist nicht der Begründer der heutigen taoistischen Religion. Der Umstand, daß er von den Vertretern dieser Religion als Gott verehrt wird, kann uns darin nicht irremachen. Es hat natürlich von alters her auch in China nicht an Leuten gefehlt, die ihre Ansichten in den Taoteking hineinzuerklären wußten, sei es, daß sie seine Lehren mit den konfuzianischen zu vereinigen suchten, sei es, daß sie die Pflege buddhistischer Kontemplation bei ihm fanden, sei es, daß sie ihn zu Hilfe nahmen bei Herstellung des Lebenselixiers oder des Steins der Weisen, der Blei in Gold verwandelt, sei es, daß er benützt wurde für militärische oder strafrechtliche Lehren, sei es, daß er verknüpft wurde mit dem animistischen Polytheismus oder mit gewissen vegetarischen und antialkoholischen Riten, oder daß man aus dem Taoteking Zaubersprüche zum Segnen und Fluchen zusammenstellte; ja bis in die Kreise der politischen Geheimsekten hinein, die mit ihrem Geisterzauber zu verschiedenen Zeiten den Umsturz des Bestehenden planten: überall mußte der alte Weise mit seinem Namen herhalten. Aber alle diese Richtungen sind, wie ein chinesischer Gelehrter sehr richtig bemerkt, nur Räuber an Laotse.

Die übliche Dreiteilung der chinesischen Religion in Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus ist anerkanntermaßen unzureichend und der Wirklichkeit nicht entsprechend. Will man ein Bild der wirklichen religiösen Zustände bekommen, so müßte man zunächst den Buddhismus, der sich in China ursprünglich gar nicht findet, ausschalten und mit dem Islam und dem Christentum zu den fremden Religionen stellen, wenn er auch immerhin diejenige unter den fremden Religionen ist, die am meisten Einfluß auf das chinesische religiöse Leben ausgeübt hat. Der Konfuzianismus ist ebenfalls keine Religion, sondern eine Staatslehre, die die vorhandenen religiösen Elemente mit verwandt hat als Baumaterial für sein Gesellschaftssystem, ohne jedoch im übrigen sie zu verarbeiten. Nur sichtend war seine Tätigkeit. Daß der Taoismus Laotses vollends keine kirchenbildende Kraft besitzt, dürfte nach dem Bisherigen selbstverständlich sein. Das, was man heutzutage Taoismus zu nennen gewohnt ist, geht in Wirklichkeit auf ganz andere Quellen zurück als den Taoteking des Laotse. Es ist nichts weiter als die in ein gewisses System gebrachte und mit indischen Lehren verwobene animistische Volksreligion des alten China. Es ist höchst wahrscheinlich und geht auch aus manchen Stellen der Gespräche des Kung hervor, daß diese animistische Volksreligion, die überdies wohl ursprünglich lokal verschieden war und erst infolge der politischen Vereinigung der betreffenden Volksstämme mit der Zeit sich zu einem Konglomerat zusammenballte, lange vor Laotse und Kungtse schon bestanden hatte. Sie hat sich in den Tiefen des Volkes auch forterhalten bis auf den heutigen Tag. Dieser Animismus ist ein Gebilde, wie es sich allenthalben auf der Welt in den Tiefen findet, in unserem christlichen Europa ebenso wie im Griechentum oder in Israel. Der Unterschied ist nur der, daß im Judentum und Christentum dieser populäre Animismus als Aberglaube gebrandmarkt ist, während er z. B. in China ein verhältnismäßig unangetastetes Dasein führt als etwas, das zur Bändigung der großen Masse gerade gut genug ist, während der Gebildete sich das Vorrecht vorbehält, es damit so zu halten, wie es ihm entsprechend der erreichten Bildungshöhe – oder seiner augenblicklichen Stimmung – gut dünkt. Dieser »Taoismus« ist daher auch nichts, das mit dem Konfuzianismus als solchem irgendwie in Konflikt treten müßte. Wo solche Konflikte hervortraten, waren immer Momente politischer Art das Ausschlaggebende. Wollte man nach Heroen dieser Art des Taoismus, dessen Hauptstärke im Geisterbannen und in allerlei Zauberkünsten besteht, suchen, so müßte man einen We Be Yang aus der Zeit der Handynastie, der das Lebenselixier »erfunden« hat, oder einen Dschang Dau Ling (geb. 34 n. Chr.) und Kou Kiën Dschï (423 n. Chr.) nennen, durch die die Würde des taoistischen Papsttums unter dem Titel Tien Schï (Himmelslehrer) aufkam, das noch heute in der Familie Dschang ähnlich wie das Dalailamatum durch Metempsychose sich forterbt. Mit Laotse hat das alles nichts zu tun, wie ihn denn auch ein gütiges Geschick davor bewahrt hat, Taoistenpapst zu werden.

 

Der Inhalt des Taoteking

Die ganze Metaphysik des Taoteking ist aufgebaut auf einer grundlegenden Intuition, die der streng begrifflichen Fixierung unzugänglich ist und die Laotse, um einen Namen zu haben, »notdürftig« mit dem Worte TAO (sprich: Dau) bezeichnet (vgl. Abschnitt 25). In Beziehung auf die richtige Übersetzung dieses Wortes herrschte von Anfang an viel Meinungsverschiedenheit. »Gott«, »Weg«, »Vernunft«, »Wort«, »λογος« sind nur ein paar der vorgeschlagenen Übersetzungen, während ein Teil der Übersetzer einfach das »Tao« unübertragen in die europäischen Sprachen herübernimmt. Im Grunde genommen kommt auf den Ausdruck wenig an, da er ja auch für Laotse selbst nur sozusagen ein algebraisches Zeichen für etwas Unaussprechliches ist. Es sind im wesentlichen ästhetische Gründe, die es wünschenswert erscheinen lassen, in einer deutschen Übersetzung ein deutsches Wort zu haben. Es wurde von uns durchgängig das Wort Sinn gewählt. Dies geschah im Anschluß an die Stelle im Faust I, wo Faust vom Osterspaziergang zurückkehrt, sich an die Übersetzung des Neuen Testaments macht und die Anfangsworte des Johannesevangeliums u. a. mit: »Im Anfang war der Sinn« wiederzugeben versucht. In den chinesischen Bibelübersetzungen ist λογος fast durchweg mit Dau wiedergegeben Es scheint das die Übersetzung zu sein, die dem chinesischen »Dau« in seinen verschiedenen Bedeutungen am meisten gerecht wird. Das chinesische Wort geht von der Bedeutung »Weg« aus, von da aus erweitert sich die Bedeutung zu »Richtung«, »Zustand«, dann »Vernunft«, »Wahrheit«.

Verbal gebraucht heißt das Wort »reden«, »sagen«, in übertragener Bedeutung »leiten«. (Von der Nebenbedeutung »Umkreis«, »Bezirk« können wir hier absehen.) Das deutsche Wort »Sinn« hat ebenfalls die ursprüngliche Bedeutung »Weg«, »Richtung«, ferner 1. »das auf etwas gerichtete Innere eines Menschen«, 2. »das Innere des Menschen als Sitz des Bewußtseins, der Wahrnehmung, des Denkens, Überlegens«; vgl. »der innere Sinn«, 3. »leibliches Empfindungsleben«, vorzugsweise im Plural gebraucht, 4. »Meinung, Vorstellung, Bedeutung von Worten, Bildern, Handlungen« (vgl. M. Heyne, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1906). Von all diesen Bedeutungen fällt nur die unter 3. verzeichnete als unbrauchbar weg, so daß die Übereinstimmung der Bedeutungen eine sehr weitgehende ist. Um übrigens den algebraischen Charakter des Wortes deutlich zu machen, ist es von uns durchgängig mit großen Buchstaben geschrieben worden.

Um hier gleich die Übersetzung des andern immer wiederkehrenden Wortes TE (sprich: De) zu rechtfertigen, so sei bemerkt, daß die chinesische Definition desselben lautet: »Was die Wesen erhalten, um zu entstehen, heißt De«. Wir haben das Wort daher (in Anlehnung zugleich an Joh. 1,4: »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen«) mit Leben übersetzt. Möglich wäre aber auch die Übersetzung mit »Natur«, »Wesen«, »Geist«, »Kraft«, Übersetzungen, die in den Gesprächen des Kungtse häufig verwandt wurden, aber hier wegen ihrer Kollision mit anderen vorkommenden Ausdrücken vermieden sind. Die gewöhnliche Wiedergabe mit »Tugend«, die für einige spätere Moralabhandlungen geeignet ist, paßt bei Laotse noch weniger als bei Kungfutse.

Gehen wir nach diesen Bemerkungen über die beiden grundlegenden Ausdrücke des Werks dazu über, den Standpunkt aufzusuchen, von dem aus Laotse seine Metaphysik aufbaut, so werden wir gleich vom ersten Ausgangspunkt an einen wesentlichen Unterschied von der antiken griechischen Philosophie zu konstatieren haben. Der Blick der alten griechischen Philosophen ist nach außen gerichtet, wo sie nach einem Prinzip für die Welterklärung suchen. Es ist in dieser Hinsicht nicht zufällig, daß ihre Werke zum großen Teil den Titel περι φυσεως tragen. Indem ein derartiges einseitiges Prinzip bis in seine letzten Konsequenzen verarbeitet wurde, zeigte sich stets an einem gewissen Punkt seine Grenze. Auf diesem Gebiet macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob man das Wasser, das Feuer, die Atome, das Sein oder den Geiststoff als Grundprinzip annimmt: immer ist es eine einzelne Seite der Gesamterfahrung, die in ihrer Anwendung notwendige Grenzen hat. Das ist dann auch der Grund, warum die einzelnen philosophischen Systeme sich in der kosmologischen Periode der griechischen Philosophie fortwährend abwechseln: Es fehlt ihnen allen die zentrale Begründung. Darum zeigt sich die Hauptschwäche aller dieser Systeme beim Übergang auf das psychologische Gebiet. Über eine materialistische Psychologie kann ein System, dessen Grundprinzip kosmologisch ist, niemals hinauskommen. Der Umschlag ging bei den Griechen bekanntlich durch die subjektivistisch-skeptische Periode der Sophisten hindurch, und erst einer dritten Periode war es vorbehalten, unter Verwendung des gesamten, wiederholt verarbeiteten Materials die großen Systeme eines Demokrit, Plato und besonders Aristoteles zu schaffen, die nach den verschiedenen Richtungen hin eine einheitliche Zusammenfassung des Denkens in die Wege leiteten.

Das chinesische Denken ging wesentlich andere Bahnen. Weder Kungfutse noch Laotse haben das humanistische Gebiet verlassen. Dies klar zu sehen, ist besonders gegenüber den Lehren des Laotse von grundlegender Wichtigkeit; denn daß Kungfutse durchweg sozial-ethisch orientiert ist, dürfte wohl auf keinen Widerspruch stoßen. Dagegen hat es den Anschein, als ob der Sinn, den Laotse verkündigt, etwas rein Kosmologisches wäre. Aber das ist nur Schein. Wiederholt gibt Laotse den Ausgangspunkt an, von dem aus er zu seinen Erkenntnissen oder, besser gesagt, Anschauungen kommt: Abschn. 21 u. 54. Das eine Mal ist vom Sinn die Rede, das andere Mal vom Leben. Beide Male steht zum Schluß die ausdrückliche Frage: Woher weiß ich, daß das so ist (nämlich was im Vorhergehenden behauptet wurde vom Sinn bzw. Leben)? Darauf folgt die zunächst seltsam anmutende Antwort: »Eben durch dies«. Die betonte Stellung, in der diese Worte stehen, zwingt, ihnen eine Bedeutung zu geben, die über die Behauptung einer bloßen Tautologie hinausgeht. Der Zusammenhang ergibt, daß der Erkenntnisgrund beide Male ein allgemeines Prinzip ist, das aber in dem reflektierenden Individuum selbst auch vorhanden ist. Eben durch dieses Teilhaben des Individuums an dem allgemeinen Wahrheitsprinzip ist den Erkenntnissen die Evidenz, diese Wurzel aller Sicherheit, gewährleistet. Ins Praktische übertragen ist dieser Satz dreimal erwähnt: Der Berufene tut das andere ab und hält sich an dieses (Abschnitt 12, 38, 72). Jedes aus der äußeren Erfahrung genommene Prinzip wird mit der Zeit widerlegt werden und veralten, weil mit dem Fortschritt des Menschen auch die Welterkenntnis sich ändert (und die erkannte Welt ist ja im Grunde die einzige vorhandene »Welt«). Was dagegen aus dem zentralen Erleben heraus erkannt ist (aus dem inneren Licht, wie es die Mystiker ausdrücken), das bleibt unwiderleglich, falls es wirklich rein und richtig geschaut war. So kann auch der bitterste Gegner des Laotse, der Kulturprophet Han Yü, ihm keinen andern Vorwurf machen als den, daß er in einem Brunnen sitze und die Welt nicht sehe; aber den Ausschnitt, den er sieht, kann ihm kein Mensch widerlegen. Denn, wohlgemerkt, es ist nicht das psychologisch bedingte, zufällige Einzel-Ich, das für Laotse in Betracht kommt. Dieses Einzel-Ich ist nur der Sitz der Täuschung und Gefahr. Vielmehr handelt es sich für ihn um das »reine« Ich, das dem Menschen als solchem eigen ist. Um vom empirischen Ich aus zu diesem Überindividuellen zu gelangen, ist natürlich eine weitgehende Abstraktion von allem Zufälligen, Einzelnen nötig. Darum erscheint dieses Eindringen in das Überindividuelle als Abnahme, während der Betrieb der Forschung mit seiner Anhäufung von Einzelkenntnissen als Zunahme erscheint (Abschn. 48). Was vor allem wichtig ist, ist, daß das Herz leer werde; erst dann kann es die großen Wahrheiten erfassen. Wenn Laotse immer wieder das leere Herz – sowohl auf dem Gebiet der Erkenntnis, als auch auf praktischem Gebiet – als den Idealzustand preist, so darf man, um zum richtigen Verständnis zu gelangen, nicht vergessen, daß »Herz« im Chinesischen etwas ganz anderes bedeutet als im europäischen, christlich beeinflußten Gedankenkreis. Während im europäischen Mut bzw. Gemüt im Vordergrund stehen und die Klangfarbe beeinflussen, ist das chinesische »Herz« zunächst einer der fünf Sinne, und zwar steht es an Steile des Sinnenkomplexes, der die unmittelbarste Berührung mit der Außenwelt vermittelt und den wir bei populären Aufzählungen als »Gefühl« zu bezeichnen pflegen. Dementsprechend ist das Herz auch der Sitz der Begierde nach Äußerem. Für Laotse ist die ganze Verstrickung mit der empirischen Außenwelt durch die Sinne und Begierden etwas Gefährliches, das auch die wahre Erkenntnis hindert, da es nur falschen Schein gibt (vgl. Abschn. 12). Darum ist das Mittel, um einzudringen in die Wahrheit, daß man die »Pforten« zuschließt, durch die jene verwirrenden Eindrücke in unser Inneres kommen (52, 56). Es ist ohne weiteres klar, daß auf diese Weise alles positive Wissen in den Hintergrund tritt. Ja alles »Wissen« und »Erkennen« wird von Laotse als unzureichend direkt verurteilt (Abschn. 19, 20). Man sollte denken, daß es so notwendig zu einer abstrakten Weltverneinung kommen müsse. Das ist aber keineswegs die Meinung. Vielmehr liegt dem allem die Anschauung zugrunde, daß, wo der Schein aufhört, das verborgene wahre Sein, das ewig ist und über den flüchtigen Wechsel des Sinnestrugs erhaben, sich um so klarer und reiner abzeichnen kann. Was Laotse erstrebt, ist darum kein »Erkennen«, sondern »Schauen«, innere »Erleuchtung«. Daß dieses Schauen mit asketischen Visionen nichts zu tun hat, daß Laotse vielmehr die Sorge für den »Leib« und die »Knochen«, d. h. die Körperlichkeit in ihrem notwendigen Bestand, durchaus billigt, geht aus einer ganzen Anzahl von Stellen hervor (vgl. 12, 3). Diese innere Erleuchtung führt ganz von selber zur Einfalt (vgl. 28), die im Kind, das noch nicht umhergetrieben ist von dem Wirrsal der Begierden, ihr schönstes Gleichnis hat. Das menschliche Wesen bildet so eine zusammenhängende, in sich zurückkehrende Einheit, deren Betätigung sich spontan vollziehen und innerhalb derer jede Äußerung nach der einen Seite sofort ihre Ergänzung findet durch ihr Gegenteil, das mit ihr gesetzt ist, so notwendig wie im Meer jede Welle von einem Wellental begleitet ist. Diese Harmonie des Ausgleichs wird auch durch Geburt und Tod nicht beeinflußt; sie bringt ewiges Leben, das über den Tod hinausreicht. An diesem Punkt führt die Verfolgung der Erkenntnisfrage des Laotse ganz unmerklich hinüber zu einem metaphysischen Prinzip: TE (De), dem Leben; denn das Leben ist nach Laotse eben nichts anderes als dieses spontan sich betätigende, mit dem Weltgrund letzten Endes identische Menschenwesen. Sehr wichtig dabei ist die Spontaneität der Betätigung; diese Spontaneität ist das Geheimnis des Lebens höchster Art (vgl. 38). Vom individuellen Standpunkt aus betrachtet erscheint allerdings gerade diese Spontaneität als etwas Negatives. Das Individuum hält sich zurück. Es lebt nicht selber, sondern es läßt sich leben, es wird gelebt (50). Daher die Betonung des Nicht-Handelns. Dieses Nicht-Handeln ist keine Untätigkeit, sondern nur absolute Empfänglichkeit für das, was sich von jenem metaphysischen Grunde aus im Individuum auswirkt. Das ist auch der Sinn der verschiedenen Stellen, wo das Leben als etwas Weibliches, rein Empfangendes bezeichnet wird. Gut ist dieses Leben insofern, als es in jedem Augenblick und in jeder Lage das entsprechende Verhalten zeigt (8). Seine Macht beruht eben darauf, daß es in jedem Verhältnis die notwendige Ergänzung bietet. Zu den Guten ist es gut, zu den Nichtguten ist es auch gut; denn es gibt jedem, was ihm fehlt zu seiner Ergänzung. Diese Ergänzung ist etwas, das ohne allen Streit sich darbieten läßt, sie ist sozusagen die Erfüllung eines leeren Platzes. Aber eben dadurch, daß diese Ergänzung gewährt wird, ist derjenige, von dem sie ausgeht, ganz von selbst der Überlegene. Indem so das Gute für Laotse ein Wechselbegriff ist, der sich nicht ein für allemal fixieren läßt, sondern jedem einzelnen Fall angepaßt werden muß, fällt alles einseitig Gesetzte notwendig unter das Urteil der Minderwertigkeit. Auch die höchste Tugend, die sich selbst behaupten, selbst durchsetzen will, ist etwas Minderwertiges, weil sie immer nur die eine Seite in dem jeweilig notwendigen Paar der Gegensätze repräsentiert. Wenn alle auf der Welt das Gute als gut erkennen, so ist damit schon das Nichtgute gesetzt. Darum ist das Leben, das sich durch äußere Vorkehrungen als etwas Positives durchsetzen will, minderwertiges Leben, selbst wenn es sich als Menschenliebe, Gerechtigkeit, Sittenregel äußert (38). In allen Fällen ruft eben die Position notwendig die Negation hervor. Wer sich mit der einen Seite eines solchen Gegensatzpaares identifiziert, hat damit, vom höchsten Standpunkt aus angesehen, unrecht. Wir haben hier eine Anschauung über das Leben, wie sie z. B. der ganzen Tragik zugrunde liegt und besonders von Hebbel auf den Begriff gebracht worden ist. Jede Überschreitung des Individuums ruft von Seiten des dadurch gestörten Weltzusammenhangs eine ausgleichende Reaktion hervor.

Der Mensch nun, der dieses Leben in sich verkörpert, der Idealmensch sozusagen, wird im Taoteking durchweg als Schong Jen bezeichnet. Wir haben den Ausdruck mit »der Berufene« übersetzt. Sonst findet sich auch wohl die Übersetzung »der Heilige«. Gemeint ist jedenfalls der Einzelmensch, der unter Hintanstellung seiner zufälligen Neigungen und Wünsche vollkommen jenem Prinzip des Lebens entspricht. Er lebt nicht sich selber und sucht nichts für sich selber, sondern läßt das Leben in sich zur Auswirkung kommen. In dieser Stellung ist er aber sozusagen eine kosmische Potenz. Das ist nur konsequent; denn es wird niemals gelingen, den Menschen aus der Welt auszuschalten, da er stets ein notwendiger Faktor des Komplexes, den wir als Welt bezeichnen, bleiben wird. Darüber kommen auch die modernsten Weltanschauungen nicht hinaus. Nach der philosophischen Arbeit Kants ist in diesem Stück ein ernstlicher Zweifel auch gar nicht mehr möglich. Der »Berufene« ist nun aber nicht in irgendeiner historischen Persönlichkeit verwirklicht, er ist eine überzeitliche Idee, an der jeder nach Maßgabe seiner inneren Übereinstimmung Anteil haben kann, in mancher Hinsicht dem jüdischen Messiasgedanken vergleichbar. In diesem Zusammenhang gewinnt vielleicht auch die dunkle Stelle Abschnitt 4 einiges Licht: »Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist, er scheint noch früher zu sein als Gott.«

Verfolgen wir diese Spontaneität noch eine Stufe weiter zurück über das Menschliche hinaus, so kommen wir zum Sinn (Dau). Wie das Leben im Menschen ist, so ist der Sinn in der Welt schlechthin als Spontaneität. Er ist verschieden von allen Dingen, entzieht sich jeder sinnlichen Wahrnehmung: Insofern fällt er auch nicht in den Bereich des Daseins. Laotse schreibt ihm wiederholt das »Nicht-Sein«, die »Leere« zu. Um diese Ausdrücke nicht falsch zu deuten, ist es notwendig, daß man beachtet, daß im Chinesischen das Negative eine andere Rolle spielt als im europäischen Gedankenleben. Sein und Nicht-Sein sind konträre, nicht kontradiktorische Gegensätze für den Chinesen. Sie verhalten sich gewissermaßen wie positive und negative Vorzeichen in der Mathematik. Insofern ist auch das »Nicht-Sein« kein rein privativer Ausdruck; oft könnte man es am besten mit »Für-sich-sein« übersetzen im Gegensatz zum »Dasein«. Interessant sind in dieser Hinsicht einige sprachpsychologische Beobachtungen, die sich noch an der modernen chinesischen Umgangssprache machen lassen. Doppelte Negation mit dem Wert einer starken Position ist zwar auch in Europa zulässig, aber das natürliche Sprachgefühl widerstrebt doch im allgemeinen einer derartigen Ausdrucksweise, während sie im Chinesischen ganz geläufig ist. Wo wir sagen: »Er wird sicher kommen«, sagt der Chinese unbedenklich: »Er kann nicht nicht kommen«. »Allgegenwart« drückt er aus: »Kein Ort, wo er nicht ist«. Die vollkommene Gleichwertigkeit von Position und Negation kommt vielleicht am schlagendsten zum Ausdruck bei der Antwort auf negative Fragen. Auf die Frage »Kommt er nicht?« antwortet der Chinese »Ja«, wenn er nicht kommt, weil das »nicht« der Frage für ihn keine privative Bedeutung hat, sondern mit dem »Kommen« zu einem Begriff, dem Begriff des »Nichtkommens« sich zusammenschließt, der ohne die Befürchtung eines Mißverständnisses ebenso bejaht werden kann wie irgendein positiver Begriff. In diesem Zusammenhang muß auch das »Nicht-Sein« bei Laotse verstanden werden; es ist nicht das einfache Nichts, sondern nur etwas vom Dasein qualitativ Verschiedenes. Der Sinn ist in allen Dingen, aber er ist nicht selbst ein Ding. Seine Wirksamkeit ist daher auch eine wesentlich qualitative. Eine Analogie haben wir dazu in dem geläufigen Begriff des Naturgesetzes. Das Naturgesetz kommt in allen Erscheinungen zum Ausdruck, ohne daß es etwas wäre, das in den Ablauf des Geschehens irgendwie von außen her eingreifen würde. Ebenso ist der Sinn des Laotse in allem Geschehen allgegenwärtig; er kann zur Rechten sein und zur Linken (34); aber er erschöpft sich nicht in irgendeinem Geschehen. Dieses sich Nicht-Erschöpfen oder, wie Laotse es ausdrückt, »Nicht-Voll-Werden« ist die Qualität, die ihn allen Dingen gegenüber unendlich überlegen macht, ohne daß sich diese Überlegenheit irgendwie einmal äußern würde. Dieses Nichtäußern der Überlegenheit, seine »Schwachheit«, ist es, was man als »klein« bezeichnen kann, während seine durchgehende Wirksamkeit in allen Dingen seine »Größe« ausmacht. Es bleibt noch zu erwähnen, daß die Ewigkeit des Sinns darauf beruht, daß seine Bewegungen alle in sich zurückkehrend sind. Alle Gegensätze werden durch ihn aufgehoben dadurch, daß sie sich gegenseitig ausgleichen, ja daß jede Bewegung notwendig in ihr Gegenteil umschlägt. Sind die Dinge stark geworden, so sterben sie; es ist eben die Stärke und die damit verbundene Starrheit, die ihren Tod herbeiführt. In der modernen Entwicklungsgeschichte könnte man Belege zu dieser Wahrheit finden in den einseitig überentwickelten und verfestigten Lebenstypen, die an dieser Entwicklung zugrunde gehen (vgl. die Saurier u. a.). Das Leben ist immer nur im Ganzen, niemals in einer Vereinzelung, darum kennt auch die Natur nicht Liebe nach Menschenart, sondern alle Wesen haben an ihrem Überfluß Anteil; wollten sie aber von diesem Überflusse für sich selbst etwas festhalten, so wären sie eben dadurch dem Tod verfallen.

Dieser Sinn ist daher, ontologisch betrachtet, die Wurzel alles Seins, aber da das Sein vom Nicht-Sein nur dem Namen nach, nicht wesentlich verschieden ist, so zeigt sich der Sinn auch wirksam innerhalb des Seins in Gestalt des Mütterlichen, Gebärenden, das die Einzelwesen hervorbringt zum Leben und wieder in sich zurücknimmt im Sterben.

Nachdem wir sozusagen induktiv zu dem Welterklärungsprinzip Laotses aufgestiegen sind, bleibt uns nun noch der umgekehrte Weg zu verfolgen übrig, der Weg, auf dem Laotse von seinem obersten Prinzip aus deduktiv zur Wirklichkeit herabsteigt. Wie sich nicht anders vermuten läßt, liegen gerade hier seine größten Schwierigkeiten.

»Der Gott, der mir im Busen wohnt,
kann tief mein Innerstes erregen.
Der über allen meinen Kräften thront,
er kann nach außen nichts bewegen.«

Etwas von der Not, die in diesen Versen ausgesprochen ist, hat auch Laotse zu erfahren gehabt, nicht nur persönlich in seinem Verhältnis zur Außenwelt, wie er es in tragischem Ausbruch (Abschnitt 20) klagt, sondern auch prinzipiell bei der Ableitung der Außenwelt aus dem Sinn. Man kann ihm daraus im Grunde keinen Vorwurf machen; denn dem Wirklichen wohnt eben tatsächlich ein irrationaler Rest inne, der sich denkend nicht erfassen läßt. Vielleicht ist eben dieser irrationale Rest der Daseinsgrund alles Individuellen. An ihm hat sich seit Urzeiten die Menschheit wundgerieben, ohne eine Antwort auf ihre Fragen zu finden – die vielleicht überhaupt nicht anders als durch den Willen jedes Einzelnen für ihn zu lösen sind. Wir dürfen von Laotse nicht erwarten, daß ihm gelingt, was keinem Philosophen vor ihm oder nach ihm gelungen ist: daß er mit dem Denken bis in die Wirklichkeit hineinreicht. Immerhin sind die Hilfslinien interessant, die er zieht, um die Richtung anzudeuten, in der der Sinn sich auf das Wirkliche zu bewegt.

Man wird zweierlei unterscheiden müssen: einmal die Bewegung, die vom Sinn als der letzten Einheit zu der Entstehung der Mannigfaltigkeiten führt, und dann die Linien, die vom Gedanken zur Wirklichkeit weisen.

Die Einheit ist es, von der Laotse ausgeht; insofern ist er entschiedener Monist (wie übrigens das ganze chinesische Denken letzten Grundes monistisch ist, trotz der so sehr hervortretenden Lehre von den Dualkräften, die aber nur innerweltlich wirksam sind). Diese Einheit ist das letzte, zu dem der Gedanke aufsteigt, das Geheimnis des Geheimnisses, die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte (1)... In dieser Einheit sind alle Gegensätze noch ungetrennt durcheinander. Sie ist dasselbe, was als vor dem »Uranfang« liegender »Nichtanfang« bezeichnet zu werden pflegt (vgl. Erklärung zu Abschn. 1). Diese Eins als These erzeugt die Zwei als Antithese (die Gegensätze von Licht und Finsternis, von Männlichem und Weiblichem, von Positivem und Negativem usw.). Aus dem Gegensatzpaar wird als drittes die sichtbare Welt geboren.

Daß übrigens die Einheit zur Mannigfaltigkeit fortschreiten kann, ohne daß etwas ganz anderes entsteht, wird dadurch ermöglicht, daß in der Einheit selbst schon eine Mannigfaltigkeit angelegt ist, ohne daß sie jedoch in ihrem Keimzustand in die Erscheinung zu treten fähig wäre. Das ist wohl der Sinn von Abschnitt 14, wo davon die Rede ist, daß eine unsichtbare Sichtbarkeit, eine unhörbare Hörbarkeit, eine ungreifbare Greifbarkeit in dem Sinn angelegt und daß diese Drei untrennbar durcheinander seien und Eins bilden. Diese Mannigfaltigkeit in der Einheit macht dann die weiteren Entfaltungen möglich. Daß es sich für Laotse nicht um eine historisch einmal eingetretene Weltschöpfung handeln kann, durch die diese Entfaltung sich vollzieht, ist ohne weiteres klar. Diese Entfaltung ist vielmehr wesentlich ein logischer Vorgang, der allerdings zeitlich zurückprojiziert werden kann und dann als Anfang von Himmel und Erde bezeichnet wird; aber ebenso zeigt sie sich innerhalb der räumlichen Welt in der fortdauernden Regeneration des Lebens (Abschn. 1). Die zur Mannigfaltigkeit ausgebreitete Einheit ist auch erwähnt in Abschnitt 25, wo diese Entfaltung in Form einer Kreisbewegung dargestellt ist. Der Sinn zeigt sich im Fluß befindlich und so im Himmel, d. h. der Gesamtheit der unsichtbar wirkenden, immateriellen Kräfte, sich auswirkend, von da aus übergehend zur äußersten Entfernung von sich selbst und so die Erde, d. h. die Gesamtheit der materiellen Körperlichkeit, befruchtend, endlich zurückkehrend zu sich selbst im Menschen. Mensch, Erde, Himmel haben demnach ihr Vorbild immer in der nächstvorangehenden Seinsstufe, und ihre Wirkungsweise ist damit abgeleitet vom Sinn, der die einzige unmittelbare Wirkung hat. Ganz ähnlich ist diese Einheit als Wurzel der Bestimmungsgemäßheit von Himmel, Erde und Mensch (Herrscher) bezeichnet in Abschnitt 59. Dort treten aber noch zwei Vorstellungskomplexe auf (die Götter und das Tal), die sofort in anderem Zusammenhang noch näher zu beleuchten sind.

Von diesem Verhältnis zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit zu unterscheiden ist der Übergang vom Sinn zur Wirklichkeit. Besonders charakteristisch in dieser Richtung sind Abschnitt 14 und 21, zu denen noch der Anfang von Abschnitt 51 heranzuziehen ist. Hier finden wir Andeutungen darüber, wie im Sinn die Wirklichkeit sozusagen potentiell angelegt ist. Es dürfte ein vergeblicher Versuch sein, in diese vereinzelten Intuitionen, die sich dem begrifflichen Ausdruck entziehen, irgendein festes System bringen zu wollen. Man merkt es den Stellen an, daß sie stammelnd reden von Erlebnissen, die das menschliche Denken übersteigen. Im allgemeinen läßt sich ja wohl sagen, daß eine gewisse Verwandtschaft mit der Platonischen Ideenlehre vorhanden ist. Wiederholt ist davon die Rede, daß das Sich-Auswirken des Sinns in den Geschöpfen, d. h. den Einzelwesen der Wirklichkeit, dadurch ermöglicht werde, daß im Sinne selbst in unfaßbarer Weise gestaltlose und unkörperliche Ideen (Bilder) enthalten seien. Zur Vermittlung des Heraustretens dieser Ideen bedient sich Laotse einerseits des Begriffs des Lebens (Des großen Lebens Inhalt folgt ganz dem Sinn, d. h. gestaltet sich nach ihm; Abschn. 21), andererseits des Begriffs des Samens. Von dem Leben und seinem Verhältnis zum Sinn war oben schon die Rede. Was die Vorstellung des Samens anlangt, so nimmt sie eine Zwischenstellung ein zwischen der Welt der Ideen und der körperlich materiellen Welt. Dem Samen kommt nach Abschnitt 21 Realität zu, und damit ist die Verbindung mit der Außenwelt hergestellt.

Neben dieser Ableitung findet sich die sonst übliche Dualität von Himmel und Erde verwendet. Der Himmel repräsentiert in diesem Zusammenhang die geistigen Kräfte, während die Erde dem Materiellen – als der größten Selbstentäußerung des Sinns – nähersteht. Ein anderes Begriffspaar ist zu erwähnen, das in Abschnitt 6 und 39 vorkommt: die Tiefe oder Leere (wörtlich: das Tal) und der Geist bzw. die Götter (Sehen). Die Tiefe oder Leere ist ursprünglich der unerfüllte Raum zwischen zwei Berghängen. Im Anschluß wohl an ältere mythische Vorstellungen knüpft sich daran die Auffassung von der Entstehung des Lebens durch die Einwirkung des Geistes. Die Tiefe gewinnt dann beinahe die Bedeutung dessen, was wir Materie nennen, das an sich noch Unbestimmte, Unaktive, die bloße Möglichkeit zum Sein, während der Geist dann das entsprechende aktive Prinzip hinzubringt. Es würde zu weit führen, den hier angedeuteten Spuren zu Ende folgen zu wollen. Es würde sich zeigen, daß wir hier in eine Vorstellungsreihe hineinkämen, die von den übrigen im Taoteking durchgeführten einigermaßen abweicht. Aber sie mag wenigstens erwähnt werden, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

In diesen Gedankenreihen hat der spätere Taoismus sehr weitgehende Spekulationen gepflegt, die zum Teil ins Phantastisch-Uferlose gehen und eng verbunden sind mit den alchimistischen Versuchen, ein Lebenselixier zu finden, oder mit dem asketischen Streben, durch allerhand leibliche Übungen die Lebenskräfte so in sich zu konzentrieren, daß auch der Körper der Sterblichkeit entnommen bleibe. Es ist ein Zeichen für die Höhe des Standpunkts von Laotse, daß derartige Dinge ihm fremd sind und er sich auf Andeutungen des Unaussprechlichen beschränkt, deren Verfolg jedem einzelnen überlassen bleiben mag.


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