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Erster Teil. Der Sinn

 

1

Der Sinn, der sich aussprechen läßt,
ist nicht der ewige Sinn.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name.
»Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde,
»Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschieden durch den Namen.
In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis
ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.

Dieser Abschnitt bildet gewissermaßen die theoretische Grundlage des ganzen Werks. Er beginnt mit einer Abgrenzung gegen die übliche rein praktische Anwendung der Begriffe Sinn und Name. »Sinn« (bzw. »Weg«; vgl. Einleitung) war in den Zeiten der niedergehenden Dschoudynastie häufig als die Summe der von den alten Königen überlieferten Lehren zur Leitung des Volks verstanden worden. Dieser »Sinn« in seiner historischen Begrenztheit ist nicht das, was Laotse im Auge hat. Sein Begriff (»Name«) ist überzeitlich, daher nicht anwendbar auf irgend etwas empirisch Vorhandenes. Damit verläßt Laotse den Boden des historisch Überlieferten und wendet sich der Spekulation zu.

Hier findet er das Sein in seiner zweifachen Form als absolutes An-und-für-sich-Sein und als Dasein. Im absoluten Sein in seiner negativen Form ist die Existenzmöglichkeit der Welt (der geistigen = Himmel und der materiellen = Erde) gesetzt, während innerhalb des Daseins die stetige Neugeburt der Einzelwesen sich vollzieht. Dementsprechend gestaltet sich die Erkenntnis: Die Richtung auf das Absolute führt zur Erkenntnis des Jenseitigen (des »Denkens«), die Richtung auf das Dasein führt zur Erkenntnis der räumlichen, ausgebreiteten Welt der Individuation. Diese beiden (»Denken und Sein« würde Spinoza sagen) sind aber nur Attribute des All-Einen, identisch im Wesen und nur verschieden in der Erscheinung. Zur Erklärung dieser Einheit mag die symbolische Figur des Tai Gi (Uranfang) herangezogen werden, die im alten chinesischen Gedankenleben eine Rolle spielt und namentlich später zu unendlichen Spielereien verwendet wurde, nämlich die bildliche Darstellung des Ineinanderseins von Positivem und Negativem:

Symbol

wobei die weiße Kreishälfte, die in sich wieder einen schwarzen Kreis mit weißem Punkt hat, das positive, männliche, lichte Prinzip bedeutet, während die entsprechend gestaltete schwarze Hälfte das negative, weibliche, dunkle Prinzip versinnbildlicht. Diese symbolische Figur ist wohl gemeint mit dem großen Geheimnis der Einheit des Seienden und Nichtseienden (= μή όν), wie immer bei Laotse, wenn vom »Nichtseienden« die Rede ist). Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis wäre dann das sogenannte Wu Gi (der »Nichtanfang«, noch jenseits des Tai Gi), in dem alle Unterschiede noch ungetrennt durcheinander sind und das durch einen einfachen Kreis dargestellt zu werden pflegt:

Symbol

Es ist sozusagen die bloße Möglichkeit des Seins, gewissermaßen das Chaos. Vgl. hierzu Abschnitt 25. Zum »Tor des Sinns« vgl. Kung, Gespräche VI, 15.

 


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