Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II. Die Welt der Erscheinungen

Das Wesen, das Tao, ist in der Wirklichkeit ausgebreitet als Welt der Erscheinung. Diese Welt kann Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sein; denn in ihr finden sich die Dinge, deren Dasein die Möglichkeit begrifflicher Bezeichnung gibt. Die Welt der Wirklichkeit ist aber nicht etwas vom Tao Verschiedenes. Laotse ist fern von jeder Theorie einer Emanation der irdischen Welt aus einer höheren Welt. Denn die Welt des Tao ist nicht die abstrakte Einheit, sondern wie wir gesehen haben, sind in ihr Mannigfaltigkeiten angelegt. Im Tao sind Bilder, Dinge, Samen. Freilich sind diese Bilder nicht getrennte Sondererscheinungen, sondern sie sind potentiell in dem einheitlichen Tao angelegt. Aber diese Dinge und Bilder sind es, die als Samenkräfte der Wirklichkeit die Erscheinungen bedingen, die sich in unserer Welt finden.

Um zu verstehen, was Laotse mit diesen Bildern meint, muß man die Platonische Ideenlehre heranziehen. Allerdings ist der Unterschied vorhanden, daß die Ideenlehre bei Laotse nicht dialektisch entwickelt wird. Es ist keine irgendwie geartete Abstraktion, durch die er auf seinen Gedanken kommt, sondern es ist eine primäre Schau aus inneren Tiefen heraus, die ihm jene »Bilder« zeigt. Diese Bilder sind unkörperlich, unräumlich. Sie sind nur wie die vorüberhuschenden Bilder auf der klaren Fläche eines Spiegels. Diese Bilder von Dingen sind die Samen der Wirklichkeit. Wie im Samenkorn der Baum enthalten ist, unfaßbar, unsichtbar und doch vollkommen eindeutig als Entelechie, so sind in diesen Samen-Bildern die Dinge der Wirklichkeit enthalten. Sie treten zuweilen hervor und entwickeln sich dann auf ganz fest bestimmte Art, denn diese Samen sind ganz echt, in ihnen ist die Zuverlässigkeit des Geschehens begründet; es kommt nie vor, daß aus dem Samen der einen Art ein Ding der anderen Art hervorginge. Aber auch wenn sie auf diese Weise hervortreten, so erstarren sie nie im Sein, sie kehren wieder zurück ins Undingliche und lassen die Schalen der Erscheinungen, die sie einst beseelt haben, tot und leer zurück. Doch das Leben ist nicht gestorben, auch wenn die »strohernen Hunde« der Erscheinungen weggeworfen und zertreten werden.

Wir sehen in dieser Ideenlehre des Laotse eine Fortentwicklung der Lehre von den Keimen, wie sie im Buch der Wandlungen enthalten ist. Was dort als Keim bezeichnet ist, aus dem nach dem festen Gesetz der Wandlungen sich eine sukzessive Reihe von Vorgängen entwickelt, ist bei Laotse das Bild, das als unsichtbares immanentes Gesetz das Werden und Vergehen der Dinge der Wirklichkeit leitet.

Eine merkwürdige Ableitung dieses Geschehens, die oben schon erwähnt ist, gibt er gelegentlich, ebenfalls im Anschluß an das Buch der Wandlungen, nämlich wenn er sagt, die Eins erzeuge die Zwei, die Zwei erzeuge die Drei, und die Drei erzeuge alle Dinge. Hier ist der Vorgang der Setzung entwickelt. Indem die Eins als Entscheidung, als Grenze, als Linie oder sonstwie gesetzt wird, ist damit das andere, das nicht eins ist, gleichzeitig gegeben. Durch Hervortreten des Einen wird das Zweite erzeugt. Indem aber die Zwei zur Eins tritt, entsteht die Drei. Diese Drei bildet dann wieder eine Einheit erweiterter Art, die eine Mannigfaltigkeit bereits in sich schließt. Darüber hinaus läßt sich der Vorgang nicht fortsetzen, ohne daß man auf eine Mehrheit kommt. Daher heißt es: Die Drei erzeugt alle Dinge.

Um diese Spekulation zu verstehen, genügt es, in der alten Philosophie auf den Neuplatonismus hinzuweisen. Auch die altchristliche Spekulation über die Trinität, deren Weiterbildung zur Vier den Luzifer erzeugt, hat Verwandtschaft mit diesem Gedanken. Ja, bis in die neue Zeit ragen ähnliche Auffassungen herein. Die dialektische Bewegung Hegels, die aus These, Antithese und Synthese besteht, wobei die Synthese als These wieder Ausgangspunkt des weiteren wird, beruht genau auf derselben Auffassung, die Laotse ausspricht.

Diese beiden Urkräfte, aus denen als Drittes die sichtbare Welt geboren wird, sind Himmel und Erde, das Yang (die lichte Kraft) und das Yin (die dunkle Kraft), positive und negative Reihe, das Zeitliche und das Räumliche: kurzum die Gegensätze, aus denen jeweils das Erscheinende hervorgeht. Himmel und Erde werden mit einem flötenartigen Musikinstrument verglichen, das geblasen wird. Es ist selber leer, aber durch das Blasen entquellen ihm Töne, je mehr man bläst, desto mannigfaltigere. Die ganzen unendlichen Melodien kommen hervor in ununterbrochener Folge, aber sie sind gebannt durch das Instrument, das doch selbst nicht Ton ist. Die Flöte ist die Erde, der Hauch ist der Himmel. Wer aber setzt den Hauch in Bewegung? Wer ist der große Flötenspieler, der aus dieser Zauberflöte die bunte Welt hervorlockt? Es ist letzten Endes das Tao. Nicht irgend eine äußere Ursache liegt ihm zugrunde, sondern in freier Natürlichkeit bewegt es sich aus seinem eigenen innersten Wesen heraus.

So nimmt das Tao in der Welt der Erscheinungen eine Doppelstellung ein. Es entläßt die Samen der Ideen ins Dasein, wo sie sich zu Dingen, die im Raum und in der Zeit ausgebreitet sind, entfalten. Es ist der große Flötenspieler mit seiner Zauberflöte. Es ist der Ahn aller Geschöpfe, die Wurzel von Himmel und Erde, die Mutter aller Dinge. So hat es eine dem Dasein zugewandte Seite. Aber wollte man es fassen, schauen oder belauschen, so wäre das doch nicht möglich. Es zieht sich wieder zurück ins Nichtwesen, wo es unerreichbar und ewig ist. Denn alle Dinge unter dem Himmel entstehen aus Seiendem. Das Seiende aber entsteht aus dem Nichtseienden und kehrt ins »Nichtseiende« zurück, mit dem es nie aufhört, wurzelhaft verknüpft zu sein. Denn dieses »nichtseiende« Tao ist die Triebkraft alles dessen, was in der Erscheinungswelt sich bewegt. Die Funktion, die Wirkung alles »Seienden «beruht auf dem »Nichtsein«. Durch die leeren Räume wird sozusagen die Wirklichkeit aufgelockert und damit brauchbar, wie die Radnabe dadurch, daß sie »nichts«, d.h. leer ist, die Wagenräder drehbar macht, oder die Gefäße, die Zimmer eben durch das »Nichts«, das an ihnen ist, durch den hohlen Raum brauchbar werden. So wirkt das Tao in der Welt der Erscheinungen eben durch das Nichthandeln.

Nachdem wir verfolgt haben, wie aus dem Tao durch die Vermittlung der Ideen die Welt der Erscheinungen »hervorgeht«, bleibt noch übrig, einen Blick auf die Erkenntnistheorie bzw. die Lehre von den Begriffen, wie sie bei Laotse vorhanden ist, zu werfen. In der chinesischen Philosophie jener Zeit spielt das Problem vom Verhältnis von »Name und Wirklichkeit« eine große Rolle. Während sich unter den späteren Rationalisten immer mehr der Nominalismus ausbreitet, nach dem der »Name« etwas rein Willkürliches ist, das die Wirklichkeit niemals erreicht, ist die klassische Philosophie des Kungtse und des Laotse darin vollkommen einig, daß die Begriffe, die »Namen«, irgendwie der Wirklichkeit entsprechen, bezw. daß sie mit ihr in Übereinstimmung gebracht werden können, so daß sie das Mittel der Ordnung der Wirklichkeit werden. So ist die »Richtigstellung der Begriffe« für Konfuzius das wichtigste Mittel für die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, die empirischen Bezeichnungen müssen in Einklang gebracht werden mit den rationalen Bezeichnungen, dann kommt die Gesellschaft in Ordnung. So muß z.B. in der Familie der Mann, der die Bezeichnung »Vater« hat, so beschaffen sein, wie es im vernunftgemäßen Begriff des Vaters liegt, ebenso muß der Sohn Sohn sein und die übrigen Familienmitglieder so, wie es ihrer Stellung entspricht; dann kommt die Familie in Ordnung. Ähnlich muß es auf allen Gebieten sein, damit Ordnung entsteht. Auch dieser Gedanke entstammt dem Buch der Wandlungen. Dort herrscht die Vorstellung, daß der Himmel die »Bilder«, d.h. die Urbilder zeigt, die die berufenen Führer und Propheten zum Richtmaß ihrer Kultureinrichtungen (»Abbilder«) nehmen. So bilden z. B. die Zeichen des Buchs der Wandlungen die möglichen Weltsituationen ab, und deshalb kann man aus den Gesetzen ihrer Wandlungen auf die Art der Wandlung der kosmischen Situationen schließen.

Bei Laotse findet sich nun ebenfalls eine Begriffslehre. Die »Bilder«, die im Tao immanent gegenwärtig sind, können irgendwie durch »Namen« bezeichnet werden, nur sind diese Namen sozusagen unaussprechbare Geheimnamen. Sie lassen sich ebensowenig nennen, wie das Tao ausgesprochen werden kann. Natürlich gibt es auch Namen, die man nennen kann, aber das sind nicht die höchsten, ewigen Namen. Immerhin kommen auch die nennbaren Namen, wenn sie recht gewählt sind, dem Sein irgendwie nahe, und sei es auch nur als »Gäste der Wirklichkeit«, nicht als ihre Herren. Durch diese Namen kann dann auch irgendwie Ordnung geschaffen werden, irgendwie die Tradition weitergegeben und damit die Kontinuität des menschlichen Geschehens gewahrt werden.

So kann z.B. die Welt des Wesens mit dem Namen des »Nichtseins« belegt werden und die Welt der Erscheinungen mit dem Namen des »Seins«. Das »Nichtsein« ist dann der Anfang von Himmel und Erde, das »Sein« die Mutter aller Wesen. Wenn man sich daher auf das »Nichtsein« konzentriert, so schaut man die Geheimnisse des Wesens, wenn man sich auf das »Sein« konzentriert, so schaut man die äußere, räumliche Erscheinung der Dinge. Doch darf man nicht denken, daß es sich um eine doppelte Welt, ein Diesseits und ein Jenseits handle. Vielmehr liegt der Unterschied nur im »Namen«. Der Name der einen ist »Sein«, der Name der anderen ist »Nichtsein«. Aber obwohl die Namen verschieden sind, so handelt es sich doch um einen und denselben Tatbestand: das dunkle Geheimnis, aus dessen Tiefen alle Wunder emporquellen.

Wenn man aber nennbare Namen hat, so hat man in ihnen Werkzeuge der Erkenntnis. Durch die Begriffe, die den Dingen als Namen beigelegt werden, hat man das Mittel, um ein Ding festzuhalten und beim Denken statt des Dings den Namen einsetzen zu können, wie man in der Algebra statt der Zahlen Buchstaben einsetzt und in ihnen Gesetze als Formeln ausdrücken kann, denen sich die Zahlen fügen müssen. Solange die Namen an der Wirklichkeit, d.h. an den Dingen ihr Korrektiv haben, so lange sind sie brauchbar. Man kann sie benützen, um die Erkenntnisse zu definieren. Freilich hat jede solche Definition die notwendige Eigentümlichkeit der Zerteilung. Wenn alle Menschen das Schöne als schön erkennen, so ist damit schon das Häßliche gegeben. Das Wissen wird durch Vergleichen und Definieren gewonnen und ist daher notwendig gebunden an die Welt der Erscheinungen, die in polare Gegensatzpaare aufgesplittert ist.

Aber das führt noch weiter. Indem der Mensch in den Begriffen Werkzeuge des Wissens der Wirklichkeit hat, kann er diese Begriffe schließlich auch selbständig handhaben. Er kann Begriffe erzeugen, denen in seiner Wirklichkeit kein Urbild entspricht. Er kann Dinge, die in einem anderen Seinszusammenhang stehen, isolieren und so etwas, das nicht ist, als Ziel und Zweck des Strebens aufstellen. Damit werden die Namen zu den Erzeugern des Begehrens. Man kann mit ihrer Hilfe nicht nur feststellen, was man hat, sondern auch, was man nicht hat. Hier liegt für Laotse der Sündenfall der Erkenntnis. Denn der Wirklichkeit, die, wenn sie auch Erscheinung und Außenseite des Tao ist, dennoch irgendwie mit dem Tao in Verbindung steht, tritt nun eine Welt der Zwecke gegenüber, die nicht wirklich sind, aber begehrt werden und durch menschliche Tätigkeit erlangt werden sollen. Auf diese Weise entsteht das Begehren nach fremdem Eigentum. Aber indem der Besitzer dieses Eigentum nicht ohne weiteres hergeben will, entsteht Streit und Kampf und schließlich Raub und Mord und damit das Gegenteil vom Tao.

So wird für Laotse aus der Welt der Erscheinung die Welt des Bösen durch das Begehren, das an das Vorhandensein der Namen geknüpft ist. Damit kommen die Menschen aber in ein Gewirre des Irrtums. Die Wahrnehmungen sind jetzt nicht mehr reine Vorstellungen, bei denen der Wille schweigt, sondern sie blenden und verführen, und der Wahn des Begehrens macht die Menschen toll. Der Verstand arbeitet, die Erkenntnisse mehren sich. Aber je schärfer der Verstand arbeitet, je schärfer die Erkenntnisse werden, desto weiter kommt die Menschheit vom Sinn weg. Darum ist Laotse der Meinung, daß man nicht Kultur und Wissen pflegen soll, sondern die harmlose Einfügung in den Zusammenhang der Natur. Gegenüber der übertriebenen Entwicklung des Rationellen gilt es zurückzukehren zur namenlosen Einfalt, zu dem Zustand, da man das Tao sich noch harmlos auswirken läßt, ohne es durch Namen bezeichnen zu wollen, da die Verbindung wieder hergestellt ist zwischen der großen Mutter und ihrem Kinde, dem Menschen.

 


 << zurück weiter >>