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Zweiter Teil. Das Leben

 

38

Wer das Leben hochhält,
weiß nichts vom Leben;
darum hat er Leben.
Wer das Leben nicht hochhält,
sucht das Leben nicht zu verlieren;
darum hat er kein Leben.
Wer das Leben hochhält,
handelt nicht und hat keine Absichten.
Wer das Leben nicht hochhält,
handelt und hat Absichten.
Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten.
Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten.
Wer die Sitte hochhält, handelt,
und wenn ihm jemand nicht erwidert,
so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran.
Darum: Ist der Sinn verloren, dann das Leben.
Ist das Leben verloren, dann die Liebe.
Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit.
Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit
und der Verwirrung Anfang.
Vorherwissen ist des Sinnes Schein
und der Torheit Beginn.
Darum bleibt der rechte Mann beim Völligen
und nicht beim Dürftigen.
Er wohnt im Sein und nicht im Schein.
Er tut das andere ab und hält sich an dieses.

Die Stufenleiter des Handelns macht einige Schwierigkeiten, weil dieselbe Stufe (»handeln und Absichten haben«) zweimal vorkommt: bei denen, die das Leben nicht hochhalten, und bei der Gerechtigkeit. Man beseitigt die Schwierigkeit am besten, wenn man das Nichthochhalten des Lebens als zusammenfassenden Ausdruck für Liebe (Sittlichkeit), Gerechtigkeit und Sitte (Riten) auffaßt. Das »Handeln und Absichten haben« wäre danach der Durchschnitt jener drei, über den die Liebe noch etwas hervorragt, während die Moral ihn noch nicht einmal erreicht. Die Liebe handelt und hat nicht Absichten, d. h. sucht nicht das Ihre. Entsprechend die andern Stufen.

Sehr drastisch ist die Schilderung des »moralischen« Benehmens, das durch seine »Anstandsregeln« unerträglich knechten kann.

Der nächste Passus »Ist der Sinn verloren, dann das Leben« usw. ist im Urtext ebenso zweideutig wie in der Übersetzung. Entweder kann es bedeuten: Geht der Sinn verloren, dann gibt es Leben usw. nach Analogie von Abschnitt 18. Aber diese Auffassung gibt gerade in dem ersten Glied keinen befriedigenden Sinn. Daher ist es wohl eher so zu nehmen: »Geht der Sinn verloren, dann geht mit ihm zugleich auch das Leben verloren« usw.

Das Ganze steht im schroffsten Gegensatz zum Konfuzianismus, dessen höchste Begriffe: Liebe, Gerechtigkeit, Sitte (Anstand) hier in ihrem Wert verneint sind. Der Glaube, die vierte jener konfuzianischen Kardinaltugenden, wird zwar anerkannt, aber als mit dem Anstand unvereinbar bezeichnet, während die fünfte, das Vorherwissen, als des Sinnes Schein bezeichnet wird. Der »rechte Mann«, obwohl im Ausdruck verschieden, dennoch sachlich identisch mit dem »Berufenen«.

Die letzte Zeile findet sich an mehreren Stellen wiederholt.

 


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