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Drittes Kapitel

Es war keine Person, es war eine – Rede, die jetzt durch New Yorks Straßentumult fuhr, als sich Moorfeld in seinen Wagen geworfen. Unaufhaltsam strömten ihm die Gedanken zu, unter deren Wucht Benthal erliegen mußte. Sein Zorn loderte als dichterische Begeisterung auf, – und nie hatte Begeisterung mit solcher Fruchtbarkeit ihn überschüttet wie in dieser Stunde. Alles gab sie ihm ein, was Herz und Gehirn fähig ist, er war alles, was ein Mensch sein kann, – er war ganz sein Gegenstand. Wohin sein Auge fiel, jeder Anblick des Straßenlebens wurde von der Gärung seines Inneren aufgenommen und verbraucht. Dieser Abbruch eines alten Hauses, jener Aufbau eines neuen, dieses Schaufenster, jenes Aushängeschild, die Konsulatsflagge, der Matrosenhut, das Negerantlitz, die schlagende Turmuhr – kein Bild führten ihm seine Sinne zu, das nicht in ein poetisches Bild, in ein tiefsinniges Gleichnis sich verwandelte, – ganz New York gab sich der Moral zum Schmucke her.

So erreichte Moorfeld sein Boardinghouse. Er schickte zu Staunton und ließ anfragen, wann und wo Benthal zu sprechen. Seinen Namen nannte er nicht, wie er seine Person nicht zeigte. Er wollte dem traurigen Fall einer Verleugnung vorbeugen.

Es war die Börsenstunde, in welcher diese Anfrage geschah, und Hr. Staunton nicht zu Hause. Im Laufe des Nachmittags sendete Moorfeld noch einmal hin, da kam der Lohnbediente zurück mit dem Namen der Straße und des Klubhauses, in welchem Mr. Benthal von acht Uhr abends an zu finden.

Moorfeld brachte den Rest des Tages auf seinem Zimmer zu. Er ordnete seine Gedanken und gebot seinen Leidenschaften. Er stellte sich im Geiste, erfindungsreicher als im ersten Augenblick, die mancherlei Möglichkeiten und Gestalten vor, in welchen dieser Fall sich ihm zeigen könne, und bereitete sich auf all seine denkbaren Seiten vor. Er wunderte sich selbst, wie rasch er ihn als Tatsache ergreifen konnte. Denn mitten in seinem Gedankenstrom kamen dann wieder Momente, wo all sein Denken plötzlich still stand, wo die ganze schreckensstarre Neuheit in ihm aufschrie: Das war mit Benthal möglich?! –

Der Tag sank, die Straßenlichter brannten, der wälzende Lärm des Volksgewühls löste sich in seine einfacheren Elemente auf, die ab- und zurollenden Fuhrwerke zum Philadelphia-Bahnhof verhallten mit ihrem letzten Getöse, als Moorfeld den Wagen holen ließ, der ihn seinem verhängnisvollen Ziele entgegenbringen sollte. Es war ein weiter Weg zurückzulegen. Moorfeld hatte seine Aufmerksamkeit nichts weniger als auf die Außenwelt gerichtet; aber er fuhr nicht lange, so fiel ihm manches auf, das in der Physiognomie eines städtischen Straßenlebens zu dieser Stunde eben nicht alltäglich ist. Er sah im dämmerungsvollen Laternenlicht Arbeiterzüge von ihrem Tagewerk heimkehrend mit einer gewissen Hast und Unruhe durch die Straßen eilen, welche von der Kälte, die in den Bewegungen der Amerikaner sich sonst kund gibt, wunderlich abstach. Aus hohlem Straßendunkel hörte er hie und da einen jener gellenden Rufe anstimmen, welche nach seinem Dafürhalten dem indianischen Kriegsgeheul entlehnt: in gewissen Abständen gab es dann Antwort darauf, wie eine Signalkette. An einsamen Orten wimmelte es plötzlich von Menschen, welche nach allen Richtungen auseinanderströmten; anderswo lief alles auf einen Punkt zusammen und schloß sich im Nu zu geheimnisvollen Kreisen und Gruppen.

Eine dieser Gruppen stand endlich an einer Seitenstraße, welche Moorfeld zu schneiden hatte, so dicht, daß eine Stimme den Kutscher ohne weiteres anrief: Um in die Centre-Street! Der Kutscher machte Vorstellungen, aber es war ein Schwarm von Rowdies, welcher diese Passage sperrte, gegen den sich nicht aufkommen ließ. Durch seine Überzahl und das Dunkel der Nacht ermutigt, fühlte sich der Haufe im souveränsten Besitz des Platzes. Es waren, was Moorfeld beim Lampenscheine sehen konnte, wohlgekleidete, aber stark bewaffnete Banden, und fast wie die Stimme der Würde klang es, womit diese Straßenmacht dem Kutscher die drohendsten Befehle entgegenschleuderte. Der arme Neger (denn ein solcher war er) erbat sich endlich von Moorfeld die Erlaubnis, umkehren zu dürfen, obwohl, wie er sagte, das Klubhaus nur noch hundert Schritte weit drüben liege. Moorfeld sprang aus den Wagen, als er dieses hörte, und schritt zu Fuß hinüber. Der leere Wagen kehrte um.

Kaum hatte Moorfeld das Gedränge der Rowdies durchbrochen und seinen Weg in die Tiefe der bezeichneten Straße eingeschlagen, als er einige Schritte vor sich einen Menschen in Ohnmacht sinken sah. Die Gestalt hatte sich erst gegen die Mauer eines Hauses gelehnt und war dann längs derselben langsam zu Boden geglitten. Rasch eilte Moorfeld hinzu. Hat Ihnen das wilde Volk Gewalttätigkeiten zugefügt? fragte er den Verunglückten, indem er ihn aufhob. Der Mann schüttelte, ohne aufzublicken, schwach und zitternd den Kopf vor sich hin. Aber in demselben Augenblicke glaubte Moorfeld die Gestalt zu erkennen. Schon der faltenreiche Mantel mit den vielen kurzen übereinanderliegenden Kragen gehörte in das Inventar seiner Erinnerungen. »Anche gli giorni!« war das Schlagwort dieser Erinnerungen. Ohne sich zu besinnen, redete er den Alten an: Se non m'inganno, Signore, é la sua lingua materna, in cui la sáluto? Der Fremde zuckte zusammen. Ah, non é Americano, Signore, seufzte er aufatmend, – per grazia di Dio, un bichiere di vino!« Wenn ich nicht irre, mein Herr, so ist es Ihre Muttersprache, in welcher ich Sie begrüße?
Ah, Sie sind kein Amerikaner, mein Herr – um Gotteswillen, ein Glas Wein!
Moorfeld erschrak. So war der alte Mann aus Hunger und Durst hier zusammengebrochen? Seine Bitte ließ keinen Zweifel darüber.

Moorfeld warf seine Blicke schnell nach einem Gasthofe umher und entdeckte wenigstens, womit New York damals schon übersät war, die illuminierte Aufschrift einer Kellerwirtschaft in der Nähe. Er führte oder trug den Verschmachtenden dahin.

Die Taverne fand sich unangenehmerweise von einem stark ab- und zugehenden Publikum jener Rowdies besetzt, welche vorn an der Straßenecke ihr Standquartier aufgeschlagen. Moorfeld zeigte Gold und forderte ein ruhiges Zimmer mit der besten Flasche Wein. Man übergab ihm eine Stube des Hinterhauses und brachte Wein, der, mindestens seiner Etikette nach, Ost-India-Madeira war.

Bei der Eile, die Moorfeld für die Bestimmung dieses Abends hatte, konnte er nicht daran denken, seinem unerwarteten Gaste die Pflicht der Gastfreundschaft zu erfüllen. Einzig die Pflicht als Arzt und Mensch gebot augenblickliche Erfüllung hier.

Moorfeld erlaubte sich die nötigsten Fragen um das körperliche Befinden des Unglücklichen. Der Alte antwortete nicht. Er starrte still vor sich hin. Er drückte sich in die Ecke des Kanapees und zog fest seinen Mantel an sich. Moorfeld, auf eine scharfe Beobachtung durch das Auge, wie so häufig in solchen Fällen, fast ausschließlich beschränkt, folgte der geringsten dieser Bewegungen mit Aufmerksamkeit. Die Züge des Geistes zeigten den Ausdruck tiefer Erschöpfung und langwieriger Seelenleiden. Eigentliche Krankheitssymptome konnte Moorfeld nicht darin erforschen. Sein Kopf war von zarten und edlen Formen, das Auge glanzvoll, entschieden geistig. Die schön gebleichte Stirne strahlte vom blendendsten Weiß, der Mund, der übrigens auch nicht einen Zahn nachwies, schien gegen die greisenhafte Erschlaffung der Muskel, welche die Mundwinkel abwärts zieht, ziemlich standhaft geblieben. Man sah die lange Übung des wohlredenden Italieners, den Abglanz witziger Scherze und feiner Tafelgenüsse darauf. Wenigstens glaubte Moorfeld, indem die physiognomischen Transponierkünste seiner Phantasie zu spielen anfingen, aus dieser Greisenmaske die Jugend eines eleganten Lebemannes zu dechiffrieren, und wir dürfen es sehr dahingestellt lassen, ob sein studienhafter Blick mehr mit poetischem oder pathologischem Tiefsinn in die Züge des alten Mannes hineinträumte.

Moorfeld schenkte zwei Gläser voll. Der Alte wickelte eine seiner Hände aus dem Mantel und streckte sie zitternd nach dem Weine aus. Moorfeld gab sich die Miene, ihm das Glas in die Hand zu drücken, wobei er die Gelegenheit benützte, seinen Puls zu fühlen. Er war herabgestimmt, aber gleichmäßig. Beruhigter stieß Moorfeld an mit dem Alten. Dieser aber führte das Glas nicht zum Munde. Er hielt es nachdenklich vor sich hin. Er lächelte das dunkle Rotbraun mit einer Art kindischer Freude an. Die Idee, Wein in der Hand zu halten, schien ihm ein Genuß, den er durch Befriedigung nicht sogleich aufheben wollte. So ließ er das Glas gegen das Licht funkeln und sah immer darauf. Sein Blick wurde zuletzt wie geistesabwesend, er versank, wie es schien, in ein Meer alter Erinnerungen. Moorfeld stand seitwärts und betrachtete den Greis ebenso ergriffen, wie dieser sein Labsal. Das währte eine geraume Weile. Hierauf gab der Alte dem Glas eine leichte Schwenkung und murmelte fast feierlich: Evviva Vienna! Damit leerte er es.

Moorfeld hatte den Toast belauscht. Er erstaunte. Ha, mein Herr, Ihre Erinnerungen knüpfen sich an Wien! rief er aufwallend von Heimatsgefühl. Er streckte dem Greise beide Arme entgegen. Es waren die zehn schönsten Jahre meines Lebens! antwortete dieser traumversunken. – O, wie bedauere ich die Schicksale, die dieses Glück Ihnen geraubt. Sie müssen trauriger Art gewesen sein! – Zwei Todesfälle waren es, Signor. Den 20. Februar 1790 starb Kaiser Joseph, der wärmste Freund und Beschützer der Künste, und den 5. Dezember 1791 Amadé Mozart, der Kaiser seiner Kunst selbst. Was sollte da ich noch in Wien! – Moorfeld sah den Alten groß an. Wer ist es, der mit mir spricht? rief er in höchster Spannung. – Wenig, antwortete der Greis, und kauerte sich tiefer in seinen Mantel zusammen, – ich heiße Da Ponte.

Da Ponte! rief Moorfeld außer sich: Castis und Metastasios Rival, verschmachtend am Strande der Manhattan! Er stand vor dem alten Manne wie vor der Reliquie eines Heiligen. Unaussprechlich war seine Bewegung. Der Gedanke, mit seinem Blick auf einem Haupte zu ruhen, das in Mozarts brüderlichem Schoß gelegen, ergriff ihn betäubend. Staunen und Ehrfurcht hielt ihn wie mit Bezauberung vor dem Bilde des alten Mannes gefesselt. Er bedurfte einiger Minuten, um sich zu fassen. Dann trat er vor den Greis und sprach mit einer fast ritterlichen Courtoisie: Herr Abbé ich bitte Sie, den Tribut meiner begeisterten Hochachtung anzunehmen. Soweit die Erde Kultur hat, ist jeder einzelne Mensch Ihnen Dank schuldig. Wie tief mich das Unglück erschüttert, das dieser unwirtliche Boden Ihnen zu bereiten scheint, so muß ich den Zufall segnen, der es meine Hand sein ließ, welche in dieser Stunde die Ihrige ergreifen durfte. Keinem Amerikaner hätte ich die Ehre gegönnt, die Hand zu berühren, aus welcher Mozart das Gedicht seines Don Juan empfangen. Ganz füllt mich die Vorstellung aus, was diese Hand der Welt geleistet hat. Ist doch Musik die einzige Kunst, in der wir mit einer selbständigen Kultur dem Altertum gegenübertreten, in der wir unsre Laokoone, unsere Iliaden ohne Vorbild erschaffen! Ist doch Don Juan die höchste Blüte dieser musikalischen Kunst, die süßeste und gewaltigste Botschaft des modernen Menschenherzens! Und daß dieser Ehrenkranz der neueren Kunst vor allem aus Ihren Versen herauslaubte, bei Gott, das hat kein Zufall gefügt! Ich habe Ihr Drama giocoso: Don Giovanni, ossia il dissoluto punito stets bewundert. Es ist schwierig, vielleicht unmöglich, ein musikalisches Drama zu schreiben. Die Musik bedarf der Leidenschaften und Affekte; das Drama motiviert Leidenschaften und Affekte. Motivierung ist eine Verstandesoperation; diese widerstrebt der Musik. Eine Handlung voll wirklicher Leidenschaften, welche auf dem kürzesten Wege sich motivieren; das ist das Ideal eines musikalischen Dramas. Ihr Don Giovanni hat dieses Ideal wie unter einer Konstellation aller günstigen Sterne erreicht. Nur einmal, seit für Musik gedichtet wird, trat solch eine Gruppe zu solchen Wirkungen zusammen! Das ganze Buch ist musikalisches Vollblut. Ich sehe allerlei Personen in ihrem Singspiele auftreten, hohe und niedere. Die niederen, Leporello, Masetto, Zerline, sind musikalisch durch sich selbst. Sie sitzen an der Quelle der Musik, im Volke, und dem Volke wird nicht der höchste, sondern aller Affekt zum Liede. Diese Menschen sind sangbar ohne weiteres. Dann aber stellen Sie auch vornehme und gebildete Personen in Ihr Gedicht, welche eine ungeheure Kluft von der Leidenschaft trennt. Sollen erzogene Menschen nicht Gemeinplätze singen, so ist kaum abzusehen, wie sie der Quelle des Gesanges, der Aufregung, auf kürzestem Wege nahe zu bringen. Wir haben ein deutsches Drama: Torquato Tasso genannt, und dieses kann, wie in einem Spiegel, uns zeigen, welch weitläufiger und künstlicher Operationen es bedarf, daß ein Hofkavalier den Degen zieht und daß ein anderer Hofkavalier eine Prinzessin umarmt – das heißt, daß die Sitte zur Leidenschaft vordringe. Und nun fliegt der Vorhang Ihres Dramas auf! Und nun sehe ich einen Don Juan, einen modernen Giganten, welcher seine Sinnenkraft über die Weltordnung setzt, – eine Donna Elvira, welche ein ewiges Herz gegen die endliche Zeit zu verteidigen unternimmt, – einen Gouverneur, welcher im Leben zur Rettung für sein Heiligstes aufgefordert wird, nach dem Tode im Namen des Allerheiligsten selber zur Rettung einer unsterblichen Seele auffordert, – eine Donna Anna, welche von ein und demselben Schicksale zugleich auf den höchsten Gipfel und in den tiefsten Abgrund des weiblichen Bewußtseins geschleudert wird, – einen Don Ottavio, welcher in einer Welt, die aus ihren Fugen ist, um so berechtigter jenes einfache Naturgesetz singen darf, durch das sie ewig sich neu ergänzt: ich sehe Gestalten, welche Sie aus dem Banne der konventionellen Menschheit, der sie angehören, mit dem glücklichsten Wurf in die volle musikalische Strömung schleudern. Sie treten auf in den außerordentlichsten und verständlichsten Zuständen, klar einfach, unmittelbar, ihre eigene Erklärung, wie das Dasein selbst. Ihr erster Schritt auf die Bühne schon ist die höchste pathetische Szene; und wahrlich nur aus solch einem Eingang kann solch ein Finale herauswachsen! Welch ein Ozean an Umfang und Tiefe dieses Finale! Zwei rächende Bräutigame, drei beleidigte Frauen, ein Mord im Hintergrunde, Champagner und Ballett im Vordergrunde, Blitz und Donner im Zenith, und mitten in diesem Aufruhr ein verwilderter Gott, eine gesträubte Löwenmähne, gepackt von der Rache, packend im Sinnenfieber der Liebe! Solang eine Bühne steht, wird die kunstbegnadete Menschheit anbetend vor diesem Finale liegen, und wenn wir nicht begreifen können, daß Mozart ein Mensch war, so wird Da Ponte in diesem Mysterium als Mittler verehrt werden müssen! So sprach Moorfeld, hingerissen von seiner dichterischen Begeisterung. Der alte Mann, auf dessen gebleichtem Scheitel der Name Da Ponte ruhte, horchte aus der Ausdrucksweise eines vorgeschrittenen Ideenlebens nur so viel heraus, daß das erste Don-Juan-Finale gelobt wurde. Er schien zufrieden mit dieser Anerkennung und bestätigte sie mit folgenden Worten: Ja, wohl will ein Finale gearbeitet sein! Sie sagen es recht, Signor! Ein Finale ist eine Art Komödie, oder ein kleines Drama in sich selbst; es muß mit der übrigen Oper eng verbunden sein, und doch erfordert es einen neuen Eingang und ein neues Interesse. Im Finale muß das Talent des Kapellmeisters, die Kunst und Kraft der Sänger hauptsächlich hervortreten, es muß als Glanzpunkte der Oper den größten Effekt hervorbringen. Die Rezitative sind ganz davon ausgeschlossen, man singt alles, und jede Art des Gesanges muß darin entwickelt werden. Das Adagio und Allegro, das Andante, das Amabile, das Armonioso, das Strepitoso, das Arcistonpitoso und das Fortissimo, womit sich in der Regel das Finale schließt, und was man die Chiesa oder Stretta nennt: – ich weiß nicht, ob man es so benennt, weil darin die ganze Kraft des Dramas sich zusammenzieht oder weil es allgemein das arme Gehirn des Poeten, der es zu schreiben hat, nicht ein-, sondern tausendmal in die Enge treibt. In einem Finale müssen nach theatralischem Brauch alle Sänger auf der Bühne erscheinen und wären ihrer noch so viele, um einzeln, zu zweien, zu drei, zu sechs, zu zehn und zu sechzig Arien, Duette, Terzette, Sextette und große Chöre zu singen. Sollte der Inhalt des Dramas das nicht erlauben, so ist es Aufgabe des Dichters, sich einen Weg zu suchen, auf dem er es bewerkstelligen kann, ohne gegen die gesunde Vernunft oder die aristotelischen Vorschriften allzu gröblich sich zu versündigen. Gewiß, es ist eine große Sache, ein gutes Finale zu schreiben.

Diese Sprache eines altmodischen Jahrhunderts stach nicht ohne Reiz für Moorfeld von seiner eigenen ab. Der Grundton der schlichten Wirklichkeit, der aus ihr klang, ermangelte nicht, seine Begeisterung selbst zu ergreifen, die er dem ehrwürdigen Hause des Dichters jetzt in der vertraulicheren Färbung einer jugendlichen Zärtlichkeit für das Alter entgegenbrachte.

Und nun, sprechen Sie, Herr Abbé, fragte er, wie war es möglich, daß ich das Schicksal in so schwerer Schuld gegen Sie finden konnte? Sprechen Sie, wie hat dieses unselige Land an Ihnen gefrevelt?

Da Ponte schüttelte nach einer Pause das Haupt. Er zog einen seiner obersten Mantelkragen über Kopf und Stirne und machte sich eine Art Lichtschirm daraus, gleichsam als störte der ihn bedeckende Lampenschimmer seine Gedankenbildung, wie er den Nerv seines Auges belästigen mochte. Aus diesem Dunkel heraus sprach er:

Warum ich in einem Lande nicht gedieh, das für die Kunst so viele Mittel und wohl auch guten Willen hat, – ich wüßte äußere Widerwärtigkeiten vielleicht kaum zu nennen, Signor. Aber einen Zug will ich Ihnen erzählen, von welchem Sie selbst sagen sollen, ob ich ex ungue leonem daran erkennen und für immer zurückschrecken durfte. Es war in einer der besseren Soireen hiesiger Stadt, wo ich als neu eingeführter Fremdling von einer jungen Miß die Arie Vedrai carino singen hörte. Ha, dachte ich, hier ist dein Krug am rechten Brunnen, New York empfängt dich vortrefflich. Indes trug das arme Mädchen die Arie so über alle Maßen schleppend und seelenlos vor, daß man mit leichter Mühe mich überredet hätte, der berühmte Epimenides, der neun Jahre geschlafen haben soll, sei von keinem andern als diesem Liede eingesungen worden. Ich vermochte natürlich nicht, an mich zu halten. Ich schmuggelte mich auf eine gute Art ans Klavier, wo ein Bukett von jungen Damen und Herren wie ein Nest bunter Papageien umhersaß und sich nach allen Regeln des bon ton langweilte. Ich mischte mich ins Gespräch und brachte es wirklich dahin, daß ich die junge Sängerin begleiten durfte. Gleich nach den ersten Akkorden verlor sie den Takt. Sie wußte sich in die Art, wie ich deklamierte, durchaus nicht zu finden. Meine verehrungswürdige Lady, wendete ich mich nun zur Erklärung meines Vortrags an sie – die bezaubernde Aisance, womit Sie diese Noten singen, macht mich außerordentlich begierig die erste Arie der Zerlina: Batti, batti, o bel Masetto von Ihnen zu hören. Dort müßte sie von ganz unvergleichlicher Wirkung sein. Dort nämlich geht Zerlina damit um, allerlei überflüssige Skrupel ihres Bräutigams einzusingen, einzulullen, wenn Sie wollen; ihr Gesang muß sich wie lindes Öl, wie Mondlicht auf die Nerven legen. In der ersten Arie, sprech' ich. In dieser zweiten dagegen herrscht jener Charakter nur teilweise, teilweise nicht. Beruhigen will sie freilich auch diesmal wieder, aber sie selbst ist nicht mehr ruhig. Sie nimmt ihren Bräutigam jetzt offenbar ernsthaft, der früher nahezu ihr Düpe war, die Stunden erfüllter Liebessehnsucht rücken unaufhaltsam näher, das Abenteuer mit Don Giovanni selbst, obwohl in der Spitze gebrochen, muß ihre Phantasie lebhaft ergriffen haben: – so webt durch dieses ganze Vedrai carino eine Luft des Brautgemachs, möcht' ich sagen, und das: sentillo battere steht nicht umsonst da. Man muß das Herz wirklich schlagen hören darin. In meinem Kunsteifer merkt' ich nicht, daß sämtliche Ladies sich die Taschentücher vor die Augen hielten. Ein junger Affe aber, der sich den Musiklehrer des Hauses nannte, übernahm es, meine Ansicht »shoking« zu finden. Ich suchte vergebens ein Fünkchen gesundes Gefühl in ihm anzublasen, und da er fortfuhr, mich durch den absurdesten Widerspruch aufs Äußerste zu treiben, so rief ich zuletzt: Mein Herr, wenn ich Ihnen sage, daß ich selbst der Dichter dieser Verse bin, daß Mozart selbst seine Musik dazu für die glücklichste Inspiration der Liebe erklärt hat, so habe ich vielleicht einige Autorität für mich. In diesem Augenblick aber schritt der Hausherr auf mich zu, ein gelblederner Herr in schwarzem Frack, an dem nichts Lebendiges war als die rote Nelke, die er im Knopfloch trug, der näselte mich an: Mein Herr, es kümmert uns blutwenig, womit Sie und Ihr Mozart sich in Europa Ihr Brot verdient. Daraus fließt kein Gesetz für uns in Amerika, die Kunst anders zu treiben, als es uns beliebt. – »Sie und Ihr Mozart Ihr Brot verdient!« – Hören Sie es, Signor? Von diesem Worte war mein Nerv für immer durchschnitten. Ich trug noch ein ansehnliches Faszikel Empfehlungsbriefe bei mir, aber ich fühlte keinen Halt mehr daran. Denn was in einem fremden Lande Mut und Vertrauen, sich geltend zu machen, gibt, das sind nicht einzelne Fäden, es ist der öffentliche Geist des Ganzen. Mich schauerte die scharfe Luft dieses Landes. Ich gab es auf, in Amerika als Künstler einen Beruf zu suchen.

Und freilich, in jedem andern Beruf mußten Sie unglücklich sein! sagte Moorfeld mit dem überzeugtesten Blick auf den fein organisierten Italiener.

Ich wurde Kaufmann, antwortete Da Ponte. Die Musen drehten Pfeffertüten und maßen Schnittwaren ab. Ich kann nicht sagen, daß sie es ungeschickt taten. Ich prosperierte im kleinen und versuchte mich bald in größeren Unternehmungen. Auch da ging alles herrlich und im schönsten Flor, solang ich – Kredit gab. Dann aber stürmten Bankrotte auf mich ein – ah, lassen Sie mich schweigen, Signor. Amerikanische Bankrotte sind ein eigenes Genre. Ich werde meine Memorabilien schreiben. Genug, ich kam an den Bettelstab und meine Debitoren bauten sich Häuser. Von einem derselben, Herr Staunton, erreicht' ich's mit Mühe, daß er mich von der Straße unter sein Dach aufnahm, und die Sache müßte eigentlich umgekehrt stehen. Ich habe eine liquide Forderung von fünftausend Dollars an ihn. Freilich nicht an ihn, sondern an eine seiner gewesenen Firmen, und kein Kaufmann und kein Advokat der Welt weiß geschickter seine Firma von seiner Person zu trennen als ein Amerikaner. Ja, ja, mein Herr, ich werde mein Leben beschreiben. Die Welt wird um nichts besser, aber um manches klüger daraus werden. Der Europäer mag sich vorsehen mit diesen Menschen.

Moorfeld hatte inzwischen ein Souper bestellt, aber Da Ponte dankte lebhaft für seine Aufmerksamkeit. Er pflege abends nichts zu genießen. Nur ein Glas Wein sei ihm zuvor Bedürfnis gewesen, eine Ohnmacht, ein plötzlicher Schwindel habe ihn angewandelt; »denn ach, mein Herr, es ist eine harte Arbeit, im zweiundsiebzigsten Jahre auf Gönnerschaften auszugehen!« Alles, was er annehmen wollte, war ein Wagen.

So führte der Dichter Moorfeld den Dichter der alten kaiserlichen Wiener Oper jetzt in sein dürftiges Asyl zurück. Er behielt sich vor, den unglücklichen Greis demnächst wiederzusehen: heute überließ er ihn seiner Ruhe und sich selbst – seinen Reflexionen. –

Wo waren sie jetzt, die schönen Reden, die glänzenden Gedanken, die fruchtbaren, hinreißenden, überzeugenden Ideen, die Moorfeld zum Entsatze Benthals tagsüber in so kampffertige Schlachtordnung aufgestellt? Und doch sollte, mußte dieser Gang noch geschehen, stumm, mit zurückgepreßten Tränen, zitterten zwei edle Frauen jeder Sekunde seines Erfolges entgegen! Mühsam sammelte Moorfeld seine Lebensgeister – ach, da lag alles auseinander, wüst, zerstückt, sinnlos! Der freie Zug, der zuckende Nerv, die unwiderstehliche Strömung – kalt, lahm, tot war das alles jetzt! Aber er mußte!

So fuhr er nach dem Klubhause zurück.

Die lange Fensterreihe des Hauses flammte lichterloh in die Nacht hinaus. Jüngling im Feuerofen, werd' ich dich retten können? seufzte Moorfeld schwerbeladenen Herzens, indem er die Treppen hinanstieg.

Ein Steward führte ihn durch eine glitzernde, etwas grell ausgeschmückte Zeile von Sälen. Im Anblicke der Gesellschaft, die Moorfeld durchschritt, jener glattrasierten, gantierten und toupierten Herings- und Tran-Dynasten, die als flüsternde, vornehm-kühle Gentlemen mit einer Bildung, die vom heutigen Dollar datiert, der morgen wieder verbankrottiert sein kann, ihre in Eis gestellten, gespenstisch-jugendlichen Gestalten oder vielmehr Etiketten gegenseitig sich hier präsentierten: im Anblick dieser bleizuckernen Welt des Egoismus fühlte Moorfeld seine ganze Streitlust wieder erwacht. So trat er vor einen Menschen im schwarzen Frack und weißer Krawatte und mit einem Lächeln à la hausse auf der blankrasierten Lippe, den ihm der Steward als Mister Benthal vorstellte. Moorfeld hätte ihn kaum noch erkannt. Aber Benthal erkannte ihn um so schneller. All seine Züge gingen in Freudigkeit auf. Mit dem Ton seiner alten Stimme und seines alten Herzens begrüßte er den wiederkehrenden Freund. Vor allem eine Entschuldigung, Verehrtester, für mein Schweigen auf Ihr Reisejournal, redete er Moorfeld an. Sie denken wohl, wieviel ich darauf zu antworten hatte, und ich war so okkupiert! Aber Sie wissen schon, Sie waren bei Frau v. Milden, nicht wahr? Gott! dort war ich nun auch schon nicht – lassen Sie mich zählen; – mit Schaudern bring ich's heraus, – ja, sieben Tage sind es! sieben Tage! Wie man in die Schulden gerät! Wer mir das noch vor kurzem gesagt hätte! Freilich hat mich mein liebes Lorettohäuschen neuerer Zeit nicht immer so hebenswürdig behandelt, wie ich's aus bessern Tagen, – ach, es waren bessere Tage! – gewohnt bin. Ich weiß nicht, was die Frauen haben, ihr Ton ist manchmal ein so fremdartiger! es scheint ordentlich, als ob sie einen unüberwindlichen Stolz vor einem reichen Manne hätten. Und es ist doch nicht meine Schuld, wenn ich mit meinem bißchen Wissen endlich auch einen Treffer ziehe. Aber vielleicht liegt's an mir selbst. Der Mensch beobachtet sich vortrefflich, wenn er allein ist; wie ich mit den Frauen umgegangen bin, darüber habe ich wahrhaftig kein Urteil. Möglich, daß ich nicht ganz korrekt war; mein Gott! eine solche Veränderung der äußeren Lage darf wohl auch inwendig manches verschieben – aber nein! nein! was sag' ich: inwendig? Ein wenig Kopf verlieren, ein wenig strudeln und wirbeln im Betragen, das hat ja mit dem Herzen nichts zu tun. Ach, in solchen Lagen ist ein Freund wie Sie ein wahrer Segen! Sie kommen jetzt wie vom Himmel geschickt. Wenn man sich hier und dort mißversteht, hier und dort zu stolz oder zu empfindlich ist, es einzugestehen, wenn unzeitiger Trotz, selbstgebildete Leiden, wenn der ewig rege Kitzel der Verliebten: sich unglücklich zu fühlen, kleine Zwiste zu raschem und unheilbarem Bruche auszuklüften droht: da ist der treue, stetige Charakter eines Mittlers in seinem schönsten und dankenswertesten Berufe. Ich bitte, übernehmen Sie ihn gleich, diesen Beruf. Entschuldigen Sie mich bei den Frauen, ehe ich selbst wieder erscheine. Ich setze nämlich voraus, verehrtester Freund, daß Sie selbst wenigstens ganz und voll mit meiner neuen Richtung einverstanden sind. Von den Frauen bin ich das leider nicht gewiß. Ich will eben nicht sagen, daß sie Murmelquellen- und Strohdach-Schwärmerinnen wären; nein! Frau von Milden denkt viel zu vernünftig für eine solches Genre von Poesie. Aber zuletzt ist sie doch nur Frau, und Frauen sind für das Mittlere, Bürgerliche. Was ans Ungeheure, ans Million-Große geht, das scheint ihnen wieder so unpraktisch und schwindelhaft wie die Murmelquelle. Mit Ihnen ist's anders, das bin ich überzeugt. Ja, Ihr Reisejournal selbst ist's, auf das ich mich berufen darf. Was Sie über die Verrottung der Deutschen in Pennsylvanien gesagt haben, glauben Sie, das wird man ewig zu sagen haben. Von der Idee sind wir wohl beide zurückgekommen, das Deutschtum auf den Pflug zu gründen. Sie sehen, wie's geht damit. Tausende von Bauern, Tausende von Handwerkern können wir ins Land werfen, und sie werden immer eine Seitenstellung einnehmen. Ein einziger Bankdirektor, ein einziger Großhandlungs-Chef aus unserem Volke ist ein stärkerer Keil unserer Macht als Massen von nützlichen, aber verachteten Heloten. Nicht Herings-Schwärme sind die Gebieter des Meeres: der Leviathan ist's. O diese Yankees! Wir müssen sie in ihrer höchsten, heiligsten Zitadelle beschleichen: in ihrer Börse. Dort, wo das Fett und Mark der Nationen ausgekocht wird, dort müssen wir mitkochen. Ein Quadratfuß an diesem Herde ist mehr wert, als eine halbe Million Acres in Missouri. Ja, so Gott will – ich sinne manches! Ich will diese Yankees – ein Cäsar in der Wallstreet – aber kommen Sie – ich mache schon wieder Aufsehen. Noch trauen Sie mir nicht ganz – Instinkt mindestens hat das Vieh, wenngleich nicht Vernunft. –

Das war nun einer jener häufigen Fälle! So glaubt ein Mensch wohlausgerüstet ins Gespräch mit einem anderen zu gehen, hat alles vorausgenommen, was vorauszunehmen war, und im Momente betritt ihn doch das Neue, Unvorhergesehene, und mit Überraschung entdeckt er das Allernatürlichste: daß ein Einziges sich nie wahrhaft als ein Zweites zu setzen vermag. Vor diesem Benthal errötete Moorfeld bei sich, wie rasch ihn die Verwandtschaft zwischen Dichter und Frauen in die nervöse Furcht des Lorettohäuschens mit hingerissen. Er verplauderte noch eine Weile mit dem alten Wiedergefundenen, den er immer mehr von neuem erkannte, wenn auch in kühneren Linien und weiterem Zirkel, gleichsam das Ideal seiner selbst. Es war ein Gesprächsgang im höchsten Stile, und Moorfeld mochte selbst die freundschaftliche Schmollis-Buße des vergessenen Du auf eine Stunde vertagen, die mehr vertraulich als geschwungen war.

Tief befriedigt kehrte er nach Hause.

Des andern Tages war unser junger Europäer sicher der unruhigste Geist, der in seinem Boardinghouse an der Tafel des zweiten Frühstücks oder sogenannten »Lunch« saß. Nach Aufhebung des Lunch schlug die legitime Stunde der Morgenvisiten. Der Wagen nach Frau v. Mildens Wohnung war schon früher bestellt. Hundertmal zog Moorfeld die Uhr, mit ungeduldigen Blicken sah er dem Messer des schwarzen Vorschneiders zu, der die verschiedenen Rumpsteaks, Koteletts usw. in all jene unzähligen Atome zerfällte, in welchen sie den Gästen dargereicht wurden. Da öffnete sich die Türe und ein Mensch, dessen Äußeres wie gewöhnlich durch nichts seine Funktion bezeichnete, überreichte den Damen des Hauses, einem jungfräulichen Schwesterpaar von mystischen Jahren, welches der Tafel präsidierte, eine Karte. An einer hämischen Bemerkung, welche die herbstlichen Fräuleins sich zuflüsterten, bemerkte Moorfeld, daß es eine Verlobungskarte war. Hat die auch noch einen Mann bekommen! klang der christliche Spott der welken Lippen, indes die dürren Finger mit äußerster Geringschätzung die Karte von sich schnellten. Das Blatt flog Moorfeld fast in den Teller. Unwillkürlich fiel ihm die Schrift ins Auge. Er las:

Mr. Theodor Benthal
Engineer and Surveyor
with
Mss. Sarah Staunton.


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