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Achtes Kapitel

Moorfeld behielt von der Trunkenheit seiner gestrigen Nacht-Phantasien am ernüchternden Tageslichte noch so viel Bewußtsein, daß er sich heute mindestens vornahm, den neuen Freund über sein Projekt auszuholen. Denn das sagte er sich nach dem Ausglühen jenes dichterisch angeschürten Traumzustandes, daß es noch sehr die Frage sei, ob Benthal seine Stellung in New York überhaupt so hoffnungsdürftig, wie er selbst, betrachte, und die Stadt mit dem Urwald auch willig werde vertauschen wollen. Enthielt sich Moorfeld aller Überredung und versprach er gewissenhaft, wie es solche Fälle heischen, eher zu wenig als zu viel, so erstaunte er jetzt, daß er dem werten Genossen eigentlich nicht mehr zu bieten hatte als etwa einen freien Platz im Schiffe; Gunst oder Ungunst der Fahrt blieb immer noch das Wagnis des andern. Freilich hielt er sich vor, daß ein tüchtiger Mann größere Unterstützungsmittel sich kaum bieten ließe, und daß das Selbstgefühl des Tatkräftigen nicht mehr verlange als der Grieche in seinem Δός μοι ποῦ στῶ Gib mir, worauf ich fuße. oder Archimedes in jenem Punkt außer der Erde, von welchem er seinen Hebel an diese zu setzen versprach. Aber solch einen Punkt hatte Benthal in seiner Lehrstelle zur Not eben auch, es blieb also immer seine Geschmackssache, ob er von einem Hinterwälder-Blockhaus oder von Mr. Mockingbirds Volksschule aus seine Hebel würde ansetzen wollen. Diese Überzeugungen schlugen unsern Freund ziemlich darnieder. Er hatte sich den Gedanken an Benthals Genossenschaft so rasch und feurig eigen gemacht, daß dieser Gedanke, wie ein Gerüst nach dem Brillantfeuerwerk, heute noch fest stand, wenn auch ohne die magische Verklärung von gestern. Viel eher erwartete das Gerüst die Wiederholung des Feuerwerks als das Schicksal, abgetragen zu werden.

Bei dieser Stimmung sah Moorfeld mit Ungeduld der Stunde seines gestern angekündigten Abendbesuches entgegen. Endlich brach sie an. Auf Flügeln eilte er fort. Doch, wir wollen ihm, wie er es im Geiste längst selbst tat, in Person voraneilen und uns um einige Augenblicke den Vortritt vor ihm herausnehmen.

Im letzten Tagesdämmern finden wir uns in einer der einsamsten Straßen New Yorks – und außer dem Broadway und Bowery können sie sehr einsam sein, diese weiten Straßen New Yorks – wir finden uns in einer der Nebenstraßen des Winkels von Bowery und Grandstreet vor einem kleinen niedlichen Framehause von drei Fenstern Front. Es ist hellgelb angestrichen, hat grasgrüne Jalousien und ein paar Akazienbäumchen vorm Eingang. Der gewöhnlich holländisch-amerikanische Aufputz. Wir treten durch ein paar das Basement überbauende Stufen ins Parterre. Nach hiesiger Sitte würden wir hier das Parlour finden. Aber in den Glücksverhältnissen der deutschen Mieterin ist weder von Parlour noch von Drawing-room die Rede. Im Parterre wohnt die Hauseigentümerin selbst, die pensionierte Witwe eines Seeoffiziers, der im letzten englischen Kriege gefallen. Wir besteigen demnach das Gestock. Dieses ist Frau v. Mildens Wohnung. Zwei kleine Zimmer und ein Kabinett bilden den bescheidenen Haushalt, welchen Benthal sein »Lorettohäuschen« nennt. Mit dem Geisterrechte, einzutreten ohne anzuklopfen und zu lauschen ohne erröten zu dürfen, stehen wir jetzt im ersten dieser Gemächer. Da es kein Bett enthält, würde es der Pariser einen Salon nennen; bilden wir uns also ein, wir stehen im Salon der Frau v. Milden. Es ist eine schweigsame Visite, die wir da machen. Eine summende Teemaschine erfüllt die vier Wände mit ihrer mystischen Sordinen-Musik; sonst regt sich kein Laut darin. Überblicken wir die Gruppe, die, »um des Lichts gesellige Flamme« versammelt, den runden Tisch inne hat und von einer Milchlampe, unter der Blende ihres Lichtschirms, beleuchtet wird. Es ist eine Gruppe von drei Frauenköpfen, welche auf den ersten Blick die Gleichheit des Familienzugs erkennen läßt. Es ist Frau v. Milden mit ihren beiden Töchtern. Die Gruppe befindet sich in dem Zustande jener vollkommensten Ruhe, in welcher der Künstler sein Modell zu beschauen liebt. Frau v. Milden heftet ihr Auge auf eine feinere weibliche Arbeit, eine von denen, welche den Gesichtsausdruck denkend beleben, aber doch die Sicherheit des Gelingens nicht beunruhigen. Ein zartes, sinniges Antlitz. Ein mädchenhafter Schmelz liegt auf diesen Zügen, eine nervöse Geistigkeit, welche es vor dem gemeinen Altern ewig bewahren wird. Die Spuren der Jahre sind in ihren Mienen zwar zu lesen, aber nicht in jener groben Runenschrift der sogenannten Erfahrung, sondern nur in dem geübteren Ausdruck einer angeborenen weiblichen Intuitionskraft. Ihr gegenüber erblicken wir Pauline, die ältere Tochter. Im Anschauen dieses Mädchens glauben wir erst die Jugendlichkeit der Mutter zu verstehen. Es ist die gereiftere Milde, von welcher die Matrone verschönt wird, man fühlt, die Mutter kennt den Umgang der Grazien, sie kann lächeln, sie nimmt das Menschliche menschlich. Der Tochter bezweifeln wir das. Es ist ein ergreifender Anblick dieses Mädchen. Die volle Strenge der Jungfräulichkeit. Ihr ganzes Bild ist in Ernst getaucht. Vor ihr steht der dampfende Teekomfort, sie hält eine Art vestalische Flammenwacht daran. Eine nicht zu bezwingende Innigkeit hegt in dem Blicke, womit sie – der Spiritusflamme zuschaut. Man erschrickt fast über so viel feierlichen Ausdruck inmitten der Alltäglichkeit, man sieht eine Seele, die kein Hauskleid zu tragen weiß. Benthal nannte sie die verkörperte Modestie; der Charakter hegt in dem Worte, aber das Wort ist noch seine Grenze nicht. Zwischen der Mutter und Paulinen bücken wir uns etwas tiefer zu dem dritten Frauenbild oder –bildchen herab und blicken der kleinen Malvine in ihr frischfrohes, sinnliches Kinderauge. Ihr petulantes Gesichtchen ist zu einem kräftigen Nachdenken angespannt, sie hat ein englisches Lesebuch vor und mag nicht wenig studieren. Auch diese Trägerin der leichtesten Blutwellen stört also die allgemeine Stille unserer Gruppe nicht. Frau v. Milden mit dem kleinen Mädchen nimmt die eine Hälfte des Tisches auf einem schmalen Kanapee ein; neben ihrer Schwester an der untern Seite hat Pauline Platz, an der oberen neben Frau v. Milden steht ein leerer Stuhl mit Manuskripten und einem Schreibzeug davor. Indem wir uns um den Inhaber desselben umsehen, entdecken wir die Umrisse eines jungen Mannes, der reglos am Fenster verweilt, halb von der zurückgeschlagenen Gardine, ganz aber von dem großen kreisrunden Schatten verborgen, womit der Lampenschirm die Mitte des Zimmers verdunkelt. Es ist Benthal.

Die Ruhe, in welcher wir diese Gestalt verharren sehen, ist es wahrscheinlich, welche auf die tiefe Stille im Zimmer zurückwirkt. Man wird ihn nicht stören wollen.

Draußen aber am abendlichen Himmel hallt ein Gewitter.

Benthal hat das halbe Fenster geöffnet (das amerikanische Fenster ist nur halb zu öffnen) und scheint in die Szenerie am Himmel vertieft. Pauline sucht ihn von Zeit zu Zeit mit einem Blicke jener zärtlichen Inspiration, worin sich nur die bräutliche Angehörigkeit zweier Personen aussprechen kann.

Der Donner hallt näher, Blitze begleiten ihn, und rasch, wie Amerikas Wetter sich entladen, rauscht ein Platzregen nach. Die Luft ist still, aber wie sie vom Wasserstrom jetzt durchschnitten wird, fangen die Fenstergardinen lebhaft zu wehen an.

Erkälten Sie sich nicht, Theodor, spricht Frau v. Milden bei diesem Ausbruch zu dem Träumer am Fenster hin. Es ist das erste Wort, welches ein langes Schweigen unterbricht.

Benthal schließt das Fenster, d. h. nach der hiesigen Konstruktion, er schiebt es zu, den Frauen zugewendet aber antwortet er: Mama, wir hatten an der Rokolbank wohl andere Gelegenheit uns zu erkälten!

Seitdem ist mir's eben gründlich verleidet, was man romantisch »den Aufruhr der Elemente« nennt, spricht Frau v. Milden zurück.

Ich bewundere auch nicht den Aufruhr bei solchen Szenen, sondern die Ruhe, antwortete Benthal. Ich halte mir vor, daß auch die höchsten Winde und Wolken, von den fünfzehn Meilen unsrer Lufthöhe nur in den zwei untersten ihr Spiel treiben, und daß das heftigste Meer unter einer Tiefe von zehn Klaftern unbewegt liegt. So dünn sind die Platten, zwischen welchen wir unsre Eindrücke empfangen – und der Erdenwurm spricht von einer »empörten Schöpfung«!

Wenn Frauenumgang bildend den Exzentrizitäten der Männer steuert, so war's einer jener leisen, aber sichern Frauengriffe ans Steuer, als Frau v. Milden mit einer unschuldigen Stimme jetzt fragte: Wie meinen Sie, Theodor? Sie strafte das Verschrobene, indem sie es nur zur Erklärung seiner selbst aufforderte.

Aber Pauline hob einen bittenden Blick zur Mutter auf und sagte: Laß, Mama, wie sollte die Welt nicht klein werden, wenn es das Leben ist!

Benthal wandte sich rasch um. Er sah das Mädchen verstimmt an. Pauline erschrak. In Benthals Blick erst ward ihr's bewußt, daß sie die harmlose Berührung der Mutter mit einer viel empfindlicheren pariert – und doch hatte sie nichts getan, als ihr tiefstes Verständnis für ein mitgefühltes Lebensweh ausgesprochen.

Frau v. Milden schien das Mißliche von Paulinens Wort zu empfinden und redete Benthal ablenkend an: Wollen wir die Geschichte von Pennsylvanien für heute nicht in den Schrank schließen?

Demütig sagte Pauline: Oder laß mich schreiben und diktiere du. Du konzipierst fließender, wenn der Kopf allein arbeitet.

Das läßt sich hören, antwortete Frau v. Milden. Unser Baron – auf einen Blick Benthals verbesserte sie sich – unser Doktor Moorfeld, wollte ich sagen, kommt bei diesem Wetter ohnedies nicht mehr.

Mama! rief die kleine Malvine halb trotzend, halb bittend.

Du bildest dir doch nicht ein, wies die Mutter das Kind zurecht, daß man in solchen Wolkenbrüchen Visiten macht? Oder bist du so selbstsüchtig, dir zu wünschen, was andern Menschen Beschwerde macht?

Aber der Doktor kommt doch, antwortete das Mädchen vergnügt, ohne einen Zug von Eigensinn.

In diesem Augenblicke geschah ein betäubender Donnerkrach, ein jäher Windstoß riß in das Zimmer herein, denn die Türe war aufgegangen und Moorfeld stand im Zimmer.

Die Wirkung dieses Zusammentreffens war so schlagend, und Malvine jubelte so trunken, daß Frau v. Milden nicht umhin konnte, den vorausgegangenen Augenblick von Prophetie zu erzählen.

Moorfeld nahm das kleine Mädchen beim Kopf und küßte es lebhaft.

Die Herzhaftigkeit, womit das Kind es litt, glaubte die Mutter mit einer üblichen Neckerei rügen zu müssen. Sie sagte: Nun wirst du aber auch einen so schwarzen Ungarbart bekommen wie der Herr Doktor.

Ach! replizierte die Kleine, da hätte Pauline schon längst einen blonden Ungarbart bekommen, so groß!

Die Wirkung dieses naiven Kinderwortes und der vierfach variierte Ausdruck von der Verlegenheit der Erwachsenen wäre nicht wohl wiederzugeben, wenn nicht in demselben Augenblicke ein vernünftiger Donnerschlag der Familie die willkommene Veranlassung geboten hätte, zu erschrecken und zu überhören. Frau v. Milden ergriff überdies das Wort und bewunderte Moorfelds Ausgang bei diesem Wetter.

Ich gehe oder fahre in solchem Wetter am liebsten aus, antwortete Moorfeld, ich kenne kein größeres Vergnügen als eine Platzregen-Promenade durch die eleganten Passagen einer Stadt. Wie wunderschön das herabklatscht in die lackierte und frisierte Puppenschachtel! Nennen Sie's nicht Schadenfreude. Es ist ein ästhetischer Eindruck. Es ist komisch und pathetisch zugleich. Ja, es ist der einzige Fall, wo vom Erhabenen zum Lächerlichen gar kein Schritt ist. Auch leide ich ja mit. Aber im Geiste bin ich dann gar nicht auf der Erde, sondern droben. Wie sympathisiere ich mit dem grauen Ungeheuer in seiner Vogelperspektive! Das kam über Land und Meer dahergerauscht, scheuchte den Bären hier, brach die Zeder dort, plötzlich hängt es auf ein Stückchen Boden herab, wo der Pelz zur Pelisse wird, die Zeder zum Glockenturm, die Wildhöhle zur City-Hall – ein goldenes, zuckernes Ding, Stadt genannt, unter Glassturz zu stellen. Und nun die Fluten, die Blitze, die Orkane da drein! das erquickt! Da weiß man doch, wer noch das große Wort im Hause führt, die Glacéhandschuhmacher oder die Natur?

Sie hatten eine heitere Überfahrt? fragte Frau v. Milden.

Ja, das ist ein anderes, rief Moorfeld, indem er sich augenblicklich in diese Frage fand und ernsthaft ward; wenn Sie einen Seesturm erlebt haben, dann verzichte ich darauf, Sie für Sturmpoesie zu begeistern. Gott weiß es, woher die Dichter ihre prächtigen Seestürme haben, wahrscheinlich aus sonnigen Garten-Veranden, aus Kajüten nimmermehr. Herumzukollern wie eine Kugel im Roulett, auf dem Boden, an der Decke, in allen Ecken, Schwindel im Kopf, das jüngste Gericht im Magen, die Luken voll Seewasser, sämtliche Passagiere sprudelnde Fontänen – hinweg davon, auch im entferntesten Andenken! wir wollen dieser appetitlichen Teekanne ihren Beruf nicht sauer machen!

Auf dieses Signal setzte sich die Gesellschaft zu Tische. Moorfeld konnte bald sehen, daß seine lebhafte unmittelbare Natur gefiel. Die Unterhaltung nahm einen frischen Gang, Wirt und Gast fanden sich schnell und angenehm ineinander.

Im Flusse des hebenswürdigsten Beisammenseins hatte natürlich Moorfelds Frage an Benthal der günstigen Gelegenheit zu harren. Dieses diplomatische Apropos spannte ihn keineswegs unangenehm, nur war er nicht geduldig genug, es lange auszuhalten. Er suchte bald nach einem Anknüpfungspunkte. Beim Niedersetzen der kleinen Teegesellschaft war eine Mappe mit Manuskripten vom Tische entfernt worden. Moorfeld erinnerte sich an den Bäcker Sallmann aus Kleindeutschland und bat sich dringend aus, das Pamphlet zu hören, welches Benthal demselben versprochen, wenn es dort vielleicht eben unterm Ambos liege. Aber die Mappe enthielt es nicht mehr. Benthal hatte es bereits geschrieben und in die Druckerei geschickt. Es beschäftige ihn ein anderer Aufsatz, erklärte er auf Moorfelds Bewunderung dieser raschen Tätigkeit, und wie er diesen ebenfalls gerne schon druckreif sähe, so treibe eines das andere. Moorfeld erstreckte seine Bitte natürlich auch auf Mitteilung dieses zweiten Artikels. Benthal machte Einwände und ließ sich lebhafter nötigen, bis er die Lektüre nach dem Tee zusagte.

Der Name Kleindeutschland, der jetzt genannt worden war, gab Moorfelden die Gelegenheit, die er suchte. Er bewegte sich ein paar Augenblicke um dieses Thema, und wie im Vorbeigehen bat er dann den Rector magnificus, ob er ihm ein paar tüchtige deutsche Arme verschaffen könne – einen Zimmermann und einige Ackerleute; er denke nämlich ernstlich daran, demnächst seine Ansiedlung in Ohio zu begründen. Bei dieser vorläufigen Ankündigung hielt er inne und erwartete den nächsten Eindruck derselben.

Der Eindruck war ein bedeutender. Zwar erwiderte Benthal das Geschäftsmäßige von Moorfelds Frage mit der rücksichtsvollen Fassung, die ihn nicht leicht verließ: er werde sich, sagte er, die Sache angelegen sein lassen, er hoffe jedenfalls die gewünschten Arbeitskräfte zu gewinnen; dann aber, – und er bedurfte einer Pause, um überhaupt weiter zu sprechen, – setzte er hinzu, diese Mitteilung überrasche ihn lebendig. Kaum erinnere er sich noch, daß das Wort Urwald flüchtig gestern genannt worden sei und mehr bildlich als eigentlich, wie es geschienen, es klinge ihm heute neu, und er habe gewaltige Ehrfurcht vor Moorfelds Gewissenhaftigkeit, der ein Land, um es zu studieren, gleich kaufe. Er sagte diese Worte mit immer wachsender Bewegung, die Frauen blickten ihn an und blickten dann sich selbst an. Auch ihnen, sah man, gab das Gehörte zu denken.

Frau v. Milden tat – was in solchen Momenten das Taktvollste ist – sie sprach die Bewegung, die vorhanden war, freimütig aus. Mit der richtigen Mischung von Gelassenheit und Anteil in ihrer Stimme sagte sie zu Moorfeld: Sie beabsichtigen eine Ansiedlung, Herr Doktor? Ich glaube es gern, daß es Herr Benthal überhört hat, er wird es ungerne gehört haben. Wenn man sich im menschlichen Umgang nur an eine Art Astronomie gewöhnen könnte! die Menschen wie Sterne zu nehmen; – sie kommen und gehen am Horizont, und man hätte das freie Interesse der Wissenschaft an ihnen. Aber das Gemüt will alles gleich festhalten und in Eigentum verwandeln: das ist freilich ungezogen. Ich fürchte, Herr Benthal wird Ihnen eine kleine Ungezogenheit dieser Art abzubitten haben.

Jetzt war Moorfelds Augenblick da. Gnädige Frau, sagte er, seine Spannung unter einem Scherz verbergend, daß wir beide, Herr Benthal und ich, nur nicht jenen zwei Bettlern gleichen, welche sich im Dunkeln wechselseitig um Almosen angesprochen haben! Für Herrn Benthal setze ich hinzu: sans comparaison! für mich aber nicht. Ich fühle mich nämlich gerade jetzt einen rechten und standesmäßigen Bettler, daß ich nicht einen virginischen Grundbesitz kaufen kann, sondern höchstens ein paar tausend Acres. In jenem Falle würde ich zu meinem Sterne sagen: wollen Sie mein Intendant sein? in diesem darf ich höchstens sagen: wollen Sie mein Mit-Bauer sein? und, hier liegt der Bettler. Desungeachtet bin ich nicht blöde genug, es nicht wirklich zu sagen, wenn ich erst hoffen darf, daß es mir verziehen wird. Also: Herr Benthal, wollen Sie – was sein? was, weiß ich selbst nicht. Sie wissen das besser als ich. Sie haben es gestern so schön gesagt, daß man in Amerika nur eins und ein einziges ist – ein Mann! Wohlan, will es dieser Mann statt mit Mr. Mockingbird mit mir und meinem Urwald versuchen? – Der Bettler hält Ihnen seinen Hut hin. Meine Hand, wenn Sie das Gold Ihrer Fähigkeiten dreinlegen wollen, steht Ihnen stets offen. Diesmal blickten die Frauen nicht mehr auf, und selbst Benthal sagte mit niedergeschlagenem Auge: Es läßt Ihnen wohl, Herr Doktor, mit lachendem Munde Geschichte zu machen. Was Sie da sprechen, ist so wichtig, daß Prosaiker nicht ermangeln würden, es wirklich wichtig zu traktieren. Aber der höhere Mensch, welcher weiß, daß wir nur beginnen können, und daß unermeßliche Schicksale weiter führen, was sich aller Voraussicht entzieht, der hat recht, wenn er seine Saatkörner auswirft wie Bonbons im römischen Karneval. Ihre Worte sind das Signal zu einer neuen Richtung meines Lebens. Sie sind ein Wendepunkt in einer oder mehreren Biographien. Daß die Wendung eine glückliche ist – wer möchte vor dem Gegenbild von Mr. Mockingbirds Volksschule daran zweifeln? Der Zweifel liegt hier anderswo. Ich sehe in Ihren Worten allerdings den Hut, den Sie mir hinhalten. Aber – soll ich was hineinwerfen, oder – soll ich was herausholen? Das ist die Frage hier. Es ist eine Ehren-Frage. Reizend verwirrt, nehmen sich solche Fragen denn doch auch prosaisch gelöst nicht schlecht aus.

Moorfeld verbiß sein Lächeln, er wußte wohl, was er für einen Charakter vor sich hatte, und war gefaßt darauf, daß ihm ein bißchen Metaphern-Spiel nicht so leicht durchgehen würde. Mit ganz verändertem Tone sagte er daher: Der Mann, der in Hambach nicht gefragt hat, ob er in einem Kerker verfaulen wird, sollte in Ohio nicht fragen, ob er emporblühen wird. Mißverstehen Sie mich nicht. Ich mute Ihnen nicht zu, die Ehre Ihres Unglücks an den nächstbesten hergelaufenen Freund zu verkaufen. Was Sie der Nation geopfert haben, darf Ihnen nur die Nation vergüten, und ich habe kein Mandat von Deutschland. Es ist nicht der Rede wert, was ich Ihnen biete. Ein paar Kornähren zur Nahrung, ein paar Schafe zur Kleidung und ringsherum starre Wildnis, das ist kein Lebensglück. Halten Sie es dafür, so setzt dieses Dafürhalten Ihr Verdienst, nicht das meinige. Sie denken dabei an Ihre große Produktionskraft, welche die rohe Vorbedingung des Lebens erst in Lebensglück verwandeln muß. Und wahrlich, an diese Kraft dachte ich auch bei meinem Anerbieten. Ich bin der Krämer, der einem Shakespeare ein Buch Papier überreicht mit den Worten: hier, mein Herr, haben Sie die Unsterblichkeit, – sie tut sechs Pfennige. Der Wert meines Materials und der Wert Ihrer Arbeit liegt lächerlich weit auseinander. Ja, ob ich Ihnen selbst diese sechs Pfennige schenke, ist noch die Frage. Ich schenke sie aber nicht, sondern ich lege sie auf furchtbaren Wucher. Sie wissen besser als ich, daß ein Mensch hier viel, ein Grundstück wenig Preis hat. Um einen Kopf mehr gedacht, um eine Hand mehr gerührt auf meiner Farm, erhöht ihre Rente. Ich treibe Agiotage mit meiner Gastfreundschaft. Kurz, es ist hier von einem Kompagnie-Geschäfte die Rede; ich schieße das Geld dazu her und Sie ein Kapital, das Geldes wert ist. Ich bin Poet und ein schlechter Wirtschafter. Eine Strophe kann mich am Erntetag gründlicher beschäftigen als die ganze Ernte. Ein paar Kälber verkauf ich vielleicht zum günstigsten Preis nicht, weil mir die Zeichnung ihrer Haut gefällt. Fragen Sie nicht, ob ein solcher Wirt die praktische Vernunft zu Gaste bitten darf. Mein Einfall, Grund zu besitzen, konnte überhaupt nur auf der Hoffnung ruhen, daß das Glück seine Ausführung übernimmt. Besitzer von Gütern zu sein, ist ein Talent, so gut, als Besitzer von Ideen zu sein. Mir fehlt jenes Talent. Will ich Grund besitzen, so ist es mein Vorteil, den Vorteil anderer daran zu knüpfen. Ich muß mich mit meiner Erde durch Prokuration vermählen lassen.

Moorfeld hatte sich in eine Überzeugung gesprochen, die ihn des Sieges gewiß machte. Jetzt zog er sich wohlweislich auf sein Ziel, gleichsam wie auf eine Rückzugslinie, zurück, und sagte mit jener Mäßigung, die der Abschluß einer Sache ist: Ich gebe Ihnen gerne zu, daß Sie für den Augenblick noch kein klares Bild von dem Verhältnisse haben. Ich verlange daher auch Ihr klares unumwundenes Wort nicht. Es genügt mir schon, daß wir uns in der Vorfrage orientiert haben. Auch ist meine Stimme nicht die einzige Potenz für Ihre Entschließung. Mit aller Ehrfurcht erkenne ich höhere Potenzen. Der nächste Stand der Dinge bleibt daher, wie er ist. Sie behalten Mr. Mockingbirds Schule; ich gehe meinem Projekte nach auf eigene Hand und Gefahr. Ich reise nach Ohio. Ich sehe mich um, ich wähle, ich kaufe. Ich mache aus meinen Gedanken eine fertige Tatsache. Diese fertige Tatsache lege ich Ihnen vor, Sie werden Ihr Verhältnis zu ihr dann selbst finden. Sind wir aber soweit – ein Wort für alle, liebster Herr, Sie lassen mich nicht sitzen! Sie bleiben selbst nicht sitzen in Kleindeutschland! Sie bringen mir die Besten Ihres Volkes mit, und den ersten rücken spätere nach und den wenigen mehrere, und eine Stadt zimmern wir uns auf, darin sind Sie Pastor primarius, Rector magnificus, Redacteur en chef, Kaufmann en gros und en détail, kurz, was ein Amerikaner in einer jungen Ansiedlung ist: eine indische Gottheit mit hundert Händen und Füßen. Ich aber verkaufe meine Acres um das Hundertfache und werde Millionär. Mit dieser passiven Rolle begnüge ich mich neben Ihrer aktiven. Darauf ziel' ich; daß ich es nur gestehe! ein freiwilliges Geständnis ist immer ein mildernder Umstand. Das sind meine Tendenzen. Freilich sollt' ich sie nicht am Teetisch enthüllen. Eine »Loretto-Kapelle« ist keine Börse. Was werden unsre verehrungswürdigen Damen denken! Ein Dichter ist angemeldet und ein Landspekulant kommt. Welch ein Abfall von gestern und heute! Sehen Sie, so schnell entartet die europäische Rasse in Amerika. Es ist Zeit, daß ich abbreche und von ganzem Herzen um Verzeihung bitte.

Damit erledigte Moorfeld seinen Antrag fürs erste. Und wie nach solchem Thema nicht wohl ein leichterer Ton wieder anzuschlagen war, so erinnerte er sich jetzt rechtzeitig an Benthals zuvor versprochenen Aufsatz. Er zweifelte nicht, daß derselbe jenes Element enthalten werde, dessen die Situation jetzt bedurfte: irgendein gedankenreiches Etwas, fähig, die Stimmung, ohne ihr Zwang anzutun, an ein neues Interesse zu fesseln. Er wiederholte daher seine Bitte. Aber Benthal war jetzt noch zurückhaltender, als er sich gleich zuerst gezeigt hatte. Man sah ihm eine große Verlegenheit an. Er suchte Ausflüchte, er behauptete, kein Augenblick ließe sich ungünstiger als der gegenwärtige wählen, die Lektüre sei ganz und gar nicht an ihrem Platze jetzt. Auf Moorfelds Befremden verriet er endlich soviel: es sei in jenem Schriftchen von Amerika etwas heterodox gesprochen; eine günstigere Meinung müsse sich notwendig davon verletzt fühlen; eine solche Dissonanz getraue er sich aber nicht zu verantworten, am wenigsten in gegenwärtigem Augenblicke.

Moorfeld hörte diese Erklärung überrascht, fast betreten an. Er antwortete: Ich würde mich sehr mangelhaft ausgedrückt haben, Herr Benthal, wenn ich eine Vorliebe oder ein Vorurteil für Amerika an den Tag gelegt hätte. Man hält es für ein Land der menschlichen Vollkommenheiten in Europa, und darum macht' ich mich auf, es kennenzulernen. Das ist alles. Ich will es mir ansehen, wie ein Pferd, das ich kaufe. Daß ich die Neigung hätte, absichtliche Täuschungen darüber festzuhalten, sollte ich, wie mir dünkt, mit keinem Worte verraten haben. Es wäre auch entfernt nicht der Fall. Abgesehen, daß der einzelne, bei der freundlichen Absicht mich zu schonen, den Andrang einer allgemeinen Enttäuschung doch nicht abwehren könnte von mir. Was Sie eine günstige Meinung nennen, hatte ich über Amerikas Stadtleben eigentlich nie, und meinen Glauben an die Urwalds-Poesie möchte ich eben auch nicht zu abstrakt kultivieren; ein wenig Bilderdienst wird ihn stets unterstützen müssen; warb ich doch soeben um einen lieben Heiligen für meine Waldkapelle! Nein, lesen Sie immer, ich bin wohl der Mann zu hören. Glauben Sie überhaupt nicht, daß die Poesie noch Täuschungen liebt. Die moderne Poesie ist skeptisch. Eine Negation ist uns lieber als ein Wahn.

Eine Negation ist uns lieber als ein Wahn! wiederholte Benthal – ja, dann darf ich lesen, rief er bestimmt, fast freudig. Seine Haltung veränderte sich augenblicklich. Hatte sie soeben noch jene ergebene, rücksichtsvolle Schüchternheit, die Moorfeld bei Mr. Mockingbird an ihm gefunden, so zeigte sie jetzt den mannhaften Auf blitz, die entschiedene unerbittliche Sicherheit, in der ihn Kleindeutschland kannte. Der Mann, von äußeren Lebenslagen in den Schatten gestellt, ging immer im vollsten Lichte, wo er auf dem Boden von Überzeugungen stand. Im Selbsterrungenen fühlte er sich.

Er holte seine Manuskripten-Mappe. Moorfeld rückte zurecht. Frau v. Milden nahm wieder ihre Arbeit vor; die Mädchen räumten den Teetisch ab. Die Kleine machte ihre Sache flink und zierlich. Sie bot in ihrer Tätigkeit ein Schauspiel voll schicklicher Angewöhnungen; alles war Applikatur an ihr. Dabei hatte sie nichts von jenen Übergeschäftigen, die wir die Koketten der Häuslichkeit nennen möchten. Sie huschte hin und wider mit einer dezenten, fast dürften wir sagen, vornehmen Geräuschlosigkeit. Moorfeld beobachtete sie innig vergnügt. Nicht Malvine, Möve muß sie heißen, sagte er, als er ihr eine Zeitlang so zugesehen. Das Kind reichte ihm die Hand und lächelte ihn freundlich an. Sie schien zu glauben, er habe sie mit einem großen Ehrentitel beschenkt.

Benthal hatte inzwischen einige Oktavblätter von seinem Postpapier aus seiner Mappe geholt und leitete jetzt seine Lektüre mit folgenden Worten ein: Eine der ersten Zeitungen New Yorks machte unlängst mit einem Leitartikel Aufsehen, welcher die politische und soziale Entwicklung Amerikas seit dem letzten Kriege behandelte. Der Haufe fand sich von seinem Sklaven, den er die freie Presse nennt, so maßlos darin geschmeichelt, daß der wirklich freie Mann unwillkürlich in Opposition dagegen geriet. Ich will nun eben nicht sagen, daß dies mein Fall war, aber ich fühlte doch mein Recht, die Sache auf meine Weise anzuschauen. Genug, die Gelegenheit war mir ein Antrieb, einiges von dem niederzuschreiben, was ich dem Lobredner mündlich entgegnet hätte; da ich aber gern Zwecke vor Augen habe, so schrieb ich gleich auf Postpapier und werde nun den Artikel, der die hiesige Lynch-Zensur doch nicht passieren würde, vielleicht an Cotta für die Augsburger Allgemeine schicken. Ich würde es als eine Art Sühne betrachten für unsre politisch-liberalen Schönfärbereien von weiland. Meine Hambacher Kollegen werden freilich wieder einmal Verrat wittern, aber – amicus Plato usw.

Moorfeld nickte schweigend vor sich hin. Er saß still und in sich gekehrt. Benthal begann:

Zur Beurteilung des Bestandes der nordamerikanischen Gesellschaft.

Als ich vom Havrer Landungsplatze meinen Gang durch New York antrat, war die erste Neuigkeit, die mich anzog, ein riesiges Plakat an der Ecke der Greenwich- und Liberty-Street. Ein Verein, »the Workies« genannt, lud zu einer Generalversammlung ein. Was sind das für Leute? fragte ich zwei Bürger, welche vorübergingen. Tollhäusler! sagte der eine, ein Deutscher; Lichtzieher, die Präsidenten werden wollen, lächelte giftig der andere, ein Amerikaner. Ich aber pflanzte mich auf und studierte nun selbst das jener Einladung beigefügte Programm der Workies.

Das Programm bestand aus Forderungen einer sozialistischen Arbeiter-Organisation. Die Sprache war ohne Schwung und prophetische Salbung, ohne das Kostüm des europäischen Ikarismus, sie war klar und einfach wie eine Möglichkeit. Und doch war es nichts Geringeres als eine jener Schuldforderungen der Besitzlosen an die Besitzenden, welche mit dem Bankerott beantwortet werden. Sie klang aber viel eher wie eine fürstliche Kabinettsordre, welche Degradation verhängt. Sie sprach wie ein trockener Machtgebrauch, wie eine simple Pflichtübung. Es wurde mir sehr leicht, mich zu belehren.

Was sind die Workies?

Die Workies sind eine Verbindung von Arbeitern. Sie sind nicht nur in New York, sondern in allen größeren Städten verbreitet. Sie verfügen über eine gut redigierte Presse und über Straßenecken, soviel sie deren begehren. Kein Hausbesitzer wagt, ihre Plakate zu beleidigen.

Was fordern die Workies?

Die Workies fordern streng genommen nur eins: Gleiche und allgemeine Erziehung. Es ist falsch, sagen sie, wenn man behauptet, wir hätten keine privilegierte Aristokratie im Lande. Wir haben vielmehr die gehässigste Sorte derselben, die Aristokratie der Kenntnisse. Wir nennen sie die gehässigste, weil sie vor unsern Augen täglich und stündlich wird und nicht im mildernden Dämmer der Geschichte geworden ist. Jedes Kind, welches zur Schule geht, begründet sich eine Herrschaft über dasjenige, welches zur Fabrik geht. Der Arbeiter ist von der Gelegenheit höheren Unterrichts abgeschnitten, d. h. er ist von den höheren Staatsämtern ausgeschlossen. Die Staatsämter werden in der Tat unter eine kleine Klasse der Gesellschaft verteilt; diejenigen dagegen, welche die Kraft des Landes ausmachen, gelangen nie zur Aussicht, aus den Regierten unter die Regenten einzutreten. Das ist eine Unvollkommenheit. Diese Unvollkommenheit muß abgestellt werden, erklären die Workies, wenn die Freiheit eines Amerikaners mehr als ein eitler Schall sein soll. Sie erklären feierlichst, nicht eher ruhen zu wollen, als bis jeder Bürger in der Union denselben Grad der Bildung erlange wie sein Mitbürger. Eh' aber die Workies von diesem Programm die obere Grenze erreichen, begnügen sie sich (und das ist das Bedenkliche an der Sache) mit der untern Grenze. Bis sie in höhere Bildungsregionen aufsteigen, ziehen sie die Gebildeten zu sich herab, wie sich denn schon mehr als eine Legislatur genötigt gesehen hat, Vermächtnisse ihrer freien Bürger umzustoßen und Fonds, für Universitäten bestimmt, niedern Schulen zuzuwenden. Sagen die Workies doch ausdrücklich, und wir zweifeln, ob es bloß in der Blume gemeint ist, es verrate eine schlechte Volkswirtschaft, wenn die einen sich in Champagner baden, indes die andern schändliches Wasser trinken. Das öffentliche Vermögen müsse offenbar so verteilt sein, daß jeder Brandy haben könne. So umschreibt sich die Theorie von »demselben Bildungsgrad« in der Praxis. Derselbe Bildungsgrad wird, das ist klar, durch Degradation ebensogut erreicht, wie durch Avancement.

Diese Logik haben denn auch die Reichen bewunderungswürdig schnell begriffen. Sie kommen den Workies durch ihren Zynismus entgegen. Zwar wählen sie Lichtzieher noch nicht ins Repräsentantenhaus, aber Repräsentanten haben sich doch schon beohrfeigt und angespien wie Lichtzieher. Das ist immer auch anzuerkennen. Und als Präsident Jefferson am Abende seines Lebens gefragt wurde, welche Staatsbeamten ein erfahrener Politiker für die tauglichsten halten würde, antwortete er: solche, die sich nicht betrinken. So hört man auch in den alten Staaten bejahrte Notabilitäten darüber klagen, daß sie nur noch von den englischen Traditionen zehren und das Grab der Bildung sich täglich erweitere. Zur Kolonialzeit hätten ärmere Bürger mehr Kultur besessen als jetzt die reichsten. Der Fremde geht noch weiter. Nicht nur der Abgang der Bildung ist's, sondern geradezu die Verachtung derselben, ihre offene Prostituierung, die ihn hier so schneidend verletzt.

Moorfeld blickte auf.

Hat nun der Einwanderer – fuhr die Lektüre fort – zum ersten Gruß ein solches Workies-Plakat gelesen, so ist das denkende Wesen in ihm aufgefordert, und er reflektiert den Zuständen des Landes weiter nach. Die Tatsache eines amerikanischen Sozialismus ist so zerstörend in das Gewebe seiner Rosenträume gefahren, daß er jetzt erst mit wachen Augen um sich blickt. Und wie an dem Sommerhimmel New-Orleans ein Gewitter von allen Seiten zugleich aufsteigt, so schwärzt sich ihm jetzt der Horizont der Union an mehr als einer Stelle von drohenden Zukunfts-Gesichten. Aber noch kann er die Workies selbst nicht vergessen. Ist's auch nur ein Proletariat, das Präsident werden und nicht bloß satt werden will, so weiß er wohl: der Notschrei Lears um seine hundert Ritter und der schlesische Notschrei nach einem Mißjahre sind beide ein Notschrei. Die Not, die welterschütternde, treibt hier wie dort, und wer heute noch den Luxus bedarf, bedarf morgen schon das Bedürfnis. In der Tat: um dieses Heute und Morgen bewegt sich Europas und Amerikas ganze Differenzialrechnung vom Glücke. Darum wird man sich hüten, die Workies gering anzuschlagen. Man wird sich hüten, zu wähnen, es sei hier von einer jener unzähligen Parteien im Staate die Rede, welche sich in Gottes Namen gegeneinander reiben und »im feurigen Bewegen ihre Kräfte kundtun« mögen. Gewissen Organismen wohnt die Prädestination der Alleinherrschaft inne. Die Bauern in Latium waren nicht ein kriegerischer Volksschlag neben andern Völkern Italiens; sie wußten es gleich von vornherein nicht anders, als daß sie die Welt erobern würden. Die verachtete Sekte der Nazarener fühlte sich nicht etwa kollegialisch neben der Sekte der Sadduzäer, Pharisäer und Essäer: sie nannte als ihren Beruf – »hinzugehen in alle Welt«. So die Workies. Ihre Anfänge sind die geringsten, denn Amerika ist überwiegend mehr ein Ackerbau- als ein Industriestaat; ihre Zukunft dagegen ist die größte, denn der erste Blick auf die Oberfläche des amerikanischen Bodens zeigt uns einen so ungeheuren zutage liegenden Schatz von Kohlen und Eisen, ein so vortreffliches System von Meer-, See- und Fluß-Bahnen, daß wir dem Lande wie an der Stirne seinen Beruf lesen: der erste Industriestaat der Welt zu werden. Bedenken wir dazu, daß die hiesige Bevölkerung in rascheren Proportionen als irgend auf der Erde zunimmt, bedenken wir ferner, daß der Geist nicht nur des heutigen Gouvernements, sondern die Nationaleitelkeit des ganzen Volkes nach der verhängnisvollen Ehre einer großen Industrie wahrhaft dürstet und das Unglaublichste leistet, um eine solche rasch möglichst emporzukünsteln: so werden wir nicht daran zweifeln, daß dieser unendlich mit sich selbst multiplizierte Kankrin sein Ideal bald und gründlich erreichen wird. Ja, auch Amerika geht den Zuständen entgegen, in welchen Millionen Existenzen von der Nachfrage um ein einziges Fabrikat abhängen; auch hier wird diese Nachfrage einem beständigen Schwanken unterworfen sein und das Pendel Reichtum und Überfluß auf die eine, Not und Verzweiflung auf die andre Seite beständig umherschnellen. Die Veränderungen der Mode, die Überführungen der Märkte, auswärtige Kriege mit ihren Absatzstockungen und Bankrotten, tausend Ursachen werden auch hier beständig unterwegs sein, große Menschenmassen ihres Unterhalts zu berauben und dem Hunger zu überliefern. Diese Hungernden aber werden – Souveräne sein! Wenn der europäische Besitz, ich will nicht sagen in der Waffenmacht, sondern in den Rechtsbegriffen der Besitzlosen selbst, eine Bürgschaft seiner Unantastbarkeit genießt und im ganzen genommen sich des Gehorsams erfreut, so wird der amerikanische Besitz nicht berechtigt, sondern nur geduldet sein, und die Duldung wird ihm versagt werden, sooft sie Opfer erheischt. Der ganze Gesellschaftskontrakt zwischen Besitz und Arbeit wird in Amerika so lauten, daß die Arbeit mit dem Besitze zwar den Vorteil, nicht aber den Nachteil trägt; den letzten wird sie vielmehr mit der vollen Wucht eines agrarischen Spoliations-Systems der Gegenpartei aufladen. Ob solche Kontrakte aber unter wahrhaft Freien eingegangen zu werden pflegen, und ob sie den Bestand, das Glück und den Flor der seltsam situierten Teilhaber verbürgen, das werden praktische Rechtsgelehrte besser als ich zu beantworten wissen. Die Geschichte wenigstens hat keine Beispiele davon. Das Schauspiel der Workies-Regierung wird beispiellos sein. Die Kämpfe der Gracchen erröten davor und flüchten ins Genre der Idylle.

Im gegenwärtigen Augenblicke sind die Vereinigten Staaten vor revolutionären Erschütterungen vielleicht sicherer als irgendein Staat in der Welt. Sonderbarerweise schreibt der Amerikaner aber dieses Glück nicht dem Umstande zu, daß der größte Teil der Nation vorläufig noch Eigentum besitzt, sondern er hält es für eine Wirkung seiner »unverbesserlichen Konstitution« und bedenkt nicht, daß diese Konstitution eben nur für eine agrarische Bevölkerung mit Eigentum berechnet ist. Was »unsre unverbesserliche Konstitution« – »das unüberwindliche Bollwerk unserer Freiheit« – aber leisten soll, wenn der Hunger im Repräsentantenhause und der Bankrott im Senate sitzen wird, das verlangte mich den Geistern der Zukunft abzulauschen. Unter den Menschen habe ich mich vergebens umgetan, die wunderwirkende Kraft der amerikanischen Konstitution kennen zu lernen. Ich konnte nur sehen, daß sie ein Ding sei, welches allen wohlgefällt; bestrebt' ich mich aber, hinter die Ursache dieses Wohlgefallens zu kommen, so merkt' ich wohl, daß meine Bestrebung eitel Pedanterie war, denn der Liebenswürdigkeit muß man keinen Grund abfragen. Solch eine grundlose Liebenswürdigkeit ist die amerikanische Konstitution. Die Liebhaber derselben definieren sie, wie Liebhabern billig, auf die konfuseste Weise. Fragt man den Präsidenten der Vereinigten Staaten, worin das Wesen der Regierung bestehe, welche er mit so viel Ehre für sich und mit so großen Vorteilen für sein Vaterland verwaltet, so wird General Jackson antworten, sie sei ein Gouvernement der Konsolidation, mit voller Macht begleitet, ihre Beschlüsse in allen Distrikten der Union durchzusetzen. Fragt man den Vizepräsidenten, so wird er das Gegenteil antworten: das Gouvernement sei nur konföderativ und rücksichtlich seiner Beschlüsse von der freien Einwilligung der Einzeln-Staaten abhängig. Fragt man Mr. Clay oder Mr. Webster, worin das Geheimnis ihrer großen âme incomprise, der Konstitution bestehe, so werden sie wahrscheinlich das Privilegium, den Handel des Landes nach Gutdünken zu besteuern und aus den Zolleinkünften Straßen und Schulen zu bauen, dafür ansehen wollen. Man richte dieselbe Frage an General Hayne und Mr. van Buren, und sie werden behaupten, dieses Gewaltsystem nach der einen und Protektionssystem nach der andern Seite hin sei eine Doktrine der beleidigendsten Tendenz und gehe aus einer nicht zu duldenden Auslegung der Konstitution hervor. Dennoch stimmen alle überein, daß diese Konstitution das höchste, deutlichste und fehlerfreiste Werk aller menschlichen Gesetzgebungen sei. Solche Mißverständnisse müssen sich offenbar schwer rächen. Nicht nur, daß die Konstitution unter diesen Umständen kein Bollwerk gegen Anarchie ist, so scheint sie weit eher noch ein Samen- und Treibhaus derselben. Und hier berühren wir eine andere Seite. Es wird gar nicht des sozialen Gärungsstoffes bedürfen, um das, was sich heute Union nennt, aufzulösen; politische Ereignisse können den Zerfall schon früher herbeiführen. In der Tat vergeht kein Jahrzehnt, daß nicht irgendeine politische Krisis die Vitalität der Union auf eine harte Probe stellt. Zur Zeit der Hartforder Konvention war Onkel Sam nahe daran, den Geist aufzugeben; vor anderthalb Jahren litt er entsetzlich am Carolina-Fieber. Und ist von letzterem Krankenbette nicht das tödliche Gift der Nullifikationslehre im Leibe zurückgeblieben? Kann man von einer Bundes-Einheit sprechen, wo jedes einzelne Bundesglied sich das Recht zuschreibt, die Beschlüsse des Ganzen für seinen eigenen Teil unbefolgt zu lassen? Und kann man von der Vortrefflichkeit – was sag' ich? – nur von der notdürftigsten Zulänglichkeit einer Konstitution sprechen, wenn die übrigen Bundesglieder dem renitenten, oder wie es hier heißt, dem nullifizierenden Mitglied die Pflicht des Gehorsams aus dem Wortlaut dieser Konstitution keineswegs klar und unzweifelhaft nachzuweisen vermögen? Wären die Vereinigten Staaten eine gleichartigere Masse, so könnte man diese Lockerheit ihres Zusammenhangs noch ruhiger ansehen; man tröstete sich, daß die Notwendigkeit selbst die Stelle des geschriebenen Buchstabens suppliert. Diese Notwendigkeit aber war höchstens in den dreizehn Staaten vorhanden; in den heutigen sechsundzwanzig dürfte sie wenig mehr zu entdecken und bald wird sie gänzlich verschwunden sein. Die ungleichartige Masse wächst täglich über die gleichartige hinaus, was einst Organismus war, ist jetzt oder demnächst nur noch Aggregat, zusammengehalten von der Einbildung, die durch die alten Traditionen noch genährt wird, aber verflüchtigt von dem Augenblicke an, wo die Interessen stärker sein werden als die Einbildung. Diese Betrachtung wird diejenigen aus einem süßen Traume wecken, welchen es das Herz erhebt, sooft das Sternenbanner mit einem neuen Sterne sich bestickt. Denn was sie für Machtzuwachs halten, erscheint jetzt als Beförderung des Zerfalls. Aber sie mögen sich's selbst sagen! Welche Verwandtschaft ist zwischen dem Franzosen in New-Orleans und dem Puritaner in Boston? zwischen dem Palmenlande Florida und den Eisblöcken in Maine und Vermont? Ja! schon die geographische Ausdehnung der Union protestiert gegen die Zusammengehörigkeit ihrer Bundesglieder. Wer wird auf die Dauer Deputierte von Archangel nach Madrid schicken? Und wenn die Union, wie es ihr Projekt ist, erst den stillen Ozean erreicht haben wird – was dann? Dann mag sie den Regierungssitz von Washington selbst an die zentralste Stelle, nach irgendeinem bisher noch namenlosen Sumpf in Nebraska verlegen, sie wird eine Rotation um diesen Mittelpunkt, sie wird eine Zentripetalkraft von Maine und Kalifornien doch nicht erkünsteln können. Die Meridiane haben auch ein Wort dreinzureden. Man sage nicht, Petersburg und London müssen ebenso riesige Dimensionen ihrer Regierungsgebiete bezwingen. Rußland zentralisiert durch den Despotismus und den Schnee, England kolonisiert für den Abfall. Und wahrlich, Amerika geht diesen beiden Schicksalen zugleich entgegen. Mit dem Abfall bedrohen sich Nord und Süd schon jetzt, ist das stille Meer erreicht, so werden sich auch Ost und West damit bedrohen. Der Despotismus wird gleichfalls seine Entrepreneurs finden.

Diese letztere Behauptung könnte die kühnste und in bezug auf ein so großes menschliches Ideal wie Amerikas Freiheit wahrhaft unsittlich scheinen. In der Tat wäre sie zu unverantwortlich als Räsonnement, man wird sie schon als Tatsache gelten lassen müssen. Die Anfänge dieser Tatsache aber sind da. Denn wenn wir die Ungleichartigkeit der amerikanischen Bestandteile nicht nur im allgemeinen betrachten, sondern, was für Republiken ein so zarter Punkt ist, sie speziell als Ungleichartigkeit der Machtverhältnisse aufs einzelne anwenden, so finden wir die Tatsache, daß drei große westliche Staaten: New York, Pennsylvanien und Virginien, in Besitz einer Macht sind, wodurch sie in Wahrheit an der Spitze der Sternenbanner-Republik stehen, allen republikanischen Gleichheitstiteln ihrer Geschwister zum Trotz. Diese Macht ist freilich kein konstitutionelles Vorrecht, aber sie ist das natürliche Vorrecht des Reichtums, der Intelligenz, der politischen Erfahrung, kurz, materielle und moralische Macht. So sind jene Staaten ein Triumvirat, das die Angelegenheiten der Republik nur mit einem höflicher betonten: Roma locuta est Rom hat gesprochen. entscheidet, sie sind ein politisches Rund für sich, das nötigenfalls nicht mit dem Übrigen zu folgen braucht, wohl aber folgt das Übrige ihm. Was fehlt da noch zum Begriffe der Oberherrschaft oder des Despotismus? Wie groß ist der Unterschied, ob der Despot ein einzelner oder eine Provinz sei, ob seine Autorität mit friedlicher Instinktmäßigkeit anerkannt oder unter härterer Nötigung erduldet wird? Das Fehlende aber kann, und was höchst wahrscheinlich ist, es wird im Laufe der Zeiten auch noch hinzutreten. Denn wenn die soziale Revolution oder der politische Zerfall, wovon wir gesprochen, unter einer Reihe von Bürgerkriegen nun vor sich gehen wird, so werden die Generale dieser Bürgerkriege wohl nicht sämtlich Männer von Washingtons Tugend oder Mittelmäßigkeit sein. Militärdiktatur war immer der Steigbügel zur Monarchie und wie die genannten Staaten die besitzreichsten sind, diejenigen, die am meisten zu verlieren haben, so wird ihr stärkeres Interesse für den Frieden sie auch am ehesten geneigt machen, abzuschließen und unter irgendeiner Form, ich sage unter irgendeiner ihr wichtiges Güterleben in Sicherheit zu bringen. Vielleicht, daß sogar schon die erste Panik über den Bruch der Union, über die Entzauberung ihres allmächtigen Talismans sie zur Beute des Usurpators macht. Derselbe wird ja ohnedies als Republikaner anfangen; er wird hier Protektor, dort Konsul, am dritten Orte Präsident heißen, er wird hier rascher, dort langsamer an seiner Krone schmieden, überall aber wird sie fertig werden.«

Hier legte Benthal sein Manuskript nieder und sagte: An diesem Punkte bin ich einstweilen zu Ende mit meiner Lektüre, wenngleich nicht mit dem Aufsatze selbst. Ich werde im folgenden noch der Sklavenverhältnisse gedenken, die ich bei den Schlagwörtern Carolina-Fieber und Nullifikation im Kontexte noch zur Seite liegen ließ. Es gebührte diesem Thema eine eigene Ausführung. Es ist in doppelter Beziehung verhängnisvoll für den Staat der Union, nämlich erstens als religiös-humanistische Frage, wobei der Norden die Bekämpfung des Südens als Gewissenssache führt; dann aber auch als national-ökonomische, wobei Sklaven- und Nicht-Sklavenstaaten dadurch feindlich zusammentreffen, daß jene für den Freihandel, diese aber für den Zolltarif interessiert sind. Ohne das Sallmannsche Pamphlet hätte ich diese Schlußstelle wahrscheinlich heute noch ausgeführt; entschuldigen Sie nun, daß Sie ein Bruchstück gehört haben.

Bei Gott, ein Bruchstück! rief Moorfeld unter der Last des Gehörten – Alles geht ja hier in die Brüche!

Bei diesem Worte wendete sich Pauline an Benthal: Hast du nicht etwas zu streng geurteilt? fragte sie bescheiden. Moorfeld fühlte die ganze Aufmerksamkeit dieser Frage für sich. Er vergalt der Fragenden mit einem dankbaren Blicke. Aber des Mädchens Auge war niedergeschlagen, sie konnte seinen Blick nicht gesehen haben. Desungeachtet errötete sie.

Benthal sagte zu Moorfeld: Nun, richten Sie den Richter! Wie passieren mir meine Negationen?

Aber Moorfeld fuhr in seiner Ergriffenheit fort: Und mich wollten Sie geschont haben! Herr, wie spannt sich Ihnen selbst noch eine Ader für das Land, über welches Sie so schreiben konnten?

Weil handeln immer mehr wert ist als schreiben, antwortete Benthal, und in diesem Lande darf ich handeln.

Dämon von einem Manne! Aber ich begreife Sie doch nicht. Wie sagten Sie gestern? »Amerikas Schönheit ist Amerikas Idee« – »Washington bedeutet höheres als Rom und Athen, es ist das Kapitol der Weltfreiheit.« – Und das alles durften Sie sagen mit diesem Manuskript im Pulte?

Wir bemerken wohl, antwortete Benthal, es ist hier nicht von der nächsten, sondern von der ferneren Zukunft Amerikas die Rede. Für unsre Zeiten bleibt die Sternenbanner-Republik das Kleinod der Welt. Amerika ist die Baumschule, in welcher die Freiheitsbäume Europas gezogen werden; Amerika ist die große Zisterne, welche die Erde grün erhält in den Hundstagen des Absolutismus. Diesen Beruf habe ich im Auge, wenn ich spreche wie gestern. Von Amerikas Gegenwart kann ich nicht groß genug denken. Seh' ich aber dunkler in Amerikas Zukunft, so benimmt mir das nicht die Spannung meiner Adern, wie Sie sagen, denn in dieser Zukunft erblicke ich wieder eine andere Größe – unsre, die deutsche Größe. Das nämlich ist meine Überzeugung und mein Wissen, wie ich von den Fingern meiner Hand, wie ich von den Haaren meines Hauptes weiß: dieses Amerika geht nicht zugrunde, bis Deutschland seine Stuart-Periode durchgekämpft, bis es seine Revolutionen, hinter welchen seine Einheit und Freiheit liegt, vollendet hat. Wie England ein Gefäß des äußersten Elends war, als es die Besiegten und Geächteten seiner Bürgerkriege an dieses Gestade warf, so kämpft Deutschland dieselbe Geschichtsperiode heute durch, so werden deutsche Auswanderer jetzt Amerika erfüllen und sich über die angelsächsischen herlagern als eine sekundäre über die primäre Schichte. Unser neunzehntes Jahrhundert ist das siebzehnte der Engländer. Deutschland zeugt von heute an keine andere Generationen mehr als Hambacher Jugend. Die erste, vielleicht auch die zweite wird unterliegen, aber die dritte, längstens die vierte wird uns jenen Zustand erkämpft haben, den in England das Haus Oranien bedeutete. Und wahrlich, so lange kann ich warten. So lange soll deutsches Volkstum in dem Leben, das ich vererbe, lebendig bleiben. Oder wie? Was die deutschen Bauern Pennsylvaniens in tiefster Bewußtlosigkeit gewußt haben: deutsches Leben ein Jahrhundert lang festzuhalten, so festzuhalten, daß heute noch ganze Gemeinden von ihnen kein englisches Wort verstehen, das sollte ich mit dem begeisterten Bewußtsein deutscher Art und Bildung weniger weit tragend zu überliefern vermögen? Ich fürchte es nicht. Nein, ich werde ausdauern, Deutscher im Yankeetum, und der Sturz, den ich diesem Mischvolke bevorstehen sehe, kann mich so wenig bekümmern, als uns das Los einer Ziege kümmert, die einen Jupiter groß gesäugt hat. Mag's dann hereinbrechen, wie diese Blätter zu prophezeien wagen, wir werden in den Bürgerkriegen der Union nicht zugrunde gehen. Deutschland wird seine Flotte schicken und seine deutsche Provinz Pennsylvanien sich zu schützen wissen. Was sag' ich: Pennsylvanien? Ganz Nord-Amerika wird deutsch werden, denn unsre Einwandrung stützt sich dann auf ein mächtiges Mutterland, so wie sich Yankee-Englisch auf Alt-England stützte. Aber was sag' ich ganz Nord-Amerika? Die ganze Welt wird deutsch werden, denn mit Deutschlands Aufgang wird England untergehen, wie Holland vor England unterging, und sämtliche englische Kolonien werden dann dem Deutschtume zufallen, wie die Franzosen in Kanada, die Spanier in Florida, die Holländer auf dem Kap und die Portugiesen in Indien den Engländern gewichen sind; die Wachposten der Kultur werden auf dem ganzen Erdenrund abgelöst und mit deutscher Mannschaft bezogen werden. Deutschland erwacht, und kein Volk der Welt behauptet seinen alten Rang, denn alle leben vom deutschen Schlafe und verderben mit deutschem Auferstehen.

Und ich heiß' ein Dichter! rief Moorfeld, als Benthals letztes Wort in diesem Ergusse verhallt war. Er trat ans Fenster und sah nach dem Himmel, der mit all seinen Sternen auf ihn zurückblickte. Das Gewitter war fort.

In der Stube aber umfing die Gesellschaft jene tiefere Einigkeit jetzt, welche mit Wortumtausch nicht mehr gefördert werden kann. Moorfeld war voll von Benthals Charakterbild, das wie ein scharfer Abdruck in heißem Wachs von ihm empfangen wurde, die Frauen konnten nie aufgehört haben, den neuen Urwalds-Gedanken, der ja unmittelbar sie selbst anging, stillbildend weiter zu denken, Benthal endlich, um einen Freund reicher, einer Braut näher, auf zwei Seiten, wie durch eine plötzliche Flankenbewegung, zugleich siegesglücklich, mußte am strömendsten bewegt sein. Alle fühlten einen Geist der Zusammengehörigkeit über sich verbreitet, der sich jetzt noch nicht aussprechen ließ, der aber nicht duldete, daß anderes ausgesprochen würde. Man konnte sich nicht mehr als Gesellschaft behandeln, man fühlte sich als Gemeinde. Bei dieser Stimmung trennte man sich für heute. Benthal ging nach Hause, und Moorfeld begleitete ihn. Es gefiel unsrem Freunde, daß Benthal und Pauline beim Abschied sich küßten, und nicht prüde genug dachten, die bräutliche Gewohnheit jeden Tages vor dem fremden Besuch aufzugeben.

Die jungen Männer aber setzten sich nach ihrer Tasse Tee noch zu einer guten Flasche in Railroad-House. Wir bleiben nicht zweifelhaft über den Zweck dieser Einkehr, denn als sie an der Einmündung der Centre-Street in den Park sich verabschieden, hören wir die Worte hin und zurück: gute Nacht, Bruder!


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