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Drittes Buch

Erstes Kapitel

Von der Landseite des Philadelphia-Bahnhofs bietet New York keine Avenüe wie von der Seeseite seines Hafens. Von New-Lisbon zurück bot sie auch keine wie von Europa heran! Im Äußern und Innern verglich Moorfeld seine zweite Ankunft mit seiner ersten, und – der Vergleich war traurig genug.

Desungeachtet konnte er sich eines gewissen Heimatsgefühls nicht erwehren, wenigstens im ersten Augenblicke nicht. Diese Straßen – diese Kirchtürme, – dieses Menschengewühl – um wieviel näher stand es dem Europäer als die blöde, glotzende Einsamkeit und Barbarei des Urwaldes! Schon das Wehen der Seeluft, die Nähe des Ozeans, – wie lockend! wie beflügelnd! Ist das Meer nicht der Nachbar aller Menschen, die Pforte aller Länder? Diese Welle hat den Dom von Rouen zurückgespiegelt, dort liegen die Länder Homers, Shakespeares, Petrarcas! Und ein Stück Leinwand trägt hinüber leichter als vogelleicht, denn selbst die Möwe ruht aus auf ihr! Wahrlich, jede Seestadt ist die Heimat jedes Menschen!

Leise und angenehm spielen diese Empfindungen in Moorfelds Seele: sie sind ihr ahnungsreicher Hintergrund, indes die strengen Sorgen des Tages in den vordersten Reihen einherdröhnen. Es war bei einbrechender Abenddämmerung, als er mit dem Philadelphia-Bahnzug in New York ankam. Er stieg in dem nächsten Boardinghouse am Bahnhofe ab und eilte sogleich, Benthal zu sehen. Zwar erlaubte ihm die späte Tageszeit nicht mehr, bei Frau v. Milden vorzusprechen, doch erinnerte sich Moorfeld an Kleindeutschland. Die vorgerückte Stunde, sonst zu jedem Besuch unpassend, eignete sich eben zu diesem. Dort konnte er den einzigen Versuch, Benthal zu finden, noch heute machen. Das tat er. Glücklicherweise fand er in seinem Notizbuch die Adresse jenes abgelegenen Stadtwinkels vor, wohin er sich sonst wohl schwerlich zurechtgefunden hätte. So warf er sich in die nächste Mietkutsche und flog dahin.

Das Gasthaus zum grünen Baum stand jetzt in einer Straße, das vor drei Monaten fast noch auf freiem Felde gestanden. Im Innern aber war es so ziemlich beim alten geblieben. Herr Häberle, »der deutsche Kaiser«, war noch immer ein rundes Bild von leiblichem Gedeihen bei geistigen Vakanzen; Vronele, sein flinkes Töchterlein, oder vielmehr seine Vormünderin, führte noch immer schnippisch und gutmütig das Reichsregiment nach stabilen Satzungen und Maximen, die anwesenden Gäste waren noch immer deutsche Zungen und deutsche Gesichter, welche behaglich bei ihrem Schoppen saßen, nicht wie der hastige Yankee stehend an der Bar tranken, und so meinte Moorfeld, die Person des Rector magnificus könne gar nicht fehlen, wie ihn um und um alles so hübsch gewohnheitstreu anheimelte. Erblicken aber konnte er sie noch nicht.

Überhaupt bemerkte Moorfeld bei einiger Aufmerksamkeit doch mehr Veränderung in der Physiognomie der Trinkstube, als es auf den ersten Blick scheinen mochte. Das Lokal war besuchter, was er teils der späteren Jahreszeit, teils dem vermehrten Anbau zuschrieb. Das Publikum selbst war gemischter: die Gäste schienen nicht mehr ausschließlich der einen Klasse von arbeitsuchenden Handwerkern anzugehören, noch verriet ihr Beisammensein jenes familienhafte Gemeingefühl, jene Brüderlichkeit des Bedrängnisses, was dem Hause damals ein so eigentümliches Gepräge verliehen. Moorfeld erblickte zufriedene Gesichter, welche offenbar mit ihrer Subsistenz im Reinen waren, dann wieder verdutzte, rekrutenhafte, welche vielleicht Auswanderern angehörten, die erst während seiner Abwesenheit angekommen. Daß er selbst von dem schwäbischen Wirt und seiner Tochter nicht wiedererkannt wurde, brauchen wir kaum hinzuzufügen.

Indem Moorfeld sich letzteren näherte, um über die Person, die er suchte, Nachfrage zu tun, hielt er plötzlich inne. Es schlug ihm wie eine wohlbekannte Stimme ans Ohr – er brauchte sich nicht lange zu besinnen, – es war die hohle Baßstimme Herrn Hennings, des Schriftsetzers. Sie kam aus dem sogenannten »Extrazimmer«. Dahin schienen sich die Intimen des alten Kleindeutschland für diesmal zurückgezogen zu haben.

Herr Henning sprach lebhaft, mit Feuer. Auch sein Äußeres umspielte ein gewisser Glanz, es lag wie ein erhöhter Moment, wie ein Goldstaub von »guten Tagen« auf ihm. Er war sorgfältig rasiert, sein Stirnhaar genial in die Höhe geworfen, seine Backen von einer leichten Röte angehaucht, und ein feiner, blütenweißer Hemdkragen, der in Erinnerung seiner schweren Kämpfe mit der Waschfrau wie eine wahre Siegesflagge prangte, lag breit über einem, wie es schien, seidenen Halstuche. Er war in einer aufgeweckten angenehm-nervösen Stimmung, ganz herausgetreten aus dem phlegmatisch-schlotterigen Charakter früherer Tage. Bald hätte Moorfeld an eine wirkliche Glückswendung bei diesem Anblicke geglaubt, wenn nicht die jugendlich-strahlende, fast kokette Laune des Schriftsetzers im Grunde ebensoviel schalkhafte Selbstironie durchzog, als früher seine scheinbare Abspannung und Todesahnung der phthisis pulmonalis. Auch sprach er laut genug, daß Moorfeld durch die dünne Glaswand jedes seiner Worte vernehmen konnte, und diese ließen allerdings keinen Zweifel über seine Glücksumstände zu, denn eben sie waren das Thema seiner Unterhaltung.

Ich bin Vorstand eines Vereins zur Verbreitung guter und nützlicher Volksschriften – rühmte Herr Henning von sich; – der Verein liegt freilich noch in der Wiege, wenn sich anders behaupten läßt, daß ich, der lange Henning, ein Wiegenkind sei; denn die Wahrheit zu gestehen: ich selbst bin das einzige Mitglied meines Vereins. Das schadet aber nichts. Mein Verein wirkt nichtsdestoweniger segensreich, das heißt segensreich für mich, und das ist doch wohl die unerläßlichste Probe jedes gemeinnützigen Unternehmens. Hört mich an. Seit wir uns das letztemal nicht gesehen, haben einige von meinen sieben magern Kühen ihr Embonpoint wesentlich verbessert. Ich habe eine Fütterungsmethode erfunden, – doch nein! nicht ich; der Zufall, der Vater aller merkwürdigen Entdeckungen, hat's getan. Man muß sich auch nicht mehr Vaterschaften, als nötig, zuschreiben. Nachdem Frau Appendage mit mir umgegangen war, wie ihr es wißt, – Gott, es ist kein Gemüt unter diesen Amerikanern! – beschloß ich, meine Kundschaft den Deutschen zuzuwenden. Dieser patriotische Zug belohnte sich. Zwar war auch meine neue Leibwäscherin, Frau Scheuderlein, so herzlos, mir Geld abzufordern – diese Gier nach dem Mammon liegt überhaupt schon in der Luft, wie es hier scheint; aber – die Sache aberte sich doch. Ich hatte, als sie mir die erste Wäsche brachte, just eine Anweisung auf zweitausend Dollars an die Gebrüder Sweet u. Comp. in der Wall-Street einzukassieren, was sich freilich nicht so leicht machte, denn ich lag gleichzeitig an einem verstauchten Fuß darnieder, den ich mir tags zuvor bei dem berühmten Longisland-Wettrennen geholt, indem ich einen schrecklichen Sturz vom Pferde mit angesehen. Die Verrenkung schmerzte außerordentlich, ich konnte das Bein nicht rühren, es ging mir erbärmlich.

Natürlich ließ sich das Inkasso eines so bedeutenden Schecks wie meine zweitausend Dollar keiner fremden Hand anvertrauen, und doch forderte Frau Scheuderlein ihr Geld, just wie es Frau Appendage auch getan – es war, als ob sich die zwei Weiber verabredet hätten. Mißmutig über diese Entartung der deutschen Rasse warf ich ihr ein Buch an den Kopf: sie sollte damit auf den Bowery gehen zu Heiman Levi, der kaufe antiquarische Bücher. Ich gestehe gern: ich dachte nichts bei diesem Puff, – nichts, als nur eben sie los zu werden. Aber nun lernt den Fond des deutschen Charakters kennen. Nach einer Stunde kommt Frau Scheuderlein zurück: sie hätte auf dem ganzen Bowery keinen Heiman Levi gefunden, sie hätte aber in das Buch »a bisle ingeguckt«, und es wäre eine schöne Geschichte. Da hört ihr's! Ein schlichtes Weib aus dem Volke, die verschämte, aber reinliche Armut – Kennerin der deutschen Literatur! empfängliches Gemüt für die ästhetischen Schönheiten unserer Geistesblüten! Ich wäre ein Barbar gewesen, hätte mich dieser Moment nicht erleuchtet. Jetzt erkannt' ich meine Mission. Hier mußte was geschehen. So viel gesunde und tüchtige Elemente unseres Volkslebens sollten nicht in Zersplitterung und geistiger Nahrungslosigkeit untergehen. Ich gründete meinen Verein zur Verbreitung guter und nützlicher Volksschriften. Ich besaß noch die deutsche »Männerbibliothek« mit Claurens sämtlichen Werken, Schlenkerts historische Romane, zwölf Teile vom Pantheon, zwei Jahrgänge Mitternachtsblatt für gebildete Stände, zwei Jahrgänge vom Gesellschafter, Fouqués Zauberring, Philippine von Geldern, die Grafen von Hohenberg, Casanovas Memoiren und hatte überhaupt eine ganze Kiste mit Büchern mit nach Amerika gebracht, sowohl aus angeborenem Interesse für die schöne Literatur als auch um, in Ermangelung anderer Fahrnisse, meinem Schiffsreeder das kontraktliche Passagier-Freigut nicht zu schenken. Diese Schätze machte ich jetzt flüssig. Ich ernannte meine Kiste zur Volksbibliothek und mich selbst zum Vorstand eines Vereins, der sich die patriotische Aufgabe setzte, jene ehrwürdigen Denkmäler des deutschen Geistes der weitesten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein schwieriges Amt! ein aufopferungsvoller Beruf! Als ein Mann, der im letzten Stadium der Phthisis pulmonalis begriffen ist, schleppe ich, soweit die deutsche Zunge reicht, in New York und Brooklyn jetzt meine Bücher herum; keine Mansarde ist mir zu steil, keine Kellertreppe zu abschüssig, Herr Henning, der Büchermann, verbreitet Aufklärung. So treib' ich es jetzt. Schwer lastet der Volksdienst auf seinen Auserwählten, aber Deutschland ist dankbar, und meine Kiste ist tief, – ich sehe einer sorgenfreien Zukunft entgegen. Ich werde heiraten. –

Unser Bruder Henning, der soll leben! erscholl es im Chorus, – die Stimme des pfälzischen Schreiners gab den Grundton dazu an.

Merci! bedankte sich der Schriftsetzer mit geschmeichelter Eitelkeit und lächelte liebenswürdig nach allen Seiten. Aber, fuhr er fort, nun gebt mir auch zu leben! Ihr seid mir Kerls! Ihr hört von meiner Leihbibliothek und abonniert nicht. Für euch besonders hätt' ich rare Sachen. Da sind z.B. Thümmels Reisen in das mittägige Frankreich – die acht Bände liegen mir schwer am Herzen! Das ist Kaviar fürs Volk. Der Plebs will nur spannende Handlung, Entführungen und Mordtaten, und der Thümmel ist ihnen viel zu geistreich. Das wäre ein Dessert für meine engeren Freunde. Ein Cent per Tag, ohne Einsatz, der Band mit Titelkupfer, – und welche Kupfer! Das Aushängeschild der holländischen Wirtin –

In diesem Augenblick servierte Vronele einige Gläser Bier im Extrazimmer. Als sie den Rücken wandte, sah ihr der Schriftsetzer kennerisch nach und brummte mit einem bedeutsam spannenden Kopfnicken: das wäre kein übles Aushängschild der holländischen Wirtin! Seine Stimme ging hierauf in ein gedämpftes Flüstern über, die Köpfe rückten zusammen um ihn, und alles verriet, daß er das bekannte Mysterium von dem physiognomischen Quiproquo der holländischen Wirtin zum besten gab. Ein wieherndes Gelächter folgte hierauf.

Das war denn Kleindeutschland, wie es leibte und lebte! Die alte Not – die alte Gemütlichkeit – Moorfeld ließ sich an dieser Skizze genügen und verlor keine Zeit mit ihr. Ihm handelte es sich um das Haupt dieser Glieder. Mit klopfendem Herzen fragte er jetzt, ob Herr Benthal heute noch zu erwarten, eine bangere Eventualität in dieser Frage umgehend. Herr Häberle, der Wirt, ließ seine Finger in seinem breiten Schwarzwälder Hosenträger spielen und besann sich auf den Namen. Der Rector magnificus? antwortete er nach einer langen geistigen Operation; hierauf rief er sein Töchterchen herbei, damit sie ihn im Reden substituiere. Vronele gab mit einem geläufigen Zünglein den Bescheid, der Rector magnificus sei schon lange nicht mehr dagewesen, die Abende wären überhaupt nicht regelmäßig gehalten worden, es hätte diesen Sommer gar zu arg das Fieber gewirtschaftet; ganze Häuser seien ausgestorben, ganze Bezirke abgesperrt gewesen, die »Hohen« hätten zwar lange Plakate anschlagen lassen, daß die Krankheit nicht ansteckend sei, aber die Leute hätten sie wieder herabgerissen, und alles sei auseinandergegangen, nirgends gab's Gesellschaft. In Fife Point, wo die »Jauner« hausten, stürben noch jetzt Leute, und die Doktoren hätten gesagt, bis nicht der erste Frost käme, würde es wohl gehen, wie im Jahre neunzehn und einundzwanzig. Sie, Gott sei Dank, wären gesund geblieben, und die Leute seien rechte Narren, die sich nicht zu essen und trinken getrauten und den grünen Baum leer stehen ließen. Dazu lächelte das frische Schwabenmädchen so naiv-kokett aus ihren schelmischen Rosengrübchen, daß sich die Torheit, den grünen Baum zu meiden, wohl einsehen ließ. Herr Häberle aber stand hinter dem Zahltisch und hörte mit schmunzelnder Bewunderung dem Konzept seines Töchterchens zu.

Diese Auskünfte klangen nichts weniger als beruhigend. Und weiter war nichts zu erhalten. Denn der Rector magnificus, hieß es, lasse nicht viel von sich wissen; wenn er komme, so sei er eben da, sein Logis hingegen sei ein Geheimnis, niemand könne ihn besuchen, wahrscheinlich wolle er »den Schwärm« nicht nach sich ziehen. Der Herr sei gar kurz und proper mit den Leuten.

Indes das Mädchen noch redete, tat sich die Türe auf, und Moorfeld, der sie fortwährend im Auge behalten, glaubte schon an der Art, wie sie in der Angel geschwungen wurde, etwas erwarten zu dürfen. Allerdings war's eine ungewöhnliche Erscheinung, die da eintrat, aber Benthal war's nicht. Es waren drei bis vier junge Amerikaner von auffallendem Äußern, Bursche jenes eleganteren Rowdy- und Loafer-Schlags, wie sie Moorfeld als Dandies on short allowance etwa auf Bennets Rout gesehen. Die Schwengel traten mit einer unerträglichen Parodie des Anstandes in die überraschte Gaststube, warfen stolz und wichtig ihre Augen umher und schritten, indem sie sich im Gehen gegeneinander verweilten, im nachlässigen Promenierschritt nach dem Schenktisch hinab. Der deutsche Kaiser erblaßte bei ihrem Anblicke und murmelte zitternd: Gott, da sind sie schon wieder! Die anwesenden Gäste wendeten sämtlich ihre Köpfe nach ihnen.

Aus dem Zötus trat ein Sprecher vor, ein Mensch, der unmittelbar die Lust erregte, ihn zu ohrfeigen. Es war ein Bürschchen mit einem merkwürdig mädchenhaften Gesichte, wenn anders ein schmales, knöchernes Köpfchen, von zerbrechlicher, nicht zarter Form und einem Ausdruck von Fadheit, der auf die Speicheldrüsen wirkte, mädchenhaft genannt werden dürfte. Er knickte auf ein paar Beinchen einher, die eher gemacht schienen, eine Strickmasche aufzufassen, als einen menschlichen Leib zu tragen; bei seinem Anblicke mußte sich jedermann sagen, dieses Insekt würde, allein, vor einem Hasen davonlaufen. Hier aber spreizte er sich in dem feigen Bewußtsein einer Genossenschaft, welche ihrerseits wieder mit einem Ausdruck von Hochachtung auf ihn blickte, wie sie etwa einem Muttersöhnchen zuteil wird, das im sechzehnten Jahre eine halbe Million durchgebracht, und vielleicht Mittel, wenn auch nicht Nerven genug hat, noch eine zweite durchzubringen.

Der deutsche Kaiser zupfte Moorfeld am Rockärmel und flüsterte flehentlich: Bleiben Sie hier! bleiben Sie hier! Verwundert fragte Moorfeld: Haben Sie zu fürchten von diesen Laffen? und ist doch die halbe Stube voll Leute? – Ach Gott, Sie tragen einen Schnurrbart, – haben so schwarze grimmige Augen, – Sie sind ganz ein anderer Mensch! stotterte der Kaiser in Seelenangst. Die Loafers waren inzwischen dicht an den Schenktisch getreten, und jenes Knabengesicht, das sich als Sprecher gerierte, hatte sein fahles Köpfchen auf dem langen spindeldürren Hals bereits in die Höhe geworfen und mit allen Zügen einer unwiderstehlichen Frechheit bereits den Mund geöffnet, als sein Blick auf Moorfeld fiel. Er stutzte, maß den Fremdling mißtrauisch von oben bis unten und blickte zweifelhaft auf seine Kameraden zurück. Dann wendete er sich an den Wirt, indem seine ganze Haltung verriet, daß er sein mitgebrachtes Konzept einigermaßen abänderte, und fragte mit einem dünnen Stimmchen, das aus aristokratischer Affektation äußerst leidenschaftslos klang: Haben Sie sich entschlossen, die Order der Kompagnie zu erfüllen? – Nein! rief Vronele statt ihres Vaters und stampfte trotzig mit dem Fuße. Der Bube warf seine ausgelöschten Augen auf das wackere Schwabenmädchen und gab sich offenbar die ohnmächtige Mühe, eine Begierde zu empfinden. Es ist gut, sagte er sanft, wir werden ein Glas Mintjuleb nehmen. Die Loafers schwenkten hierauf von der Schenkbude ab, wobei sie Mann für Mann ihre verdächtigen Blicke auf Moorfeld wiederholten, dann setzten sie sich still an einen Tisch. Bleiben Sie hier! bat der deutsche Kaiser noch einmal.

Moorfeld begriff von alledem nichts. Mechanisch nahm er den Loafers gegenüber Platz, welche fortfuhren, ihn zu fixieren. Er saß auf Nadeln. Seine Gedanken waren bei Benthal. Was er gehört oder nicht gehört, erfüllte ihn mit einem dumpfen, unbestimmten Kummer. Die Brust war ihm zum Zerspringen voll von Unglücksgedanken. Die Loafers zischelten indes beratend hin und her, während sie mit ihren Schnitzmessern eifrig die Stühle unter sich bearbeiteten. Einmal hörte sie Moorfeld im schlechten Französisch sagen: Der Gaul sieht verflucht widermäulig, und was die Hauptsache ist, so ein Kerl wird einer ganzen Schafherde zum Anführer – wobei sie verächtlich auf die friedsamen Deutschen um sich wiesen. Hierauf zog einer von ihnen seinen Revolver und fing behutsam damit zu spielen an, indem er verstohlen, aber scharf nach Moorfeld hinüberschielte. Moorfeld zog ein paar Sackpistolen – schon längst seine ständigen Begleiter in Amerika – und begehrte von des Wirtes Vronele ein ledernes Läppchen, um sie zu putzen. Er beschäftigte sich anscheinend sehr harmlos damit. Die Loafers blickten einander an, nickten sich zu, dann standen sie auf und gingen sittsam zur Tür hinaus.

Der deutsche Kaiser fühlte sich sehr glücklich über die abgewendete Gefahr. Er liebkoste Moorfelds Pistolen fast wie lebendige Wesen. Vronele dagegen erzählte ihm: Diese »Herrenbuben« seien nun schon zum drittenmal da, und es wäre schändlich! Das hätte sie in Deutschland wissen sollen! Vorige Woche wäre die Geschichte passiert, da ging ein Mädchen, dem man von eheher eine üble Aufführung nachredet, über den Bowery. Einer ihrer vorigen Bekannten begegnete ihr und wurde dreist. Das Mädchen aber war längst wieder auf guten Wegen, hatte ein ehrliches Verhältnis mit einem deutschen Maurer, der sie heiraten wollte, dann sollt's nach Cincinnati gehen, weit weg von New York, wo auch gute Arbeit auf die Maurerei ist. Das Mädchen erwehrte sich darum ihres Verfolgers, und da alles nichts helfen wollte, flüchtete sie in einen deutschen Bierkeller auf den Bowery. Der Strolch verfolgte sie auch in den Keller, bekam Streit mit den Deutschen und erstach einen. Das sei aber noch nicht alles. Jetzt komm's erst. Die Amerikaner – man könnte sich's nicht einbilden! – schrien Zeter über den deutschen Wirt, weil er die Frechheit gehabt, den Mörder verhaften zu lassen! Und da wäre ein Gesindel beisammen, es nenne sich Feuerlöschkompagnie, und der Mörder sei ihr sauberer Hauptmann. Diese Kompagnie habe es durch spitzbübische Advokaten dahin gebracht, daß derselbige Hauptmann auf Kaution wieder herauskommen könnte. Sie hätten Geld genug, die nichtsnutzigen Buben, aber zu Schimpf und Schand unsers Volks wollten sie die Kaution von den deutschen Wirten zusammenbringen. Die sollten Buße tun. Sie strichen jetzt durch ganz New York und legten jedem Wirt eine Steuer auf. Der Vater sollte zehn Dollars zahlen. Aber sie wolle Fußschläge haben, wenn er nur einen Cent gebe. Sie dulde den Unfug nicht. Sie gebe nichts.

Die anwesenden Gäste waren mehr oder weniger vertraut mit dieser Tagsbegebenheit und tauschten ihrerseits das, was sie von neueren Gerüchten und Stadtgesprächen darüber wußten. Das Gastzimmer geriet in eine lebhafte Unterhaltung. Moorfeld verzichtete unter diesen Umständen darauf, das Gespräch auf Benthal noch einmal zurückzuführen. Es ließ sich noch manche Wendung erdenken, um aus einem Examen der Umstände zufällig oder schlußweise an ein festeres Wissen zu gelangen, aber er fühlte wohl, wie diese Rowdiegeschichte die Berechtigung einer ganzen Aufmerksamkeit für Kleindeutschland hatte, wenn sie gleich nach seinen eigenen Erlebnissen und vor seinen gegenwärtigen Sorgen nur ein dumpfes Echo in ihm haben konnte.

Erst zu Hause trat ihm der Fall von einer eigentümlichen Seite wieder näher. Indem er sich von einer vorgefundenen Nummer des »Sun« einen Anzünder riß, um möglicherweise in einer kräftigen Pfeife Unruhe und Ungeduld zu narkotisieren, blieb sein Auge an einer jener Phrasen heften, welche oft unwillkürlich zum Weiterlesen einladen. Er las. Der Artikel behandelte eben jenes Ereignis. Er tat es zunächst in polemischer Form gegen den »New Yorker Herald«, denn auch dieses »Akzident« war in die Sphäre des politischen Parteitreibens gezogen, wie überhaupt alles in diesem Lande. Im weiteren Verlaufe dieses Artikels hieß es nun: Was man bei dieser Gelegenheit über den Charakter des Mädchens und ihres deutschen Bräutigams angemerkt hat, möchten wir nicht gern als das Urteil der öffentlichen Meinung hingestellt wissen. Der Ausdruck, »daß nur ein Deutscher gut genug sein könne, die Abfälle amerikanischer Prostitution vom Boden aufzulesen«, hat uns schmerzlich überrascht. Wenn wir unsern ehrenwerten Kollegen im jenseitigen Lager nicht geradezu der absichtlichen Verleumdung zeihen wollen, so können wir ihn doch von einer befremdlichen Unkenntnis in der Völker- und Sittenkunde nicht freisprechen. Weiß der »New Yorker Herald« nicht, daß die Deutschen über Prostitution ein für alle Male anders denken als wir, ja daß einige ihrer verehrtesten Dichter sie kurzweg idealisiert haben? Wir gestehen gern, daß wir diesen Nationalzug der Deutschen nicht begreifen, aber wir trauen uns nicht den Erweis zu führen, daß die Deutschen deswegen unsittlicher seien als wir. Zahlen hindern uns daran. Wir haben Tabellen der deutschen und amerikanischen Lasterstatistik vor uns, und – erkläre es wer will! – die deutschen Sitten sind besser als die deutschen Grundsätze. Lassen wir übrigens die Deutschen. Sprechen wir von der traurigen Ursache dieses Skandals, von unserer unglücklichen Mitbürgerin. Wahrlich es ist sehr gentlemanlike, eine Schande, die wir nicht entschuldigen zu können glauben, mit der Etikette: »Abfall amerikanischer Prostitution« geschwind in ein fremdes Nationaleigentum zu verwandeln! Ei, behalten wir sie doch, aber wenden wir unser bißchen Witz daran, sie immer noch zu entschuldigen! Mißlingt der Versuch, so war er mindestens christlich, denn das Neue Testament will den Tod des Sünders nicht. Man wird uns hier nicht vorwerfen, daß wir Dinge ans Licht ziehen, denen das Dunkel wohltätiger wäre. Die Sache hat eine Publizität erlangt, bei welcher es geradezu lächerlich ist, das Blindekuhspiel halber Worte, mystischer Phrasen und zimperlicher Unwissenheit zu spielen. Leider, wir haben die schmerzliche Freiheit alles zu sagen, denn alles ist bekannt. Nun! Ein Mädchen aus einer der ersten Familien, ein Ideal von Schönheit, ein Muster von Sittsamkeit, ein Inbegriff aller weiblichen Tugenden, verschwindet plötzlich aus dem väterlichen Hause und – affiliiert sich einem Nymphenchor der dritten Avenue. Nemo repente turpissismus! Was ist das Mittelglied zwischen zwei so unermeßlichen Extremitäten? Ein abonnierter Kirchenstuhl! Der Prediger ihres Kirchspiels ist ein sogenannter Damenprediger, einer jener geistlichen Glücksritter, welche den Fuhrmannsgrundsatz im Munde führen, wer die Vorderräder eines Wagens in Bewegung setzt, dem folgen die Hinterräder von selbst, d. h., welche sich in ihrer Gemeinde dadurch festsetzen, daß sie auf die weiblichen Mitglieder derselben spekulieren. Diese Damenprediger sind das Unzüchtigste, was die Welt kennt. Sie malen den christlichen Himmel in einem Stile, wogegen Mohammeds Paradies zum Nonnenkloster wird; sie halten sich in unsrer ehrwürdigen Bibel zumeist an gewissen Stellen auf wie Wildschweine an Sümpfen und Morästen; sie lesen aus ihrem schwarzsamtnen Buche mit silbernem Kreuzbeschlag Romane heraus und Romane hinein, die einen Faublas schamrot machen könnten. Ihre Art, die Gemeinde zu »kammstreicheln«, gleicht einer bekannten Art von Forellenfischfang. Die sport-men verstehen uns. Wie also? Wenn ein rasches, lebhaftes Mädchen, bis in Blut gepeitscht von den Stacheln einer Rhetorik, welche an der Grenzlinie des Polizeikodex gerade noch vorbeilaviert, aber die zarten Grenzen der Phantasie aufs wildeste durcheinanderwirrt, wenn die Verführte solcher Sonntagserbauungen, sagen wir, unaufhaltsam den lockenden Bildern ihrer Phantasie zuflattert und zu Asche brennt: dann stehen wir pharisäisch vor der Schnuppe und rufen: Warum hast du diese Phantasie! Seit wann sind wir Idealisten? Seit wann nehmen wir die Menschen nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollen? Daß ein Mädchen Phantasie hat, können wir nicht ändern; daß ein Prediger aber den Schwerpunkt seiner Existenz in diese Phantasie lege, das können wir sicherlich ändern. Man besolde die Prediger von Staats wegen, anstatt sie auf Freiwilligkeit der Gemeinde anzuweisen, und Faune werden sich wieder in christliche Kanzelredner verwandeln. Kurz, man überzeuge sich endlich von der Fehlerhaftigkeit des Volontary-Systems, das wir stets ebenso eifrig bekämpft haben, als es unser politischer Gegner befürwortete. Das, wenn wir moralisieren wollen, ist die einzige gesunde Moral, die wir als praktische Amerikaner aus diesem Ärgernis ziehen können. Doch, es ist hier noch von andern Ärgernissen die Rede. Die Verirrte z.B. kehrt aus den Armen des Lasters zurück und bekennt jetzt, zum Entsetzen der Welt, nicht das Laster selbst habe sie zum Rückschritt getrieben, sondern das habe sie mit Schauder und Ekel, ja mit zerrüttender Verzweiflung erfüllt, daß die gefeiertsten Tugendspiegel New Yorks in hellen Haufen die Besucher ihres Hauses gewesen! Das ist freilich ungalant von einer Dame, welche die Galanterie zu ihrer Spezialität gemacht. Desungeachtet finden wir den gellenden Aufschrei über die Denunziation sehr bedenklich. Wer nicht direkt unter ihr zu leiden hat – und das Redaktionsbureau des »New Yorker Herald« hat's hoffentlich nicht – der lege seinen Stein getrost wieder hin. Daß eine entdeckte Schande zur Hölle der allgemeinen Verachtung nicht anders fahren will, als eine Welt von Mitsündern nach sich ziehend, ist zwar tragisch, aber berechtigt. Weiter erhebt sich gegen diese Miß B** der Vorwurf, daß sie nach ihrer Bekehrung sich an einem entgegengesetzten Ende unserer großen Reichsstadt unter fremden Namen in ein achtbares Haus als Magd eingeschlichen und dadurch die Heiligkeit eines reinen Familienlebens »gemeuchelmordet«. Wer ist noch sicher, heißt es, sein Tischgebet ohne Frevel zu beten, wenn die Prostitution ihm serviert hat? Wir gestehen, diese Vorstellung hat etwas unversöhnlich Beleidigendes. Aber, wenn Gott die Sünde duldet in der Welt, so muß er sie doch in irgend bestimmten Verhältnisse dulden, und welche bescheidenere Stellung könnte die Sünde sich auswählen, als die einer bußfertigen Magd? Das Haus St** gibt übrigens zu, das Mädchen habe sich einer musterhaften Aufführung beflissen, habe unter anderem nicht am Familientisch, wie es doch Recht und Sitte unserer weiblichen Domestiken, sondern abgesondert gespeist, – eine vorgebliche »Grille«, in welcher Miß B** allen Zartsinn verriet, der ihr in ihrer Lage überhaupt möglich war.

Moorfeld hielt plötzlich inne. An dieser Stelle blitzte eine Ahnung in ihm auf. Er erinnerte sich an das Kammermädchen Betty bei weiland Staunton. Der Zug, welcher hier angegeben war: abgesonderter Tisch von der Herrnfamilie, wies zuerst mit Besonderheit auf sie. Augenblicks überlas er von neuem, und nun fiel aus jeder Zeile Licht in sein Auge. Auch die Vorbereitungsstudien zu einer Schulstelle fanden sich besprochen. Moorfeld ließ das Blatt aus den Händen sinken und starrte. Welch eine Entdeckung! welch ein Sittenbild! welch ein Erstlingsgruß New Yorks an den Zurückkehrenden!

Er sank verworren in sich zusammen. Ein später, unruhiger Schlaf jagte ihn durch ein Chaos von Träumen. Benthal und das Fieber drangen aus allen Fugen dazwischen vor. Eine neblige Morgensonne erhob sich über sein Lager und rief ihn in ein wüstes Tagesbewußtsein. Er warf den »Sun« ins Kamin, machte verstört Toilette und stand – nachdem er noch einen Umweg über die Battery genommen, um seinen Namen in Bennets Visitenbuch zu schreiben, – zur üblichen Besuchsstunde in Frau v. Mildens Zimmer.


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