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Fünftes Kapitel

Moorfeld hatte das Haus verlassen. Seine Intelligenz zerriß das Gewebe des niedern Humbugs, der sich im Entree herumtrieb; sie fühlte sich aber nicht intelligent genug, den höheren Humbug zu parieren, der in den Amtszimmern selbst sein Hauptquartier haben mochte. Denn daß die Staatsbeamten, die Verkäufer des Kongreßlandes von Unions wegen, teils auf eigene Rechnung, teils im Solde der Aktienkompagnien ihre offizielle Stellung nicht minder zur Landspekulation ausbeuten würden, daran zu zweifeln wäre nach allen Proben dieses Volksgeistes Vermessenheit gewesen. Mit den höchsten Würdenträgern in der Hierarchie des Humbugs wagte unser Fremdling aber doch keinen so leichten Gang. Er durfte sich Glück wünschen, die geringeren los zu sein. Denn wahrlich, nicht jeder war so glücklich. Das Publikum, das diese Halle erfüllte, trug nicht durchweg Frack und Glacehandschuhe. Er ließ Scharen von Auswanderern hinter sich zurück – grobe Bauernkittel mit dem Holzschnitt ehrlicher Einfalt im Gesichte, mit dem Schweiße saurer Wirtschaftsjahre in der Geldkatze, – gnad' ihnen Gott! selbst ein Atheist hätte für sie gebetet. Erst in ihrem Anblicke schauderte Moorfeld vor der sittlichen Luft dieses Hauses.

Als er hierauf durch die sonnigen Straßen dem nächstbesten Café auf der Battery-Promenade zuwandelte, geschah es unter Reflexionen, von denen wir nur den geringsten Teil wiedergeben können. Er betrachtete das Verhältnis eines Gebildeten in Europa zu Amerika und entdeckte mit Erstaunen, daß es zunächst gar keines war. Die deutsche Literatur über Amerika war zu Anfang der dreißiger Jahre weder an Umfang noch an Gehalt in einem Zustande, der von der Wichtigkeit ihres Gegenstandes ein Bewußtsein verriet. Der Umfang blieb hinter der weitläufigen Peripherie des Beobachtungsobjektes unendlich zurück, und die Beobachtung selbst war schlecht. Sie trug den persönlichen Charakter der Stimmung, statt den weltgeschichtlichen der Kritik. Bücher, von einem liebenswürdigen aber unhistorischen Dilettantismus geschrieben, sprachen von Amerika so, wie man ungefähr am winterlichen Kamin von Nizza, Meran und vom Corner See spricht; gleichsam als wäre das soziale Leiden Europas mädchenhafte Schwindsuchts-Poesie. So schrieben Racknitz und Scherpf über Texas, Bromme über Florida, Duden über Missouri, Gerke über Illinois, andre über anderes. Noch mehr aber als durch die belletristische Ornamentik litt die Wahrheit des Gegenstandes durch die politische. Der Liberalismus der Restaurationsperiode fand in Wort und Schrift über Amerika eines seiner wenigen erlaubten Ausdrucksmittel. Er benutzte es eifrig. Er feierte die Sternbanner-Republik als die praktische Verwirklichung seines geächteten Ideals. Aus dieser Tendenz ging zwar die Wahrheit auf, aber nicht die volle Wahrheit. Er hätte es für politische Unklugheit, ja für Verrat gehalten, die Flecken seiner Sonne zu gestehen. In dieser filtrierten Sonnenbeleuchtung nun überkamen die Gebildeten der vorigen Generation Amerikas Bild. Wenn wir heute jene Schilderungen lesen, so tun wir es mit dem Hintergedanken ihrer Tendenz, wir betrachten und verstehen sie als Kunstwerke der oppositionellen Beredsamkeit. Bedenken wir aber, daß man allen Farben und allen Farben-Nuancen dieser lockenden Bilder damals volle objektive Wahrheit zugestand, daß man sie buchstäblich nahm und gläubig beschwor, so wird uns eine Vorstellung davon entstehen, daß ein gebildeter Auswanderer, der aus dieser Literatur sich enthusiasmiert hat, sie dem Humbug gegenüber nun selbst als Humbug empfand. In der Tat erkannte Moorfeld seine europäische Lektüre über Amerika jetzt bloß als Unterhaltungs-Lektüre und sah die Notwendigkeit ein, die Belehrungs-Lektüre von vorn anzufangen. Er stellte sich also die Aufgabe, das Land aus den besten Landesquellen selbst zu studieren.

Über das Projekt seiner Ansiedlung beschloß er sodann, auf dem Ländermarkt zu New York überhaupt gar nichts zu unternehmen. Zog er aus dem soeben Erlebten die Summe, so gab ihm sein eigenes Schlußvermögen zunächst folgende zwei Ratschläge an die Hand: Erstens, nur an Ort und Stelle zu kaufen; zweitens, um die Zeit der Ernte zu kaufen, da der Acker gewissermaßen für oder gegen sich selbst zeugt und der Ertrag des Jahres so allgemeines Landgespräch ist, daß der Fremde unmöglich mit einer übereinstimmenden Fiktion umsponnen werden kann.

Wir wissen nicht, ob wir es an diesem Orte ausdrücklich entschuldigen müssen, daß ein Romanheld mit leidlichem Menschenverstand zu Werke geht. Wer nach dieser Probe die prosaische Perspektive seines künftigen Verhaltens fürchtet, dem geben wir zu bedenken, daß der Verstand, selbst im besten Falle, höchstens die gesetzgebende Gewalt ist, Gemüt und Stimmung aber die ausführende. Wie groß unsre Fähigkeit, uns zu behaupten, sein mag, unsre Fähigkeit, zugrunde zu gehen, ist immer noch größer.

Bis zum Anfange der Ernte in Ohio, dem Lande seines Ansiedlungsprojektes, hatte Moorfeld noch einige Wochen zu versäumen. Er konnte inzwischen jene literarischen Ergänzungsstudien machen, die er zuvor als notwendig erkannt, und überhaupt den gelehrten Teil seines Haushalts, den er in der Isolierung des Hinterwalds nicht bestellen konnte, aus der Masse des Stoffes zusammenstellen. Dazu bedurfte er der Zeitungen und Bibliotheken New Yorks. Er entschied sich daher in der Versuchung, jene Ferien in Reiseausflügen zu genießen oder sie an seinen städtischen Aufenthalt zu wenden, gewissenhaft fürs letztere. Er kehrte in Mr. Stauntons Haus zurück.

Denn noch sah er keine dringende Ursache vor sich, mit diesem Hause zu wechseln, zumal da er den Tag größtenteils auswärts zubrachte. Genußvoll war aber sein Aufenthalt darin nicht. Ja, wenn wir später eine Summe von Ursachen zu einer betrübnisvollen Wirkung anwachsen sehen, so dürfen wir die ersten Posten dieser Summe vielleicht schon dem Hause Staunton anrechnen, das mit seiner stillkorrosiven Langweile und Kaltherzigkeit ein energisch-empfindendes Gemüt gewiß gründlicher, als es ihm selbst bewußt geworden ist, auf den folgenden Umschlag vorbereitet hat. Sein Verhältnis oder vielmehr seine Verhältnislosigkeit zu diesem Hause aber war folgendes:

Mr. Josua Staunton öffnete über Tisch – und sonst sah ihn Moorfeld nicht – kaum auf eine andere Veranlassung den Mund, als um Amerikas Lob zu verkünden. Er war im Ausdrucke seiner Nationaleitelkeit ebenso kindisch übertrieben, als in der Nichtachtung fremder Nationalitäten naiv-unverschämt. Moorfeld ließ ihn das Lächerliche dieser Schwäche, wie gleich zuerst so auch fortwährend, durch die Figur der Ironie fühlen; er antwortete ironisch, wenn er überhaupt antwortete. Manchmal tat er's auch nicht. Denn was sollte er einem Mann erwidern, der sich mit vollen Backen rühmt: unser südlicher Himmel, unsre nordische Tätigkeit, Geist und Natur im Verein erhalten uns vor allen Völkern der Erde bei ewiger Jugend; Sie werden in Amerika keinen alten Mann sehen – wenn die Backen desselben Redners geschminkt, seine Zähne falsch, seine Haare gefärbt und die Rundung seiner Glieder Baumwolle ist? Eine solche Herausforderung anzunehmen, fand unser Freund nicht einmal im Scherze gentil: mitleidiges Achselzucken blieb ihm allein übrig. Und doch schien der Gentleman noch immer näher auf Stauntons als auf Moorfelds blühender Seite zu stehen; denn jener hatte, wie er auch übertreiben mochte, ein achtunggebietendes Vaterland zu seiner Folie, diesem fehlte es. Um so sittlicher es aber ist, eine Nation als ein Ich zu vertreten, um so mehr lag Stauntons Stellung innerhalb und Moorfelds außerhalb des guten Tones, was von Natur doch umgekehrt war. Kurz, Moorfeld sollte bald empfinden, was es heißt, ohne Nationalehre, als bloßes Individuum in die Welt zu gehen. Dieses Gefühl, welches keinem deutschen Auswanderer erspart bleibt und auf welches sich doch der Seltenste gefaßt macht, legte einen Unmut in ihn, durch den die Lichtspiele des Humors, welchen er seinen Beleidiger fühlen ließ, nicht wie Sonnenstrahlen durchbrachen, sondern wie ein werdender Blitz, der seine Jugendspiele hält.

Nicht gastlicher als Herr Staunton verschönerte ihm die Hausfrau seinen Aufenthalt. Mistreß Livia Staunton trug zur Belebung ihres Hauses das ausgesucht Wenigste bei, was ein lebendiges Wesen zu leisten vermag. Moorfeld erblickte diese Dame kaum anders als im Schaukelstuhl mit der New Yorker Tribüne vor sich oder an ihrem Bureau, die Bibeln, Kinderstrümpfe und Seelen irgendeines geistlichen Hilfsvereins verbuchend. Mrs. Livia Staunton war nämlich – um sie im vollen Rund vorzuführen – aktives Mitglied folgender Vereine: zur Verbreitung der Bibeln, zur Verteilung geistlicher Flugschriften, zur Bekehrung, Zivilisierung und Erziehung der Wilden, zur Verheiratung der Prediger, zur Versorgung ihrer Witwen und Waisen, zur Verkündigung, Ausbreitung, Reinigung und Bewahrung des Glaubens, für den Kirchenbau, zur Dotierung der Gemeinden, zur Aufrechterhaltung der Seminarien, zum Katechisieren und Bekehren der Matrosen, Neger und Freudenmädchen, zur Beobachtung des Sonntags, zur Verhinderung des Schmähens und Fluchens, zur Errichtung von Sonntagsschulen, zur Verhütung der Trunkenheit des weiblichen Geschlechtes. Diese Titulatur war auf der Tür ihres Drawingrooms unter Glas- und Goldrahmen für jeden, der die Geduld dazu hatte, zu lesen. Ein solches Etablissement von christlicher Werktätigkeit gab freilich zu tun. Ihre Erholung davon suchte und fand aber die würdige Frau nicht in ihrer Häuslichkeit, sondern außerhalb, wenn sie mit Miß Sarah sonntags im Kirchenstuhle träumte und sonnabends auf den Shopping ging. Dies sind nämlich die zwei Marktgänge, auf welchen das weibliche Herz in Amerika seinen Bedarf an Galanterie sich besorgt. Daß den New Yorkerinnen der Kirchenstuhl das ist, was den Pariserinnen die Loge in der großen Oper, ein Empfangsalon für den Anbeter, ein Rendezvous der weltlichen Eitelkeit, dies zu erfahren hatte Moorfeld nur eines einzigen Besuches in einer beliebten Damenkirche bedurft. Da stand der Prediger zwischen den Blumen und Goldleisten seiner zierlichen Kanzel, war ein scheinheilig-kokettes, lächelndes Bürschchen, hatte gebrannte Locken, atmete Parfüms und predigte von den weiblichen Tugenden, und wie die Mütter mütterlich und die Jungfrauen jungfräulich sein sollen, und von der Würde der Ehe und von der Süße des Brautstandes, und was ein praller Leib für ein schöner Tempel Gottes und Runzeln für ein verehrungswürdiger Anblick seien, und mischte Bibelsprüche und Zitate aus Byron und Walter Scott reizend durcheinander, und die frühlebenden Fräulein und die frühverlebten Frauen New Yorks dehnten sich auf ihren Polsterstühlen, während die warme Maiensonne ihre vollen und welken Büsten beschien; sie hatten die Augen geschlossen, scheinbar der Sonne wegen, in der Tat aber um das Behagen zu verbergen, das sich darin malte, und durch die ganze Kirche ging ein wollüstiges Gähnen und ein faules Seufzen, und Moorfeld gestand sich gerne, wenn er eine New Yorker Lady wäre, so wüßte er sich keine bessere – Leibesbewegung als solch einen Gottesdienst. Er begriff ohne Umstände den Enthusiasmus des schönen Geschlechts für ihren sonntäglichen Kirchengang. – Der Shoppinggang war eine Variation über dasselbe Thema, nur daß hier Seide und Mousselin und dort die Bibel den vorgeblichen Text bildeten. Auf dem Shoppinggang flanierte der buntgefiederte Wanderschwarm von Evas Töchtern durch die Basars der Manhattan-Stadt und zwar nicht sowohl um die modistische Nachkommenschaft des paradiesischen Feigenblattes zu inspizieren, als vielmehr um die Schlange zu belauschen, welche jenem ersten Schnittwarengeschäfte den Impuls gegeben. Die Ladendiener wußten dabei nicht weniger als die Kanzeldiener den Bedürfnissen ihres Publikums entgegenzukommen, und aus Sabbat und Shopping sogen die Damen New Yorks die Kraft, eine Woche lang zu Hause so langweilig zu sein, als es ihnen die Landessitte vorschrieb. Ein Fremder gab es auf, mit diesen Quellen zu konkurrieren, wenn er ihnen erst auf die Spur gekommen. Seine Huldigung wurde von der Hausfrau, welche in ihren vier Wänden mehr Götze als Weib zu sein hatte, weder erwartet noch nur zugelassen, dafür empfing er aber auch nichts von jenen Gegengeschenken, womit Frauenanmut die schöne Geselligkeit bei andern Kulturvölkern bereichert.

Nicht mehr Weiblichkeit als in der Mutter konnte Moorfeld in der Tochter entdecken. Miß Sarah Staunton begegnete dem Hausgenossen mit der pflichtschuldigen Würde einer amerikanischen Jungfrau. Freilich wissen wir nicht, ob sie diese Würde um ihrer selbst willen repräsentierte oder des Eindrucks wegen, den sie damit hervorzubringen meinte. Vermutlich das letztere. Und wenn sie ihre hochgewachsene Figur, die wir artiger aber erlogener eine majestätische nennen sollten, in das stolzeste Aufrecht zu schwingen meinte, so zuckte oft plötzlich ein seltsamer Geist durch diesen künstlichen Strebepfeilerbau, der seine architektonischen Linien wunderlich verschob, ihre Haltung bekam etwas Einseitiges, Hinhorchendes, ihr trübblaues Auge fing zu lauern, zu lauschen und zu rechnen an, ihr ganzes Wesen hatte etwas zwecklos Geheimnisvolles; sie glich einem schlechten Rätsel, das teils zu dunkel, teils zu deutlich und in seiner schließlichen Auflösung nichtig ist. Moorfeld hatte es längst aufgelöst und war eben nicht der Mann, einem Mädchen die Tugend der Koketterie für ein Laster anzurechnen; als sie aber nach Tagen und Wochen einer anständigen Vertraulichkeit Moorfelds mit erhobenem Finger die Erinnerung zudrohte: Sie wissen, ich habe Ihnen noch zu verzeihen, Mr. Muhrfield – da erschrak er doch über die Armut ihrer Mittel. Wenn sie schon das traurigste Genre von Koketten sind, jene Unversöhnlichen, die sich stets zu versöhnen haben, so war Sarahs Thema für dieses Spiel bereits in der ersten Stunde ein so erfindungsloses, unglückliches, daß die Fortführung desselben gegen all ihre weiblichen Instinkte zeugte. Was konnte Moorfeld anders, als dieser platten Taktlosigkeit den Rücken wenden?

Damit aber war das Haus Staunton für ihn zu Ende. Die Domestiken des Hauses schied nämlich in Amerika so gut wie in Europa die soziale Sitte von ihm; ja sie diktierte hier gegen den weiblichen Teil eine Zurückhaltung und gegen den männlichen, der größtenteils der schwarzen Farbe angehörte, ein Rassenvorurteil, wie beides der freisinnigere Europäer nicht kennt. Und doch lehrte ihn der erste Blick, daß in diesem Hause, wie häufig, den Dienenden mehr menschlicher Fond innewohnen möge, als den Herrschenden.

Harriet, das Kammermädchen, oder die »Gehilfin«, wie der Sprachgebrauch sich ausdrückte, besaß schon den Vorzug einer großen weiblichen Schönheit. Das war viel für Moorfelds Denkart, der von einer befriedigten Natur gerne auf eine harmonische Sittlichkeit schloß und im schlimmsten Falle nur ein Laster kannte, die Feigheit. Feigheit aber ist ausgeschlossen, wo es kein Bewußtsein von Mangel gibt, sondern nur Besitz und Erfüllung. In der Tat trug Harriet ihr Köpfchen so stolz wie alle Amerikanerinnen, aber wie ganz anders kleidete sie dieser Stolz als ihre Gebieterin Sarah, deren kleinliche Kälte stets den Verdacht erweckte, sie sei ihres lüsternen Gegensatzes wegen da! An Harriet war alles Kraft und Sicherheit. Sie war Kaiserin eines brillanten Augenpaares, Königin einer kühn geschwungenen Oberlippe; wenn sie die plastische Macht ihrer Sinnlichkeit brauchte, so konnte sie durchgreifend herrschen; aber darum glaubte man an ihren Stolz, weil er nichts tat, sich glauben zu machen. Schon die Art, wie sie die Fülle ihres prachtvollen Rabenhaares trug, unterschied sie charakterlich von Sarah. Wenn die Locke, dieses flüssige, wandelbare Element, das Organ übermütigen Nackenschüttelns und kriechenden Zulächelns, matt und ratlos um Sarahs erbleichenden Frühling schwankte, so saßen Harriets Zöpfe, mit Trotz à la couronne geschlungen, in ihren Nadeln, ein Bild in sich versammelter Charakterfestigkeit. Daß dieses Mädchen nicht Dienerin blieb, begriff Moorfeld allerdings, daß sie aber die Wahl ergriff, ihre Versorgung lieber im Schulstaub zu suchen als in einem weiblicheren Verhältnisse, wofür sie doch eine wahre Perle von Beruf war, das begriff er keineswegs. Es schien ihm dieser Widerspruch ein weit tieferes und ratenswerteres Geheimnis um Harriet zu legen, als Sarah je sich anzustempeln so eitel sein konnte. Leider mußte er verzichten, sie näher kennen zu lernen: ein gewechseltes Wort mit ihr erregte so viel Aufsehen, sie selbst bezeigte ihm eine so unverstellte Verschlossenheit, daß er dort aus Rücksicht und hier aus Achtung den Versuch einer Annäherung aufgab.

Seine Bedienung lag in Jacks, des Negers, Händen. Diese Person hätte ihm freilich nichts mehr als eine Maschine sein dürfen, wenn er amerikanisch korrekt dachte. Aber so dachte er nicht. Zwischen ihm und dem Wollkopf spann sich manch zarter Faden. Erstens liebte Jack sein Violinspiel. Zweitens war Jack der Koch des Hauses. Moorfeld, um nur physisch zu existieren, gab ihm für seine Person einen kleinen Lehrkurs in der europäischen Kochkunst, und solch ein Verhältnis angeknüpft, dürfen wir billig zweifeln, ob Chiron ein zärtlicheres Interesse hatte, daß Achill seinen Pfeil richtig ansetzte, oder Moorfeld, daß Jacks geneigtes Gemüt die Theorie der Gollaschbereitung aufnahm. Drittens hatte Jack einen Charakterzug von satirischer Laune in sich, der unsern Freund zugleich ergötzte und auch ernsthafter anregte. Der Neger liebte es nämlich, auf eine eigentümliche Art mit seinem Identitäts-Bewußtsein von Ich und Nicht-Ich zu spielen: er setzte sich sein schwarzes Ich als Objekt und schimpfte im Charakter eines weißen Subjekts drauf los. Durch Haus und Flur konnte man ihn beständig mit, d.h. gegen sich hinbrummen hören: Achtung, schwarzer Esel! merk auf, verdammtes Niggervieh! Kopf oben, rußige Bestie! Platz da, Kohlensack, und was ähnliche Artigkeiten mehr waren. Hatte er Moorfelden ein kleines Versehen zu bekennen, z.B.: Warst du auf der Post, Jack? so hieß die Antwort: Verzeihung, Sar, das Rabenhirn hat's vergessen. – Bist du nach meinen Kleidern gegangen? Ach Gott, Sar, der Kerl hat nicht mehr Gedächtnis als eine Flasche voll Stiefelwichs. Moorfeld lachte anfangs über diese Sorte von Humor, aber eines Tages fiel es ihm plötzlich auf, was für ein Sinn darin lag. War's nicht der nämliche Sinn, in welchem er selbst Herrn Staunton gegenüber sich der Ironie bediente? Tat das der Neger nicht auch, indem er die weiße Rasse verspottete durch die Selbstverspottung seiner schwarzen? Welch gleichartiger Instinkt waltete hier? Ist die Ironie die Muttersprache unterdrückter Nationalitäten? Und wie ward unserem Freund, als er an Europa zurückdachte und bemerken mußte, daß eben jetzt die Ironie die herrschende Form der europäischen Literatur, aber auch ein Weltschmerz, Polenschmerz, Judenschmerz der herrschende Inhalt war? War er den Übeln, die man für Übel nur der alten Welt hielt, nicht entronnen, und fand er in der neuen Welt etwa einen Deutschen- und Negerschmerz? Verhängnisvolle Fragen.

Von solchen Betrachtungen zerstreuten ihn nur wenig die Sprünge eines Kaninchens, das im Hause ein- und austänzelte und sich den Genossen desselben gewissermaßen anreihte. Dieses Kaninchen war ein Geistlicher, Reverend Joe Brown. Der Mann war ein ziemlich verlebter Vierziger, trug auch die wirklich alternden Züge eines solchen, aber man konnte nichts Leichters und Luftigers sehen, als wie er in Garderobe, Sitten und Manieren den grünsten Zwanziger kopierte; er ging herum wie ein wahres Gespenst der Jugend, sein ausgeschlagenes Hemdkrägelchen buhlte sogar nicht undeutlich mit den phantastischen Lizenzen des Knabenalters, und in der Tat glich er einem Ferienschüler, der sich auf einem Ausfluge etwa um dreißig Jährchen verschlafen, wie jener ehrliche Rip van Winkle, während die Nornen der Zeit ihm ihre unheimliche Taufe erteilt, die bewußten Krähen in seinen Augenwinkeln gescharrt, und nichts ihm geblieben, als die selbstvergnügte Geckenhaftigkeit, das Bündel zuckerner Unverstand, das freilich keinem geraubt werden kann, der es säuberlich festhält. Moorfeld konnte sich eines bittern Lächelns nicht erwehren, wenn Reverend Brown und Mr. Staunton nebeneinander standen – »das jugendliche Amerika« quand même!

Zuletzt bewohnte Herrn Stauntons Haus auch noch – ein Schatten. Dieser Schatten war ein Mann oder ein Greis, überhaupt ein lebendiges Etwas, von dem nichts weiter zu sehen war, als daß es eben lebte. Der alte Mann saß mitten im Sommer in einem dicken, kragenreichen Karbonari-Mantel, den er genau bis an die breite Hutkrämpe heraufgezogen hatte, so daß es viel eher möglich war, mit dem Detail der Mondfläche als mit den Umrissen seiner Gesichtszüge bekannt zu sein. Moorfeld hatte sein Dasein nicht anders entdeckt als eines späten Abends am Haupttore, da sie beide sich aufschließen wollten. Der Alte bedankte sich im gebrochenen Englisch ausnehmend fein und gewählt, als ihm Moorfeld den Vortritt ließ und huschte dann durch das dunkle Vorhaus nach einer entlegeneren Hintertreppe. Bei einem zweiten Zusammentreffen redete ihn Moorfeld mit einer Anspielung auf sein dickes Mantelgeheimnis an: Nicht wahr, Sir, die Sommernächte sind kalt hier Landes? – Anche gli giorni, Auch die Tage! seufzte der Schatten, in sein Hinterhaus verschwindend. Moorfeld fragte Domestiken nie um häusliche Verhältnisse aus, damals konnte er aber den Neger, der ihn morgens weckte, kaum erwarten, um nach dem Alten zu fragen. Ein Überrest von einem italienischen Opernbankerott, hatte Jack gleichgültig geantwortet. Aber Moorfeld vergaß jenes Wort nicht mehr. Es war ein so echter Naturlaut! Und wenn er noch manchmal das Echo in sich hörte: »Ich danke Ihnen für dieses deutsche Wort«, so begleitete ihn jetzt ein zweites: »Anche gli giorni!«

Für das unerquickliche Leben in Stauntons Haus bot zuletzt die Lage desselben einigen Trost. Hatte doch Moorfeld schon ein Europa dieser Bedingung wahrgenommen, und hier mindestens war ihm alle Genugtuung geworden. Er erkannte es mit dankbarem Genusse. Wir sehen ihn manches Stündchen in seinem Fenster verrauchen oder vergeigen, das sonst vielleicht ein Spaziergang geworden wäre. Bei der anwachsenden Hitze der zweiten Maihälfte und dem unauslöschlichen Staub der New Yorker Straßen lachte ihm der trockene tiefglühende Himmel des vierzigsten Breitegrades mit grenzenloser Bequemlichkeit ins Haus herein. Unter seinen Fenstern blaute der Hudson, breit wie der Hellespont. Am andern Ufer, stromabwärts zur Linken, nagelten und hobelten Zimmerleute eine neue Stadt, Jersey City, in die äußerste Landspitze hinaus; stromaufwärts, zur Rechten, grünte der schattige Baumgürtel von Hoboken herüber, der alte Holländer-Park, New Yorks klassische Promenade. Mit seinem Dollond in der Hand mischte sich Moorfeld oft ins Menschengedränge der breiten Ulmenalleen und las dem spekulierenden Kaufmann, dem leichtsinnigen Matrosen, dem verhimmelten Quäcker und dem adonisierten Dandy die Prätentionen ihrer unsterblichen Seele von der Stirn. Über Jersey City und Hoboken hinaus erhob sich der Horizont zu sanften Hügelschwellen, auf welchen die Kaufleute New Yorks in weitverstreuten Landhäusern saßen und Sommerruhe hielten. Auf diese Eliten-Kolonie, auf dieses Blumenbukett Fortunas richtete Moorfeld sein Fernrohr mit besonderem Wohlwollen. Das vis-á-vis so vieler Glücklichen erquickte ihn. Er wurde aus der Ferne Familienfreund ihrer aller, er war ihnen dankbar dafür, wie rosenfarbig ihr Wohlstand einherging. Mochte er erworben sein, wie er wollte; ein Kontor ist noch einmal so tugendhaft, wenn es in der Orangerie liegt; und wer fordert auch eine bessere Tugend vom Menschen, als daß er lache? Lachend aber waren sie wirklich, jene Villen und Gärten, lachend in das Wortes verwegenster Bedeutung; nur eins mußte ihnen Moorfeld zu ihrer Üppigkeit wünschen – Geschmack. Hierin glichen sie vollständig Kindern, welche mit den Süßigkeiten ihres Lebens sich Backen, Mund und Kinn und Naschen kolorieren und ihre Verehrer in eine etwas zweideutige Verfassung zwischen Enthusiasmus und Horreur bringen. Gärten mit grenadiersteifen Pallisadenzäunen, Rasengründe mit angestrichenen Holzstatuen verziert, waren ein gewöhnlicher Anblick; Pagoden, Tempel, Kioske, Pavillons, welche vom chinesischen bis zum venezianischen, vom maurischen bis zum Rokokostil alle Bauformen der Erde verstandlos-bunt durcheinander würfelten und regelmäßig einen schreienden Lackfarbenanstrich wie eine Bedientenlivree trugen, das war der immer wiederkehrende Anblick dieser Luxus-Bauten. Ja, unter seinen Augen sah Moorfeld eine Kolonnade entstehen, welche in ein und derselben Front sämtliche fünf Säulenordnungen zugleich vereinigte! Von da an brauchte er seinen Dollond doch weniger häufig und besah sich das kleine Narrenparadies lieber mit freiem Auge. Aus dieser Perspektive blieb es allerliebst.

Aber wenn das Kostüm eines Volkslebens mit unserm Schönheitsgefühl im Widerspruche steht, so ist es immer die zarte Sache des Augenblicks, wie es uns affizieren soll. Eine scheinlose Veranlassung, ein unbedeutender Zufall, und die Stimmung kann ebenso schnell aus dem Humor in Ärgernis, ja in wahre Verzweiflung umschlagen, der ästhetische Sinn seine Verletzung anstatt komisch, tragisch auffassen. Zweifeln wir nicht, daß mit solchen Veranlassungen unsers Landsmanns Weg wahrhaft besäet war. Vergessen wir nicht, daß Moorfeld auf einen verdorbenen Magen gebeten wird, wenn ihn sein Bankier zufällig zu Gaste bittet; vergessen wir nicht, daß fast in jedem öffentlichen Lokale, in das er eintritt, sein Auge sich krampfhaft an den Plafond klammern muß, wenn ein unbewachter Blick auf den Boden, d.h. in den Speichel von tausend Tabakkauern ihm nicht das Gekröse im Leibe umwenden soll; vergessen wir nicht, daß es solch kleine, aber unerschöpflich durchvariierte Täglichkeiten sind, aus welchen unser Wohl- oder Übelbefinden gewebt wird: und wir entschuldigen gewiß unsern Freund, daß er mitten im Anschauen einer großartigen Volkstümlichkeit das Große nirgends recht zu Gesicht bekommt, weil es unter tausend widerlichen Zügen von Volksroheit begraben liegt, deren Abstoßungskraft der Anziehungskraft fast überall das Gegengewicht hält. Kurz, wenn gemeine Naturen mit ihrem Tun und edle mit ihrem Sein zahlen, so war es dem Europäer, aus dessen Denkweise heraus diese Bemerkung geschöpft ist, nicht möglich, sich für den Amerikaner zu begeistern, dessen erhabenem Tun das schöne Sein fehlte. Vergebens staunte Moorfeld auf Schritt und Tritt Werke und Einrichtungen an, denen Europa nichts Gleiches an die Seite setzt, seine Aufmerksamkeit ermüdete bald, denn der Eindruck zerfloß ihm in die Luft, weil die Taten herrlicher waren als die Täter und das Grandios-Menschliche nie in der Personifizierung grandioser Menschen erschien. Nicht die Vernunft, sondern die Sitte des Volkes ist der Gradmesser seiner Bildung, auch hat die Volksvernunft nirgends, die Volkssitte aber überall einen Leib. Man ladet unsern Freund z.B. ein, einer Sitzung des New Yorker Assisenhofes beizuwohnen, es komme ein interessanter Rechtsfall heute zum Spruche, die Gewandtheit der Advokaten, die gesetzliche Haltung des Publikums, der durchdringende Verstand der Geschwornen – alles werde ihm ein Schauspiel bieten, dergleichen die Welt – usw. Moorfeld betritt den Gerichtssaal, den Hunderte aus Personen hundertmal in jeder Minute mit Tabaksaft bespeien, er sieht im Nu ein Resultat aus diesen vereinten Kräften anwachsen, das alle Sinne aufs gröbste verletzt – wo bleibt da der geistige Eindruck? Wer heißt die Göttin Themis ihre Orakel zugleich aus einem Meere von Weisheit und von Speichel schöpfen? Oder der Ruf hat ihm Crotons Wasserleitung als das achte Weltwunder bezeichnet, er fährt eines Tages hinaus und will bewundern. Aber unterwegs macht sich ein kleiner zehnjähriger Souverän das Vergnügen, seinen Revolver in den Wagen abzufeuern, die Kugel dringt durch das Fenster, streift zuerst eine Dame an den Kleidern, schlägt dann einem gegenübersitzenden Herrn, der zufällig ein Polizeisergeant ist, an die stählerne Tabaksdose in der Hosentasche, prallt von dieser ab, indem sie noch etwas Fleisch von der rechten Hand des Polizisten mitnimmt, berührt dann leise die Schulter seiner Nachbarin und fällt zwischen dieser und Moorfeld auf den Boden nieder. So nahm jener Vergnügungsschuß des freien und aufgeklärten Bürgersprößlings noch einen unschädlichen Verlauf, aber er hätte ebensogut töten können, und der Gedanke, an Crotons Wasserleitung als Vergnügungsleiche anzukommen, war doch gewiß nicht die beste Vorbereitung, um dieses Wunderwerk eines freien und aufgeklärten Volkes zu würdigen, Oder unser Freund wird aufmerksam gemacht, sich ja den heutigen Leader im New York Herald nicht entgehen zu lassen – er enthalte eine Skizze der politischen und sozialen Entwicklung Amerikas seit dem letzten englischen Krieg – was Geistreicheres könne eine menschliche Feder unmöglich zutage fördern. Moorfeld tritt in Rileys Café, eines der fashionablesten auf dem Broadway, und sucht vergebens das genannte Blatt. Endlich entdeckt er es unter den kotigen Stiefeln eines Gentleman, der seine langen Beine mitten in den Lesetisch hineingelegt hat. Der Gentleman hebt auf Bitte des Lesers das Bein ein wenig in die Höhe, läßt's aber sogleich auf die übrigen Zeitungen wieder zurückfallen, gleichsam als gehörte es dahin, wie ein Briefbeschwerer. Was bedeuteten nun Amerikas Fortschritte seit dem letzten englischen Krieg? Moorfeld dachte, es hätte seit dem letzten englischen Krieg lernen sollen, seine Beine unter den Tisch zu stellen.

Wir würden diese Anführungen ins Unendliche vervielfältigen müssen, um deutlich zu machen, wie der Gemütszustand unsers Fremden während dieser Tage in ein Stadium eintrat, das sich nur schwer definieren läßt. Es ist ein eigentümlicher Scheideprozeß, der alle vorhandenen Elemente des Charakters in Auflösung setzt, und indem er die Formen der Neubildung zunächst noch gar nicht erraten läßt, unerträglich genug als ein eigentlich Charakterloses bezeichnet werden muß. Und gerade Männer, die in der Heimat Subjektivitäten und Physiognomien ersten Ranges waren, sehen wir in der Fremde auf diese unbegreifliche Weise plötzlich weit unter sich selbst zurückgehen, wie uns denn z.B. die Berliner Freunde und Reisegenossen Rückerts, dieser markvollen Mannesgestalt, vor welcher die römischen Kindermädchen mit dem Angstgeschrei: »Simone Mago!« Der Zauberer Simon! die Flucht ergriffen, zum drastischen Gegensatz jener Anekdote den lächerlichen, ja eigentlich feigen Zug zum besten geben, daß dieser arme Zauberer selbst durch ganz Italien nirgends zu bewegen gewesen, im Freien Platz zu nehmen, weil er in einer beständigen Scheue vor Giftschlangen einhergewandelt. Dieses Schrecken der Fremde, dieses unbehagliche Bewußtsein einer tiefen Gegensätzlichkeit zwischen sich und dem Neuen, welches mit dem Worte der Schlangenfurcht gewiß nur poetisch individualisiert, gewissermaßen in einem scherzhaften Symbol dort angedeutet ist, haben wir nun hier in einer verwandten Weise von unserm Helden zu berichten. Moorfeld vermochte – wie nur ein paar der wahllosesten Beispiele uns gezeigt haben – nirgends zum reinen Gefühle der Größe, die ihn umgab, durchzudringen, weil zwischen ihn und diese Größe immer ein Etwas trat, das ihm die Beleuchtung derselben trübte, profanierte, ja nicht selten sogar in ihr Gegenteil verwandelte. Bis er nun zum deutlichen Bewußtsein gelangte, daß das ästhetische Medium es war, welches zwischen ihm und Amerika fehlte, glaubte er die Ursache jenes geheimen Mißverständnisses einseitig in sich selbst suchen zu müssen, als ermangelte er der Organe, zu bewundern und zu genießen, was Hunderte vor ihm bewundert und genossen zu haben meinten oder andere mindestens meinen gemacht. Selbst der physiologische Gedanke trat ihm nahe, ob veränderte Luft und Diät ihn nicht körperlich umgestimmt hätten; kurz wir sehen ihn in einer Gärung, in welcher er mit der Fremde einen durchaus ungleichen und abmüdenden Kampf ringt. Noch können wir diesen Zustand keinen eigentlich unglücklichen nennen, denn er ist kein hoffnungsloser; er weiß, es muß eine Zeit kommen, da es zwischen ihm und dem Lande auf irgendeine Weise zum Durchbruch kommt: aber bis dieser Augenblick reif wird, hegt die Übergangsperiode dazu mit einer Lähmung, mit einem Gefühle von Schwäche und Selbstverlorenheit auf ihm, das ihn tief melancholisch macht.

Oft weilt er einsiedlerisch zu Hause, oft stürzt er sich ins Straßen- und Hafengewühl: dieses wie jenes ohne Befriedigung. Dabei verfolgt ihn stets die Vorstellung, als gebe es außer dem sichtbaren Volksleben noch ein zweites unsichtbares, das ihm wie hinter einem Vorhange verborgen sei und dessen Enthüllung beselige. Gewiß liegt's im Urwald dieses Geheimnis von Amerikas Glück und Schönheit – aber New York, ein Sammelplatz von dreimalhunderttausend Menschen, welche Kultur treiben, sollte nichts davon zu verraten haben? Im richtigen Winkel gesehen blitzt Tau und Schnee in ein Meer von Diamanten auf, außer diesem Winkel sehen wir graue und gefrorene Wassertropfen. Nur ein Ruck, eine Wendung, und der Zauber wird rings um ihn auflodern. Dieser Gedanke ist's, der unsern Freund fortwährend neckt, nach jedem Versuche ermüdend, zu jedem Versuch anregend.

Er bereut jetzt, daß er die übliche Aussteuer eines Reisenden, Empfehlungsbriefe, in Europa verschmäht. Im stolzen Instinkt der Originalität hatte er sie verschmäht und in der allerdings richtigen Annahme, sie möchten in New York ebenso nutzlos sein als z. B. in Paris unentbehrlich, denn gewisse Völker seien im Salon, andere aber auf der Straße zu suchen. Nur der Umstand, daß seine Ankunft ohnedies in die sogenannte tote Saison fiel, konnte über jenes Versäumnis ihn wieder beruhigen.

Was also von idealeren Formen des hiesigen Volkslebens im Innern der Häuser – und zwar seltener Häuser – glänzen mochte, blieb unserm Freunde zunächst aus dem Sinne gerückt. Um so weniger versäumte er den Besuch der öffentlichen Kunstanstalten. Zwar legt der Amerikaner den geringeren Akzent auf diese Seite seiner Nationalgröße, indem er, wenn nicht von mangelnder Kunstbegabung, doch von »Anfängen« redet oder auch den »Einfluß Europas« großmütig anerkennt. Er täuscht den Europäer nicht, überrascht ihn aber doch zugleich mit Zügen von Originalität, welche er selbst nicht geahnt hat und welche diesem den Beweis liefern, daß das Fremde nie ein Vorausgesehenes ist.

So besuchte Moorfeld ein Ding, das sich New Yorker Bildergalerie nannte. Er tat es mit aller Bescheidenheit seiner eigenen Meinung und der der Einheimischen dazu. Der Galerie-Direktor z. B. war freisinnig genug, ihm geradezu zu sagen, er würde von Kunstwerken ersten Ranges nur Kopien hier finden. Die Originale der besten Italiener, die Danaen, die Leden, die Ganymede usw. müsse man ein für alle Male den verdammten Königen Europas überlassen, sie erhöhten mit den Werken des Genies den Glanz ihrer Kronen und veräußerten ein klassisches Gemälde so wenig als einen Teil ihrer Souveränität. Nach diesem Fingerzeig erwartete also Moorfeld Kopien. Rühren sie von europäischen Künstlern her, so erwartet er gute Kopien, von amerikanischen, so macht er sich auf ein wenig Verzeichnung, Steifheit, Mangel an Vortrag u.dgl. gefaßt. Jedenfalls glaubt er vorbereitet zu sein. Aber wie geschieht ihm, als er nur vor Figuren geführt wird, welche der Direktor, sein artiger Führer, eine Danae, eine Leda, einen Ganymed nennt und von welchen er nichts zu sehen bekommt als Köpfe, Finger und Fußspitzen? Die griechischen Schönheiten waren mit den New Yorker Ladies auf dem »Shopping« gewesen und brillierten in der gewähltesten Garderobe. Für solche Überraschungen ist auch der Gefaßteste nicht gefaßt genug, und schrill reißt eine Empfindung entzwei, die ohnedies nicht überspannt war.

Ein andermal besuchte Moorfeld das Theater. Eine Temperatur von zwanzig Grad Rèaumur nach Sonnenuntergang hatte ihm bei einem Glas Eis, in einem Battery-Café, bisher jeden Gedanken an New Yorks dramatisches Kunstleben im Hintergrunde gehalten. Aber die Melpomene des Landes verstand es, ihn aufzurütteln. Ein zufälliger Blick Moorfelds an eine Straßenecke brachte ihm eines Tages folgenden Theaterzettel vor Augen:

»Heute zum ersten Male: Die Abenteuer des Kapitän Ebenezer Drivvle. – Eine Auswahl der rührendsten und heitersten Begebenheiten aus dem Bilde eines schicksalsvollen Menschenlebens. (Nach einer wahren Geschichte.) Personen: Kapitän Ebenezer Drivvle – Mr. Blount. Ein Heldenspieler ersten Ranges; ein Kraftmensch wie Simson und Goliath, mit Erlaubnis einer hoch würdigen Geistlichkeit. – Benjamin Ridge, sein Midshipman – Mß. Dooly. Eine gefeierte Darstellerin jugendlicher Männerrollen. Laune, Übermut, Witz, Schalkheit, eine verwegene Grazie, die mit den Grenzen des Anstandes spielt, ohne sie zu überschreiten, das sind einige von den Gaben dieser liebenswürdigen Künstlerin, aufweiche wir alte, lebensfrohe Herren, die sich gern ihrer schönen Rosenzeit erinnern, aufmerksam machen. – Nathanael Sanders, erster Steuermann – Mr. Fletcher, ein meisterhafter Trunkenbold, sowohl im humoristischen als im abschreckend-scheußlichen Fache. – Jonathan Hodge, Gouverneur von Neu-Schottland, aber doch ein Ehrenmann – Mr. Morses. Bekannter Virtuose in Darstellung einfältiger Blaunasen, welche, richtig behandelt, ganz Güte und Großmut sind. – Black Hamk, ein Indianerhäuptling – Mr. Murphy. Wir machen auf die eiserne Bruststimme dieses Heldenspielers aufmerksam. Könnte Armeen kommandieren, wenn er sie hätte. Sein Volk schmilzt aber unter den Kugeln der Kentucky-Büchsen zuletzt bis auf zehn Mann zusammen. Ist interessant tätowiert. – Andrew Jackson Dewis, ein Sklavenhändler – Mr. Blackely. Ein tiefer Kenner der Nachtseiten des menschlichen Herzens, ein ausgezeichneter Bösewicht. Weiß besonders gräßlich zu sterben. – Magnolia, eine reiche Kreolin in New Orleans, Mrs. Harrison – wechselt siebenmal ihr Kostüm, so daß am heutigen Abend junge Ladies eine ganz vorzügliche Gelegenheit haben, ihre Studien in der höheren Toilettenkunst zu bereichern; die Darstellerin ist bekanntlich tonangebend hierin. – Jane Norwood (wegen ihrer bunten und überraschenden Schicksalswechsel kann ihre Stellung im Stücke nicht näher bezeichnet werden): Mrs. Drake Harriet Store, – ein unschuldiges, gottergebenes Mädchen, welches fast nur in Bibelsprüchen redet. Ihre Rolle zeigt das Theater im schönsten Lichte einer guten Sittenschule. – Junker Tobias Sproul: Mr. Croghan – ein Snob ohnegleichen! Der Charakter des lächerlichen und affektierten Dandy hat nie einen bessern Darsteller gefunden. – Ein Stummer – zwei harthörige Deputierte – ein altes blindes Weib – Matrosen, – Sklaven – Sklavinnen – Indianer – Volk – mehrere auf Rattenfang dressierte Neufundländer – Ratten – Mörder.«

Als Moorfeld diesen Zettel las, mochte er sich wohl, wie jeder Gebildet getan hätte, vorstellen, daß damit ein anderes als das Publikum seiner Farbe ins Auge gefaßt sei. Das aber ist die feine Menschenkenntnis des Marktbudenstils, daß er mit pfiffiger Barbarei scheinbar an die Ärmsten im Geiste appelliert und damit weit sicherer in die höheren Kreise hinaufreicht, als er umgekehrt mit der Sprache der Kultur die niederen ergreifen würde. Moorfeld war sofort entschlossen, dieser Vorstellung beizuwohnen, wenn er auch nichts anderes erwartete, als in ein Winkeltheater gefahren zu werden, welches Leute seinesgleichen höchstens aus Ironie besuchen. Er nannte also dem nächsten Etage-Kutscher das Burton-Theater und bestieg den Wagen. Aber er hatte sich geirrt.

Das Fuhrwerk setzte ihn in der Chamber-Street hinterm »Park«, d. h. im Brennpunkte der Stadt ab, und das Theatergebäude blieb in Größe und Bauform hinter keinem der ersten Schauspielhäuser zurück.

Um so besser, dachte der Fremde. Er wird also nicht unter, sondern mindestens auf der Linie der Kunst oder dessen, was hier dafür gilt, das Gebotene sich bewegen finden und nicht der Neugierde, sondern wie immer, des Studiums wegen da sein. Bei diesem Bewandtnis wollen wir uns entschließen, seinen Theaterbesuch zu teilen. Folgen wir unserm Freunde jetzt in das Innere des Hauses.

Hier strahlte ihm eine Pracht entgegen, welche zwar nicht die Eleganz selbst war, aber nach amerikanischem Geschmacke, soweit ihn Moorfeld bereits kannte, doch den Anspruch machte, die Eleganz zu repräsentieren. Ein Blick auf das Publikum dünkte ihm schon befremdender. Er begriff, daß es keine Beutelschneiderei gewesen, als ihm der Kassierer, da er ein Parterrebillett gefordert, einen Logensitz für standesgemäß insinuiert hatte. Das Parterre war ein ausschließlicher Tummelplatz der Lehrlinge, Straßenjungen und Zeitungsausträger, kurz eines halberwachsenen Publikums in Hemdärmeln und Schurzfell, seine Diele glich überdies einer nassen Malerpalette, voll vom aufgesetzten Braun des bekannten Kautabak-Extraktes.

Moorfeld nahm seinen Logenplatz ein. Er kam neben einen Gentleman zu sitzen, der ihm einige Aufmerksamkeit abnötigte. Eine prächtige Dogge dehnte und streckte sich nämlich zu den Füßen des Mannes und krümmte sich, nachdem sie die bequemste Lage aufgefunden hatte, in bekannter Hufeisenform zusammen, indem sie ihre zierlich gespitzte Schnauze gar anmutig zwischen den schlanken Hinterbeinen anbrachte. Hoho! rief der Gentleman dem Hunde zu, Sie wollen einschlafen? dann streichelte er zärtlich, fast rücksichtsvoll den Rücken des Tieres und fuhr fort: Sehr vornehm, wenn man Kemble und Talma gesehen hat, aber wenig aufmerksam gegen unsre Gastfreunde. Nicht zu exklusiv, mein Freund, hören Sie? Verwundert betrachtete Moorfeld den Mann. Ein nicht zu verkennender Typus von osteologischer Steifheit, bei vollkommen geübtem Ausdruck von Selbstgefühl, verriet den Engländer und den Mann von Stande zugleich.

Sein Kopf war von einem merkwürdigen Bau, denn während die vorgetriebene Stirn sich stark auswölbte und die Nase scharf, gleich einem Widerhaken, vorsprang, traten Mund und Kinn so plötzlich zurück, daß die obere Gesichtshälfte über die untere gleichsam hinauszufallen schien. Ebenso lag sein großes rollendes Auge beinahe gänzlich außer seiner Höhle. Man glaubte in dem ganzen Kopfe das Modell eines Plastikers zu sehen, der in dem Streben, durch Ausbildung der Denkorgane Geistigkeit zu erreichen, bis zum Exzeß weit gegangen und eine so monströse Geistigkeit hervorgebracht, daß sie direkt in ihre Gegenteil umzuschlagen schien. Die Ansprache an den Hund bestätigte dieses physiognomische Urteil wahrhaft verhängnisvoll. Der Engländer begrüßte übrigens seinen ankommenden Nachbar zuvorkommender, als es sonst im Charakter seiner Nation liegt, und erwiderte den psychiatrischen Blick desselben gänzlich unbefangen. Moorfeld musterte das übrige Publikum. Die Logen des ersten und zweiten Ranges waren schwach besetzt und fast durchgehend nur von Herren ohne Damenbegleitung. Die Galerie dagegen zeigte einen zahlreichen Damenbesuch, aber ohne Herrenbegleitung. Die Herren in den Logen beschäftigten sich damit, mittels allerlei optischer Instrumente die Damen der Galerie zu inspizieren, diese hinwieder verrieten durch kein Zeichen, daß sie die Huldigung der bewaffneten Augen unterschätzten. In dieser Gruppierung des Publikums fand Moorfeld ein gutes Teil Sittengeschichte. Wenn das Wechselverhältnis der Geschlechter an öffentlichen Orten überall eines der stärksten Schlaglichter auf das Volksleben wirft, so war dieses Theaterpublikum der beste Schlüssel zu jenem Theaterzettel. Das Theater fand sich hier nicht von der Familie besucht, mehr bedurfte es nicht, um seine Kunststufe zu erklären. Eine mit dem Schauspielhause verbundene Trinkstube, auf welche Moorfeld durch den starken Zuspruch der ab- und zugehenden Personen aufmerksam gemacht wurde und welche die Rentabilität der ganzen Kunstanstalt nicht wenig zu erhöhen schien, tat zur Charakteristik derselben das ihrige.

Unser diesen Rekognoszierungen des Europäers fing die Musik an. Das Orchester war nicht schlecht, ein Bild darauf lehrte aber, daß es größtenteils aus deutschen Physiognomien bestand. Nun flog der Vorhang in die Höhe. Szene: Neu-Schottland, der Gouverneur und der Sklavenhändler. Der Gouverneur, oder wie die Yankees ihre englischen Nachbarn nennen, die Blaunase, setzte durch ihre Charaktermaske den Kunststil der amerikanischen Bühne sogleich außer Zweifel. Seine Glieder bewegten sich wie die Hand- und Fußgelenke einer Puppe, die sich um hölzerne Kurbeln drehen, sein großkariertes Beinkleid saß ihm zu knapp, sein schwalbenschwänziger Frack schlotterte zu weit, dazu umgürtete ein Schal, wie eine Fenstergardine so groß, seinen Hals, obwohl die Handlung in einem Zimmer spielte. Kurz, die Charaktermaske war außerordentlich faßlich. Der Dialog begann. Der Sklavenhändler hatte die Aufgabe, diese Monstrosität von Steifheit geschmeidig zu machen. Er trat, wie er merken ließ, unter falschem Namen und Charakter auf und hatte seine Gründe, sich im Hause des Gouverneurs einzuschmuggeln. Er legte sich aufs »Kammstreicheln«. So nennt der Amerikaner seine nationale Kunst, durch Flattieren einen Zweck zu erreichen. Der Darsteller machte es nicht schlecht. Die versteckte Bosheit und die geheuchelte Freundlichkeit mischte er in der Tat mit einigen Begriffen von Kunst. Im Stücke erreichte er auch seinen Zweck, denn der Gouverneur bat ihn zum Tee, d.h. er wünschte seine Bekanntschaft fortzusetzen. In dem Monolog, der hierauf folgte, wies aber der Intrigant sogleich die Teufelsklaue. Er erklärte dem Publikum, er habe es auf die Nichte des Gouverneurs, Jane Norwood, abgesehen, deren außerordentliche Schönheit ihn auf den Gedanken gebracht, sie zu rauben und zu New Orleans als Sklavin zu verkaufen. Glücklicherweise sei sie eine Brünette, und wenn er's pfiffig anfange, so werde sie als angebliche Terz- oder Quaterone (denn der letzte Tropfen Negerblut ist ja noch verkäuflich, sagte er mit tendenziös erhobener Stimme) so werde er sie ohne Gefahr des Verrats teuer »an den Mann bringen«, wie er mit faunischer Zweideutigkeit betonte. Aber die gelungene Mimik kam dem armen Künstler zunächst teuer zu stehen. Das Parterre-Publikum der Straßenjungen überschüttete den Bösewicht mit einem Hagel von faulen Eiern. Sie schienen so unerschöpfliche Ladungen dieses übelriechenden Materials mit sich zu führen, daß der Gestank desselben sich bald durchs ganze Haus verbreitete. Moorfeld bat seinen Nachbar, ob er diesem Kunstgenuß vielleicht mit einem Flacon Eau de Cologne zu Hilfe kommen könne. Der Mann reichte seine Tabatiere, brummte aber den Tumultanten im Parterre kopfnickend zu: Brave Burschen! werden früh Abolitionisten! Moorfeld begriff bei diesem Schlagworte die ganze Demonstration, der Schauspieler selbst aber, dem dieselbe galt, schien vollkommen vertraut mit solchen Auftritten, ja fast geschmeichelt, und trat, als ihm eben ein Ei gegen die Stirne flog und zum allgemeinen Jubel wie ein Hörn daran festkleben blieb, mit großer Gelassenheit vor die Lampen, indem er das jugendliche Gesindel im Parterre anredete: Meine Herren! ich erlaube mir, Ihnen den Vorschlag zu machen, das sittliche Ungeheuer, welches ich darzustellen die Ehre habe, statt mit faulen Eiern vielleicht lieber mit Pomeranzenschalen oder andern trockenen Dingen zu bewerfen. Hören Sie gütigst meine Gründe. Es werden gleich in den folgenden Szenen die Damen des Stückes auftreten, deren Roben auf den also verunreinigten Brettern einen schweren Stand haben dürften. Freie und aufgeklärte Bürger einer Nation, welche allen übrigen in der Hochachtung des schönen Geschlechtes voranleuchtet, haben Sie ein Recht, von mir zu verlangen, daß ich Sie auf die Gefahr, Damen eine Verlegenheit zu bereiten, rechtzeitig aufmerksam mache. Meine Herren, ich tue es hiermit. – Kaum war dieser Appell erschollen, so stürzten sich die Straßenjungen über das Orchester hinweg auf die Bühne, requirierten Besen hinter den Kulissen, und fegten unter dem unermeßlichen Jubel des Hauses die Szene so rein, als es der Eifer für eine große Nationalsache nur immer vermochte. Moorfeld sah dieses Schauspiel im Schauspiel nicht ohne den Reiz einer großen Neuheit. Die naive Ritterlichkeit des jungen Amerikas ergötzte ihn höchlich, aber – auf einmal klang eine Dissonanz drein. Ein pralles, untersetztes Kerlchen warf sich figurmachend seinen Kameraden in den Weg, fuhr ihnen mit der Besentünche über die Köpfe und schrie sie herausfordernd an: Fort da, der große Hoby duldet keine Nebenbuhler! Moorfeld fand die Knabengestalt bekannt; wie der Range hier in Manschetten, Jabots und gesteiften Vatermördern als Gentleman-Karikatur sich brüstete, so glaubte er ihn schon andern Orts und in einem andern Aufzuge gesehen zu haben. Wirklich! Es war jener Newsboy von der Battery, der das Ohr von Damen damals mit Zoten verfolgt und der den Roben der Damen heute reine Bahn machte. Eine große Sinnesänderung oder – ein frühreifer Heuchler!

Das Stück spielte weiter. Nach dem Sklavenhändler trat Benjamin Ridge, der junge Schiffskadett auf. Er erklärt sich sterbensverliebt in Miß Jane Norwood und geht mit dem Plane um, sie auf dem Schiffe seines Patrons, des Kapitän Drivvle, zu entführen. Das ist aber das nämliche Schiff, dessen sich zur Ausführung seines Raubes auch der Sklavenhändler bedienen will. Der Mann und der Jüngling erraten sich gegenseitig in ihrem Vorhaben und sind entzückt, daß sie sich nolens volens zu Helfershelfern haben werden, indem jeder sich zutraut, den andern zu überlisten und zu prellen. Moorfeld wagte nach dieser Exposition die Durchführung einer bestimmten Intrige und eine gewisse komische Seele des Stücks zu erwarten. Der angeknüpfte Faden riß aber bald wieder ab, und die Seele der folgenden Szenen war der Lärm. So scheiterte im Anfange des zweiten Aktes der ewig betrunkene Steuermann an einem wüsten Vorgebirge, und gibt dem Kapitän Drivvle, dem Simson und Goliath des Anschlagzettels, Gelegenheit, ganz martialisch zu tumultuieren. Desungeachtet sinkt sein Schiff, die abgerichteten Ratten treten auf und rennen verzweiflungsvoll auf dem Verdecke herum, die Neufundländer stürzen auf sie, die Hunde bellen, die Ratten pfeifen, das Publikum wälzt sich in Wonne, und Hoby der Straßenjunge von der Battery schreit, es sei der schönste Tag seines Lebens. Nicht weniger dramatisch als Ratten und Hunde benimmt sich das Schiffspersonal. Hilferufen, Händeringen, Auf- und Abrennen, bestialisches Kämpfen um die Rettungsboote – das alles wird mit einer Wahrheit und Sinnlichkeit agiert, daß das Publikum auf seinen trockenen Sitzen die Greuel eines Schiffbruches nicht mehr schrecklicher erleben kann. Der Sklavenhändler, seine Beute, Jane Norwood, im Arm, erkämpft sich ein Rettungsboot und droht mit seinem Revolver alles niederzuschießen, was Miene machte, ihm nachzufolgen. Der Schiffskadett ist wütend und wirft sich um so eiliger in ein zweites Boot, womit er jenes zu entern sucht. Die beiden Fahrzeuge liefern sich gegenseitig eine Schlacht, aber im Boot des Kadetts entsteht selbst wieder ein Aufruhr darüber, daß er es den Kugeln des Sklavenhändlers aussetzt. Unter diesem Spektakel verlieren sich beide aus dem Auge des Zuschauers, während das zurückbleibende Wrack die zweite Spektakel-Violine spielt und vom Geheul der Hunde und Ratten erfüllt ins Wasser sinkt.

Natürlich retten sich die Hauptpersonen. Kapitän Drivvle hat auf dem Lande durch die öffentlichen Blätter erfahren, daß der Gouverneur von Neu-Schottland für die Zurückbringung oder auch nur für eine Nachricht von seiner Nichte eine hohe Prämie aussetzt. Augenblicklich macht er den kleinen Abstecher nach Halifax, – eine neue Szene mit der Blaunase. Doch das ist nur ein Intermezzo. Die Hauptaktion ruft nach New Orleans auf den Sklavenmarkt. Der abscheuliche Andrew Jackson Dewis hat seine Beute glücklich an Ort gebracht und bezieht mit ihr die Verkaufshalle. Menschen von allen Schattierungen erfüllen dieselbe. Und eben wird wieder ein starker Negertrupp aus den Züchtereien der Karolinen angetrieben, sie singen ihr Heimatslied

I born in Suth-Carlina
Fine country ebber seen –

während ihre Banjos dazu klingen, und Jim Crow, die lustige Person ihrer Volkskomödien, auf Kommando Possen reißt, um der Menschenware durch Heiterkeit einen Firnis zu geben. – Treten auf: Magnolia, die reiche Kreolin, und Junker Tobias Sproul, der Geck, ihr Cicisbeo. Magnolia sucht ein Kammermädchen zu kaufen; Junker Tobias lenkt die Aufmerksamkeit auf Jane Norwood, indem ihn der begreifliche Wunsch leitet, für das Haus seiner ziemlich passierten Gönnerin etwas Schönes zu erstehen. Die Szene könnte interessant werden, wie der arme Ritter die Börse seiner Tyrannin zu dem größten Aufwände vermögen soll, ohne doch ihre geringste Eifersucht zu erregen. Leider hat der gepriesene Charakter-Darsteller der »Snobs« nur wenig Gelegenheit, die komische Situation auszubeuten, denn der Platzregen des Spektakels bricht sogleich wieder herein. Der vorwitzige Amoroso tritt auf, Benjamin Ridge, der Schiffskadett, dem es geglückt war, der Fährte des Sklavenhändlers zu folgen. Das Idol seiner Liebe erblicken, den Gegenstand seines Hasses finden und Skandal anfangen, ist das Werk eines Augenblicks. Der Tumult wird furchtbar. Natürlich unterliegt der kleine Kadett, aber Jane Norwood hat nicht umsonst alle Verse der Bibel aufgeboten inmitten der großen Bedrängnis. Plötzlich erscheint Kapitän Ebenezer Drivvle, ein furchtbarer Deus ex machina. Er kommt von Halifax. In einer Hand die vollwichtige Prämie des sehr ehrenwerten Sir Jonathan Hodge, in der andern die Identitäts-Papiere über Jane Norwood schwingend, entlarvt er den Bösewicht, den schändlichen Sklavenhändler, d.h., er gibt dem Spektakel eine ungleich greulichere Dimension als sein schlankes Midshipmännchen. Sämtliche Sklavenhändler treten auf die Seite ihres Kollegen, fürchterlich blitzen ihre Bowiemesser, herzzerreißend durchläuft Jane Norwood alle großen und kleinen Propheten der Bibel, die Stadtpolizei von New Orleans tritt auf und nimmt seltsamerweise Partei für den Sklavenhändler, da zerschneidet im Tumulte Benjamin Ridge die Bande aller anwesenden Sklaven, schenkt ihnen mit dem Rufe brandy for ever! die Freiheit und stürzt sich an der Spitze dieses frisch geschaffenen Kontingents, das nicht wenig heult, in die Schlacht. Auch der geübteste Theaterbesucher kann jetzt vergessen, daß er vor einer Bühne sitzt. Ein Stucker hundert Menschen, wie Percy sagen würde, sind hier im Handgemenge und alles prügelt sich wirklich. Es ist ein Hochgenuß. Die Parterre-Jugend strampelt vor Wonne, Hoby der Newsboy wirft seine Mütze gegen den Kronleuchter, das übrige Publikum bleibt aber doch verhältnismäßig ruhiger als bei der Schiffbruchs-Szene. Es ist zwar warm und befriedigt, der Europäer sieht aber, daß es nichts Geringeres erwartet, und daß diese Monstre-Darstellungen des Volkslebens die gewohnten Bühnengenüsse des Amerikaners sind.

Der Prügel- und Walkmühlen-Prozeß endet zwar mit dem Siege der Unschuld, aber der Sieg ist kein vollständiger. Der Sklavenhändler ist vertrieben, aber er schnaubt Rache. Jane Norwood ist gerettet, aber während der Kapitän sie ehrlich nach Hause führen will, gedenkt sie sein Schiffskadett nun erst auf eigene Rechnung zu entführen. So wechselt sinnigerweise mit der Prügel- eine neue Intrigen-Szene. Der liebenswürdige Benjamin macht sich nicht das geringste Gewissen daraus, seinen Herrn der Hafen-Polizei zu verraten und ihn am Auslaufen nach Halifax zu verhindern, was ihm auch vortrefflich gelingt, da ganz New Orleans sklavenhändlerisch gesinnt und auf den Kapitän erbittert ist. Dieser hat Not, sich mit Jane Norwood auf den Landweg durchzuschlagen. Das eben sucht der Kadett zu erreichen, denn der Landweg verspricht ihm ungleich günstigere Chancen für seine Jagd auf das Mädchen. Ja, so wenig skrupulös ist der holde Jüngling in seinen Mitteln, daß er unterwegs nahe daran ist, sogar mit dem Sklavenhändler sich wieder zu verbinden; denn, kalkuliert er, es wäre doch besser, daß sie in New Orleans verkauft würde, er könnte sie ihrer Herrschaft dann jedenfalls mit besserer Muße entführen als so. Moorfeld erwartete an dieser Stelle nichts anderes als ein neues Eier- oder vielmehr Orangenschalen-Bombardement, aber er verzichtete sogleich auf jedes Urteil über die sittlichen Anschauungen des Hauses, denn das Publikum applaudiert vielmehr und ruft teilnehmend: a smart fellow! Also keine gene einer moralischen Volksmeinung, nur die höhere Rücksicht auf eine ergiebige Prügelernte schien den Dichter geleitet zu haben, daß er die schmähliche Allianz nicht doch verwirklichte. Denn während Benjamin Ridge und der Sklavenhändler, der inzwischen durch einen Bund mit den Indianern mächtig geworden, in aller Gemütlichkeit ihre Kompakten besprechen, ändert sich die politische Sachlage. Die Handlung spielt ungefähr in dem Winkel zwischen Mississippi, Tenessee und Alabama. Von Kentucky herüber passiert ein Zug von Ansiedlern durch, welche nach Texas auswandern, – wilde, gerüstete Hinterwaldsgestalten, wobei dem lieben Benjamin das Herz im Leibe lacht. Schnell verläßt er die Partie des Sklavenhändlers, der ohnedies nicht »gesund« wäre, und sucht das Bündnis dieser neuen Abenteuerer für sein Vorhaben. Nun denke man! Von einer Seite der Sklavenhändler mit Black Hamk und einem aufgewiegelten Indianer-Stamme, von der andern Benjamin Ridge mit den wilden Kentuckyern und endlich der Kapitän Drivvle, der zu seinem Schutze ein paar Kompagnien Alabamer Landmiliz requiriert – so türmen sich drei Prügel-Gewitter zugleich am Horizonte auf: wen sollten nicht Wonneschauer schütteln? viele der Zuschauer sieht man ihre Plätze verlassen, um im benachbarten »bar« durch ein Glas Rum ihre Nerven für den bevorstehenden Kunstgenuß zu stählen.

Der Sturm bricht los. Kentuckyer, Indianer, Alabamer – die Parteien sind so gestellt, daß alle gegen alle kämpfen. Denn nicht Kampf, sondern Chaos soll es zugleich sein. Nicht Schläge müssen fallen, sondern sie müssen auch unversehens fallen, jeder muß doppelt angegriffen werden: wie er's erwartet und wie er's nicht erwartet. Das gibt Überraschung und Schadenfreude, das belebt das allgemeine Getümmel mit einer Menge interessanter Detailzüge. Oder was kann wonnevoller sein, als zu sehen, wie der Schlagriemen gegen das Bowiemesser klatscht, während die Flinte auf den Schlagriemen anlegt, und der Stahldegen rücklings die Flinte anfällt? Solche Gruppen führen sich blitzgleich dem Zuschauer vor, lösen sich auf, arrangieren sich wieder, alles reißt sich im Wirbel einander fort, die ganze Masse ist im glühenden Fluß, ein Feuer durchrast diese Aktion, das gegen deutsche Theaterschlachten absticht wie eine Brandrakete gegen ein fliegendes Glühwürmchen. Das Gemälde fällt freilich aus dem Scheinbaren in die barste Wirklichkeit, aber wenn die dramatische Kunst hier aufhört, so wird wenigstens die unglaubliche Gymnastik bewundert, womit sich der Menschenknäuel wirklichen Tötungen und Verwundungen entzieht, da er gleichwohl einen wirklichen Kampf aufführt. Auch die exaktesten Theaterproben, scheint's, können ein solches Ensemble nicht herstellen, und wie enorm wären die Kosten zahlreicher Theaterproben mit so zahlreichen Komparsen? Moorfeld konnte kaum das Austoben des ärgsten Lärmes erwarten, um sich mit diesem Bedenken an seinen Nachbar zu wenden. Die Bedenken, die er gegen denselben selbst hatte, mußten momentan verstummen davor. Zu lösenswert schien ihm das Rätsel.

Der Engländer fuhr wie aus dem Traume empor und fragte den Frager naiv: Sind Sie dem Stücke gefolgt? Moorfeld erstaunte. War das aristokratische Gleichgültigkeit, oder – die Zerstreutheit eines Irren? Betreten antwortete er: daß ihm der Verfolg eines Theaterstücks allerdings der Zweck des Theaterbesuches sei. Wahrscheinlich sind Sie selbst Dichter? gab der Engländer zurück. Wir wissen nicht, ob wir das Erstaunen Moorfelds in diesem Augenblicke Bewunderung nennen dürfen, aber mit einem Ausdrucke, der sonst viel zusammengesetzter zu beschreiben wäre, antwortete er: Ich bin nicht dramatischer Dichter. – Also doch, erwiderte der Engländer ohne Umstände. Damit war der Dialog zu Ende. Der Engländer schien Moorfelds erste Anrede vollständig vergessen zu haben. Aber von dem Spektakel war inzwischen seine Dogge erwacht, sie sprang mit den Vorderfüßen gegen die Brüstung und fing unter dem Gelächter des Hauses laut nach der Bühne zu bellen an. Der Engländer brachte das Tier zur Ruhe – nicht wahr, das appelliert an die bestialische Natur? sagte er im Tone eines freundschaftlichen Vorwurfes. Moorfeld schüttelte den Kopf. Auf einmal wandte sich jener wieder an ihn: – Von den Komparsen sprachen Sie? Es sind lauter Volontäre. Die New Yorker Rowdies wirken aus Liebhaberei mit, auch kommen Wunden und Tod wohl im Ernste dabei vor. Ich bin nicht mehr fremd genug hier und habe dergleichen selbst schon erlebt. – In der Tat, das war die einzig mögliche Erklärung einer solchen mise en scène. Mit einer ironischen Form dieser Anerkennung sagte Moorfeld, er hätte es allerdings denken sollen, daß nur die aufopferndste Teilnahme des Publikums solche Kunstblüten zeitige. Der Engländer nickte lächelnd.

Staub, Pulverdampf, Geschrei und Getrampel hatten endlich ausgespielt; das Schlachtfeld wurde leerer. Zurück blieb zuletzt nur der Sklavenhändler Andrew Jackson Dewis. Er war in der »Affäre« tödlich getroffen worden, und hatte jetzt sein großes Spiel. Er hatte zu sterben. Sollte das ein Glanzpunkt in der Kunstleistung des Mimen sein, so war der Moment vom Dichter übel gewählt; denn nach dem Gewühl der großen Massen-Aktion war der Zuschauer entweder zu aufgeregt, als daß das Spiel eines einzelnen durchschlagen konnte oder dieser einzelne mußte seiner Sache sehr gewiß sein.

Der Künstler führte nun folgende Szene auf. Mit der klaffenden Todeswunde in der Brust, aus welcher er einen wirklichen Strom von roter Flüssigkeit hervorrinnen ließ, dachte er vorerst ans Sterben noch nicht. In bestialischer Kampfeswut rast er wie unsinnig auf der Bühne umher, ganz Rache gegen seine Mörder, schwingt seinen Schlagriemen, peitscht, geißelt, klatscht in die Luft, gegen die Kulissen, an den Boden. Fürchterliche Gießbäche von Flüchen schallen aus seinem Munde und bezeichnen eine noch kraftvolle Lunge, während das rinnende Blut überall seinen Schritten nachtröpfelt. Aber indem seine Lebensgeister noch unbändig strotzen, fängt sein Körper zu brechen an. Glied für Glied knickt ein, man sieht den Tod durch seinen Körper laufen wie über eine stufenreiche Treppe, die Ober- und Unter-Gelenke der Arme, die Ober- und Untergelenke der Beine, jeder einzelne Wirbel des Rückgrates bricht zusammen und muß dazu dienen, die Fortschritte des Todes zu veranschaulichen. Der Künstler weiß seine osteologischen Mittel mit einem Reichtume zu entfalten, der ein nur allzu genaues Studium bestaunen läßt. Der Zuschauer verwundert sich über die Gliederung seines eigenen Körpers. Diesen zerhackten, zerknickten, zersprungenen Leib jagt der Sterbende nichtsdestoweniger heulend und brüllend noch eine Zeitlang umher und stößt, schleppt und schleift ihn gewaltsam in wilden Tigersprüngen herum, während seine Bewegungen immer eckiger und brüchiger, von Tempo zu Tempo immer zusammenhangloser werden. Er spielt sein Leben ab, wie ein ohrzerreißendes Drehorgelstück, bei welchem Stift für Stift, von der Walze bricht. Und doch scheint er bisher seinen Tod nicht empfunden zu haben. Dieser Moment tritt jetzt ein. Mitten im wildesten Sprunge packt er ihn. Der Donner der Lippe erstirbt, der gehobene Fuß gefriert, der geschwungene Schlagriemen erstarrt in der Luft, so steht er da mit ausholendem Körper, und kann nicht mehr weiter. Der Schlagriemen in der rechten Hand taumelt schlaff am Stiele herab, und leise zittert seine Spitze. Die linke Hand läßt von der Brustwunde los und fährt mit den blutigen Fingern über die Augen, gleichsam den Todesnebel hin wegzuwischen. Diese Gebärde ist namenlos traurig. Aber der Nebel war nicht zu verwischen, und der Sterbende erkennt seinen ganzen Zustand. Der Gedanke: aufhören, ergreift ihn zum erstenmal mit vollem Bewußtsein. Verzweiflungsvoll rollen seine Augen, klappernd schlagen seine Kinnbacken aneinander, die geballte Faust zittert heftiger, sie löst sich auf, der Schlagriemen schlottert einen Augenblick darin, dann fällt er dröhnend auf die Erde herab. Die Hand sinkt nach. Alle Glieder sinken nach. Er sinkt; die Hände tappen in Todesfinsternis nach einem Halt, sie tappen und greifen ins Leere, der Körper stolpert taumelnd über sich selbst, – da liegt er! Er liegt zu Boden. Aber tot ist er noch lange nicht. Nur die willkürlichen Bewegungen haben aufgehört, die konvulsivischen treten jetzt ein. Er fängt zu zucken an, er wälzt sich unruhig hin und her, die Augen rollen nicht mehr, sondern sind blöd und groß herausgetrieben, seine Miene durchläuft eine Reihe der fürchterlichsten Grimassen und wird immer unkenntlicher. Auch die Stimme verändert sich. Er spricht noch fort und fort, seine heißen Lebensgeister kühlen sich zu schwer ab, er wird sprechen bis zum letzten Atemzug. Aber es ist keine Sprache mehr; die Stimme hat keinen Ton, keine Klangfarbe mehr. Hohl wimmert er die Töne in sich hinein, er blökt, er heult, er röchelt und stöhnt in Lauten, welche nicht mehr dieser Welt gehören. Der fürchterliche Klang dieser Stimme trifft von Zeit zu Zeit sein eigenes Ohr, er erschrickt, gibt sich Mühe, sich zu verbessern – wechselt zwischen menschlichen und tierischen Lauten und bezeichnet dadurch den Kampf des Bewußtseins mit der überhandnehmenden Bewußtlosigkeit. Der letzte Ton, den er in der menschlichen Stimmlage versucht, mißlingt endlich gänzlich; ein raspelnder Atem wälzt sich durch seine Brust, seine Stimme kommt hervor wie zwischen Feilen und Kratzbürsten. Es ist eine entsetzliche Erfingung um diese Sterbestimme. Gleichzeitig mit seinem Ausatmen verdunkelt sich die Bühne. Sei es, daß es in dem Stück selbst Abend wird, oder daß das Auslöschen eines Lebenslichtes mit diesem symbolischen Effekt gehoben werden soll. Doch nein, es wird ein dritter Zweck davon deutlich. Der Sterbende wälzt sich nach dem Hintergrund. Er streckt seinen Körper dicht an den Vorhang desselben aus und scheint sich in eine ruhige Lage zurecht zu rücken. Sein Röcheln wird nicht mehr gehört, sein Zucken nicht mehr gesehen; die Agonie ist aus, der Augenblick tritt ein, da sich die Seele von dem Leibe scheidet. Auf einmal erblickt man diese Seele! Ja, man erblickt sie! Vom Haupte des Sterbenden hervor taucht ein weißer durch Transparent erleuchteter Schatten, der die ungefähren Umrisse einer menschlichen Figur entwickelt, aber zerfedert und lose, wie eine Dampfwolke, wie ein Nebelflor. Langsam löst sich dieses Lichtbild von dem dunklen Erdenkörper ab und schwebt an dem Vorhang empor. Da regt sich der Körper noch einmal. Die Hände tappen und greifen nach dem Lichtbilde aus, wie mit magnetischem Zuge folgt der übrige Körper nach, der ganze Leib richtet sich auf und folgt seiner Seele! Er klettert an den Vorhang hinan, die Hände immer nach der entschwundenen Seele ausfahrend, im tiefsten Gurgelschlunde ein dumpfes wimmerndes Brüllen. Aber das Lichtbild ist nicht zu halten. Vergebens streckt sich der Körper, der angehende Leichnam, in gräßlich übernatürlicher Länge, sein nebliger Licht-Extrakt steigt über ihn hinaus wie eine Rauchsäule, höher, immer höher steigt die Gestalt, endlich steht sie mit ihrer untersten Fußspitze auf dem Haupte des Sterbenden, es ist der Moment der gänzlich vollzogenen Loslösung. Noch macht der Leib einen galvanisch-zuckenden Sprung nach dieser äußersten Fußspitze, er erreicht sie nicht mehr, – ein gellender Schrei – letztes Aufflackern – ein schwerer dröhnender Fall – der Körper stürzt um, – er ist tot. –

Moorfeld fand sich in einer der unangenehmsten Empfindungen nach dieser Szene. Es war keine Geschmacks-Faser in seinem ganzen Leibe, die nicht unerhört beleidigt, zu Gelächter und Abscheu entschieden bereit war. Und doch mußte er sich gestehen, daß in dieser brutalen Farce ein falscher und mißbrauchter Funke von Genie ihm das reine Ärgernis daran verkümmerte, daß die Affenfratze gewisse Züge von der Menschheit entlehnt hatte, die man sich erst aus dem Sinn schlagen mußte, um die Affen-Identität nicht zu verkennen.

Inzwischen übertäubte der Lärm des Hauses jede stillere Reflexion in ihm. Namentlich zog das Parterre seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Jungen klatschten, als ob man sich neue Finger, wie neue Handschuhe anschaffen könnte, sie strampelten gegen den Boden, daß das Fundament des Hauses zitterte. Hoby, der Newsboy, warf endlich, vor Begeisterung seiner nicht mächtig, ein Münzstück auf die Bühne, und schrie, mit dem Modell aller Menschenlungen: »Noch einmal gestorben! für einen Dirne, Mr. Blackely, noch mal gestorben«, – und als der bescheidene Künstler diesem Appell an sein Genie nicht alsogleich Folge leistete, stürzte der seltsame Kunstmäzen wie rasend seine Taschen um, warf ein Münzstück ums andere über die Lampen, und schrie dazu: »Gott verdamm' Euch, Mr. Blackely, wir schmeißen Euch mit Dollars tot, wenn Ihr nicht gutwillig sterbt, Ihr allmächtiger Satan.« Und zugleich hagelte es aus allen Taschen der Straßenjungen, Lehrlinge und Newsboys eine Sprühwolke von zehn Centstücken auf die Bretter, welche die Welt bedeuten.

Ist's möglich! rief Moorfeld mit einer unwillkürlichen Bewunderung, dieser Roheste der Rohen wirft seine ganze Tagesernte hin, weil er die Bestie, der er sie opfert, für Kunst hält. Welche Höhe müßte bei so viel Empfänglichkeit die Kunst selbst hier erreichen, wenn sie den Gott statt des Tieres im Menschen entzündete!

Pardon, mein Herr! rief der Engländer bei diesem Ausbruch, ohne eine Miene zu verziehen, es ist hier zunächst von einem Geldgeschäft die Rede. Der Bursche wirft keinen Cent auf die Bretter, den er nicht doppelt zurückerhält, weil er ihn einzig in der Absicht wirft, die Centstücke seiner düpierten Kameraden damit zu ködern. Er ist der agent provocateur seines Mr. Blackely, er wird von dem Mimen bezahlt, wie der maître de la claque in Paris. Nur die Form dieser Claque ist amerikanisch.

Moorfeld senkte sein Haupt. Können Sie mir sagen, mein Herr, ob New York etwa Liebhaberbühnen von Ruf besitzt? begann er nach einer Pause.

Mr. Bennet, mein schätzbarer Freund, unterhielt sonst ein vorzügliches Haustheater – antwortete der Engländer, und fügte mit Hast hinzu: Ich bitte mir das Vergnügen aus, Sie ihm vorzustehen, Sir. Er hält zwar in der saison morte auf New Jersey Villeggiatur, aber wir wollen hinausfahren, Sir. Ich will Sie auf New Jersey vorstellen, Sir; wahrhaftig ich will es, Sir, nennen Sie mir Tag und Stunde, ich bin ganz zu Ihren Diensten, Sir.

Moorfeld fand sich, um die Wahrheit zu sagen, mehr verlegen als dankbar für diese Güte gestimmt. Konnte er annehmen? Die ungewöhnliche Zuvorkommenheit des Fremden – zwar war sie nicht mehr, als folgerichtig von dem Manne, der schon seinen Hund so artig behandelte – aber eben dieses letztere? – In diesem Augenblicke hatte die Claque des Newsboys gesiegt, und Mr. Blackely erklärte sich bereit, indem er das zugeworfene Spielhonorar mittelst Besen einsammeln ließ, seine bewunderte Sterbeszene zu wiederholen. Das war mehr, als Moorfeld an einem schwülen Sommerabend für wünschenswert hielt. Er griff nach seinem Hute; der Engländer wiederholte sein Anerbieten, ihn vorzustellen – ja, gleich morgen ihn abzuholen. Moorfeld, zwischen dem Wunsche, den vielgenannten Kunstmäzen, Mr. Bennet, endlich kennen zu lernen, und dem Bedenken gegen die vorliegende Gelegenheit, besann sich auf einen aufschiebenden Mittelweg, worauf die Herren ihre Karten austauschten, sich wechselseitig einladend. Mit Überraschung las Moorfeld auf der Karte des Fremden den Namen: Lord Arthur Ormond. Da geschah ein Krach durch das Haus – es war die Stimme Mr. Blackelys, der von neuem zur Todesverzweiflung ansetzte. Moorfeld ergriff die Flucht. –


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