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Drittes Kapitel

Ein prangender Morgen glänzte über die Welt. Spät aufwachend, wunderte sich Moorfeld, daß der Lärm des Hafenlebens, das unmittelbar unter seinen Fenstern lag, nicht längst ihn erweckt. Er trat ans Fenster. Ja freilich! da lag Schiff an Schiff im Hudson – alle Flaggen aufgehißt, alle Räume grabähnlich stumm – eine ganze Flotte des fliegenden Holländers schien vor Anker. Es herrschte heute also jenes Gespenst, das man in den puritanisch quälerischen Landen Sonntag nennt. Die Strömung des Flusses war die einzige Bewegung in diesem Bilde der unheimlichen Ruhe. – Der Europäer sann darüber nach, was mit einem solchen Tage der heiligen Langeweile anzufangen sei. Sein Blick fiel auf seine Koffer, welche gestern unberührt stehen geblieben. Damit war fürs erste gesorgt. Er stand auf und fing an, sie auszupacken.

Das ist eine der sinnigsten Menschenarbeiten und jedenfalls das harmloseste Sonntagsvergnügen in allen fünf Zonen auf beiden Hemisphären. Die Bagatells, welche der kurzsichtige Sterbliche »leblose Dinge« nennt, sind keineswegs so leblos, als es scheint: Stoff, Form oder Farbe spricht auf irgendeine Weise zu irgendeinem Sinne und ein Widerschein geschichtlicher Erinnerungen spielt um die geringste Einzelheit. So gehen die Gegenstände mit einer sanften träumerischen Muße durch die Hand, ja, es bleibt überhaupt unentschieden, ob die Hand oder die Phantasie bei einer Arbeit dieser Art vorherrscht. Leuchtet dazu ein blauer geräuschloser Tag zu hellen Fenstern in die einsiedlerische Stube, so faßt sich das Ganze in eine gewisse Stimmung zusammen, welche scheinbar mit Taschenspiegeln und Rasiermessern nichts zu tun hat, aber nichtsdestoweniger da ist und recht tief und lebendig da sein kann.

In dieser Stimmung hatte der Freund seine geliebte, wohlverpackte Violine vorgefunden und aus den ersten Probegriffen um die Reinheit des Tones wurde unvermerkt ein langgezogenes Spiel. Ans Fenster gedrückt, das Auge über Fluß und Land und durch die tiefblaue Heiterheit des Morgenhimmels schweifend, stand er da und brachte der neuen Welt das erste Liebesopfer einer klangreichen Seele. Die heimatlichen Weisen quollen in reicher Strömung aus dem schönen Instrumente, eine Phantasie, die sich an ihrer eigenen Fruchtbarkeit hinriß, reihte Blume an Blume, hing Kranz neben Kranz auf, und vor dem inneren Auge des Künstlers stand vielleicht ein Freundeskreis von fernen, lieben Menschen, wert, daß sie eine Seele in ihren guten Stunden mitgenießend vergegenwärtigte.

Als Moorfeld eine Zeitlang so vor sich hingespielt hatte, klopfte es. Herr Staunton trat ein und erkundigte sich, im hochgesteiften Vatermörder, den französischen Hut in der Hand, um das Befinden seines Gastes. Moorfeld dankte, und wies auf seine Violine, das Zeichen seiner aufgeweckten Kräfte. Ein vorzügliches Instrument, ein klangreiches, melodisches Instrument, rief Herr Staunton, geschehe mir anders, als ich wünsche, wenn ich Ihr Spiel nicht mit dankbarer Freude belauscht habe. Ich muß die Wahrheit sagen, Herr Doktor, ein ganz köstliches Holz! Ach, das Vergnügen der Kunst wird mir zu selten zuteil, als daß ich's nicht lebhaft zu schätzen wüßte. In der Woche besetzt das Geschäft und der Klub die Tags- und Abendstunden, und am Sonntage kann man in sämtlichen Staaten der Union keinen musikalischen Ton hören, wenn nicht glücklicherweise vielleicht von einem Fremden. Unser frommes Land hält Klang und Saitenspiel für eine Sünde am Tage des Herrn; aber ich denke wohl, meine Nachbarn sind bereits in den Kirchen, man wird uns kein Ärgernis nachsagen, Herr Doktor. Der junge Europäer legte rasch, als ob es entweiht wäre, sein Instrument hin; sein dunkles Auge schoß einen wilden Blick, voll von dem Genie des Zorns. Der Amerikaner nahm die Gelegenheit wahr, als er seine Mission erfüllt sah, mit Höflichkeits-Formalitäten wieder seinen Rückzug zu nehmen.

Moorfeld fuhr im Aufräumen seiner Koffer fort, aber wir können in dieser ausdruckslosen Arbeit eine merkliche Veränderung des innern Ausdrucks wahrnehmen. Das harmlose Adagio seines vorigen Gebärdenspiels ist in ein rauschendes Allegro verwandelt; er wirft die Sachen mit einer genußlosen Hast untereinander, seine Finger zucken wie elektrisch, oft unterbricht er sich und geht mit starken Schritten durch das Zimmer. Der enge Raum genügt bald seiner unruhigen Bewegung nicht mehr, es ist mit diesem häuslichen Sonntage nichts anders anzufangen, als ihn in publico anzusehen. Er eilt fort.

Die beste Flucht vor dem Sonntag wäre natürlich direkt in den Sonntag hinein gewesen. Schon als Sittenbeschauer der Menschen konnte der Fremde nicht anders, als heute die Kirchen besuchen. Wahrscheinlich hätte es Moorfeld auch getan – ohne Herrn Stauntons Morgenbesuch. Dieser aber trieb ihn begreiflich – in die Opposition. Andächtig zu sein mit Andächtigen, welche »Ärgernis« an einem Adagio nehmen – in Europa sieht es jedermann ein, daß das einem Europäer nicht möglich war.

Dazu kam das Sonntagsgeläute. Wie wurde unserm Freund, als er in New York läuten hörte, wie man in Europa zum Feuer »anschlägt«? Anfangs glaubte er wirklich die ganze Stadt brenne, als das eintönige Gehämmer von allen Kirchen zu arbeiten anfing. Mit empörter Seele rannte er in die Einsamkeit. Wir wüßten auch nichts, was von dem Menschen mehr hinwegscheucht, als solch ein äußerster Grad seiner Rhythmuslosigkeit. Höchstens noch ein Diner aus Fett und Pfeffer und Champagner mit Brandy. Wahrlich, unser Freund zieht eine starke Summe seit gestern. Ein Volk, das nicht einmal die Instinkte des Gaumens und der Andacht – also die Grundpfeiler der sinnlich-sittlichen Menschennatur – zu erfüllen weiß, das wandelt doch weitab vom europäischen Wege. In diesem Augenblicke ging ihm einstweilen Moorfeld selbst aus dem Wege. Er wandelte auf der Battery, wo eben niemand wandelte. Das frische Meer, der blaue Himmel, der weite unendliche Horizont, flammend und spiegelnd im Lichte der kräftigsten Sommersonne, ließen ihn ein paar Stunden so hinträumen. Notizbuch und Stift in seiner Hand verraten uns, daß wir ihn in Gesellschaft guter Geister wissen. Freilich sehen wir ihn ebensooft streichen als schreiben; es scheint ein kleiner Familienzwist in dieser Gesellschaft zu herrschen. Wenn es kein großer ist – bekümmern wir uns nicht darum.

Als Moorfeld zum Dejeuner in die gestrige Gruppe eintrat, fiel ihm »unser Daniel« wieder mit neuer Schwere auf die Seele. Er beschloß sogleich die Konversation darauf hinzuleiten. Er glaubte mit einer Artigkeit beginnen zu müssen, und drückte dem Hause Staunton sein Bedauern aus, daß er heut morgen seine Sabbatruhe entweiht. Er hätte sein Violinspiel sogleich mit einem Spaziergang vertauscht, als er vernommen – aber die Damen Staunton sahen sich in diesem Augenblicke so bedenklich an, daß Moorfeld, ohne mehr zu sagen, vielmehr das schon Gesagte in eine erschrockene Erwägung zog.

Herr Staunton beschwichtigte die dreifache Verlegenheit und sagte mit einem liberalen Ausdruck: Die Vernünftigeren in New York werden nicht lange mehr einen Spaziergang für eine Profanation des Sonntags halten. Und machte es auch zur Zeit noch niemand mit, namentlich während der Kirchenstunde nicht, so denkt man hier doch nachsichtiger darüber als z.B. in Boston. Ein Spaziergang, rat' ich, wird bald ein erlaubtes Sonntagsvergnügen in unserer erleuchteten Weltstadt sein.

Ist's möglich?! rief Moorfeld auf dem Gange draußen, denn er hatte bei Herrn Stauntons Worten – was hilft es, die Wahrheit zu mildern – mit einem wahren Grimm seine Serviette niedergelegt. Unter dem Vorwande der gestrigen Indigestion war er aufgestanden.

Auf dem Korridor begegnete ihm Jack, der aufwartende Neger. Der Bursche lachte ihn mit verzücktem Augenzwicken an, machte die Gebärde des Violinspielens, zuckte tanzend mit den Fußspitzen und sagte kopfnickend: Sar, schön! schön! heut morgen; Banjo in Ihrer Hand spricht gute Sprache, Sar! Mehr aus seinen Gebärden als aus seinen Worten erriet Moorfeld die Meinung des Schwarzen. Er drückte ihm beide Hände, indem er dem drolligen Gesichte gerührt, fast begeistert ins Auge sah. Aber wir haben eine Sünde begangen, Jack, fügte er wehmütig lächelnd hinzu, der heilige Sonntag verbietet's. Ach, was macht man mit eurem Sonntag hier! – Man geht zum Feuer, Sar, sagte der Neger, indem er den Ausruf für eine Frage nahm und als solche gewissenhaft beantwortete. Zum Feuer, wiederholte Moorfeld verwundert, zu welchem Feuer? – Ei, antwortete Jack, die jungen Herren von den Löschkompagnien vertreiben sich den Sonntag mit Feuerlöschen. Banjo ist Sünde, aber Feuerlöschen ist gut Werk, nicht wahr, Sar? Nun, so müssen sie doch erst Feuer anzünden, wenn sie Feuer löschen wollen, wie Sar? Moorfeld sah den naiven Logiker erschrocken an. Sie sind Brandstifter zu ihrem Sonntagsvergnügen? rief er mit starker Betonung, aber in diesem Augenblicke erdröhnten dumpfe Glockenschläge, die sich zwar von dem monotonen Getön des sogenannten Kirchengeläutes nicht unterschieden, die der entzückte Jack aber sogleich für ein Feuersignal erklärte. Mit einem lauten Freudengejubel sprang er in die Küche hinweg, fluchend auf die unzeitige Neuerung der Brandstifterpraxis, die schon so früh anfange und ihn nicht einmal an seinem Spültisch fertig werden lasse. Moorfeld ging wie im Traume auf die Straße hinaus.

Er fand am Kai schon die ersten Anfänge eines Zusammenlaufs. »Rooseveltstreet in der vierten Ward!« riefen die Begegnenden einander zu. Auf Erkundigung hörte Moorfeld, daß der genannte Bezirk am Ostflusse hege, also gerade auf der entgegengesetzten Seite der Stadt. Vergebens sah er sich rings nach einem Omnibus um, kein Fuhrwerk war irgendwo zu sehen und zu hören. Er merkte, daß auch hier der Sonntag im Spiele sei, und daß ihm als Fremden nur übrig bleibe, auf gut Glück der Richtung derjenigen zu folgen, welche denselben Weg einzuschlagen schienen. Das tat er.

Die Menge des Straßenpublikums mehrte sich mit jedem Schritt. Der hochgeputzte Neger in weißen Handschuhen und Manschetten, das zarte Phantasiestäbchen balancierend, an seinem Arme die schwarze Schöne, die im weißen Kleide mit Rosaschleifen ihren äthiopischen Teint vorteilhaft, wie sie meint, zu heben weiß, der kurze Dandy-Frack, die strahlende Uniform, die schwere Samtrobe, der wallende Federhut – das alles eilte auf einen Schauplatz voraussichtlicher Unreinlichkeit mit größtem Eifer. Dazu malte sich auf allen Mienen, selbst der elegantesten Herren und Damen, eine gewisse Freudigkeit, ja schon der Umstand, daß sie aus so weiter Ferne zu einem so alltäglichen Ereignis zusammenströmten, war bedeutungsvoll. Kurz, Moorfeld konnte unverhohlen wahrnehmen, daß die Leute die Zwangsjacke ihrer Sonntagsfeier begierig lüfteten, daß ihnen der Brand ein wahres Volksfest sei, und daß Jacks Vermutung ohne Zweifel ihre sittenkundige Gültigkeit habe.

Unter diesen Beobachtungen gelangte er an den Ort des Brandes. Aus der Tiefe der Straße, in deren Mitte seine Schritte unter dem Gedränge der Menschen kurz und kürzer wurden, flackerte eine lichterlohe Feuersäule von einem auffallend lauten Geprassel und Geschnatter begleitet; es war ein Haus von Fachwerk, ein sogenanntes Framehaus, dessen Sparren und Balken die gefräßige Flamme zusammenknirschte. Die Löschmannschaft in ihren roten Jacken, weißen Hosen und lackierten Hüten, kecke Gestalten, denen die Welt zu gehören schien, bot in ihrer Haltung einen sonderbaren Anblick von Wildheit und Eleganz. Vor allem machte sich ein junger reckenhafter Bursche bemerkbar, der gleichsam der potenzierte Ausdruck seiner ganzen Kompagnie war, über die er auch tatsächlich das Kommando führte. In ihm schien der Mut Übermut, die Wildheit Frechheit, die Eleganz Prahlerei, aber auch ein gewisser Grad von Männerschönheit war ihm nicht abzusprechen. Das ganze Unternehmen beseelte er mit seiner quecksilbernen Raschheit; den einen riß er von der Pumpe weg, den andern verdrängte er vom Schlauch, den dritten warf er von der Leiter, sein Eifer war allgegenwärtig – aber wer das Gebaren des Tollen nicht bloß begaffte, sondern ihm auf seinen Grund schaute, der merkte bald, daß seine Begeisterung entweder der Rumflasche entstammte, oder daß sie Koketterie vor dem Pöbel war, oder daß er Händel in seiner eigenen Mannschaft suchte: am wahrscheinlichsten alles zugleich. Der Anblick dieses Feuerbändigers war ganz danach angetan, als ob er sich das Feuer heimlich erschüfe, das er öffentlich bekämpfte. Wie er mit dem Brande umsprang, so schien alles an ihm zu sagen:

Ich darf ihn hassen, ich hob' ihn geboren!

Das Schauspiel hatte jedenfalls seinen Sinnenreiz. Wie die jungen Männer zwischen Rauch, Flamme und hochstrahlenden Fontänen im Wechsel der verschiedensten Stellungen ihre körperliche Geschicklichkeit entwickelten und den Kampf zwischen Wasser und Feuer gleichsam wie ein ritterliches Karussell betrieben, ohne jenen Sudel von Geschrei, Verwirrung und Unreinlichkeit, den der Europäer bei derartigen Gelegenheiten gewohnt ist, so ließ es gar wohl die angenehme Täuschung zu, man sähe eigentlich ein Spiel, eine Vorstellung der höheren Turnkunst. Auf einmal erscholl der Ruf: »Die Achter! die Achter!« Man sah aus einer Seitenstraße eine neue Löschkompagnie anrücken, und die ganze Szene veränderte sich im Nu. Der Matador, den wir zuvor beschrieben – Howland nannten ihn die Seinigen – schwang sich mit einem Satze von der Leiter, seine Kompagnie machte Front gegen jene Straße, die Zuschauer drängten sich dichter zusammen, alles deutete darauf hin, daß man diesem Zusammentreffen der beiden Kompagnien wie der eigen fliehen Handlung des Dramas entgegen sah. Der Recke Howland trat vor und rief: Willkommen, meine Herren von der achten! Die Prompteste Kompagnie zwischen den Polen, das ist ein Faktum! He, meine Freunde, brenne einer von euch einen Schwefelfaden an, die Herren von der achten wollen löschen. – Ich rate, Mr. Howland, Euer verehrlicher Kopf ist selbst ein brennendes Rumfäßchen; daran wäre zu löschen genug, rief der Kapitän der Verspotteten, und seine Kompagnie schrie das Schlagwort sogleich im Chorus nach. Löscht ihn! löscht ihn! löscht das brennende Spritlager von James Howland und Kompagnie! Und augenblicklich kam aus der Spritze der Achter ein Wasserstrahl dahergerauscht und schoß mit einer solchen Heftigkeit an Howlands Kopf, daß es den mächtigen Körper fast zu Boden riß. Der Bursche gebärdete sich wie toll und kommandierte mit einer Stentorstimme: An die Pumpe! Seine Kompagnie schöpfte, zielte und schleuderte der achten eine wütende Decharge zu. Die Mannschaften beider Parteien bombardierten sich mit dem äußersten Eifer aus ihren Spritzen. Ihre Wasserstrahlen rauschten im Bogen bald über bald unter einander hin, bald begegneten sie sich im Kernschuß und prallten gegeneinander, daß der ganze Schwall zischend zerspritzte und rings im Zuschauerkreis die kostbaren Toiletten der Damen einnäßte, welche mit lautem Gekreisch auseinanderstoben und doch immer von neuem sich zudrängten, indes die Männer mit Händen und Füßen applaudierten und hochjauchzende Zurufe erschallen ließen, um die tollen Kämpfer noch mehr zu entflammen. Inzwischen ging der achten Kompagnie ihr mitgebrachter Wasservorrat aus; sie war nun an den Brunnen des Ortes angewiesen, welchen aber ihre Gegner im Besitz hatten. Es galt einen Kampf darum. Entschlossen schoben sie ihre elegante Spritze vor, entschlossen stellte sich Howland mit den Seinigen um den Brunnen. Beide Parteien, naß wie Taucherenten, scheinen gleichwohl, den Schmiedekohlen gleich, nur angefeuchtet um desto lichter zu brennen. Rot von Kampfeshitze und überfließender Begier, ihr Blut zu kühlen, loderten die Gesichter der jungen Männer unter der Traufe des Wassers, der Augenblick, in welchem sie handgemein aneinander rückten, versprach eine stürmische Katastrophe. Da gipfelte sich der dritte Akt des Dramas von einer andern Seite her.

Mit Fahnen und Standarten und einem lauten Hurrah! als gält's einen Triumphzug, erschien eine neue Kompagnie auf dem Schauplatz. Bei ihrem Anblick geriet Howland in Wut. Es schienen seine ärgsten Parteifeinde zu sein. Wie eine wilde Katze schwang er sich auf die Feuerleiter und schrie ihnen entgegen: Was sucht ihr da in der vierten Ward? Zündet euch selbst ein Feuer an, wenn ihr eure Jungfern-Spritze einweihen wollt! Fort, fort mit euch! Zugleich ließ seine Kompagnie einen Hagel von Schimpf reden über die Eindringlinge niederregnen; man entnahm aus ihrem Geschrei, daß sie die Spritze der andern in einem siegreichen Gefecht vor kurzem zertrümmert, und jene mit Fahnen, Standarten und einer neuen Paradespritze ihnen zum Trotz heute angerückt kamen. Selbst die Achter schienen durch die Erscheinung einer fremden Kompagnie in ihrer Ward beleidigt und einen Augenblick lang geneigt, ihre Partei zu wechseln. Inzwischen waren sie, begünstigt durch die neue Diversion, Herren des Brunnens geworden, hatten ihre Spritze schnell gefüllt und richteten ihren Schlauch erst auf den hochstehenden Howland, dann aber auch auf die Köpfe seiner neuen Feinde. Diese wiederholten dasselbe Manöver, indem sie Howland von der andern Seite bombardierten, und sowohl seine als die achte Kompagnie mit einem langreichenden Wasserstrahle bedeckten. Howland, wütend wie ein angeschossener Eber, zog seinen Revolver und knatterte blindlings nach links und rechts unter seine Feinde; augenblicklich protzten und platzten die Pistoletts von allen Seiten gegeneinander, jede Kompagnie stand gegen jede, die Kugeln flogen hin und wieder, die Wasserbogen brausten auf und ab, dazu regnete es von der Höhe herab Feuerbrände, da die Flamme, schon halb gelöscht, während dieses Handgemenges neu aufflackerte. Die Zuschauer stoben entsetzt auseinander, hier rief eine Frauenstimme: ich bin getroffen! dort: ich brenne; die Männer schrien: Watch! Watch! aber Polizei ließ sich nirgends blicken. Zuletzt verließ auch Moorfeld die Brandstätte und hatte – eine amerikanische Sonntagsfeier gesehen.

Zu Hause beim Diner sagte Herr Staunton: Sie kommen vom Feuer? Nun, mein Herr, dann werden Sie bewundert haben eine der herrlichsten Institutionen unsers freien und aufgeklärten Volkes. Wo, zwischen beiden Polen, finden Sie eine Feuerwehr wie die amerikanische? Unsere Spritzen sind leicht und zweckmäßig gebaut, ihr Mechanismus ist der vollkommenste, der sich denken läßt, ihr Äußeres ist elegant wie ein Uhrgehäuse. Unsere Löschmannschaft ist die Blüte unserer Jugend, ein Elitekorps, dem keine Nation der Erde etwas Ähnliches entgegenstellen kann: auf meine Verantwortung, mein Herr, das ist ein Faktum über alle Zweifel erhaben. Diese vortrefflichen Jünglinge betrachten die Feuerwehr, was sie auch ist, als eine Schule des männlichen Mutes, der bürgerlichen Aufopferung, als eine Ritter-Akademie, in welcher die edelste aller Kriegswissenschaften gelehrt wird: der Kampf gegen das Element. Nichts gleicht ihrer kühnen Geistesgegenwart, ihrer heroischen Entschlossenheit, ihrer großherzigen Verachtung der Gefahr, ihrer Hingebung für die öffentliche Sicherheit des Lebens und des Eigentums. In Wahrheit, eine Musteranstalt unsere Löschkompagnien! Wir zeigen mit Stolz auf sie, und nächst dem Unabhängigkeitsfeste ist uns kein Tag des Jahres so lieb als der 14. Juni, der Gründungstag unserer Feuerwehr in New York. An diesem glorreichen Tage halten sämtliche Kompagnien ihren Festaufzug durch die Stadt, Deputationen aus allen Gegenden der Union schließen sich ihnen an, Musikchöre treten vor, die Straßen sind mit Blumen bestreut, die Fenster mit Teppichen behangen, die Tücher der Damen wehen, Fahnen mit schmeichelhaften Devisen flattern; in dieser öffentlichen Huldigung einer freien Nation ernten die edlen Jünglinge den einzigen Lohn ihrer uneigennützigen Bürgertugend. Es ist ein Schauspiel, mein Herr, wert, daß man um seinetwillen allein den großen Ozean durchschifft, und selbst die nächsten Sterne, rat' ich, müßten ihre Zuschauer senden, denn die Welt hat nichts Schöneres mehr aufzuweisen, es täte mir leid, wenn's nicht wahr wäre. Ich wünsche Ihnen Glück, daß Sie noch rechtzeitig zu diesem erhabenen Nationalfeste eingetroffen sind, wenigstens hörte ich alle Fremde ohne Ausnahme unsern 14. Juni als den schönsten Tag ihres Lebens preisen, und ich verkehre viel mit Fremden, das darf ich behaupten. Aber was sagen Sie zu der heutigen Probe, Herr Doktor? Sie waren erstaunt – wie?

Moorfeld erwiderte: ein ritterlicher Zug habe ihn vor allem angesprochen. In Europa sei es gebräuchlich, nur über dem Grabe eines verdienten Kriegers Gewehrsalven zu geben, höchstens erweise noch der romantische Waidmann dem letzten Röcheln eines verendenden Edelwilds diese Ehre. In Amerika aber sei es ausnehmend zart und sinnig, daß man auch das überwältigte Element mit militärischer Courtoisie behandle, und über dem gelöschten Brande, wie über einem gefallenen Helden, die Gewehre abfeuere. Ja, der Eifer für diese rühmliche Sitte ginge so weit, daß die edle Jugend dieses Erlöschen oft nicht einmal abwarte, sondern mitten im robustesten Brande Feuer gebe, und zwar auf sich selbst und das Publikum. Dieser letztere Zug habe ihm wieder heroische Bilder vor den Geist gebracht, nämlich die Fechterspiele der Römer an vornehmen Scheiterhaufen oder auch jenes aufopferungsvolle Schlachten getreuer Waffenträger am Grabe ihres Herrn, welches bei den meisten Kriegsvölkern des Altertums geherrscht habe. Nur schienen ihm die Revolver über eine ganz geringe Distanz hinaus kein sicheres Feuergeschoß mehr, so daß er glaube, die morgigen Zeitungen werden bloß von Verwundungen, nicht aber von einem eigentlichen Opfertod zu berichten haben. – Herr Staunton erblaßte, als er in dieser ganzen Lobrede von einer jener Rowdie-Schlachten hörte, welche auf dem öffentlichen Leben Amerikas mit so großer Schande lasten; Moorfeld fuhr aber in seiner ironischen Anerkennung fort: daß die Sonntags ruhe Amerikas durch diese Sonntags tätigkeit erst ihr eigentliches Relief erhalte, habe er überhaupt mit aufrichtiger Genugtuung erfahren. Es stand von den ungeheuren Energien Amerikas zu erwarten, daß das zurückgepreßte Leben auf irgendeine Weise sich zu entfesseln wisse, und zwar um so gewaltsamer, je strenger es gefesselt sei – ganz nach den physischen Kraftverhältnissen von Druck und Gegendruck. Dieses sonntägliche Kampfspiel der New Yorker Feuerwehr sei ihm daher ein schätzbarer Kommentar gewesen zu dem Briefe Paulus an die Römer XIV. 5, da er schreibt: »Welcher auf die Tage hält, der tut es dem Herrn, und welcher nichts darauf hält, der tut es auch dem Herrn.«

Das ist von allen verdammten Deutschen der verdammteste! murmelte Herr Staunton zwischen seinen eingesetzten Zähnen, als sein Gast mit einem verbindlichen Gruße vom Tische aufgestanden. –

Moorfeld aber saß in einer ernsthafteren Stimmung, als er eben gezeigt hatte, auf seinem Zimmer. Er revidierte den Plan seines New Yorker Aufenthaltes. Bekanntlich bringt ein Reisender an den Ort seiner Bestimmung irgendeine fertige Disposition mit, deren Stichhaltigkeit indes bald von den wirklichen Verhältnissen in Frage gestellt wird. Dies war jetzt Moorfelds Fall. Er hatte geglaubt, vor seiner Weiterreise nach dem Landesinneren in New York, der ersten amerikanischen Großstadt, Station halten zu müssen. Das Verständnis der hinterländischen Zustände, hatte er gemeint, könne er sich dadurch rascher und in größeren Zügen aufschließen. Ebenso hatte er durch Agentur sich Quartier in einem Privathause bestellt: das Kulturbild eines Volkes, nahm er an, könne ein Beobachter nirgends direkter studieren, als an der Quelle aller Kultur, in der Familie. Diese Voraussetzungen waren es, welche er nun noch einmal durchprüfte. Daß die Stadt notwendig die idealisierte Physiognomie des Landes darstelle, ist vielleicht, überlegte er jetzt, bloß europäisch gedacht; in Amerika möchte das Gegenteil walten. Ein Agrikulturland, wie es ist, liege sein höchster Charakterausdruck wohl eben im Lande, und die Stadt sei nur eine Pantomime, ein Nebenumstand, eine Art Pseudoplasma. In der Tat schien es ihm jetzt deutlicher zu werden, was er schon angesichts der Feuerlösch-Emeute dunkel zu fühlen geglaubt. Er hatte sich der Wildheit dieser Szene nicht rein zu erfreuen vermocht. Er hatte den gesunden, naiven Kraftdrang eines Volkes, das sich so sprichwörtlich das jugendliche nennt, in der Balgerei jener Burschen doch nicht recht durchempfunden. Er glaubte, jede deutsche Bauernschlacht weise mehr robusten Vandalismus auf; in dieser New Yorker Jugend läge vielmehr ein gewisses Etwas, das gerade das Gegenteil vermeinter amerikanischer Ursprünglichkeit sei: nämlich eine reflektierte, theatralische Frechheit, eine Emotion von matten und früh verbrauchten Kräften, die höchstens an der Nachsicht der Polizei zu einem Strohfeuer aufprasselt, wie es den Europäer vorübergehend blendet. Kurz, die Ahnung beschlich ihn, ob eine amerikanische Stadt, anstatt die potenzierten, nicht vielmehr die blasierten Elemente des Volkslebens zur Erscheinung bringe, den oberflächlichen Schaum einer reinen und gesunden Gärung, deren Prozeß sich auf andern Schauplätzen vollziehe. Was zweitens das Kulturbild von Herrn Stauntons Familie betraf, so gab sich unser Freund Mühe, mit größter Gewissenhaftigkeit darüber zu urteilen, oder besser eines vorzeitigen Urteils sich zu enthalten. So fremdartig und unerquicklich zwischen der nationalen Arroganz des Hausherrn, der steifen Würde der Hausfrau und der prätentiösen Unnahbarkeit der Tochter ihn die ersten Stunden seines Aufenthaltes anmuteten, so erlaubte ihm doch die Ehrfurcht vor allem Menschlichen noch keine Voreingenommenheit gegen diese Person. Selbst die Lebensfrage »unsers Daniel« mochte er, nach der Auslegung, deren sie zur Not fähig war, auf sich beruhen lassen. Desungeachtet glaubte er von der amerikanischen Familie so wenig wie von der amerikanischen Stadt sich versprechen zu dürfen. Auch hier ahnte er ein dem europäischen entgegengesetztes Verhältnis. In Europa betrachtet der Bürger seine Familie als den angebornen und natürlichen Beirat seiner Angelegenheiten: Europas Geschichte wird in der Familie gemacht. Anders in Amerika. Hier wehte innerhalb der vier häuslichen Wände ein so kühler Geist, daß augenblicklich erraten wurde, die eigentliche Lebenswärme der bürgerlichen Existenz entbinde sich hier auf anderem als häuslichem Schauplatze. Der Mann gehörte, wie in den alten Staaten, der Öffentlichkeit. Dort entfaltete er die Summe seiner Eigentümlichkeit, dort zeichnete er, dort individualisierte er sich. Zu Hause war er nur ein Gattungscharakter – ein guter Ehemann. Was er den Mächten des Lebens abgelistet und abgetrotzt, das legte er wie eine ritterliche Beute seinen Ladies zu Füßen, der Gattin und Tochter. Ihnen kehrte er die Bildseite seines irdischen Webens zu; das Sausen, Schlagen, Rupfen und Treten der Webearbeit blieb ihnen abgewendet. Von dem gemütlichen deutschen Stabreim: Wohl und Weh, Freud und Leid – teilte er nur Wohl und Freud mit ihnen, die andere Hälfte des Reimes verschluckte er: er hob aber alles auf, indem er den Gegensatz aufhob. Seine weibliche Familie vergötterte er, seine männliche vergaß er. Den Sohn spülte ihm der Strom der amerikanischen Freiheit schon als Knabe hinweg und brachte ihn nie wieder oder vielleicht als Associé zurück, mit dem man die Dividende – nicht der väterlichen Liebe – sondern des väterlichen Geschäftes abrechnet.

Diese Betrachtungen waren es, welche Moorfeld nicht so wohl machte, als vielmehr nicht abhalten konnte von sich. Er streckte wahrlich die Hand nicht freiwillig nach einer Erkenntnisfrucht von so herbem Geschmacke aus; aber gewisse Naturen – dichterische oder weibliche z.B. – urteilen gleichsam unwillkürlich, divinatorisch, mit der Spürkraft der Empfindung, mit der raschen Gestaltungsfähigkeit der Phantasie. Es wäre ganz vergeblich, ein solches Urteil zu unterdrücken, oder zu betäuben. Auch liegt keine moralische Nötigung dazu vor. Nur der langsame Kopf nennt es Vorurteil, der schnelle schöpferische darf es mit Recht sein Urteil nennen. Was jenem die Erfahrung ist, das ist diesem die Intuition. Beide haben in der Tat zwei verschiedene Gewissen. Ja, adoptiert selbst der Geniale das Gewissen der Langsamen und leistet er ihm, da es das Gesetz der Mehrheit ist, gleichsam aus Zerstreuung Gehorsam – er wird es nie lange tun und stets seiner eigenen Stimme vertrauen dürfen. Moorfeld konnte ihr jetzt schon mindestens nicht gänzlich mißtrauen.

Inzwischen lag der Sabbat auf der Stadt draußen wie eine eiserne Maske. Moorfeld stand in seinem Fenster und betrachtete fast bewundernd das große, allgemeine Nichts. Es kam ihm wie eine Art Kunstwerk vor, dieses Schweigen hervorzubringen. Einem Organismus wie New York eine solche Generalpause aufzulegen, schien ihm der höchste mechanische Triumph. Vor seinem Fenster flutete der Hudson, aber die Schiffe lagen darin wie eine Herde geschlachteter Lämmer. Am Himmel brannte die Sonne zwecklos, und sein weitgespanntes Blau zuckte und sprühte von Licht, aber nirgends die Staffage einer einzigen Rauchsäule! Er horchte weit und breit in die Welt hinaus – kein Wagen rollte, keine Menschenstimme scholl von der Straße. Er dachte an die Lärmszene des Brandes zurück – ein Jahrhundert schien ihm vergangen seitdem.

Er brannte sich seinen mächtigen Türkenkopf an und wanderte auf und ab in der Stube. Die Szene fing an, Eindruck auf ihn zu machen. Von Zeit zu Zeit blieb er wieder am Fenster stehen und starrte in die Langeweile hinaus. Allmählich füllt sich sein Auge mit Geistern, seine Mienen spannen sich und zeigen jenen Ausdruck, welcher verrät, daß die inneren Gedankenkreise in Fluß geraten. Ja, er hat Funken gefangen von der Langweile. Die Langweile ist ihm zum Pathos geworden. Mit jener feinen dichterischen Saugader, welche jeder Erscheinung ihren Geist aufzusaugen weiß, zieht er Leben aus der allgemeinen Leblosigkeit, Ideen aus dem absoluten Stillstande. Das Riesenhaupt der Meduse draußen versteinert ihn nicht, er ist's, der in ihre Züge die Seele wirft. Mit großen Blicken die große Leerheit durchbohrend, sagt er ihr folgendes:

Das Universum stockt und starrt,
Kein Puls des Lebens geht;
Die Welt probiert, wie die Vernichtung
Ihr zu Gesichte steht!

Ja, ja, ich seh' ein Leichenfest;
Ein zweiter Souverän
Geht hinter seinem leeren Sarg
Mit Sterblichkeitsgestöhn.

Gib acht, gib acht! du parodierst
Nicht ungestraft des Todes Mächte;
Der falsche Sarg geht vor dir her,
Doch auf dem Fuß folgt dir der rechte!

Es setze sich kein Mensch die Sphinx
Vor seines Lebens Pyramide –
Die ausdruckslose Ewigkeit
Mit schlaflos-totem Augenlide!

Der Nil versumpft, der Sand dringt vor,
Ruinen seh' ich rings
Und Memphis, Sabbat, Pfaff und Volk
Verschlang die graue Sphinx. –

Laßt ab! ihr nietet allzu fest
Das Nicht-Sein an das Sein;
Malt mir ins Leben keinen Zug,
Den euch Gespenster leihn. –

Der Dichter liebt ein Volk, das kühn
Religionen überlebt;
Nicht liebt er die Religion,
Die sitten-starr ein Volk begräbt.

Wir haben uns nicht enthalten, diese Verse mitzuteilen; sie schienen uns besser, als wir's beschreiben möchten, die eigentliche Puritanerlust, in der sie empfangen sind, zu versinnlichen. Mit schroffer, liebloser Kürze berührt das Lied schwere Gedanken, ohne sie auszuführen, deutet sie an, springt ab, winkt in entfernteste Perspektiven, ohne sich im geringsten aufzuhalten, ob wir rasch genug das Entfernte verbinden, bekümmert sich wenig um Verständnis, noch weniger um Zierde. Der Poet macht ein paar Schaufelstiche in das campo vaccino seiner Gedanken, wir hören die Torsos klingen, sehen sie aber nicht ausgraben. Sie bleiben liegen. Es ist ja Sonntag!

Und so vollbrachte der Europäer seinen ersten amerikanischen Sonntag.


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