Ernst Kratzmann
Die neue Erde
Ernst Kratzmann

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Die Ernte ist vorbei – wir konnten dem alten Kröling unsere Schuld abtragen und auch einen Betrag in die Gemeindekasse einlegen. Ich gehe über unsere Felder und Weiden und fühle eine ungeheure Kraft in mir schwellen. Daß dies alles, dies weite Land, das wir mit jedem Jahr mehr aufschließen, fruchtbarer machen, nun ganz und gar uns gehört! Es ist mir, als sei der Boden fester geworden unter meinem Schritt . . . Die quälenden Sorgen der letzten Jahre sind von mir abgefallen, ich kann mich wieder frei aufrichten. Wir haben eine kleine Scheune gebaut, einen gemeinsamen Speicher. Darin wird von nun an immer ein Teil der Ernte zurückbehalten – als letzter Rückhalt für ein Notjahr, das uns etwa beschieden sein sollte – damit niemand auf Neulandhof hungern muß.

Am meisten habe ich mich in den letzten Monaten vielleicht darüber gefreut, daß Frank, der ehemalige Sträfling, sich gut 348 bewährt. Ich habe ihn selbst in meinen Hof genommen, um ihn ständig unter den Augen zu haben. Die ersten Wochen war er schweigsam und verschlossen, fast mürrisch abweisend. Ein wilder, verbissener Trotz war in ihm, als wolle er es uns alle entgelten lassen, daß er, einmal ein ehrlicher Mensch, aus Not zum Dieb habe werden müssen und im Gefängnis gesessen sei. Ich sagte ihm, daß außer mir und dem Oberst niemand darum wisse.

»Das ist auch genug«, knurrte er bissig. Aber er arbeitete fleißig, und als die Ernte kam, seine erste Ernte, ging mit ihm eine wahrhafte Verwandlung vor. Ich sah ihn oft, noch vor dem Schnitt, draußen auf den Feldern stehen und die vollen Ähren langsam durch die Finger ziehen. Und als es zum Schnitt kam, und Hinrichs ihm das Garbenbinden auftrug, das auch keine leichte Arbeit ist und gelernt sein will, bat er, selbst mähen zu dürfen. Mit zusammengepreßten Lippen, die Augen starr vor sich in die gelbe Flut der Halme gebannt, alle Muskeln des Leibes gespannt, um nur ja nichts zu verfehlen und die Sense nicht aus der Hand legen zu müssen, tat er das ungewohnte Werk und tat es nicht schlecht, so daß Hinrichs zu Mittag, als Frank, totmüde, kaum mehr aufrecht stehen konnte, ihm in seiner kargen Art zunickte und ein paar gute Worte sagte. Hinrichs versteht es, mit Frank umzugehen. Denn viel Reden wäre bei ihm fehl am Ort. Und als wir zum Mittagsbrot unter einer Birkengruppe rasteten, über uns die wehenden Zweige und das durchsichtige Himmelsblau, als Inge und Friedgert herauskamen und uns das Essen und frisches Wasser brachten, war es mir ein fast rührender Anblick, wie Frank – das erstemal eigentlich, seit er bei uns ist – ohne Scheu, mit dem Gefühl, es redlich verdient zu haben, zugriff und eine gewaltige Menge Speis und Trank vertilgte. Danach zündete er sich die Pfeife an, schlief ein wenig, wie wir alle, und stand dann wieder mit der Sense hinter Hinrichs, Schritt für Schritt in das gelb wogende Meer vordringend. Ich glaube, diese Ernte hat den Mann geheilt und gerettet. Seither ist sein Wesen offener und freier geworden. 349

Bei der Herbstaussaat ging er zuerst unschlüssig neben mir her, immer auf meine Hand starrend, die das Korn auswarf über die neu bereiteten Schollen. Bis er endlich, mit heiserer Stimme, gesenkten Blicks, die Bitte hervorstieß, auch säen zu dürfen – nur ein kleines Stück. Ich gab ihm wortlos den Schurz mit dem Saatkorn und ließ ihn gewähren. Und wie früher, bei der Ernte, tat er nun wieder ängstlich gewissenhaft die Schwünge der Hand, ungeschickt anfangs, bald aber, nach einigen hundert Schritt, mit zunehmender Fertigkeit. Am Ende des Ackers sah er mich fragend an. Ich nickte ihm ernst zu, ohne ein ermunterndes Lächeln, das er nicht vertragen hätte, weil er es für gönnerhafte Nachsicht gegenüber dem armen Sträfling genommen hätte – er machte zum zweitenmal den Weg übers Feld. Ich gab ihm noch ein paar Weisungen – dann ging ich weg und ließ ihn allein . . . Seither ist es, als sei ein drückend schwerer, grauer Mantel von seinen Schultern abgefallen, als habe er mit einmal den gebeugten Rücken aufgerichtet und stünde frei vor uns, könne uns offen und grade ins Auge sehen. Der Dienst an der Erde erträgt keine Unehrlichkeit und Halbheit; wer ihn gut verrichtet, ist damit zum ganzen Menschen geworden, an dem kein ernstlicher Fehl mehr sein kann. Lumpen, wie es unsere entlaufenen Knechte waren, treibt es von selbst vom Acker weg.

 

Der kleine Giers Hammer gedeiht und ist uns Freude und Glück. Und oft, wenn ich Inge im Obstgarten sitzen sehe, wie sie das Kind an der jungen Brust hat, überkommt mich tiefe, selige Rührung und ein heißer Dank, daß mir dies noch beschieden ist. Und zumal zur Erntezeit war es so: in vollen Schwaden sinkt vor den blitzenden Sensen das Korn, das uns Nahrung und Kraft gibt, auf den Wiesen weidet das Vieh, ein paar Kälber sind dabei. Und im Schatten der Bäume sitzt Inge, Sonnenkringel spielen ihr übers Haar, sie hat das Gesicht ein wenig gesenkt und sieht mit leisem, träumendem Lächeln auf das Kind, das die Milch ihrer Brust in sich eintrinkt, Leben und 350 Gedeihen aus ihrem spendenden Leib empfängt. Es ist alles ein großes Sinnbild.

Dr. Mertens hat uns zur Namensgebung des kleinen Giers Dürers Madonna am Wiesenzaun geschenkt, ein altes Originalblatt. Da sitzt die junge deutsche Mutter draußen im Freien, längst nicht mehr das fremde, jüdische Weib aus Palästina-Syrien-Ägypten. Nicht mehr die geheimnisvolle, fremde Jungfrau-Mutter, vielmehr das junge Weib unseres Blutes und Stammes. Hätte der Fremdglaube aus dem Osten sich je unseres Volkes bemächtigen können, wenn nicht unsere kindfrommen Meister seit je ihr bestes Können darauf verwendet hätten, ihn in deutsches Fühlen einzukleiden, so daß die große Menge den fremden Wesenskern gar nie bemerkte . . .?

 

So geht es jetzt schon wieder tief in den Herbst. Ich habe unsere Siedler dahin vermocht, daß jeder, der mit Mehl oder Kartoffeln in die Stadt fährt, bei der Rückkehr Backsteine mitnimmt. So bekommen wir langsam so viel zusammen, daß wir die Mauern des Weihemals, die nur unten aus Findlingsblöcken geschlichtet sein sollen, in den oberen Teilen aus Backsteinen mauern können. Zuerst wollen wir den großen Turm fertigstellen, um dort die Orgel einzubauen. Nun, da wir den Boden eigen nennen, auf dem wir leben, wird es in Zukunft leichter werden, auch Kriehuber und Herbert das Nötige zu bewilligen.

Ich habe eine kleine öffentliche Bücherei angelegt. Einfache, leichte, aber gute Bücher für unsere Bauern, die im Winter doch manche müßige Stunde haben; daneben auch ernstere, schwierigere Werke, für die sich vielleicht auch ein Leser finden wird. Ebenso politische Schriften. Das Buch Hitlers, das im Sommer erschienen ist, ist natürlich auch dabei.

Nun der Winter sich wieder über die Heide gelegt hat mit einem dünnen Mantel von Schnee, darunter die Herbstsaat friert, kommen die Bauern, bald der, bald jener, und suchen mit ungeschickter Hand unter den Büchern, von denen sie 351 glauben, daß sie nur da seien, die lange Zeit eines Wintertages zu kürzen mit müßig erfundenen Geschichten. Ich berate sie bei ihrer Wahl und möchte ihnen langsam klarmachen, daß in den Büchern eine Welt lebt, ebenso wirklich wie die des äußeren Seins, ebenso bedeutungsvoll, ja noch schwerer an Gewicht, weil aus ihr unser Tun und Wollen Richtung und Sinn empfängt.

Auch Kögemann ist gekommen . . . Am Poggenpfuhl ist gähnende Langeweile eingekehrt. Der junge Landwirt hat nichts anderes zu tun, als die Hühner zu betreuen und nach seinen zwei Ziegen zu sehen – und das ist eigentlich die Arbeit des Knechtes. Frau Malchen kocht und wischt mit dem Staubtuch über den neuen Hausrat, auf dem kein Staub liegt. Und dann sitzen die zwei Leute einander gegenüber und wissen nicht, wie sie den Tag umbringen sollen. Nicht einmal das Eine haben sie für sich, das jungen Menschen, und seien sie auch noch so leer, in der ersten Zeit ihrer Ehe doch wenigstens den flüchtigen Schein von seelischem Leben und Gehalt vorspiegelt, denn dies Eine haben sie wohl, wie das ja heute zur Sitte oder Unsitte geworden ist, schon längst voll Hast und Ungeduld vorgekostet und genossen. Es ist eben so, daß solche Leute tun können, was sie wollen – es schlägt immer ins Nichts aus. Wenn zwei Menschen, zwei wirkliche, ganze Menschen, einander vor der Ehe angehören und sich gegenseitig alles schenken, wessen sie fähig sind nach Seele und Leib, so ist es nur gut und recht, und die Heirat ist dann bloß vor den Menschen ein für sie selbst recht unwesenhaftes Siegel des längst geschlossenen Bundes. Tun aber ein Kögemann und ein Malchen so, aus schaler Neugier, aus dem Reiz des »Verbotenen« heraus, und im Sinnenkitzel nach einem Barbesuch, so nimmt es ihnen nur, was später einmal, in der ersten Zeit des ständigen Beisammenseins, sie doch mit einem staunenden, heimlichen Glück hätte erfüllen, ihnen vielleicht sogar etwas wie Liebe und gegenseitiges Nahesein hätte bescheren können. Das bißchen Zauber und Farbenschmelz, das noch auf der ärmsten Sinnenliebe liegt, ist abgestreift und vertan. 352

Frau Kögemann hat den brennenden Wunsch nach einem Auto oder doch zumindest nach einem Motorrad, um, sooft die Langeweile allzu unerträglich geworden, rasch in die Stadt flitzen zu können, ins Kaffeehaus, in die Tanzdiele. Zu einem Auto reicht es nicht – aber zu einem Motorrad haben es die Beiden doch, mit Hilfe der Eltern Malchens, gebracht.

Das Glück dauerte allerdings nur wenige Wochen. Dann kam eines Morgens gegen sechs Uhr Kögemann atemlos gelaufen – der kalte Schweiß stand ihm auf der bleichen Stirn – und bat um schnelle Hilfe: seine Frau liege mit gebrochenem Bein an der Straße, das Motorrad gänzlich zerschlagen neben ihr . . . Sie waren in Dunkelheit und Nebel gegen einen Baum gefahren. Daß sie beide, auf der Heimkehr nach einer durchtanzten Nacht, angeheitert waren, konnte ich mir denken, auch wenn es Kögemann verschwieg. Er selbst fürchtete, ein paar Rippen gebrochen zu haben . . .

Ich sagte ihm derb meine Meinung und verhehlte nicht meine Freude, daß es ihnen so ergangen sei. Dann ließ ich einen Wagen anspannen und fuhr mit Kögemann, der schwere Schmerzen litt, zur Unfallstelle. Wir fanden Malchen, halb erfroren, mit verzerrtem Gesicht; bei unserer Ankunft begann sie zu weinen und laut zu jammern. Während Klas das Stroh und die Kissen auf dem Wagen zurechtmachte, konnte ich nicht umhin, auch ihr ein gehöriges Maß Grobheiten zu sagen. Da fuhr aber Kögemann auf: es sei eine Roheit, einer schwerverletzten Frau noch Vorwürfe zu machen, statt ihr zu helfen.

»Schweigen Sie, Herr Kögemann! Ich glaube, ich helfe Ihnen beiden zur Genüge. Und meine Grobheiten habt ihr beide redlich verdient. Wenn dieser Unfall euch nicht endlich zur Vernunft bringt, wäre es am gescheitesten, ihr packtet eure Siebensachen und ginget in die Stadt! Dort könnt ihr dann auf den Tanzdielen und in den Bars euer inhaltsloses Leben hinschleifen, bis ihr für den Gashahn reif seid! – Pack an, Klas!«

Wir hoben die Klagende aufs Stroh, deckten sie warm zu 353 und fuhren langsam, fast im Schritt, nach der Stadt. Dort stellte sich heraus, daß Frau Kögemann tatsächlich einen Splitterbruch des linken Unterschenkels erlitten hatte, der vermutlich eine dauernde Verkürzung des Beines zur Folge haben wird, während Kögemann selbst zwei Rippen gebrochen hatte . . .

Ich suchte Inges Mutter auf und bat sie, den Kranken Bücher zu bringen. Vielleicht fanden sie jetzt, wenn überhaupt, den Weg zu einer inneren Welt.

Allerdings – in ein leeres Gefäß kann Inhalt kommen; aber es gibt auch Hohlräume, die nichts fassen können – etwa ein Sieb . . . Und fast fürchte ich, daß die beiden solche Siebe sind . . .

 

Als ich nach etwa zwei Wochen wieder in die Stadt kam, fand ich das Ehepaar Kögemann in seltsamer Verfassung. Die Eltern, besonders die der Frau, saßen täglich jammernd und wehklagend bei ihnen, beweinten die fürs ganze Leben entschwundene Schönheit und Anmut der Tochter, verwünschten die verrückte Idee, »am Ende der Welt« sich anzusiedeln, und stellten endlich, jeden Tag von neuem, den Unfall als sichtbare Strafe Gottes für die unchristliche und heidnische Art der Eheschließung hin, mit der sie ja nie einverstanden gewesen wären. So verstörten sie den Sinn der Tochter nur noch mehr, überhäuften Kögemann mit Vorwürfen und taten, wie die meisten Eltern, alles nur Erdenkliche, was den Kindern schädlich und untragbar sein mußte. Wie ich denn überhaupt die Erfahrung machte, daß die eigenen Eltern in der Regel am wenigsten wissen, was ihren Kindern not ist, seien es nun kleine oder gar große Kinder. Fast nirgends herrscht ein so grundsätzliches, ich möchte sagen, organisches Nichtverstehen wie zwischen Eltern und Kindern. Wenn es nun so ist, daß die Jungen recht gewachsen sind und sich von der törichten und falsch gerichteten »Liebe« der Eltern einfach freimachen, eigene Wege gehen, ist es noch gut; schlimm wird es erst, wenn sie in mißverstandenem »kindlichen Gehorsam« sich 354 von den Alten immer weiter beeinflussen und gängeln lassen und so weder ein Leben nach alter Art leben – denn das können sie nicht mehr, noch eines nach eigener Weise – denn das getrauen sie sich nicht.

Ich war außerhalb der üblichen Besuchszeit gekommen und fand die Kranken allein. Frau Malchen sah elend aus, verhärmt und vergrämt. Heinz war ja längst wieder so weit, daß er ausgehen konnte. Zu meiner Freude begann er, vor seiner Frau, eine heftige Anklagerede gegen die beiden Elternpaare, warf ihnen ihr albernes und geradezu sträfliches Benehmen vor, das seine Frau an den Rand der Verzweiflung gebracht habe.

»Statt sie auf jede Weise zu trösten und aufzurichten, ihr über die schwere Zeit hinwegzuhelfen, überhäufen sie uns mit Anklagen, malen uns die Zukunft in schwärzesten Farben. Ich werde Gott danken, wenn Malchen so weit ist, daß wir wieder hinaus nach Neulandhof fahren können . . . Hier ist das einfach nicht mehr auszuhalten . . .«

»Und was sagen Sie dazu, Frau Kögemann?«

»Heinz hat wirklich vollkommen recht«, klagte sie.

Nun, das war ja alles erfreulich. Ich sah mich ein wenig im Krankenzimmer um: es lagen tatsächlich ein paar Bücher da, gerade jene, die ich durch Inges Mutter den Kögemanns in die Hände spielen ließ.

So redete ich denn eine Stunde lang wie ein Pfarrer – aber wie einer des neuen Glaubens! – und hatte die Freude, das ratlose Ehepaar sichtlich aufatmen zu sehen. Beim Abschied baten sie mich beinahe händeringend, doch bald wieder zu kommen und sie hinaus in die Heide zu holen . . .

Kögemann ging mit mir in die Stadt. Wir saßen eine Weile im Kaffeehaus und dort entlud sich sintflutartig sein ganzer Groll. Ich hatte den jungen Menschen noch nie so leidenschaftlich und empört gesehen und ließ ihn, innerlich lachend, äußerlich mit ernst teilnehmender Miene, toben und wettern. Schließlich sagte ich ihm: 355

»Was Sie jetzt erleben, ist der uralte Zwiespalt zwischen alter und junger Generation. In Zeiten, die durch Jahrzehnte hin sich gleich bleiben, keinerlei Wandlung der Weltanschauung, der Gesellschaftsordnung, der Stellung zum Leben kennen, taucht diese Frage nie auf. Die Kinder sind dann wie die Eltern, die Eltern wie die Großeltern – alles fließt glatt und reibungslos dahin, es herrscht eitel Liebe und Eintracht zwischen den Generationen. So eine Zeit war etwa die von 1860 oder 1870 bis zum Krieg. Anders aber unsere Gegenwart. Alle Maßstäbe haben sich verändert, verschieben sich noch jeden Tag. Was gestern Sünde, ist heute recht; was gestern selbstverständlich, ist heute Torheit. Nun stehen die Alten vor der Entscheidung, die Kinder in ein Leben zu führen und zu pressen, wie es das ihre war – sie also für die neue Zeit untauglich zu machen, sie zu Zerrissenen, Halben, Unglücklichen zu machen, obwohl sie es gut mit ihnen meinen – oder sie nach ihrer, der neuen Weise, gewähren, also nach Ansicht der Eltern: sie ins Verderben rennen zu lassen. Nur ganz wenige Menschen sind imstande, das Zweite zu tun und dabei einzusehen, daß es notwendig, richtig und gut ist. Dazu gehört eine gewisse Seelengröße, Weitblick, Klugheit und auch Bildung, Seelenbildung vor allem –«

»– die meine werten Schwiegereltern alle nicht besitzen«, warf Kögemann bissig ein.

»Allerdings! Daraus folgt für die Jungen: so zu handeln, wie sie es vor dem eigenen Gewissen verantworten können und die Alten durch die Tat zu überzeugen, daß sie, die Jungen nämlich, im Recht gewesen sind, ihr Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten . . . Aber ihr Jungen von heute könnt einem ja leid tun: vom Krieg habt ihr höchstens das letzte, erbärmliche Ende erlebt, das euch nur zermürbt und zerbrochen hat; so seid ihr in den Jammer der Gegenwart hineingetaumelt, ohne die eiserne Zucht des Krieges, die uns Alten geworden ist – ihr lebt, weil ihr zufällig geboren seid, wißt nichts von den Fragen und Rätseln, nichts von den Forderungen des Lebens und treibt 356 hin wie ein Stück Holz auf dem Wildwasser eines Flusses . . . Ihr steht da, innerlich haltlos, äußerlich führerlos . . .«

Kögemann schluckte ein paarmal, dann stieß er mit etwas heiserer Stimme hervor:

»Und wollen Sie mir – uns, nicht ein solcher Führer sein, Herr Doktor . . .?«

Ich sah in seine ratlos bangen Augen, die etwas feucht schimmerten: er mußte viel mitgemacht haben in den letzten Wochen . . . Ich sagte mit leichtem Lächeln:

»Haben Sie noch nicht bemerkt, daß ich das von allem Anfang zu sein versuchte?!«

Er wurde leise rot. »Ja, schon . . . aber ich dachte, Sie hätten vielleicht – die Geduld verloren . . .«

»Das geht bei mir nicht so schnell . . . Und nun, Kopf hoch – werfen Sie ihre jammernden und Gottes Strafgericht beschwörenden Eltern und Schwiegereltern hinaus, trösten Sie Ihre Frau, und in ein oder zwei Wochen fahren wir hinaus – auf neue Erde! Ich halte allen Ernstes Ihren Unfall für eine gütige Schickung Gottes! Wenn Ihre Frau vielleicht auch ein wenig hinken wird – es gibt Schuheinlagen! Ihre Seele aber wird in Zukunft gerade und gesund sein – und das ist wichtiger, denke ich!«

Damit ging ich und begab mich in den Buchladen, um Inges Mutter für ihre gute Arbeit zu danken und ihr neue Weisungen für meine Kranken zu erteilen.

 

Noch ehe die beiden Kögemanns wieder zu uns herauskommen konnten, erlebten wir alle die ganze Niedertracht jenes Verbrechertums, das sich Kommunismus nennt.

Vor wenig Tagen, gegen Mitternacht, wurden wir durch Hassos rasendes Gebell aus dem Schlaf geschreckt. Ich fuhr in die Stiefel und Kleider, warf den Mantel über und packte die Pistole. Im Flett schlug mir Brandgeruch entgegen – im Stall war wilder Lärm, die Hühner vollführten ein tolles Gegacker. 357 Schon kamen auch Hinrichs und Klas und Frank gestürzt. Hasso drängte zum Tor – draußen hörte ich jemand laufen – in mächtigen Sätzen schwand Hasso in der Nacht.

Ich sah, daß der Brand leicht zu ersticken sei. »Löscht das Feuer – Hinrichs, Klas, ihr bleibt im Haus – Frank, Sie kommen mir nach, wenn keine Gefahr mehr ist. Ich muß den Schuft erwischen!«

Damit lief ich hinein ins Dunkel, Hassos Gebell wies mir den Weg. Er schien den Banditen gestellt zu haben – jetzt blitzte es weit vor mir auf, zwei-, dreimal, dann kam der Knall von Pistolenschüssen . . . Gottlob, Hasso bellte weiter, er war nicht getroffen! Wenn mir der Schuft den Hund tötete – ich hätte ihn kalt gemacht!

Ich rannte keuchend weiter – es ging in das Torfmoor, gegen den Bruch. Gut so – da gab es kein Entrinnen für einen, der nicht jeden schmalen Weg noch im Schlaf kannte.

Mit einmal – ein rasendes Gebrüll – ein Schuß, noch einer – Hilfegeschrei – ich erkannte die Stimme Wagners . . . Wer anders hätte es auch sein können . . .

In diesem Augenblick sah ich nach links, gegen Mertenshof hin – eine steile Flamme schoß ins Dunkel empor . . . Nein, es war nicht der Hof – es mußte unsere Gemeindescheune sein . . .

Ich kam auf weichen Grund – sprang hastig zurück – ein paar Schritt weiter, und ich war im Sumpf. Ich schrie nach Hasso – er gab Laut, ich rief und pfiff nochmals – jetzt kam er aus dem Dunkel vor mir, keuchend in wilder Erregung, wollte mich fortlocken. Ich tastete ihn ab – er ließ keinen Schmerzenslaut hören. Vor mir tönte wieder das Geschrei Wagners:

»So helft mir doch, ihr Kanaillen – Hilfe, Hilfe – ich ertrinke – verfluchte Bestien –«

»Verrecke im Sumpf, Mordbrenner du, das verdienst du!«

Seine Stimme überschlug sich in Todesangst, er brüllte, heulte, winselte. Dann blitzte wieder ein Schuß auf – ganz nah. 358

In seinem Schein war mir, als sähe ich den Kerl – bis an die Schultern im Sumpf steckend.

Nun, da war nichts zu wollen. Allein konnte ich ihn nicht herausziehen. Er sollte nur hier im Gewahrsam des Morastes bleiben, bis wir ihm helfen konnten. Und sollte mit seiner Todesangst ein wenig für sein Verbrechen büßen. Das bißchen Kerkerhaft nachher war für ihn ja keine Strafe.

Ich ging rasch zurück. Jetzt kamen ein paar Lichter durchs Dunkel geschwankt, Laternen. Drüben, die Scheune, brannte loderloh. Aber ich sah Schatten ums Feuer – man schien bereits zu löschen.

Hinrichs und Frank kamen gelaufen. Zu dritt eilten wir nach dem Haus, eine Leiter zu holen, mit der man sich auf den Sumpf wagen konnte. Das Feuer war, wie Hinrichs erzählte, am Dachrand gelegt worden – eine Strohgarbe war dort in Brand gesteckt worden. Mit ein paar Kübeln Wassers war sie gelöscht.

Wir eilten mit der Leiter nach der Stelle, wo Wagner steckte – ich fand sie nicht mehr. Hasso suchte die Spur, blieb stehen und bellte ins Dunkel hinein. Wir riefen – keine Antwort . . .

»Die Bestie ist uns entkommen«, knurrte Frank.

»Der Sumpf gibt keinen mehr her«, brummte Hinrichs.

Wir schoben die Leiter hinaus – Frank ließ es sich nicht nehmen, mit der Laterne hinauszukriechen, indes wir die Leiter gegen den festen Boden gedrückt hielten.

»Da ist das Schwein!« rief Frank. »Er ist verreckt! Es schaut nur mehr eine Hand heraus . . .«

»Anbinden! Er versinkt sonst ganz!«

Frank band mit dem Hosenriemen die Hand der Leiche an der Leiter fest. Dann kroch er zurück.

»Der hat sein Teil weg«, bemerkte Hinrichs trocken.

»Er ist dort, wo er hingehört – im Sumpf«, fügte ich bei.

Nun liefen wir zurück, ich beruhigte Inge, die voll Angst uns entgegengegangen war, dann eilten wir zur Brandstelle. Dort hatten sich vom Eichhof und Mertenshof fast alle eingefunden. 359 Die Scheune war beinahe vollständig niedergebrannt – vielleicht konnten noch wenige Säcke Mehl und Hafer unter den Trümmern brauchbar geborgen werden.

Die fünf Knechte, die damals reuig zurückgekehrt waren, hatten beim Löschen geholfen. Ich erzählte das Ende Wagners; sie standen stumm mit gesenktem Kopf. Ich schloß meinen Bericht:

»Daß dieser Schuft meinen Hof anzuzünden versucht hat, ist nicht einmal das Schlimmste: das war persönliche Rache; aber daß er die Gemeindescheuer vernichtet hat – damit hat er allen deutlich gezeigt, was Kommunismus ist und will: Vernichtung, Zerstörung – nichts anderes . . . Und nichts als das haben wir zu erwarten, wenn diese Schufte siegen sollten . . .«

Nun galt es, in die Stadt zu fahren, Anzeige zu erstatten. Es erschien eine Gerichtskommission, verhörte alle Beteiligten, zog Wagners Leiche aus dem Sumpf und verschwand mit ihr. Ich war sehr froh, daß ich nicht verhaftet wurde, weil ich dies kostbare Leben »in den Tod gehetzt« hatte . . .

 

Knapp vor dem Sonnwendfest holte ich die beiden Kögemanns aus dem Spital. Sie waren allen Bitten und Beschwörungen ihrer Eltern gegenüber taub geblieben, die unbedingt verlangten, daß die Jungen wenigstens noch Neujahr bei ihnen zubringen sollten. Besonders nach dem Vorfall mit Wagner waren sie völlig aus dem Häuschen und zeterten täglich, daß »man in einer so gottverlassenen Gegend eben nicht wohnen könne«. Aber die Jungen hatten keinen andern Wunsch mehr als den nach Ruhe und Alleinsein. Sie sehen beide nicht zum besten aus, besonders die Frau ist kaum wieder zu erkennen. Das leere, fade Puppengesicht ist ernst und vergrämt geworden, fast möchte man sagen: es hat Inhalt bekommen . . .

Das Bein ist tatsächlich etwas kürzer geblieben, sie hinkt ein wenig. Kögemann ist voll Reue und macht sich die schwersten Vorwürfe über seinen Leichtsinn. Aber ich sagte den beiden:

»Nicht, daß Sie gegen einen Baum gefahren sind – 360 wahrscheinlich in etwas bezechtem Zustand – ist Ihre Schuld! Sondern daß ihr beide in eurer hohlen Vergnügungssucht alle Augenblicke in die Stadt fahren mußtet, um dort eure innere Leere auf den Tanzdielen zu betäuben – das ist eure Schuld – beider Schuld . . .«

Sie ließen die Köpfe hängen und schwiegen. Aber dann kam auf der langen Fahrt durch den Nebel doch wieder ein Gespräch in Gang. Es dämmerte schon merklich, obwohl es kaum über Mittag war. Die weiße Wand ringsum machte uns einsam, schloß uns ab von der Welt. Sie gab den zwei jungen Menschen, die aus einer schweren Prüfung zurückkehrten in ein Leben, vor dem sie geflüchtet waren, den Mut zu Rede und Bekenntnis. Es war, als seien wir drei, die auf dem Bauernwagen allein dahinfuhren zwischen Nebelwänden, vorbei an schattenhaft aus dem Weiß herdämmernden Büschen und Bruchwäldern, als seien wir keine wirklichen Menschen mehr, nur noch Sinnbilder und Gleichnisse: die Suchenden – der Ratende. Vielleicht auch: der Führende.

Denn in den langen Wochen der Krankheit, der Schmerzen und Reue, des Ansturms törichter Menschen gegen einen letzten inneren Halt, hatten die beiden zum erstenmal im Leben erkannt, daß dieses Leben nicht die einfache, selbstverständliche und gleichgiltige Sache war, wie sie bisher geglaubt – mit einmal starrten ihnen allenthalben Fragen, Rätsel und Probleme entgegen, deren Lösung sie in kindlicher Unbeholfenheit versucht hatten, bis sie verzagt es aufgegeben. Aber nun fragten sie mich und ich bin glücklich, daß sie überhaupt fragen gelernt haben. Manchmal erinnerten diese Fragen an die eines Kindes, das wissen will, warum das Wasser naß und das Feuer heiß ist. So mußte ich sie in Vielem auf später vertrösten. Zunächst aber habe ich sie, als ich sie vor ihrem Haus absetzte und sie mit stillem Dank mir die Hand reichten, ihrem eigenen Schicksal übergeben, das nun in eine neue Bahn treten wird. Denn dieser Heinz Kögemann, eine Nummer Mensch unter Millionen, hat einmal gedankenlos jenes 361 Malchen geheiratet, weil es ihm gerade zufällig über den Weg lief und sein gleichgiltig fades Puppengesichtchen genau so geschminkt und frisiert war wie Millionen anderer auch; er nahm sie, wie er jede beliebige andere auch hätte nehmen können, und wußte dann nichts mehr mit ihr anzufangen – sie nichts mit ihm.

Nun aber steht eine Schuld zwischen den beiden. Die gemeinsame und darüber seine eigene allein, die Schuld an ihrem Unfall, der ihr die geraden Glieder kostete. Und aus dieser Schuld wird ihnen beiden – eine Seele erwachen . . . Denn für viele Menschen führt der Weg zur Seele erst über Schuld und Reue . . . Vielleicht gilt das irgendwie für uns alle. Vielleicht liegt darin ein Sinn des abgründigen Wortes Meister Eckeharts: und so Gott meine Sünde wollte, werde ich nicht wollen, daß ich nicht gesündigt hätte . . . Denn daß wir unserer Seele und ihres Antlitzes gewahr werden, müssen wir uns im Weltspiel üben und tummeln; und wie vermag das ohne Schuld abzugehen? Aber die Wegmale der Schuld führen uns schneller und inniger in unseres Wesens Kern als Freude und Glück, die uns nur zu leicht von uns selber ablenken, uns einschläfern und betäuben . . .

So sagte ich den beiden, vor dem Tor ihres Hauses noch, jenes Eckehartswort, und fuhr davon, ins Dunkel hinein, nach meinem Hof. Ich glaube, in dieser Nacht ist in dem einsamen Haus am Poggenpfuhl zum erstenmal Liebe heim geworden . . .

 

Nun haben wir auf Ulenhöh alle zwei Wochen Abendmusik. Vorerst nur leichte Sachen von Haydn oder Beethoven, denn Heideckes Cellokunst ist noch recht mangelhaft. Doch der Junge übt jetzt, wo er Zeit hat, als wollte er sich zum Virtuosen ausbilden. Aber wenn Kriehuber und Herbert ein paar Geigensonaten spielen, kann sich das wohl hören lassen. Wir alle, die jahrelang sich nach Musik sehnten, sind glücklich, daß wir nun in unserer weiten, ewigkeitsflutenden Heide wieder mit Bach und 362 Mozart, mit Reger und Beethoven Umgang halten dürfen. Mertens und Janssen sind immer da, und auch die beiden Kögemanns . . . Die sitzen mit seltsamen Gesichtern: es ist ein ständiges Verwundern darin, ein Staunen über all dies Viele, von dem sie bislang nie gehört, obwohl sie sich doch für so gescheit gehalten. »Glauben Sie, daß Mozart und Schubert für eine alberne Nichtigkeit, für ein bloßes Musikmachen zum Zeitvertreib, ein Leben der Not und des Jammers ertragen hätten, eine Welt, die sie einfach verhungern ließ, wenn diese Musik nicht mehr wäre als alles, was uns der Geschäftstag und unsere schale Betriebsamkeit je geben können? Wenn die Kunst nicht das Unterpfand des Göttlichen wäre? – Und da – sehen Sie sich dies Gesicht des alten Rembrandt an, dies von Leid und Qualen aller Art gezeichnete, von Trunk und Grauen entstellte Gesicht: das war ein Mensch, den die strahlendste Sonne mit allem Glück überströmte und die Nacht in schauerlichste Tiefen stürzte, aus denen er das letzte Licht seiner Seele in den größten, innersten Bildern als letztes Bekenntnis sich abrang . . . Das war der Mensch, der alles, aber auch einfach alles, was bei uns je gedacht, gelitten, gewollt, geschaffen wurde, in einer kleinen Radierung mit drei einsamen Bäumen gesagt hat . . . Wenn Sie heut abends Reger hören – denken Sie an dies Bild . . .«

Ich habe allen Bauern mitgeteilt, daß sie zu den Musikabenden auf Ulenhöh jederzeit willkommen seien. Sie nahmen es mit schwach verlegenem Lächeln hin. So wenig der Oberst auch seinen alten Adel und den Offizier herauskehrt – er bleibt für die andern doch eben stets der Mann der höheren Gesellschaftsschichte. Sie können mit ihm auf dem Acker reden, sogar von gleich zu gleich, denn da ist der Bauer heim und Herr – aber in der Halle auf Ulenhöh, wenn er einen gutgeschnittenen Anzug trägt, und seine schwarz gekleidete Gattin in steifer Förmlichkeit im Lehnsessel thront – da ist plötzlich Abstand zwischen ihm und den Bauern gebreitet und sie würden mit verlegener Miene, die Mütze in der Hand, herumstehen und es nicht wagen, sich auf einen Stuhl zu 363 setzen. Und ob ihnen unsere Musik etwas sagen würde, ist auch eine Frage.

Nur Hannemann hat es gewagt und ist gekommen. Er fühlt sich doch als einer der »Alten«, er ist durch die guten Ernten der letzten Jahre zu einigem Wohlstand gelangt. Und wenn er auch beileibe nicht vergessen hat, aus welchem Elend wir ihn einmal gerettet, so taucht nun doch, da es ihm wieder wohlergeht, die Erinnerung an die Zeit auf, da er ein großer Bauer war – ein Herr . . . Das gibt ihm uns gegenüber innere Sicherheit, die uns ebenso wohltut wie ihm. Aber für die andern, einen Petergen etwa, der einmal Wießbachs Knecht war, ist der Oberst eben der – Herr . . . Und ich und Mertens und Wießbach ebenso. Es ist eine schwere Aufgabe, die Stände einander zu nähern, ohne in widerliche Gleichmacherei, in heuchlerisches Für-gleich-Nehmen oder in pöbelhaftes Anbiedern zu verfallen.

Beim zweiten Musikabend kam also Hannemann daher. Hinrichs und Friedgert nahmen ihn mit. Friedgert, die germanische Fürstin, betrat zum erstenmal das Haus des Obersten, ruhig und gelassen sicher, und es war selbstverständlich, daß alle sie auch im Musikzimmer mit der nämlichen Ehrerbietung behandelten, mit der sie ihr sonst begegnen. Hinrichs saß da, schlicht und still, mit der selbstverständlichen Ruhe, die ihn in allen Lagen auszeichnet. Ernst, mit unbewegter Miene, hörte er die Musik an, lehnte nachher mit freundlichem Dank die angebotene Zigarre ab und zündete sich seine Pfeife an, ohne, wie ein innerlich unsicherer Mensch, auf den Gedanken zu kommen, daß sich dies vielleicht hier nicht schicken könnte.

Das Ehepaar Kögemann fühlte sich dagegen sichtlich nicht ganz wohl. Die Musik ergriff sie anscheinend wirklich – manchmal lauschten sie ganz verloren und hingegeben, bis sie dann mit einmal sich wieder erinnerten, bei einem »Herrn von« zu Gast zu sein, der den Pour le mérite um den Hals tragen durfte . . . Dann war wieder die haltlose Unsicherheit des Halbmenschen über ihnen. 364

Aber nachher nahmen Inge und Genoveva die beiden Unglücksvögel mit sich in eine stille Ecke, Hanne Janssen und ihr Mann kamen dazu, und schließlich tönte aus der Gruppe lautes Lachen und bunte Fröhlichkeit, der Bann war gebrochen.

Ich saß mit Hinrichs und dem Oberst beisammen, Kriehuber gesellte sich zu uns, der ebenfalls seine kurze Pfeife rauchte – und Hinrichs, der ewig Schweigsame, begann wahrhaftig, Geschichten zu erzählen – mit der trockenen, köstlichen Knappheit des Plattdeutschen, voll Schalkheit und Witz, daß es schließlich bei uns nicht weniger lustig zuging als in der »jungen Ecke.«

Ich sah mich nach Friedgert um; die saß allen Ernstes mit der Oberstin beisammen, Herbert und Heidecke daneben. Der hatte seine Schüchternheit auch abgestreift und erzählte Anekdoten aus seiner Schulzeit, die beiden Frauen redeten über Gott weiß welche Dinge. Und als wir endlich Ulenhöh verließen und durch die sternklare Nacht heimgingen, war in uns allen festliche Freude. Und Wießbach meinte:

»Das hätten wir uns vor ein paar Jahren auch nicht träumen lassen, daß es auf Neulandhof einmal noch so sein werden könnte, was, Alter?«

Mertens, der den ganzen Abend in seliger Versunkenheit mit seiner Frau in einem Winkel gesessen, schleppte die Kögemanns noch mit in sein Haus – vermutlich hat er ihnen noch schnell ein paar Radierungen gezeigt, die zu der Musik den stillen Schlußpunkt setzen sollten . . .

Als wir heimkamen, Inge und ich, standen wir noch eine Weile vor dem schlafenden Kind. Dann sah mich Inge mit jenem Lächeln an, das ich bei keiner andern Frau so eigen und beglückend gefunden habe, und legte mir die Arme um den Hals. Ich zog sie an mich, wir gingen in meine Stube, zündeten die Kerze des Leuchterengels an und saßen bei ihrem stillen Schein am Kamin, in dem die Torfziegel glühten. Und Inge sagte:

»Fühlst du nicht, wie er schon mächtig in die Ferne drängt, nach einem neuen Ziel?« 365

»Ja, Inge – er ist schon unterwegs, seit manchem Jahr und Tag . . . War es nicht schön, wie heute abends sich alle ineinanderfügten und es eine wirkliche Gemeinschaft war, ohne jeden falschen Ton?«

»Ja –« sagte sie. »Das kommt, weil alle, die heute da waren, mit Ausnahme der Kögemanns, ganze Menschen sind, die nichts anderes sein wollen als sie sind. Und die zwei Poggen fangen wenigstens an, Menschen zu werden . . .«

 

Inge geht oft zu ihnen, Malchen steckt oft bei Inge. Ich bin für die zwei ein bißchen zu sehr der Autoritätsmann, so ein wenig der liebe Gott, der manchmal mächtig donnert und blitzt, zu dem man zwar Vertrauen hat, mit dem man aber nicht so recht vertraut sein kann. Da ist Inge die Mittlerin, und es ist lustig, wie Malchen, die kaum jünger ist als Inge, zu ihr aufsieht wie zu einer erfahrenen, älteren Frau. Ist das so, weil Inge Mutter ist? Vielleicht auch ein wenig. Aber Inge war immer schon so. Und selbst ich, der um so vieles älter und erfahrener ist, beuge mich tief vor der geheimen Gewalt, die von Inges Wesen ausstrahlt wie von der Priesterin der unbekannten Gottheit, deren sichtbares Sinnbild sie ist . . .

Ich habe viel in meinem Leben gedacht, gelernt, erfahren. Ich war vier Jahre im Krieg. Ich habe Menschen fallen sehen und Menschen getötet. Ich habe unendlich viel Elend und Not gesehen. Ich habe Neulandhof gegründet. Das alles hat mich gebildet und geformt, wie ich nun bin.

Inge aber ist noch so jung. Sie hat ein bißchen in der Schule gesessen, sie ist ein paar Jahre hinter dem Ladentisch in der Buchhandlung gestanden. Sie hat viel gelesen. Das ist alles. Aber sie ist vollkommen und in sich vollendet, sie ist mir, wenn nicht überlegen, so doch wenigstens gleich und ebenbürtig. Es ist bei ihr ähnlich wie mit Friedgert und Hinrichs. In ihnen allen ist Ganzheit und lautere Ruhe. Sie sind Gesegnete des Schicksals, Lieblinge der Erde. Und ich bin gesegnet, daß drei solche Menschen in 366 meinem Haus wohnen, daß einer von ihnen mein Weib ist und mir Kinder schenken wird . . .

Ohne solche Menschen, die zwischen uns anderen leben, wie Gotteshäuser zwischen den Wohnstätten der Menschen stehen, könnte Neulandhof nicht gedeihen, kann eine neue Erde nicht werden. Aber vor Neulandhof stand ein großer Entschluß. Und nur, die sich an ihm bewährten, konnten kommen und – bleiben. Daraus ist über allen Siedlern, so verschieden die Schicksale sind, aus denen sie zu uns gefunden haben, eine geheime Einheit, die alle, trotz Verschiedenheit von Bildung und Stand, bindet, ihnen gegenseitige Achtung und Verstehen gibt.

Und so denk ich manchmal, daß es gar nicht gut wäre, wenn mit der Zeit noch viel mehr Menschen zu uns herauskämen. Jedem folgenden wird es schon leichter, bequemer, es wird weniger von ihm verlangt, jeder Neue kann leichter wiegen . . . Ich sehe es an Kögemann. Das täte nicht gut. Ich fühle, wie sich der Kreis langsam schließt . . .

Ich bin froh, daß Neulandhof so weitab von der Stadt liegt. Und ist diese Stadt auch uralt, geht in ihr noch immer, zwischen den schmalen, gotischen Häusern mit den Treppgiebeln, dem wunderbaren Rathaus, den mächtigen Kirchen, noch immer der Hansegeist heimlich hin, daß sie nicht ist wie irgend ein schläfriges Spießernest oder eine freche, moderne Stadt mit Asphaltstraßen und schwülen Luststätten – es ist doch eine Stadt mit Tausenden von Menschen und irren Süchten, fauligem Wesen und Wollen . . . Es sind Epsteins dort und Kommunisten – außenhin einander feind, insgeheim Verbündete im gleichen Ungeist und Widergeist.

Nein, die Stadt soll mir nicht bis nach Neulandhof die gierig bösen Fänge recken. Neulandhof soll einsam in der Heide bleiben, in der reinen, freiflutenden Weite. Was hier wird, soll sich ungestört entfalten, ungetrübt vom stickigen Anhauch der Vielen, die in der Stadt gedrängt und bedrängt, ihr uneigenes Leben zwischen ratlosen Händen zerrinnen lassen.

Nun stehen schon elf Höfe und Häuser auf dem Boden von 367 Neulandhof. Aus ihnen allein werden die Jungen kommen, die in unserem Geist bauen und leben werden auf neuer Erde.

 

Der Winter ist uns diesmal wie im Flug hingegangen. Nun schwingen die ersten Zugvögel schon wieder ihre Keile durch den Himmel. Wir haben noch oft Musik gehabt, meist auf Ulenhöh, einmal auch bei Mertens. Da gab es Orgel und Streichmusik. Und an diesem Abend waren auch Rothkopf und Frank da. Der saß im finstersten Winkel des Fletts, zwischen Gerümpel und Orgelpfeifen, und hörte still zu. Nachher ging er weg, ohne daß jemand es merkte. Ich glaube – wenn einmal das Weihemal vollendet ist, dann werden sie alle kommen, die sich im Haus des Obersten oder bei Mertens noch nicht recht heimisch fühlen. Denn das Weihemal gehört allen. Dort ist niemand – Gast wie im Haus eines andern. Und niemand der Herr.

Aber die beiden Kögemanns haben bei keinem Musikabend gefehlt. Sie sind auch sehr oft bei uns gewesen und haben uns immer wieder zu sich geladen. Und sich manches Buch von mir entlehnt – ja sogar nicht wenige gekauft. Und das ist bei solchen Leuten schon ein großer Fortschritt. Wenn sie schon Bücher lesen – sie auch zu kaufen, scheint ihnen ein unverzeihlicher Leichtsinn.

Nun aber beginnen sie langsam etwas zu bemerken, worum ich sie fast beneide. Denn ich habe das nie so eigentlich entdeckt, ich bin mählig in den Besitz und das Wissen davon hineingewachsen. Sie aber erkennen jetzt mit einmal – wie unendlich die Welt ist, wie unausdenklich reich an Schönheit, an Gewalt und Größe, an Grauen und Heldentum, an Leiden und Erhebung.

Der Weg der beiden jungen Leute geht nicht gerade und stetig aufwärts – es gibt Rückfälle in die frühere platte Gleichgiltigkeit genug. Aber irgendetwas in ihnen treibt sie dann doch immer wieder vorwärts und sie folgen mir weiterhin willig . . . Jedenfalls, Langeweile kennt man am Poggenpfuhl nicht mehr . . .

Einmal hörte ich zufällig ein paar Sätze eines Gespräches zwischen Inge und Frau Kögemann. 368

»Haben Sie sich denn ein Kind gewünscht, Frau Doktor?«

»Ich weiß es eigentlich kaum. Ich habe nie darüber nachgedacht . . .«

»Und dann – haben Sie sich darüber gefreut, wie Sie bemerkt haben, daß Sie eines bekommen sollen? . . . Haben Sie denn nie . . . Angst gehabt, vor allem, vor den furchtbaren Schmerzen, vor der Plage . . .«

»Oh ja, manchmal schon . . . es ist ja nichts Leichtes, ein Kind zu gebären . . . Aber das Glück und die Freude sind doch immer die Stärkeren gewesen . . . Und als das Kind dann wirklich da war und lebte, war alles andere vergessen und ganz ohne Bedeutung, und nur das Glück war geblieben . . .«

Ein wenig später sagte Inge: ». . . Ja, unsere Zeit ist furchtbar wehleidig, sie schreit auf beim leisesten Gedanken an einen auch nur möglichen Schmerz . . . Und bereitet sich dadurch ein ständiges, heimlich quälendes Leid, vor dem sie wieder krampfhaft zu fliehen sucht in Rausch und Betäubung . . . Und sei dies Leid auch nichts anderes als nur das Fehlen echter Freude, wirklichen Glücks, die einzig möglich sind als Gegenpole von Schmerz und Leiden . . . Vielleicht ist dies das ganze Unglück unserer Zeit, daß sie den Mut verloren hat – zum Glück, zum Schmerz . . . Sie ist unendlich grausam, aber nicht hart, gierig, aber nicht durstig, namenlos selbstsüchtig, ohne ein Selbst zu besitzen, sie sucht krampfhaft nach Lust und ist ohne Fähigkeit zum Glück . . .«

Ja, so war es! Ich hätte dies Spiegelbild noch weiter ausmalen mögen: sie klammert sich leidenschaftlich an jeden Aberglauben, weil sie nicht mehr an sich selber glauben kann, ist selbstüberheblich, weil sie keine Größe kennt . . .

Kögemann arbeitet nun fleißig mit seinem Knecht im Moor und auf dem Feld. Er gräbt Wasserrinnen, sticht Torfziegel und schlichtet sie zum Trocknen, pflügt den Acker für die Kartoffeln um. Und auch im großen Bruch zwischen Eichen- und Ulenhöh hilft er uns. Wenn ich ihn nun am Abend heimgehen sehe, mit dem Spaten auf der Schulter, finde ich einen neuen Zug in 369 seinem Gesicht. Es liegt eine gute Zufriedenheit darüber, ein wohliges Behagen. Und ich fühle es, wenn ich ihm in die Augen sehe, daß er sich nun wirklich auf das Heimkommen freut . . . Denn es ist schön und gehört zu dem Schönsten im Leben des tätigen Mannes, wenn er des Abends müde vom Werk heimkehrt, mit dem Bewußtsein, das Rechte recht vollbracht zu haben, und ihm unter der Tür des Hauses die Frau entgegenkommt, die er liebt . . .

Neulich ging ich einmal in der Dämmerung mit ihm bis an den Poggenpfuhl. Auf dem schmalen Weg, der vom Birkengehölz bei Mertenshof abbiegt, kam uns die junge Frau entgegen. Sie hinkt ein wenig, aber es stört kaum sonderlich, wenn man nicht eigens darauf achtet. Als Kögemann sie erblickte, wurde sein Gesicht froh und glücklich. Sie winkte ihm zu und beschleunigte den Schritt. Und dann warf sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn – und es war einfach und natürlich, ohne jenes falsche Verliebttun, wie es noch vor einem Jahr zwischen den Beiden üblich war.

Von Mertenshof herüber trug der kühle Abendwind leises Orgelspiel. Ein herber Geruch lag in der Luft, der Geruch der frischen Erde, des jungen Laubes. Frühlingsduft. Am Himmel begannen blaß die ersten Sterne zu funkeln in zitterndem Licht.

»Nun – ist es gar so übel da, in der Einöde?« fragte ich lächelnd.

»Wir möchten nie mehr fort von Neulandhof«, sagten die zwei Jungen fast zugleich.

»Die Stadt liegt hinter uns wie ein böser, finsterer Traum«, fügte die Frau hinzu.

Dann ging ich heim, im letzten Dämmerlicht, zwischen Torfgräben und Tümpeln, vorbei an der Stelle, wo Wagner ertrunken ist. Von Mertenshof klang immer noch schwach das Orgelspiel herüber. Und auch an meiner Haustür wartete eine lichte Gestalt auf mich . . .

Ich wusch mir die Erdkrusten von den Händen, kleidete mich um, und saß mit Inge in der Stube, beim stillen Licht der Lampe, 370 wir aßen, was uns die Erde gegeben hatte als Lohn unserer Mühe.

Dann aber kam die Stunde, auf die ich mich immer freute, den ganzen Tag lang: die Stunde beim Kamin, in dem das Torffeuer glost, bei den gotischen Holzbüsten und dem Leuchterengel. Es ist die Stunde der Einkehr und Besinnung, in der wir uns Rechenschaft geben über unser Tun. In der wir fühlen, warum wir leben.

Manchmal lese ich dann Inge etwas vor aus einem Buch, das wir beide lieben; oder wir sehen Bilder an aus meiner Sammlung und suchen die aus, die einmal im Weihemal hängen sollen.

Einmal, an so einem Abend, sagte Inge: »Sind wir nicht die glücklichsten Menschen? Wir tun die Arbeit, die wurzeltief unterste Arbeit des Bauern, dienen der Erde – und zugleich haben wir teil am Allerhöchsten, das der Mensch geschaffen hat . . . Du kommst heim mit dem Spaten über der Schulter, ein richtiger Bauer – und nun weilen wir in den Domen, bei Rembrandt und Dürer, bei Riemenschneider, reden mit Kant und Goethe . . . Manchmal ist mir fast bang, was das Schicksal einmal von uns als Entgelt für dies Glück fordern könnte . . .«

»Das Schicksal ist nichts Böses, Inge, keine finstere Macht, die für jede Gabe gleich eine Strafe fordert, als ob es Sünde wäre, glücklich zu sein . . . Wenn nur dies Glück aus unserem Acker gewachsen ist, als Frucht der eigenen Seele . . . Und wenn man gelernt hat, daß auch das Dunkel, das uns bisweilen befällt, nichts Böses und Feindliches ist. Daß es vielmehr einer von den Werkmännern ist, die am Bau unseres Lebens arbeiten . . .«

»Nun sind es bald zwei Jahre, daß ich bei dir bin«, sagte Inge.

»Und ist es so geworden, wie du es geglaubt hast – damals, als du herausfuhrst – und als du am Gitter standest, vor dem Haus –?«

Sie lächelte, und dies Lächeln war wie ein aufblühender Garten.

»Ich will es nie vergessen, wie ich damals herausgefahren bin zu dir . . . Den ganzen Weg . . . Ganz allein . . . denn daß 371 Wießbach neben mir saß, wußte ich gar nicht . . . Wie alle Bäume, die Moore und Teiche mir entgegenkamen und alle mir ernst und prüfend ins Gesicht sahen . . . Als ob sie mir bis in den Grund der Seele blicken wollten, ob ich es auch recht meinte . . . Dann tauchte ein Haus an einem Birkengehölz auf und ich sah auf und Wießbach sagte: ›Das ist Mertenshof.‹ – ›Das ist der liebe, alte Herr, der Sammler, nicht wahr?‹ – ›Ja‹, lachte Wießbach – ›Sie wissen schon gut Bescheid . . .‹ Bei der Wegkreuzung kam dann wieder ein Hof in Sicht. Da sagte Wießbach: ›Dort oben, das ist mein Haus, der Eichhof. Und jetzt müssen Sie aussteigen. Der Weg geht ganz gradeaus, immer an dem großen Feld hin, eine halbe Stunde wohl . . . Dann kommt Neulandhof . . .‹

Da wanderte ich also am Feldrain hin, ganz langsam, und sah hinaus über das grüne Gewoge. Ich ging ganz langsam, so langsam, als ich nur konnte. Was ich eigentlich dachte, weiß ich nicht. Aber ich wollte nur diesen Weg hinausdehnen, wollte ihn endlos machen . . .«

»Hast du dich denn gefürchtet, Inge –«

»Gefürchtet –? Nein! Aber es war das Schönste, was ich bis dahin erlebt hatte . . . Dieses langsame Wandern, dem . . . Glück entgegen . . . Aber auf einmal fiel mir ein, daß du vielleicht gar nicht im Haus sein könntest – daß ich dann nach dir fragen und auf deine Heimkehr warten müßte . . . und daß das irgendwie albern und gewöhnlich wäre . . . So ging ich immer langsamer und bekam aus einmal recht arges Herzklopfen . . .

Und da sah ich plötzlich das Haus und sofort auch dich selber davorsitzen . . . Und ich wurde ganz ruhig und alles war gut . . .«

Das hat mir Inge damals nicht zum erstenmal erzählt; aber ich habe es einmal aufschreiben wollen, genau mit ihren eigenen Worten, daß wir es nie vergessen. Denn über alles Erleben, und über das schönste zumal, legt es sich nur allzubald wie grauer Staub, löscht die leuchtenden Farben, deckt die schweren, satten Tiefen und macht alles einförmig und einerlei . . . 372

Ich begreife noch heute nicht, daß Wießbach damals erraten konnte, wie ich zu Inge stand. Er ging in meinem Auftrag in den Laden, um bestellte Bücher zu holen.

»Der Herr Doktor kommt jetzt nie mehr selbst . . .«, sagte Inges Mutter. Und Inge stand dabei mit schweren, dunklen Augen; Wießbach sah an ihrem Hals die Adern pochen. Da mußte ihm wohl mit einmal Etwas klar geworden sein, denn er sagte leichthin: »Vielleicht wartet er darauf, daß Sie einmal zu – uns hinauskommen, Fräulein, um sich ein wenig auf Neulandhof umzusehen . . .«

»Das hat er selbst schon einmal gesagt«, fuhr es Inge heraus.

»Na also – haben Sie nicht Lust zu einem kleinen Besuch –?«

Inge wurde ganz blaß und sah ihre Mutter fragend an. Die lächelte nur ihr feines, gütiges Lächeln und nickte ganz unmerklich dazu. Und Inge straffte sich hoch und sagte ruhig und fest: »Ich fahre hinaus – wenn Sie mich mitnehmen . . .«

Eine halbe Stunde später rollte der Wagen mit den Beiden in die Heide hinaus und Inge trug ein blumiges Sommerkleid und fuhr in den Sommer hinaus – auf neue Erde . . .

So ist sie zu mir gekommen . . .

 

An einem schönen Maitag bekam ich merkwürdigen Besuch. Ein Auto fuhr am Haus vor und es stiegen zwei würdig aussehende Herren ab, die mich stark an evangelische Pfarrer erinnerten. Ich hatte mich nicht getäuscht: sie stellten sich mit gemessen freundlichem Gehaben als Vertreter der Kirchengemeinde vor und baten mich, als den Bürgermeister, um eine Unterredung. Ich führte sie in meine Stube. Ich konnte mir denken, was sie zu mir führte!

Nach einigen einleitenden Redensarten rückten sie mit der Sprache heraus.

Neulandhof sei nun schon ein großes Dorf geworden, fast hundert Menschen lebten bei uns. (Das ist freilich etwas sehr 373 übertrieben.) Und es liege so sehr weit von der Stadt. Erst bei ihrer Fahrt zu uns hätten sie gesehen, wie weit es bis heraus sei. Da sei es wohl begreiflich, daß wir am Sonntag nicht in die Stadt kommen könnten, zum Gottesdienst. Aber es ginge doch nicht an, daß wir hier auf die Dauer völlig ohne Gottes Wort lebten! Das Konsistorium hätte daher in väterlicher Sorge um unser Seelenheil sie beide entsandt, um mit uns die Gründung einer Kirchgemeinde, die Erbauung eines Pfarrhauses, zu besprechen . . . Zudem seien ihnen schon bisweilen seltsame Dinge zu Ohren gekommen über einen Kirchenbau recht eigenartigen Stils, der hier aufgeführt werde, sowie über geradezu heidnische Bräuche, die anläßlich von Taufen und Hochzeiten bei uns aufgekommen seien. Es wäre also wohl hoch an der Zeit, daß ein richtiger Pfarrer sich unseres Dorfes annähme . . .

Ich ließ sie ruhig ausreden. Dann sagte ich:

»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Hirtensorge, meine Herren. Aber wir leben nun bald sechs Jahre auf unserer neuen Erde, die wir fruchtbar gemacht haben, und die kein Priester gesegnet hat. Wir haben den Acker bestellt und die Frucht geerntet; Kinder wurden uns geboren; wir hoben dankbar das Haupt zum Himmel: aber kein Priester hat einen fremden Spruch über das neue Leben gesprochen. Als der Sohn eines unserer Freunde starb, gaben wir ihn der Erde anheim, die ihn getragen hatte; aber kein Priester sagte seine Gebete dazu. Nur ich sprach einige Worte, die uns aufgerichtet und mit dem Glauben an die Zukunft Deutschlands erfüllt haben . . . Männer und Mädchen fanden einander zur Liebe und einten ihr Schicksal . . . Aber auch hier fanden wir keinen Priester nötig, nur ein paar ehrliche deutsche Männer, vor denen die Eheleute ihr Gelöbnis taten.

So war es all die Jahre her. Ich begreife nicht, warum das nun anders werden soll.

Bisweilen, wenn am Abend einige von uns beisammensaßen und ihre Rede langsamer und stiller wurde, und schwerer, weil in ihr Denken das Wissen um die Not der Zeit, um das Unfaßliche 374 des Lebens kam, nahm einer von uns ein Buch und las daraus. Einmal waren es vielleicht ein paar Sprüche Goethes oder ein Gedicht, oder es waren einige Sätze von Immanuel Kant. Und die andern hörten schweigend zu und ließen die Worte in sich einsinken, nachklingen, lange . . . Das waren unsere Gottesdienste . . . Es ist einer unter uns, der wunderbar auf der Orgel spielt – ja er baut sogar eine große Orgel für unsere Weihestatt, die Sie dort oben auf der Höhe sehen können. Wir haben heute schon ein richtiges Quartett, das im Winter oft für uns alle spielt: Bach, oder Mozart. Reger. Und das ist dann jedesmal ein besonders herrlicher Gottesdienst . . .

Oder es geht einer, dem es schwer ums Herz ist, hinaus in die Einsamkeit der Heide, sitzt nieder bei einem Machandelbaum und sieht in die Weite . . . Bis die Unendlichkeit der Heide ihn aufgerichtet und gestärkt hat, weil er der eigenen, inneren Unendlichkeit bewußt geworden ist. Aber niemals hatten wir einen Priester dabei, der uns unsern sündhaften Wandel vorwarf und uns zur Demut und zum Leiden bekehren, von der Welt abwenden wollte. Unser Gottesdienst war immer, daß wir Stille um uns legten und den Stimmen lauschten, die aus uns an den Tag begehrten, aus der Tiefe des Lebens raunten und von Gott zeugten. Aber wir waren nie so vermessen, von Gott öffentlich und laut zu reden und Geschichten von ihm zu erzählen, einer dem andern zu sagen, was Gott von ihm wolle und ihm befehle. Denn was Gott will, das muß er einem jeden selber sagen und das gilt dann nur für den einen und für keinen andern. Wir begreifen nicht, warum das mit einmal anders werden soll. Und schon gar nicht begreifen wir, daß Gott zu jedem von uns nur an einem bestimmten Tag von zehn bis elf Uhr vormittags durch den Mund eines von uns hiezu bezahlten Mannes reden soll!! Gott redet, wenn es ihm gefällt – manchmal viele Wochen und Jahre nicht. Das ist dann eine üble Zeit – aber man muß sie ertragen. Denn vielleicht – – redet Gott auch in diesem seinem Schweigen, und vielleicht lauter noch für den, der zu hören versteht. 375

Und nun denke ich, wissen Sie Bescheid, und ich bitte Sie, unsere Weise nicht weiter zu stören!«

Die Herren hatten in steigender Erregung zugehört. Zorn und Verlegenheit wechselten bunt in ihren Gesichtern. Nun standen sie rasch auf, suchten stotternd nach Worten. Endlich stieß der eine hervor:

»Gehen wir! Verlassen wir diesen Ort des Unglaubens und der Verstocktheit!«

Sie grüßten förmlich und bestiegen ihren Wagen. Aber nun kam der fröhliche Schluß der Geschichte. Als die würdigen Herren sich Mertenshof näherten, tönte die Orgel aus dem offenen Tor heraus: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus . . .« Und während das Auto so schnell als möglich von »diesem Ort des Unglaubens« hinwegstrebte, nahm Herbert das Lied zum Thema einer Fuge . . . Es wurde eine richtige Fuga – eine Flucht – aus der Abfahrt der beiden Seelenhirten. So gingen sie also und trugen in die Register ein, daß unsere Gemeinde konfessionslos sei . . . Freilich erst, nachdem wir es ihnen noch einmal schriftlich gegeben hatten. Denn die Kirchensteuer ist immerhin hoch und man entbehrt sie nicht gern. Und Neulandhof wäre eine so hübsche Pfarrersstelle gewesen . . . Aber noch wochenlang lachten wir alle über Herberts fröhlichen Einfall . . .

 

Auf Mertenshof lebt immer noch Stine Hannemann. Seit jenem Abend, als ich die unglückliche Familie aus dem Obdachlosenheim zu uns herausbrachte und das weinende Kind dem Haus des freundlichen Doktors übergab. Schon oft forderten die Eltern das Mädchen wieder zurück, denn die Arbeitskraft der Tochter fehlt ihnen sehr; allein Stine widersetzte sich, nachdem sie rasch bei Mertens heimisch geworden, jedem solchen Versuch mit seltsamer Leidenschaft. So blieb nichts anderes übrig, als für Hannemann eine junge Magd zu besorgen, und ich versuchte es diesmal auf einem andern Weg: ich ging ins städtische Waisenhaus. Der Leiter der Anstalt nahm mich freundlich auf – er hat 376 von Neulandhof bereits manches gehört – aber er gab mir ein schweres Hindernis zu bedenken: der Seelsorger der Anstalt sei unlängst bei uns gewesen und habe ihm in heller Entrüstung von unserem heidnischen Treiben erzählt . . . Er werde sicherlich nie zugeben, daß einer seiner Schützlinge an diesen »Ort des Unglaubens verstoßen« werde . . . Dabei lächelte der Mann etwas boshaft – wir verstanden einander. So wurde denn eine Kriegslist vereinbart. Er ließ mir zwei Mädchen kommen, die, wie er wußte, gern aufs Land wollten, vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Sie gefielen mir beide recht gut – offene, frische Dinger, denen es bei uns sicher besser behagen würde als in der trüben Waisenhausluft. Sie nahmen meinen Vorschlag mit strahlenden Gesichtern auf.

Nun begab ich mich mit unserem »guten Rat« und einem Schreiben des Leiters zur städtischen Vormundschaft. Der Rat setzte dem mit der Obsorge über die Kinder betrauten Herrn auseinander, wie es bei uns auf Neulandhof zuginge, so daß er schließlich ohne Bedenken zu allem Ja sagte. Jetzt rückte ich mit dem Ort der Verstocktheit heraus. Der Vormund brach in lautes Lachen aus und versprach mir, alles ihm Mögliche zu tun. Das Ergebnis war, daß ich eine Woche später die beiden Mädchen zu uns herausholen konnte. Man hatte ihnen zwar weidlich zugesetzt, sich gegen mein Angebot zu wehren – aber es scheinen ein paar richtige Hartköpfe zu sein, die zudem froh sind, dem Waisenhaus den Rücken zu kehren. Und der Rat hatte ihnen so viel von Neulandhof erzählt, daß sie Feuer und Flamme für die Sache sind. So halfen alle Bemühungen um das bedrohte Seelenheil der Kinder, alle Gegenminen bei der Behörde nichts – sie fuhren fröhlich mit mir in die Heide hinaus. Die eine, die mir der Anstaltsleiter als besonders begabt empfohlen, nahm ich selbst zu mir, da wir eine Hilfe im Haus wohl gebrauchen können, die andere kam zu Hannemann.

Der Bauer ist ein wenig böse auf Dr. Mertens. Er kann ihm nicht verzeihen, daß er ihm »sein Kind genommen« habe. Ich 377 suchte ihm begreiflich zu machen, daß davon keine Rede sein könne. Mertens sei ein viel zu guter und edler Mensch, um jemandem die Tochter zu entfremden. Wenn sich aber Stine bei ihm so daheimfühle, daß sie nicht mehr weg wolle, so könne er als Vater doch nicht gegen das Wohl des Kindes handeln . . . Stine habe Fähigkeiten entwickelt, die Mertens besser pflegen und entfalten könne, als es daheim möglich sei. Ob er dem entgegenstehen möchte?

Hannemann sah das halb und halb ein – aber die Tatsache, Stine verloren zu haben, bleibt eben und schmerzt ihn. Ein wenig spielt natürlich auch die Sparsamkeit des Bauern mit, der die kostenlose Arbeitskraft der Tochter ungern gegen die fremde tauscht, die er bezahlen muß . . . Es ist doch auch bei diesem redlichen und rechtlichen Mann die Eigensucht der Eltern rege, die ein Recht auf die Kinder zu haben glaubt. Das sagte ich ihm auch. Verstanden hat er mich kaum.

Die Eltern haben dem Kind das Leben geschenkt. Aber es ist sehr fraglich, ob das Kind ihnen dafür besonders dankbar sein muß . . . Jedenfalls hat es nicht darum gebeten. Und daß die Eltern nun das Kind ernähren und erhalten – das gibt ihnen nicht im mindesten Anspruch auf Dankbarkeit; denn es ist ihre Pflicht gegenüber dem jungen Leben, das sie erweckt haben. Die meisten Eltern aber leiten aus den »Opfern«, die sie für die Kinder gebracht haben, das Recht auf lebenslange Dankbarkeit ab, die sich bisweilen sogar in unbegrenzter Fronarbeit für sie äußern soll, in der Preisgabe jeden Anspruchs auf ein eigenes Leben, wie es den Jungen recht und billig erscheint. Wollen die Kinder dann einmal nach ihrer Art leben, so erheben die Eltern ein Wehgeschrei über »die Undankbarkeit der heutigen Jugend«.

Bei Hannemann ist es ebenso, nur geht es ohne viel Worte und lange Reden ab. Doch der Groll gegen die Tochter und Dr. Mertens bleibt.

Aber manchmal steigen mir selbst Bedenken auf, ob Mertens nicht doch an Stine ein Unrecht begangen hat – unwissentlich 378 und aus bester Absicht heraus. Stine ist ein Bauernkind. Gemäß wäre es ihr gewesen, im Haus zu arbeiten, in Stall und Küche Bescheid zu lernen und einmal mit einem jungen Bauern ein neues Anwesen zu begründen.

Mertens aber hat sich der ganz vernachlässigten Schulbildung des Kindes angenommen. In unglaublich kurzer Zeit hat Stine das Versäumte nachgeholt und einen ganz erstaunlichen Wissensdrang entwickelt. In allen freien Stunden kennt sie nichts Lieberes, als bei einem der schönen Bücher des Doktors zu sitzen, sie ist immer da, wenn er seine Sammelmappen aufschlägt, sie weiß mit ihren sechzehn Jahren so gut Bescheid um die alte Kunst, daß ich immer wieder in Erstaunen gerate. Es ist kein eingelerntes Gerede, sie hat feines Verständnis, das sich freilich oft in recht drolligen Urteilen äußert.

Sie lebt in der Familie des Doktors wie ein eigenes Kind. Mertens und Frau Elise sind ihr zu Eltern geworden, sie sagt »du« zu ihnen. Hanne ist ihr eine Schwester. Dabei verrichtet sie manche Stallarbeit, sie kocht und näht, hält das Hauswesen in Ordnung. Und doch frage ich mich: wie soll dieses so glücklich begabte und geleitete Mädchen einmal – eine Bäuerin werden? Sie hat in eine Welt hineingesehen, deren Schönheit sie in Bann schlug; wird sie in dieser Welt verbleiben können? Und wenn nicht – wird ihr ganzes künftiges Leben nicht dann das Leben einer Verstoßenen, Verbannten sein, etwas Halbes, an dem sie zerbrechen wird?

Ich habe unlängst zu Dr. Mertens meine Bedenken über Stine geäußert. Aber er antwortete mir: »Hätte ich dieses reich begabte Kind zur Stallmagd machen sollen, sie von der Erkenntnis und Entfaltung ihrer Fähigkeiten absichtlich fernhalten sollen? Das meinen Sie doch selber nicht . . .«

Er hat recht. Ich mußte mich meiner kleinen Ängstlichkeit schämen. Und inzwischen geht es mir und Inge ähnlich mit unserem Waisenkind, der Hilde Schmidt.

Sie hat eine regelrechte Schulbildung; sie ist im Waisenhaus 379 aufgewachsen, wo es karg und nicht immer sehr liebevoll herging. Nun ist sie in einem Haus, in dem es, gottlob, an nichts mangelt, in dem überall neben dem Notwendigen das Schöne zu seinem Recht gelangt ist. Mit ungeübten Augen staunt sie die Dinge an, die sie bisher nie gesehen. Und irgendwie, dumpf unbewußt, fühlt sie den geheimen Zusammenhang zwischen der Arbeit des Spatens, des Pfluges, der Blumen, die im Hausgarten nun langsam aufblühen, den Wolken und Winden, die über den Himmel gehen, der weiten Heideeinsamkeit und den Bildern und Büchern in unserem Haus, dem Orgelspiel Herberts.

Als sie das zum erstenmal hörte, fragte sie Inge etwas ängstlich, ob bei Dr. Mertens Gottesdienst gehalten werde. Inge sagte lächelnd: Ja, aber anders als in der Stadt. Es werde dort nur schöne Musik gemacht, und das sei ein besserer Gottesdienst als der, den sie gewohnt sei.

Dr. Mertens sei also kein Pfarrer und predige nicht am Sonntag?

Inge mußte lachen. Nein, das tut er nicht, es gibt keinen Pfarrer da.

Hilde atmete sichtlich befreit auf. Ihr Pfarrer habe stets am Sonntagvormittag eine Stunde lang geredet, so daß die meisten ihrer Kameradinnen eingenickt seien. Und am Nachmittag habe dann der Vikar Christenlehre gehalten. Das sei noch langweiliger gewesen. Und vor allem habe Hilde nie eingesehen, warum sie alle so sündhaft und schlecht gewesen seien und immer zerknirscht und bußfertig hätten herumgehen sollen. Ein frohes Gesicht wäre dem Pfarrer ein Greuel gewesen.

»Nun – bei uns ist ein frohes Gesicht das Beste, was uns Gott bescheren kann«, sagte Inge.

Das leuchtete Hilde ein. Aber doch fragte sie: »Wenn man aber einmal richtig traurig ist – man weiß gar nicht recht, warum?«

»Das ist dann ebenso gut und manchmal besser noch, Kind . . . Aber nur nicht bußfertig und zerknirscht wollen wir sein!« 380

Eine Weile war Stille. Dann fragte Hilde, sehr leise und zaghaft, schamvoll fast ob der Vertraulichkeit der Frage:

»Gibt es eigentlich wirklich eine Sünde?«

Inge erschrak beinahe vor der Tiefe des wahren Empfindens, die aus diesem Kind sprach. Aber sie antwortete tapfer: »Das ist schwer zu sagen, Hilde. Ich glaube es nicht. Es gibt wohl viel Schuld in der Welt – aber das ist etwas anderes als das, was man unter Sünde versteht und was vor allem der Pfarrer damit meint . . . Von Schuld weißt du hoffentlich noch gar nichts . . .«

»Was ist denn eine Schuld . . .? Ist sie ärger als eine Sünde?«

»Was Schuld ist, kann ich dir noch kaum sagen. Sie ist etwas Böses; aber manchmal kann niemand etwas dafür, daß zwischen ihm und einem andern Menschen eine Schuld entstanden ist. Und eine solche ist dann oft, wenn man sie recht aufnimmt, wie ein treuer Freund, der uns schneller und richtiger zu Gott führt als Freude und Glück . . .«

Hilde hörte mit großen Augen zu. Dann fragte sie wieder sehr zaghaft: »Nicht wahr, ihr seid da keine gottlosen Menschen?«

Darauf Inge: »Wie kommst du auf den Gedanken? Wir mühen uns alle nach Gott, jeder auf seine Art . . .«

»Der Pfarrer hat uns gesagt, daß ihr alle ganz schlechte, verstockte, gottlose Leute seid . . .«

Inge lachte: »Das habe ich mir gedacht! Aber bei diesen Leuten ist jeder gottlos, der sich nicht von ihnen beherrschen läßt und der selber zusieht, wie er mit seinem Leben fertig wird und zu Gott findet . . . Das ist für sie das schlimmste Verbrechen . . .«

Als Hilde am Abend uns Gute Nacht sagte und schon im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, lief sie in einem plötzlichen Entschluß noch einmal zurück, küßte Inge die Hand und rannte dann mit feuerrotem Gesicht aus der Stube . . . Da erzählte mir Inge die ganze Unterredung, die sie mit dem Kind gehabt.

Daß ich die zwei Waisen zu uns herausnahm, hatte seinen 381 guten Grund. Ich wollte Menschen haben, junge, noch nicht verdorbene Menschen, die durch keinerlei Bindung an ältere, törichte, seelisch verwachsene, gefesselt sind, die unseren Bemühungen ständig entgegenarbeiteten, wie es etwa die Eltern Kögemanns und seiner Frau versuchten. Und es ist mir nur verständlich: Stine Hannemann ist gegen Dr. Mertens und seine Familie von unbegrenzter Dankbarkeit erfüllt – gegen die eigenen Eltern nicht; und Hilde uns gegenüber ebenfalls, obwohl sie erst wenige Wochen bei uns ist. Ich habe diese Dankbarkeit nicht gewollt, nicht auf sie gerechnet. Aber sie entwickelt sich ganz von selbst und naturgemäß; Stine und Hilde fühlen es, ohne darüber nachzudenken, wer ihnen gegenüber Pflichten hat und ohne Anspruch auf Dank doch solchen fälschlich fordert; und wer ohne Verpflichtung ihnen Gutes tut, ohne Dank zu fordern. Und dem allein gehört ihre Liebe und ihr Dankgefühl.

Hildes Kameradin, die Marthe Kurz, nimmt das Leben einfacher. Sie ist ein dralles, festes Ding, arbeitet fleißig im Haus Hannemanns, ißt mit den Bauern und dem Knecht aus der selben Schüssel und ist glücklich, daß sie bei Pferden, Kühen und Hühnern sein kann. Ein tüchtig erfüllter Arbeitstag ist für sie das Leben und sein Lohn. Dabei hat sie schon rote Wangen und kräftige Arme bekommen und ich bin froh darum. Hilde wäre bei Hannemann fehl am Ort gewesen.

 


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