Ernst Kratzmann
Die neue Erde
Ernst Kratzmann

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Nun ist nach Wochen qualvoller Sorge das heilige Korn geborgen. Wir hatten die Halme gemäht und zu Garben gestellt; 257 und als es beinahe schon trocken war, kam der Regen . . . Wenn diese Ernte mißlang, waren wir Bettler, waren wir alle verloren . . . Ich habe in diesen Tagen zu Gott gebetet wie ein Kind. Aber mein Beten ging ja um mehr als um mein eigenes Sein. Es ging um die Frage: können heute noch ein paar ehrliche Menschen es in Deutschland wagen, nur auf die eigene Kraft gestützt, nur auf die Erde vertrauend und bauend, an Rettung und Wiederaufstieg zu denken? Oder ist alles zum Untergang bestimmt, was in Deutschland geschieht?

Das war die Frage. Von Westen her kamen die Regenwolken, das Nebelgrau floß nieder bis an den Boden. Wir saßen in dumpfer Wut, in toter Verzweiflung in unsern Stuben, verdammt zu tatlosem Warten. Die richtigen Bauern unter uns, Hinrichs, Hannemann etwa, blieben äußerlich ruhig, gelassen. Aber ihren Gesichtern las ich die würgende Sorge ab.

Der Regen wollte nicht enden. Auf den Feldwegen standen schon kleine Seen, in den Torfstichen schwoll das Wasser empor, als hätten die Brunnen der Tiefe sich aufgetan.

Manchmal mußte ich an Gertrud denken. Sie mochte schlimme Tage auf Ulenhöh haben. Aber wir hatten alle zusamm schlimme Zeit. Ich konnte nicht lesen, nicht schreiben. Ich rechnete hundertmal aus, wie wir uns durchschlagen könnten, wenn die Ernte verloren war – ob es mit den Kartoffeln allein gelingen könnte, mit Speck und Butter – ich rechnete, wie der Proviantmeister in einer belagerten Festung.

An einem Abend, der früh und trüb und düster einfiel, da nichts zu hören war als das eintönige Rieseln draußen vor den Fenstern, als meine Verzweiflung zuhöchst gestiegen war – zündete ich die dicke rote Wachskerze des Leuchterengels an und schlug Dürers Geheime Offenbarung Johannis auf. Und ich kam zum letzten Blatt, auf dem der Engel dem Johannes die neue Stadt Gottes auf Erden zeigt. Wird je diese Stadt, aber eine wahrhafte Gottesstadt, auf deutscher Erde stehen? Drüben auf der Eichenhöh haben wir schon viel Steine gehäuft; 258 aus ihnen soll der Bau werden, den ich als sichtbares Mal des neuen Reiches auf neuer Erde ersehne. Werden wir die Steine hochschlichten zu diesem Bau, oder werden wir allesamt ins Elend gehen? Alle die Menschen, die ich hier heraus in die Heide geführt habe, ein neues Leben zu beginnen? Niemand kann es mir zur Last legen, wenn diese Ernte verdirbt; und doch steht in dem inneren Schuldbuch dieser Zusammenbruch Aller auf meinem Blatt geschrieben. Vielleicht wären die Menschen, die, meinem Drängen folgend, in die Heide kamen, ohne mich untergegangen. Vielleicht; aber sie hätten vielleicht auch ein anderes Leben begonnen, das sie wieder emportrug. Doch gingen wir nun zugrunde, so war das meine Schuld!

Ich rang die Hände ineinander, ich blickte zur stillen Flamme auf, die der Engel über sein Haupt emporhielt, bereit zur Fahrt in ein neues Land. Ich bat Gott zum tausendsten Mal um Errettung. Ringsum war Stille und Einsamkeit und ich war allein . . . Der Regen fiel . . .

In der Nacht fuhr ich aus unruhigem Halbschlaf empor und horchte: draußen ging Wind, fegte Sturm über die Heide. Das Herz begann mir zu pochen – ich sprang ans Fenster, riß es auf – sah jagende Wolken am Himmel – dazwischen aufblitzend einzelne Sterne . . .

Ich kniete am offenen Fenster, ließ den Sturm über mich hinwehen, hob die Hände und betete. Hasso kam zu mir, leise wedelnd, als hätte er Angst um mein absonderliches Tun, er legte mir den Kopf auf die Schulter, und ich schlang die Arme um den Hals des treuen Tieres, preßte das Gesicht in sein warmes Fell. So kniete ich, schluchzend und betend, indes draußen der Sturm den Himmel ausfegte und langsam die Dämmerung aufstand.

Da ging ich vors Haus. Und es hatte wahrhaftig aufgehört zu regnen, es kam Sonne herauf, und Hinrichs stand da, blickte geruhig nach allen Seiten aus, spuckte bedächtig aus und verkündete endlich: die Ernte wird gut werden . . . 259

Die Wege wurden gangbar, sie wurden fahrbar. Auf den Weiden stand das Grummet wie noch nie. Und die Garben wurden trocken, sie wurden in glühenden Sonnentagen trocken bis auf den letzten Halm. Die Körner hielten noch in den Ähren – noch eben! – sie waren nicht ausgefallen! Und der Tag kam, da wir sie beglückt heimholten in unsere Scheuern . . . Ich weiß mich nicht zu erinnern, ob ich je im Leben so dankbar und selig war wie am Abend des zweiten Erntetages, als die letzte Garbe geborgen unter Dach lag.

Auch die Kartoffeln versprechen, wenn uns nun noch Trocknis beschert bleibt, reichlich zu werden.

Hat mein Beten – und wir haben wohl alle gebetet in diesen Tagen, jeder auf seine Art! – uns Hilfe gebracht? – Ich weiß es nicht. Aber das Ewige ist unerforschlich und so glaube ich es . . . Denn ein rechtes Gebet, in welchen Gottes und Glaubens Namen es immer geschieht, ist ein vertrauensvolles Einfügen in das ewige Gesetz des Guten. Unser Leben fließt mit ihm ein in den großen Strom jenes ewigen Willens, der die Welt werden läßt, neu mit jedem Tag.

Und nun werden die Tage merklich kürzer. Wir dreschen das Getreide aus, die Pflüge gehen übers Land – wieder über einige Felder mehr als vor einem Jahr. Wir bringen das Korn zur Mühle. Was aber wird dann sein? Wir können uns nicht entschließen, das Mehl, das entbehrliche Vieh, hinzugeben für einige Fetzen Papiers, auf denen zwanzigstellige Zahlen gedruckt sind und die am nächsten Tag bereits wertlos sind. Ein Dollar steht nun auf vier Billionen Mark . . . Aller Handel und Verkehr stockt. Wer nichts zum Tausch geben kann, keinen Sachwert, erhält nichts. Eine wilde Jagd nach fremden Geldsorten hat eingesetzt. Wir sind ausgeplündert bis auf den nackten Leib . . . Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren wir nicht so furchtbar, so vollkommen und restlos verarmt wie nun. Es ist ein Zusammenbruch sondergleichen, wie er noch nie in der Geschichte eines Volkes vorgekommen ist. Ein Industrieunternehmen nach dem andern 260 geht in ausländischen Besitz über. Deutschland wird zur Plantage, auf der wir arbeiten – die andern ernten . . .

 

Ja, nun schwelen doch auf den Feldern die Feuer, in denen das Kartoffelkraut zur Asche brennt. Auch diese Ernte ist gut geraten – wir sind versorgt auf ein Jahr und könnten von unserm Ertrag abgeben für ein paar hundert Menschen. Wir könnten – ohne den Wahnwitz der Inflation.

Der Rauch dieser letzten Feuer ist für mich immer ein friedvoll tröstliches Erleben. Mit ihm schließt das Bauernjahr. Mit ihm übergeben wir die gute Erde der wohlverdienten Winterrast. Mit ihm nehmen wir Abschied vom – Draußen, wenden wir uns ins Haus zurück, an den Herd, in die tiefe, abgeschlossene Stille und Verborgenheit. In die Tage der Einkehr ins Ich . . .

 

Seit ich dies schrieb, ist eine Woche vergangen. Aber sie war bewegt und erregend, und ich werde wohl lange noch brauchen, bis ich zur Ruhe finde.

Ich war doch wieder in der Stadt, um mich mit bekannten Kaufleuten zu besprechen. Ich fand sie in guter Stimmung: die Inflation sollte ein Ende finden – Helfferich hatte einen Plan ausgearbeitet, um wieder eine normal gedeckte Währung zu begründen. In wenig Wochen, wenn nicht schon in Tagen, hoffte man eine »Rentenmark« zu haben, ungefähr von der Kaufkraft der guten alten Mark. Es galt Opfer zu bringen, Devisenbesitz, vielleicht auch Gold abzuliefern – aber man war dazu bereit, wenn nur die grauenhafte Not der Inflation ein Ende nahm.

In froher Laune ging ich in meinen Buchladen. Dort aber traf ich die Frau in gedrückter Stimmung, und die Tochter schien mir dem Weinen näher als dem Lachen. Ich überreichte den beiden wieder ein kleines Päckchen Lebensmittel als Tauschgabe für bestellte Bücher und äußerte meine Freude über den neuen Währungsplan. Aber da hätte wenig gefehlt, und die Tochter wäre mir mit den Fingernägeln in die Augen gefahren. 261

»Und die Katastrophe in München?!« schrie sie mich an, »diese bodenlose Gemeinheit!«

Ich starrte sie verständnislos an. »Was meinen Sie eigentlich?«

»Wie – Sie haben nichts von der Mordtat an der Feldherrnhalle gehört –?!«

Jetzt erinnerte ich mich dunkel. In München hatte irgendein Politiker wieder einmal einen Putsch versucht, hatte die bayrische Regierung stürzen wollen. War aber, als er mit seinen Anhängern durch die Stadt zog, an der Feldherrnhalle von Truppen aufgehalten worden. Es kam zu einer Schießerei, bei der über ein Dutzend von den Leuten dieses Politikers fielen . . . Ich hatte dem Ganzen keine Beachtung beigemessen, ich wußte nichts von dem Mann, nicht einmal mehr seinen Namen. Irgend eine jener jammervollen Torheiten, die wir Deutschen zur Freude unserer Feinde immer noch nötig zu haben glauben, statt daß wir uns einmütig gegen sie stellten. Irgend ein verschrobener Phantast wohl, vielleicht gar ein Kommunist?

Aber da kam ich schön an. »Sie wissen eben nichts von diesem Mann«, schluchzte das Mädchen, schlug die Hände vors Gesicht und rannte aus dem Laden.

»Sie müssen entschuldigen, Herr Doktor«, begütigte die Mutter. »Aber seit die Inge in München war, bei meinen Verwandten, ist sie wie besessen von diesem Hitler. Nichts als Politik hat sie mehr im Kopf! . . . Aber er muß schon ein merkwürdiger Mann sein! Die Menschen strömen ihm zu wie einem Heiligen. Reden soll er können, wie – ja, weiß Gott wie . . . Sie schwören auf ihn, er ist wie ein Herrgott für sie . . .«

»Was will er denn eigentlich?«

»Ja – aufrichtig gestanden, das weiß ich auch nicht recht, obwohl mir die Inge täglich die Ohren davon vollredet . . .«

»Daß ich nie etwas von ihm gehört habe?«

»Bei uns heroben im Norden weiß man gar nichts von ihm. Und die Zeitungen schweigen ihn tot, sagt die Inge . . .« 262

Jetzt kam die Tochter wieder zurück mit einem Pack von Zeitungsausschnitten und Flugblättern. »Da, lesen Sie das, Herr Doktor . . . Mein Gott – und jetzt ist alles aus! Der einzige Mann, der uns hätte retten und erlösen können! Jetzt haben sie ihn eingesperrt und werden ihm den Prozeß machen! Mein Gott – und am Ende erschießen sie ihn noch –!« Sie begann wieder zu weinen.

Betreten und verwirrt ging ich fort. Ich konnte das schöne Mädchen nicht weinen sehen. Und was sollte ich ihr zum Trost sagen? War es vielleicht wirklich so, daß da wieder einmal eine, ja vielleicht die letze Möglichkeit einer Rettung vernichtet worden war – von uns unseligen Deutschen selber?

Im Gasthof, als ich bereits zu Bett lag, begann ich zu lesen. Ich las mit heißem Kopf, bis es zwei Uhr schlug. Und dann konnte ich erst recht nicht schlafen bis an den trüben Morgen. Da stand ich auf, ging in den Buchladen. Inge war da. »Ich danke Ihnen für diese Schriften, Fräulein! Von heute an bin ich Nationalsozialist!«

Sie blickte mich an, nur mit halber Freude. »Jetzt ist ja alles zu spät – alles zuende!«

»Verlieren Sie den Mut nicht, Fräulein. Noch lebt Hitler – wir wollen sehen, ob sie es wagen, ihm ans Leben zu gehen!«

»Glauben Sie? Das Gesindel fürchtet ja nichts so sehr, als daß einmal einer kommt, der ihrer Lotterwirtschaft ein Ende macht . . .«

»Ein Mann, der in wenig Jahren so Großes erreicht hat, wird auch diesen Schlag überstehen . . .«

Sie reichte mir schweigend die Hand. »Ich danke Ihnen!« sagte sie, indes ihr ein paar Tränen über die Wangen liefen.

»Darf ich das mitnehmen, zu meinen Freunden hinaus?«

»Ja, alles, nehmen Sie alles mit!« rief sie, rannte davon und kam mit einem Pack weiterer Schriften. »Da, da ist noch mehr! Sie können durch mich alle Schriften der Bewegung haben . . .« 263

So fuhr ich mit einem tüchtigen Stoß von Flugblättern und Heften in die Heide hinaus, die trüb und grau vor mir lag. Und wieder mußte ich denken: wie zahllos oft bin ich diesen Weg gefahren und immer in anderer Stimmung! Ich kann es in Worten nicht sagen, was diesmal in mir vorging. Hoffnung – trostlose Verzweiflung, wilder Trotz – tausend Pläne, die Gedanken dieses einzigen Mannes hier im Norden zu neuem Leben zu erwecken, wenn man ihm selbst im Süden etwas antun sollte – und ich wagte nicht daran zu denken, worin dieses »Etwas« bestehen könnte! – all das ging wild in mir durcheinander. Gut, daß die Pferde den Weg auch ohne mich kannten! Ich kümmerte mich wenig um ihn . . .

Bei Mertens hielt ich an, brach mit meinen Neuigkeiten in seine Stube, ließ ihm Flugschriften da. Dann, zuhause, hielt ich Hinrichs und Friedgert eine wilde Rede, die der Knecht etwas erstaunt und kopfschüttelnd aufnahm; ich wartete keine Antwort ab, lief zu Wießbach und endlich hinüber zur Ulenhöh. Überall ließ ich Schriften zurück und erzählte. Ich rannte zu Hannemann und Rothkopf und brachte die ganze Siedlung in Aufruhr.

Am nächsten Abend kamen alle in meinem Haus zusammen. Wir saßen so dicht gedrängt, daß keiner sich regen konnte. Eine einzige Lampe brannte auf einem kleinen Tischchen, an dem ich die Programmpunkte der Nationalsozialistischen Partei vorlas. Und ich las eine Rede Hitlers vor. Am Ende meines Vortrags gab es bei uns nur mehr eine Meinung: wenn Einer uns noch retten kann, ist es Adolf Hitler! Und eine furchtbare, toternste Frage: was wird mit ihm geschehen!

Da sagte Oberst von Kalckreith eins seiner prächtigen, harten Worte: »Mit einem solchen Mann ›geschieht‹ nichts – es geschieht, was er will!«

Und nach einer Weile: »Vergessen wir nicht: Ludendorff ist an seiner Seite den Weg zur Feldherrnhalle gegangen! Nie kann sich die Schmach ereignen, daß man einen Mann verurteilt, an dessen Seite Ludendorff geschritten ist!« 264

Mit diesem Wort im Ohr gingen wir auseinander.

Hitler ist aufrecht, zum Letzten bereit, den Mordwaffen deutscher Menschen entgegengeschritten. Wie vor ihm schon so mancher. Wie etwa auch der, von dem ich noch zu sagen habe. Wird er selber vollenden dürfen, was er will – oder wird auch erst – nein, ich kann das nicht mit seinem Namen schreiben . . . Ich will meine Sorge und Not im Betrachten vergangenen Schicksals lindern.

 

Das war Herr Geyer von Geyersberg. Er stieg von seiner Burg: »Dem Bauern war ich niemalen feind und wills auch fürderhin nicht sein. Mein Schwert hat für Unrecht nie gefochten und solls auch fürder nicht. Ich habs allzeit für Freiheit und für Recht geführt und wills auch fürder tun. Bauern – hie ist der Florian Geyer!«

Die Bauern schrien ihm zu und nahmen ihn zum Hauptmann an. Mit ihm zog seine schwarze Schar, gestählt in hundert Wetter und Fahr. Eisern in Wille und Zucht. Ihre Fahne war schwarz.

Wir zogen vor Weinsberg, das feste Schloß. Drin saß der von Helfenstein, des Kaisers Max Tochtermann. In der Stadt, die Bürger, waren die einen voll Angst, die andern mit uns im Bund.

Wir rannten an – am Ostertag früh. »Stürmt an – die Freiheit will auferstehen aus dem Grab! Ist Ostertag heut!«

Die Bauern liefen gegen die Stadt – Herr Florian mit seiner Schar ging gen das Schloß. In der Stadt war Wirrnis und Angst – durch die Spittelpfort ließen unsre Freunde uns ein, Giers und mich und unsre Schar – wir fielen denen auf der Mauer in den Rücken, die andern drangen hinter uns her, Mord und Kampf hub an . . .

Da sah ich auf dem Schloß aus einem Fenster die schwarze Fahne wehn: Herr Florian war oben – der Kampf war aus.

Die Bauern tobten in der Stadt. Vor etlichen Tagen hatte 265 man der Unsern ein paar Tausend ermordet, wider Kriegsrecht und Brauch, bei Königshofen. Drum waren die Bauern wildwütig vor Zorn. Sie gaben kein Gnad. Im Freithof reckten sie die Spieße hoch; und vom Turm warf man die Herren hinab in die Lanzen . . . Der von Helfenstein nur, sein Weib und Kind und ein paar andre dazu waren gefangen.

Am Morgen drauf, im feuchten Dämmergrau, ließ sie der Jäcklein Rohrbach durch die Spieße treiben. Sie wurden niedergestochen wie Säue auf der Hatz. Die alte Hexe, die schwarze Hofmännin, schnitt dem Helfensteiner den Bauch auf und salbte sich mit dem Schmer die Schuh, der Melchior Nonnenmacher den Spieß. Danach jagten sie noch ein Dutzend andrer Herren durch die Reih und es ging ihnen wie dem von Helfenstein.

Herr Florian kam angejagt und sah, was geschehn. Im Lager schrie ers ihnen ins Gesicht: »Ich bin gegen Unrecht ins Feld gezogen, für Freiheit und Recht. Ihr habt mich zum Hauptmann gemacht. Das da habt ihr getan wider mein' Befehl, hinterrücks. Ihr seid kein Heer, seid ein Haufen von wilden Säuen. Sucht euch den Hauptmann anderswo!«

Er wandte das Pferd. Sein Gesicht war bleich vor Zorn, das Haar lag ihm feucht an den Schläfen und macht' es noch schmäler. Die Bauern standen voll Schreck mit offenem Maul.

Ein Ruf – die schwarzen Reiter sprangen zu Pferd, die schwarze Fahne flatterte hoch – Herr Geyer ritt aus dem Lager. Hinter ihm her Schreien und Rufen – er jagte davon.

Der Bauernhauf war ohne Führer und Herr. Der Jäcklein Rohrbach brüllte voll Hohn: »Wir brauchen kein' Herren zum Hauptmann nit!« Das war für den hellen Haufen das End.

Herr Florian stand allein. Wie immer, wenn einer rein das Licht will. Er steht zwischen denen, die das Licht wollen und es schänden, weil sie selber unecht und niedrig sein – und denen, die es bekämpfen, weil sie das Dunkel wollen. Mitteninne zwischen beiden stehen allzeit die Aufrechten und Echten. Herr Geyer blieb aufrecht und rein sein Leben lang. 266

Er wußte, daß er verloren war. Für die Herren war er geächtet, vogelfrei. Mit der Bauern Sach wars aus. Mitteninn' er – mußte fallen, für niemand und nichts. Leben und Streit vertan . . . Er reckte die Fahne hoch, steil hoch voll Trotz, höher als vordem noch, voll Stolz, faßte das Schwert, hieb ein nach rechts und nach links, hieb ein auf die Freiheitsschänder und auf die Freiheitsfeinde erst recht.

Giers und ich riefen unsere Bauern zuhauf: »Wollt ihr beim hellen Haufen bleiben oder mit Herrn Geyer gehn?«

»Mit Herrn Florian!«

Wir ritten ihm nach. Wir trafen ihn im Wald, auf einer grünen Au. Sie hielten Rast. Herr Geyer saß allein. Wir traten vor ihn: »Herr Geyer – unser Schar will mit Euch gehn!«

Er sah uns an, hart: »Es geht in den Tod!«

»Wir wissens, Herr Geyer!«

Er stand auf, als kost' es ihn Müh. Sah auf die Bauern, von einem zum andern hin. Sie hielten starr, die Augen brannten wie dunkle Flammen in seinen Blick. Er zog das Schwert, von dem er niemals das Blut wegwischt' – es war rostrot davon. Er hielts uns dar. Wir legten die Schwurhand auf die Klinge, die rauh war von Blut. Die Bauern hoben die Hand zum Eid. Danach gab er uns allen die Hand. Sie war eisenhart. Von da an war Herr Geyer unser Herr für Leben und Tod.

 

Wir ritten durch einen stillen Grund, zwischen Walddunkel und Berg. Ein Bach ging neben uns hin.

»Hör Giers: ich will zum Luther gehn. Er muß herüber zu uns. Wenn er bei uns steht, fallen uns alle zu: Städte, Herren, all . . . Und unser Sach hat den Sieg.«

Er sah mich scheel an. »Bist irr? Der Luther? Der vor den Herren kriecht? Singt ers zehnmal nach andrer Weis – er singt das selbe Lied – er ist ein Pfaff!«

»Vergiß nicht, Giers, was er getan hat! Hat uns freigemacht von Rom! Er ist ein Mann!« 267

»Wars!«

»Ists vielleicht noch! Ist unser letzte Rettung und Hilf. Steht er wider uns – ists aus . . . Ich wills für Herrn Florian tun!«

Giers schwieg. Wir ritten durch ein verbranntes Dorf. Leichen lagen wirr überhauf, verwest schon und voll Gestank. Wilde Hunde strichen um sie.

Weinberge kamen, zerstampft, die Reben aus der Erde gerissen, verbrannt. Finster sah Giers auf den Jammer ringsum.

»So geh! Nimm dir ein halb Dutzend Kerle mit –«

»Ich will allein gehen. Komm besser durch.«

Wir reichten einander die Hände. Blickten uns einmal noch ins Aug. Wußte keiner, ob er den andern sollt wiedersehen.

Wir lächelten beide. »Komm wieder, Urs!« – »Bleib heil, Giers!« Ich wandte das Pferd und ritt nach Ost, gegen Nüremberg zu, wo das Land stiller war.

Ich wollt einen Bogen schlagen um die Stadt, denn Nüremberg hielts allzeit mit den Herren, war den Bauern grimm feind. Aber je näher ich kam, desto heißer stiegs in mir auf: dort, in der Stadt, wohnt der Albrecht Dürer! Ein heimlich Glück: daß in all der grauenvollen Zeit, in allem Mord und Brand, in Elend und Not, der stille Meister noch lebt' – bei seinen Bildtafeln und Schnitten, das Aug ins Ewige gekehrt, fernab von irdischem Greuel und Wust . . . Und immer drangvoller kams über mich: geh zu ihm . . . Ich lenkte das Pferd gen Nüremberg, ich wußt' selber nicht wie, und war vor der Mauer . . . Zog einen falschen Paß hervor – hatte ihrer ein halb Dutzend in der Tasche – und fragte mich durch nach des Meisters Haus. Das Herz ging mir schwer.

Ich schlug ans Tor und begehrte nach dem Meister. Die Magd sah mich unlieb an: »Ist krank! Was wollt Ihr von ihm?« – »Hab ein eiligen Brief an ihn«, log ich und hielt ihr den Paß hin. Sie zauderte immer noch; da drückt' ich ihr einen Viertelsgulden in die Hand und ging an ihr vorbei in den Flur. »Wo 268 ist der Meister?« Sie deutete stumm auf die steile Holztreppe, lief mir dann nach auf leisen Füßen und wies noch höher, gegen eine Tür.

Ich stieg hinauf – mir schlug das Herz, als wollt es die Brust zersprengen. Ich bekam keinen Atem. So stand ich vor der Tür und fand den Mut nicht, anzuklopfen. Drin war kein Laut. Ich horchte mit allen Sinnen: – jetzt war mir, als raschelte ein Papier, als tönte ein leises Seufzen.

Da pochte ich endlich zaghaft. Eine Stimme, sanft und matt, klang auf, ich verstand nichts. Aber ich drückte die Tür auf und trat in die große, lichte Stube, die im Eck des Hauses lag. Ich sah Blumen am Fenster – das war das erste, was ich sah. Ihr heller Schein war im Raum wie ein freundlicher Gruß.

Jetzt gewahrt' ich an den Fenstern ein paar große, rohe Brettertische, auf denen eine Unzahl von Papierblättern lag, Zeichnungen, Holzschnitte, Kupferstich', dazwischen Malgerät, alles wirr durcheinand, ein paar Bücher, beschriebenes Papier. Ein Malgestell stand mitten im Zimmer, mit einer großen Tafel, aber ich konnte das Bild nicht sehen, denn es war dem Fenster zugekehrt. Und nun endlich fand ich den Meister . . .

Er saß an einem Fenster, gegen die Stadtmauer hin, vor einem großen Brett, auf das ein weißes Blatt gespannt war. Er sah blaß und leidend aus, und ob es schon warm war in der Stube, war er in einen Pelzrock gekleidet. Er wandte das Gesicht zu mir her – sein schönes, traurig-ernstes Gesicht, in dem so viel Leid und Leiden lagen. Er sah mich fragend an und ich stand immer noch an der Tür und starrte ihm ins Gesicht, konnte kein Wort sagen.

»Was willst, guter Freund?« fragte er endlich, und die Stimme klang müd und überdrüssig, als wollt er nur eins noch von der Welt: Ruhe und Einsamkeit.

»Vergebt mir, Meister«, stammelte ich, »ich hab kein' Brief an Euch, wie ich drunten gesagt, daß sie mich zu Euch lassen. Aber ich muß mit Euch reden . . . Es ist wie ein Wahnsinn in der 269 Welt . . . Ihr habt mit Euren klaren Augen tief ins Leben gesehen, habt Guts und Böses gesehen, Schönes und Häßliches. Ihr habt Euch all Eure Zeit um die heilige Kunst gemüht, und die Kunst, wann man sie nimmt wie Ihr, ist auch eine Philosophie und Theologie, nur daß sie nicht mit Worten redet, sondern mit stummen Bildern . . . Wir stehen alle mitten in der Welt, ihre wilden Wogen schlagen zusammen über uns, sieht keiner von uns weiter als ein paar Schritt. Aber Ihr –! Meister – wenn einer, so steht Ihr über der Zeit. Es ist ein furchtbares Für und Wider rings in der Welt. Wir mühen uns vergebens, daß wir aus dem Zeitlichen das Ewige erkennen und herauslesen. Der Luther ist aufgestanden wider Rom und Papst, und kann nicht eins werden mit Zwingli und Karlstadt und Münzer – es ist ein Streiten um Worte, das mich lächerlich dünkt. Aber Ihr – seht, Ihr streitet nie mit Worten! Was Ihr sagt, geht ohne Wort und Gedanken unmittelbar ins Herz und Gemüt . . .

Meister – ich habe einmal, beim Grasser in München, gelernt, Holzbilder zu schneiden, ich habe am Dom zu Ulm gewerkt, ich und mein Freund und Bruder, und wir haben alles wieder gelassen und sind ohne Ziel unterwegs und suchen . . . Ihr wißt es wie ich: unsere alte, große Kunst ist tot, es kommt die neue, fremde, glatte Kunst aus Süden, von Italien her, die glatte, schönwangige Kunst mit schmeichelnden Formen und Farben, aber ohne Seele. Es geht alles zugrunde, überall Neues, überall gärt es und braust es . . .

Ihr habt die heimlich Offenbarung Johannis in Holz geschnitten, wir haben nie kein größer Werk gesehen als den Engelsturz darin. Und der Engel zeigt endlich dem Johannes die neue Stadt auf neuer Erd. Sagt, Meister: ist das das Ewige, das Bestand haben wird? Wißt Ihr um die neue Stadt auf neuer Erd? So bitt ich Euch, sagt sie uns, zeigt sie uns! Darum bin ich zu Euch gekommen . . .«

Der Meister sah mich an, lang und ernst. Sein schönes, leidendes Gesicht wurde traurig. 270

»Du mühst dich um die selben Fragen und Rätsel, um die sich der Mensch allzeit gequält hat. Auch ich. Aber wenn du glaubst, ich hätte die Antwort gefunden, so irrst du . . . Lieber Gesell – du kommst herein in meine Werkstatt von ungefähr als ein wildfremder Gast, ich weiß nicht einmal dein' Namen, und fragst mich um die heimlichsten Wunden der Seele . . . Ich sollte dir die Tür weisen . . . Aber bleib nur. Ich sehe in deinen Augen die selbe Not, die ich so wohl kenne, von . . . anderen her . . . Nein, ich weiß die Antwort nicht . . . Aber ich sage dir, was wenige von mir wissen: schau an, da die Tafeln alle, die Riss' mit der Kreiden und Kohlen und mit dem Stift, mit der Feder, schau die Kupferstich' und Holzschnitt an: fühlst was heraus?«

Ich stand vor den Bildern, die eine ganze Welt umfaßten. Es war nichts auf der Erde und im Himmel, was da nicht aus der Wunderhand des Meisters hätte eine neue Gestalt angenommen, Hasen und Pferde, Hunde und Affen, Bauern und Ritter und Bürger und der Kaiser Max, Heilige und Engel, Christus und ein Herkules, Blumen auf dem Feld, schöne, nackte Frauen, Berge und weite Landschaft – alles war da, die ganze Welt. Gottvater selbst thronte in den Wolken, hoch über Erd' und Erdwesen . . . Der Mann, der blaß und müde an seinem Tisch saß, vor dem Zeichenbrett, hatte die ganze Welt zusammengetragen in seine enge Stuben. Aber seine Frage machte mich verlegen. Der Meister mochte es fühlen, denn er half mir:

»Was glaubst – warum hab ich das alles gemalt, gerissen, gestochen?«

»Meister – das fragt Ihr mich?! – Es ist ein unlösbares Geheimnis um die Tiefen, daraus einer schafft und schaffen muß. Bin ich gegen Euch auch nur ein ohnmächtiger Zwerg, so viel weiß ich auch darum . . .«

»Du hast recht . . . Aber was denkst du, Gesell? Warum malen wir die Blumen auf der Wiesen, die Bauern, die Berg und Bäum, die wir doch können alle Tag draußen wirklich sehen, viel schöner und besser als der künstreichste Meister sie kann schildern 271 auf seinem Gemäl'; lebendig und voll Leben. Was plagen wir uns mit so unnützer Arbeit?«

»Wann Ihr mir das könnt' sagen, Meister –!«

»Gott hat uns eine Kraft geben, die hat er selbst den höchsten Engeln geweigert – die Kraft, die nur er selber voll und ganz hat, und hat uns damit sich selber ähnlich gemacht, nur dadurch: die Schöpferkraft . . . Die Blumen auf der Wiesen, die Berg und Täler und Menschen alle – die sind da wie der Lehm, aus dem man die Ziegel macht, um draus Häuser und Kirchen zu bauen. Wir nehmen sie, nit mit der groben Hand – mit dem Aug nur, und schaffen draus neue, andre Blumen und Berg, und Menschen und Bäum – sind jetzt unser! Unsere Geschöpf, die vordem nit waren. Wie auch die Häuser vordem nit waren. Jetzt tragen sie etwas von uns an sich, nit von unserm Gesicht und unserm Leib – sondern von unserem Geist, von der Weis', wie wir die Welt anschauen –: wir und niemand andrer sonst. Glaubst, der Herr Christus hat so ausgeschaut, wie ich ihn hab gemalt? Die Apostel und Heiligen so, wie sie da auf den Tafeln stehen? Ja, nit einmal der Kaiser Max selig hat so geschaut, wie ich ihn hab gemalt, hab ich mich auch noch so gemüht, daß ichs genau triff, jeden Zug und jede Falten in seinem Gesicht . . . Das hat mich früher viel Jahr lang hart betrübt, daß's immer ist anders worden, was ich bild mit meiner Hand, anders als es vor uns steht in der Wirklichkeit . . . Heut weiß ichs besser: alls, was ich gemacht hab mit Pinsel und Stift, tragt von mir das Siegel an der Stirn, ist von meinem Geist und Aug ein Zeugnis, ist mein Geschöpf. Drum allein kann, wer sich drauf versteht, an einem Bild gleich sehen, von welchem Meister es ist gemacht . . .«

»Ja, Meister . . . Aber . . .«

»Hör weiter! . . . Aus der Natur, die für alle Menschen da ist, für alle gleich, nimm ich Menschen und Tier und Gewächs, und mach draus meine eigen Geschöpf, die mein' Geist und Aug und mein' Willen ausdrucken vor der Welt. Aber wie mein Geist 272 und Aug ist, ist Gottes Willen . . . So auch ists in den göttlichen Dingen. Gott schickt zeitweis Lehrer unter uns, die uns zu ihm sollen führen. Auch die Natur ist so ein Lehrer, die Zeitläuft' und das Schicksal . . . Und was die alle sagen und predigen – daraus nimm ich für mein Teil, was ich kann brauchen, und form' draus mein' eigenen Glauben, wie ich meine Bilder hab gemacht . . . Und was ich draus nimm, ist wiederum Gottes Willen . . . Was ich in Wahrheit glaub, ist nit der römische Glauben – den hab ich schon abgetan, eh daß der Luther ist aufgestanden – ist aber auch nit, was der Luther lehrt. Könnt ihn nit in ein Katechismum bringen . . . Hab ihn bekannt mit dem Pinsel und mehr noch mit dem Stift . . .

So muß ein jedlicher tun: muß aus dem, was ihm Gott schickt, nehmen, was ihm taugt und gemäß ist, und draus das Gebäu seines eignen Glaubens schlichten . . . Wird auch Gottes Willen sein . . .«

Ich stand vor dem Meister, in dessen blasses Gesicht eine leise Röte gestiegen war – ob es Scham war, daß er mir so viel bekannt, ob eine Wallung des Fiebers – ich weiß es nicht. Stand vor ihm wie vor einem wahrhaftigen Heiligen. Ich sah noch einmal im Kreis, blickt' auf die Tafeln und Blätter, aus denen die ganze Welt redet' als ein Bekenntnis des Meisters zu seinem Gott. Dann wieder sah ich in des Meisters Gesicht, Abschied zu nehmen. Er reicht' mir die Hand hin. Ich nahm sie und ein Schauer durchlief mich. Ich beugte mich tief über sie und küßte sie. Dann kehrt' ich mich rasch und ging aus dem Zimmer, stolperte über die steile Treppe und lief aus dem Haus, lief durch die Gasse hinab zur Sebalduskirch' und stand vor dem Christophorus, der an der Mauer riesenhaft ragt' und das kleine Kind auf der Schulter trägt, das ihm zu schwer wird . . .

Ich kam aus der Stadt, verwirrt, wie im Traum. Ritt gegen Nord, übers Gebirg, nach Sachsen hinüber. Aber auf dem ganzen Weg fühlt' ich mich als ein Gesegneter, dem in dieser Welt nichts Böses mehr widerfahren kann. Die stille Stunde beim 273 Meister Albrecht hatte mich gefeit. Ich stand über den Dingen und ihrer grausen Verflechtung, die man Schicksal nennt. Und so war mir auch immer, als hätt' ich mein Sach mit dem Luther schon gericht', wär eins mit ihm worden. Das kam aber nur daher, weil ich das Ewige an meinem Leben, an unser aller Leben, in der Werkstatt des Meisters zu Nüremberg an mir vorüberstreichen gefühlt wie einen mächtigen Atem. Der Luther war ein Stein auf dem Spielbrett Gottes – und ich auch. Auf dem Spielplan mochten wir feind sein oder freund; in Wahrheit waren wir Figuren in Gottes Hand, die er lenkte nach seinem großen Plan. Das wußte ich nun. So trat ich jetzt vor ihn. Ich sah das Spiel von ganz oben – er nur von unten, von der Kampfstatt aus.

Ich fragte im Land nach ihm. Er war unterwegs, die Dörfer und Städt' zur Ruhe zu mahnen. In Seeburg, am Abend, holt ich ihn ein. Man wies mich ins Wirtshaus, darin er zur Nacht bleiben wollt.

Der Wirt sah mich mißtrauisch an, vom Kopf bis zum Fuß. Dann schickt' er mich hinauf über die Treppe; auf halbem Weg kam er mir nach, als fürchte er Überfall auf den Doktor. Er zeigt' auf eine Tür und blieb wartend stehen.

Da ich in die Stube trat, saß der Luther an einem großen Tisch, bei einem Licht, und schrieb. Der ganze Tisch war überdeckt mit Papieren; aber auch die riesige Bibel lag dabei, aufgeschlagen, als hätt' er eben darin geblättert und gesucht.

»Was bringst du, lieber Gesell?« fragt' er, nicht eben gar freundlich, »du siehst, ich habe zu schreiben – könnt' sechs Hände brauchen statt zweier . . .«

Ich sah ihn an: das war also der selbe Martin Luther, den wir vor wenig Jahren als frischen Junker mit Armbrust und Jagdspieß im Wald gefunden . . . Er war feist geworden, und sein Atem ging manchmal kurz. Ich sog prüfend die Luft ein: ich glaubte Weihrauch in der Stube zu riechen . . .

»Herr Doktor – Ihr seid wider die Bauern – ich komm 274 von den Bauern. In letzter Stund. Es steht alls auf dem Spiel. Des deutschen Reichs Zukommen für alle Zeit. Noch einmal: geht mit uns! Ihr seid der mächtigste Mann in Deutschland. Ein Wort von Euch – und unser gerechte Sach ist Sieger, es hebt eine neue Ordnung der Dinge an und man wird Euch nach Jahrhunderten noch segnen und preisen . . . Ein Wort von Euch: und wir sind verloren – und man wird Euch nach Jahrhunderten noch einen Verräter schelten, einen kurzsichtigen Toren, der nicht erkannt hat, auf welcher Seite das Recht ist; der den Herrn und ihrer Macht half, weil er nicht loskonnt' vom Alten . . . Hier steh ich vor Euch, als ein Mahner in letzter Stund: geht mit uns. Laßt Eure Briefe an Herren und Fürsten – schreibt einen Brief nur, nur einen: an alle Unterdrückten, an alle Niedern, an alle, die unter dem Herrenzwang gehen wie das Vieh unter dem Joch. An die schreibt: euer Kampf ist gerecht. Und den Herren schreibt – Ihr seid ja groß im Fluchen! – den Herren werft Euren Fluch hin, den satten Bürgern in den Städten, den feisten Pfaffen in den Klöstern, den Bischöfen und Erzbischöfen. Und schreit ihnen zu: euer Sach ist des Teufels Sach! . . . Das tut!«

Luther sah mich an mit den großen, seltsamen Augen, vor denen sich die römischen Pfaffen also entsetzt hatten, daß sie ihn für besessen hielten. Ich glaubte nicht anders, als daß er nun aufspringen, mir das Tintenfaß an den Kopf werfen und mich als einen bösen Geist in die Hölle schicken würde, wie er gewohnt war. Aber er blieb still, sah mich nur an. Dann winkt' er mich näher und wies auf einen Stuhl. »Setz dich, Gesell!«

Ich rückte den Stuhl zum Tisch und setzte mich. Zwischen mir und ihm lag die große Bibel aufgeschlagen. Ich hätte sie wegschieben mögen – sie schien mir wie eine feindliche Festungsmauer, über die ich nicht dringen konnte, nicht in sein Denken, nicht in sein Herz.

Vor wenig Tagen war ich vor dem Meister Dürer gestanden. Jetzt saß ich dem Luther gegenüber. Die zwei größten Männer 275 der Zeit. In meinem Ohr klang noch der stille, müde Ton von Meister Albrechts Stimme; in meinem Aug standen noch seine Bilder alle, die ich gesehen; in meinem Herzen bebten noch seine wunderbaren Worte über Gott und den Glauben . . . Mein inner Aug hatte noch den Blick von der Höhe, den er mir gegeben. Mit all dem kam ich zu Dr. Martin: mit dem einsam reitenden Reiter, den Tod und Teufel nicht anfechten kann, mit dem alten Mann in Antwerpen, mit dem durchdringenden klaren Blick des vielwerten Meisters selbst. Damit sah ich, gleichsam mit des Meisters Aug, den Mann hinter der Bibel an – – – und er wurde klein vor mir, war nicht mehr der donnermächtige Riese von Wittenberg; nicht mehr der Mann, der vor Kaiser und Papstlegat sein eisernes Nein gerufen . . .

Er saß hinter der Bibel wie hinter einer Schanze. Und mit einmal sah ich die flackernde Angst in seinem Blick . . . Wie bei einem, der auf einen steilen Felsen gestiegen ist und nicht mehr weiter kann . . .

War dieser Mann je ein Führer gewesen? Einmal vielleicht ja; heute – wurde er geführt von dem Geschehen, das sein eigenes Gesetz in sich trug, nach dem es fortlief in der Welt . . . Heute schrie er voll Angst um Hilfe, konnte nur mehr hemmen und dämmen, nicht mehr vorwärtsstürmen und führen wie einst . . . Er begann:

»Ihr habt mir eure zwölf Artikel geschickt – ich hab drauf mein Bescheid gesagt: ihr tut wider die Schrift. Denn hie« – und er ballte die Faust auf der Bibel – »hie steht geschrieben: wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen . . . Ihr dürft euren Herren nicht mit Gewalt entgegnen; denn es steht geschrieben: wer dich auf einen Backen schlägt, dem halt auch den andern dar . . . Es gebührt dem Christen nicht zu rechten und zu fechten, sondern Unrecht zu leiden und das Übel zu dulden. Ihr wollet nimmer Eigenleut' sein? Das heißt, christliche Freiheit, die allein auf den Geist geht, ganz fleischlich machen! Auch Abraham hat Leibeigene gehabt! So handelt ihr 276 stracks wider die Schrift, indem ihr euren Leib, der eigen ist worden, euern Herrn nehmt und stehlt . . .«

Da hielt ich nicht länger an mich. Ich schrie ihn fast an:

»Genug, Doktor, ich kenn Euer Schrift über die Artikel! Seid Ihr von Sinnen?! Was kümmert uns Euer Abraham, der vor dreitausend Jahr gelebt hat oder wann er mag, ob er Sklaven gehabt hat oder nicht?! Das kommt, wenn man ein fremdwildes Buch, das vor ein paar tausend Jahr in einem weltfernen Land, bei einem ganz fremden Volk, mag recht und gut gewesen sein, will uns aufzwingen als Gottes Wort! Wird zu Unheil und Wahnwitz, an dem wir zugrundgehen allesamt! Ein Buch voll hunderttausend Widersprüch, aus dem jeder liest und auslegt, was ihm gefällt, Ihr das, die anderen das! Seht an: gebührt uns nicht, wider Unrecht zu fechten, sagt Ihr; wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen! Wie das, Doctor? Aber gegen die Türken kriegen, ist recht, he? Und wo wären wir heut, wir und das ganz Abendland, wenn wir vor ein paar hundert Jahr nicht mit dem Schwert wider die Tataren gestanden wären und hätten sie gefällt, mehr denn hunderttausend? He? Da war das Schwert recht! Und haben die Makkabäer in Eurer lieben Bibel nicht mit dem Schwert gegen die Unterdrücker gekämpft? Und werden drum hoch gepriesen von euch Pfaffen? He? Ja, ich weiß, was Ihr jetzt sagen wollt: die Tataren und Türken sind fremde Heidenvölker – gegen die ziemt sich das Schwert, wie? Aber schlimmer sind, glaub ich, die ihre Brüder im eignen Volk unterdrücken! – Habt Ihr nicht selbst vor kaum sechs Jahr gesagt: was waschen wir nicht unsere Händ in dem Blut der römischen Pfaffen? Wie das? Und jetzt mit einmal ists wider die Schrift, daß wir wollen Menschen sein, nicht Ackervieh auf den Feldern der Herren? . . . Geht mir mit Eurer Schrift, die nur Unglück über uns bringt, seit sie zu uns ist kommen!«

Der Luther ward bleich und rot, der Atem ging ihn. kurz. Wollt aufstehn, konnt sich nicht regen. Dann keucht' er: 277

»Du willst – ihr wollt mir die Schrift – das heilig Gotteswort –«

»Seid still mit Eurem Gotteswort, das ihr eingesargt habt in ein papieren Grab! Das Gotteswort ist wie ein Quell: kommt vom Himmel, sinkt in Erdtiefen, und bricht an den Tag – da, dort, kann keiner wissen, wann und wo. Der Quell fließt hin, hell und klar – dann mit einmal ist er weg, dürr Reisig und welkes Laub decken ihn zu, Felsblöck liegen drüber her. Du glaubst ihn versunken, verloren. Aber mit einmal – bricht er wieder ans Licht, ist da – rein, wie nur je und je. Dann ist ein neuer Gottestag, da alle das Gotteswort hören und das Gotteslicht sehen. So ein Gottestag ist heut. Und so ein Gottestag wird sein immer wieder und wiederum, wenn die Zeit reif ist zur Erfüllung . . .

Das Gotteswort flutet durch die Zeit, wandelt sich ewig, ist neu jeden Tag, jede Stund. Du kannsts nicht halten und festnageln, nicht sagen: so ist es, so solls bleiben für immerdar. Indem du's aufschreibst, ist es schon tot, stirbt unter der Feder; und willst das tote dann aufwerfen zum Gesetz für alle Zeit, wirds zum Blutgötzen, der das Leben knechtet, dem man Menschenopfer schlacht't, der die Menschen zum Teufel führt statt zu Gott. Wer das Gotteswort aufschreibt und sich an den Buchstaben klammert voll Angst, hat niemalen in sich das lebendige Wort gehört! Hat kein Vertrauen zu Gott, daß er immer wieder zu ihm reden wird. Ist schwach und klein! . . . Ja, domine Doctor – schwach seid Ihr im innersten Seelgrund, werft Ihr auch noch so wild um mit Eurem Fluchen und Donnerwort, mit Grobheit und ewiger Verdammnis! Schwach seid Ihr, hängt Euch an den toten Buchstaben der Lehr, die einmal für ein ander Volk jung und lebendig war, heut alt und faulig und tot ist – hängt Euch dran wie das Kind an der Mutter Rock, weil Ihr Euch nicht traut, selbst gehen und stehen . . .!«

Der Luther blieb still, schmiß mir nicht die Bibel an den Kopf oder den Holzstuhl. Zittert' am ganzen Leib. Dann hob er das 278 Aug auf zu mir und ich erschrak vor der Tiefe, die drin lag . . . Die war wie ein Abgrund von allem Leid, das je Menschen treffen kann. Er sprach, langsam und schwer, ganz leis:

»So hat noch keiner zu mir gered't . . . Niemand . . . So glaubst du, daß das Gotteswort, das einmal ist wahr gewesen, heute kann falsch sein?«

Ich lacht' ihm ins Gesicht. »Das Gotteswort! Seid Ihr dabei gewesen, wie's Gott gesprochen hat?! Ihr oder einer von uns? Ja?! Ist leicht gesagt: steht in der Schrift! Wer hats hineingeschrieben?! – Aber sei's drum! Doch: was man zu Rom sagt – gilt das zu Wittenberg? Was man im Judenland schrieb – gilt das für Deutschland?! So laßt doch das alte Papier! Immer das modrige Buch, nie das Leben! Ihr seid nie aus dem Kloster gekommen, steckt heute noch drin, der alte Bettelmönch! Damals habt Ihr die Armut gepriesen und nie bedacht, daß Armut nie sein kann ohne den Reichtum, der ihr täglich das Brot reicht. Ihr seht heut noch die Welt vom Klosterfenster aus. Glaubt Ihr, das innere Gottesreich kann bestehen ohne das äußere Weltregiment? Wollt Ihr innen im Menschen das freie Wort gründen, ohne daß Ihr das geil wucherische Gewaltwesen der Herren abtut, die das Gotteswort nur vorhalten wie einen Schild, dahinter frech ihr gottlos Gewaltgier zu treiben? Innen und außen gehören zusamm, allzeit. Wenn Euer Wort und Lehr soll Bestand haben – dann baut auch das neue Reich! Wenn Euer Lehr neu ist, ein neuer Gottestag – dann brauchts das neue Reich! Soll aber das Reich alt bleiben und morsch, ists auch mit Eurem Wort nichts, bleibt alles beim Alten!

Aber Ihr wollt ja gar keinen neuen Glauben! Einmal, vor Jahren, da Ihr aufstandet wider Rom, da war so etwas in Euch, das war anzusehen wie Freiheit und deutscher Geist. Da riefet Ihr zum Kampf, da konnte man denken, Ihr würdet das deutsch Volk zum deutschen Eigenglauben führen . . . Heut?! – Mir ist, da ich jetzt vor Euch sitze, als rieche ich Weihrauch in der Luft. Es hat sich ja gar nichts geändert durch Eure Lehr! 279

Bedenkts, Doktor – wer Ihr gewesen seid, und – was Ihr jetzt wollt.

Nein, Doktor! Es gibt kein Zurück mehr! Das Meer ist in Aufruhr, bricht seine Ufer. Hinaus mit Euch, nicht retten das Alte, nein! – zertrümmern das Morsche, alls, was steht – dann neu bauen vom Grund aus das Neue. Das kann niemand als du! Das ist dein Amt und Pflicht!«

Es ward eine Stille zwischen uns, schwer, wie ein Sarg aus Blei. Luther deckt' die Hände vors Gesicht, stützte die Arme auf den Tisch. Nach einer Zeit, die mir endlos schien, flüstert' er, kaum daß ich ihn hören konnt:

»Dann bin ich verworfen . . . das kann ich nicht . . .«

»Kannsts nicht? – Was hasts dann angefangen?! He? – Laßt du's bleiben auf halber Bahn, kommt über uns der Fluch von fünfhundert Jahr – und du, du wirst ihn tragen vor den Geschlechtern nach uns!«

Er stöhnte: »Ich habs nicht angefangen, ich nicht . . .! Es hat mich getrieben, bin hineingestolpert, wie ein Blinder, hab nicht gewußt und geahnt, wo's hinauswill, damals, vor acht Jahr . . . Hab vermeint, wird alles im Geistlichen bleiben, wo man mit dem Wort allein ficht, nit mit Hakenbüchs und Spieß . . . Jetzt . . . oh du mein Gott! Wohin ists jetzt kommen mit meinem Wort und Evangelium! Blut und Gewalt, wohin einer schaut. Das hab ich nit gewollt, nein! Das nit! . . . Wars falsch, alles, was ich gelehrt hab, geschrieben? Falsch – mein Werk, seit ich mit dem Hammer an die Domtür schlug in Wittenberg? Falsch, irr – mein – – ganz Leben – –?! Bin ich schuldig für das Blut, das nun fließt . . .?«

»Schuldig? Ja – wenns vergeblich geflossen ist – für nichts! Für Halbes und Stückwerk. Dann ja! – Doktor – wißt Ihr noch, wie Ihr zu Worms vor Kaiser und Papstlegat gestanden seid, vor vier Jahr? Damals haben wir, ich und der Giers Hammer, mein Gesell, in Euch den Erfüller der Zeit gesehen. Heut –? . . . Heut will der Giers Hammer das wahrhaft Neue, 280 will den neuen Gottestag heraufführen über die Zeit . . . Weg von der fremden alten Lehr, die nimmer gilt. Wir müssen horchen, ein jeder, was Gott uns ins Ohr sagt: das neue Wort . . .«

Der Luther zuckt' auf, ließ die Händ vom Gesicht sinken und starrte mich an. »Wie? Jeder?! . . . Jetzt weiß ich, woher der Wind weht! Jetzt hör ich den Münzer und die andern ›himmlischen Propheten‹! Jedem soll Gott sein Wort ins Ohr sagen? Wir brauchen die Schrift nimmer?! Weg von der Lehr? Das Wort soll nimmer gelten? Was dann noch? Wenn das nimmer, – die Schrift?!« Und er schlug mit der Faust auf die Bibel.

Ich hätte mögen weinen und lachen zugleich. Da war er wieder beim Alten, wieder bei der Schrift. Er kam nicht los von ihr! Es stieg eine kalte Wut in mir auf.

»Doktor – vor acht Jahr seid Ihr aufgestanden wider die Papstkirch, herrlich – ein Mann! Euer Wort ist durch Deutschland 'gangen wie Donner. Der Aufschrei von Millionen hat Euch Antwort 'geben. Ihr habt des Papsts Bullen verbrannt. Ihr habt gesagt: wir wollen unsere Hände in ihrem Blut waschen! Ihr habt für die Bauern geredet. Ihr habt ein Heer mit Euern Worten heraufgeführt auf das Kampffeld der Zeit. Nun aber – da es zum Streit will, da wir die Waffen schon aufgehoben – schreit Ihr zurück, mehr noch: fallt uns in den Rücken . . . Ihr habt den Papst stürzen wollen? . . . Ich seh' eine Zeit kommen, da ein neuer Papst zu Wittenberg wird sitzen!«

Er starrt' mich noch immer an. Stemmte die Fäust' auf den Tisch, schwer, voll der Kraft, stemmte sich hoch, stand auf und stand vor mir – hochgereckt, mächtig wie ein Fels. Sah mich an mit den dunklen Augen, in denen es unheimlich glüht'.

»So sei's drum! Ja! So wird ein neuer Papst zu Wittenberg sitzen. Heißt Martin Luther! Und soll recht behalten vor euch und über euch . . . Ihr wollt mir das Wort verkehren, das ich gelehrt? Wollt mirs in Gewalt verkehren, ins Äußere! Aber ich 281 sag euch: das Wort da –« und er schlug auf die Bibel – »das Wort sollt ihr mir stehen lassen – das Wort und mein Wort und Lehr! Mein Evangelium! Es soll recht bleiben, was ich lehr' und schreib, und sollt auch alle Welt drüber bersten!«

Da sah ich, daß alles vergeblich war. Der Pfaffe war wieder in ihm, den ich hatte erwürgen wollen. Ich stand auf, zog das Schwert und legt' es auf den Tisch, vor die Bibel, überzwerch zwischen ihn und mich.

»Herr Doktor: es ist kein Weg von uns zu Euch. Es muß Kampf zwischen uns sein, wem Gott das Recht gibt: Gottesgericht. Aber es soll ehrliche Feindschaft sein zwischen uns, nicht Haß und Mißachtung. Darum sag ichs Euch: Ihr seid der größte Mann der Zeit, Euer Andenken wird nie vergehen und immer heilig sein!

Aber Ihr seid der Größte nur – unserer Zeit. Der Giers Hammer ist größer als Ihr. Das wird man erst fassen am nächsten und abernächsten Gottestag. Darum ist kein Verstehen zwischen euch. Denn die Wahrheit von heut ist der bitterste Feind der Wahrheit von morgen . . . Sein Schritt geht schon hinein ins Dunkel des Kommenden. Darum seid Ihr eine Steinlast an seinem Fuß. Nichts als ein Mal auf seinem Weltweg. Aber gehen heißt: Wegmale überwinden und – zurücklassen. Wir schreiten über sie hinweg, aber wir ehren sie, denn sie waren einmal – Ziele für uns. Und darum, Luther: ich senke das Schwert vor dir!«

Damit nahm ichs vom Tisch und grüßt' ihn mit dem Schwert, dann steckt' ichs wieder an seinen Ort und wendet' mich halb, immer noch gewärtig eines letzten Worts.

Über Luther gings hin, als wollt er die Arme heben, mich zum Abschied zu umfangen. Aber er blieb und tats nicht. Sein Blick lag auf mir und war ernst und freundlich still. Er lächelte. In mir brannte die Ehrfurcht vor ihm auf wie eine weiße Flamme.

Ich stand ihm gegenüber. Zwischen uns lag die Bibel. Er lächelte und schwieg. 282

Da kehrte ich mich von ihm und ging aus der Stube, aus dem Haus, in die Nacht.

Die Wolken waren verzogen, der Himmel aufgetan, voll der Sterne. Es war kalt.

Da wußte ich, daß jeder Weg in das Kommende durch den Tod geht, und mich überschauerte es.

Ich ritt langsam, ließ das Pferd den Weg suchen, durchs Dunkel. Ich wußte ihn nimmer . . . Das Licht, das der Meister Dürer in mir erweckt, war wieder verschüttet durch den Hader mit Luther . . .

 


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