Ernst Kratzmann
Die neue Erde
Ernst Kratzmann

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Ich war noch viel jünger als heut der Herbert Mertens ist, aber durch die Jahre des Wanderns war ich, wie man zu sagen pflegt, mit allen Hunden gehetzt und erfahren über mein Alter; der Hunger und Mangel aller Art hatten meinen Leib kindhaft schmächtig gehalten; nur das Gesicht trug die frühen Falten und Rinnen, aus denen das Wissen um das Leid und die Kümmernis der Welt sprach. Darum mochte es sein, daß mich der Meister Grasser zum Vorbild für den Jünger unter dem Kreuz ersah.

Wir waren bei ihm in München schon über zwei Jahr, Giers Hammer und ich, und hatten gelernt, ein scharf Messer durchs weiche Holz ziehen und es lebendig machen, daß es Gestalt und Gesicht annimmt und lacht und weint, wie mans will.

Gotts Blitz und Wunder, wie gings in dem Mann um und um – die halbe Welt war dem in seinem Kopf! Bildschneiden, tolle Fratzen, wildgeberdig voll Leben, Brunnengraben und Kriegskunst, Brückenbau und Chorgestühl, Altar und Stadtbefestigung – war nichts, das er nicht verstand. Und dabei ein verwegener Gesell noch jetzt als ein Alter mit mächtigem Wanst und der Truhen voll Geld. Nur die Augen blitzten bisweilen so aus den Höhlen, daß man den Schalk ersah, der über alles lacht. Wenn er mit ein' Pfaffen red't wegen eines neuen Altarschreins, einer Kreuzigung oder so, war seine Stimm, als hätt er ein Pfund heiligen Chrysams geschluckt, so ölig und glatt. Nur in den Mundwinkeln schmutzlacht' er . . . Stund er aber am Werk, war sein Gesicht voll der Andacht und Scheu. Das bekam auch der Giers Hammer zu fühlen – aber das will ich später erzählen.

Einmal, da er für die Kirche in Pipping eine Kreuzigung zu schneiden hatt, rief er mich her, hieß mich, ein Gewand und Mantel anlegen, wie mans den Aposteln und Heiligen auf den Bildern gibt, und stellte mich unter das große Kreuz, das schon vollendet an der Wand lehnt'.

»Da schau her, Bub, da oben hängt der Herr Christus und 119 stirbt für uns. Bild dir recht inniglich das Leiden unseres Herrn ein, die Schmerzen, die er hat dulden müssen – für dich auch. Schau auf zu ihm wie der Jünger unter dem Kreuz, der die Hände ringt um den toten Meister . . .«

Ich dachte meines verlorenen Lebens, das in die Irre ging so manches Jahr, des Jammers und der Not, die über der Welt lagen und uns Arme zu Boden drückten wie ein Steinblock das grüne Gras. Ich sah ober mir den Herrn leiden und sterben, und es kam wirklich eine solche Erbärmde über mich, daß ich die Hände ineinanderrang und mir die Tränen über die Wangen liefen, ich wußt es selber nicht.

Da ich wieder um mich sah, gewahrt' ich den Meister Erasmus an seinem Brett sitzen mit todernstem Gesicht, die Augen auf mich wie funkelnde Kohlen, die Kohle fuhr wild übers Blatt.

»Schon gut, Bub«, nickt' er, und ich trat ängstlich weg vom Kreuz und getraute mich nicht, auf sein Blatt zu sehen. Aber er winkte mich her und ich sah mit einem süßen Erschrecken mich selber stehen wie einen fremden Menschen, als Jünger, die Hände ineinandergekrampft, das junge Gesicht voll bitterem Leid. Schmal, schlank, ganz noch fast wie ein Kind und darum so rührend . . .

Aber da einstmals ein Gesell in der Arbeit ein' Unflat red't von der heiligen Magdalen, die der Meister grad unterm Messer hatt, und das Wort braucht': junge Hur, alte Betschwester – stieg ihm das Blut blaurot ins Gesicht, schmiß das Messer nach dem Buben, und als der auswich, warf er mit dem Holzschlegel nach ihm, traf ihn auch so mit Wucht, daß dem ein' Rippen brach. Das war der Grasser . . .

Der Gesell aber mit der gebrochenen Rippe war der Giers Hammer. Da hatt es ein End mit dem fröhlichen Werken beim alten Grasser, und wars uns auch leid, von dem großen Meister zu scheiden, wir mußten weg von ihm und von München. Denn ich und der Giers, wir waren zusammen allzeit wie Brüder.

Aber nun lagen damals die Herzoge Albrecht und Ruprecht 120 gegeneinander in Fehde, sie kriegten ums Landshuter Erbe. Und wie's immer war, wenn es Streit gab im Land: die Herren brüsteten sich auf schönen Rossen, ritten bisweilen wie im Turnier ein frisches Rennen mit Lanzen und Glenen, bei dem niemand groß Leid geschah und niemalen viel entschieden ward; aber den vollen Jammer und alle Not des Kriegs mußten die Armen erdulden, die Bauern draußen in Dorf und Feld, die nicht einmal wußten, um was es ging, denen es so völlig einerlei war, ob der Herr, dem sie fronen und zinsen mußten, mit Herzog Albrecht ritt oder mit Ruprecht – oder ob sie dem Papst gehörten oder dem Teufel. Ihre Felder wurden zerstampft und zerritten, auf ihren Äckern tummelte sich Freund und Feind, und einer war schlimmer als der ander. Dem Feind Abbruch tun – das hieß: seine Bauern heimsuchen, die Hütten verbrennen, Männer und Weiber und Kinder ins Elend jagen, obs Sommer oder Winter war, die Ernten anzünden, Kühe und Pferde rauben und noch das letzte Huhn wegnehmen. Aber der eigen Herr forderte drum nicht weniger Zins und Fron von seinen Bauern und scherte sich den Henker drum, woher es der nehmen, wie er pflügen sollt ohne Roß, ohne Pflug, ohne den Bissen Brot im Mund, ohne Haus und Hof – ein nackter Bettler auf wüster Flur. Ja, er forderte nun das Doppelte und Dreifache von ihm: als Entgelt für den Schaden und für den eignen Aufwand.

Wir wanderten nicht mehr durchs Land – wir liefen. Und wir waren unser zu dreien: Giers, ich – und der Hunger.

Der Sommer stand heiß über der Flur. Aber statt gelbreifender Kornfelder starrten uns allenthalb zerstampfte Strohhaufen entgegen, aus denen glosend und stinkend der beißende Qualm aufstieg. Statt der Dörfer fanden wir rauchende Trümmer. Kaum ein paar halbnackte Menschen, die stumpf und vertiert auf den rußschwarzen Lehmbrocken kauerten, die noch vor Tagen ihre Hütten gewesen. Die Toten lagen faulend zwischen zerfallenen Häusern, gräßlicher Gestank stieg von ihnen auf, und wenn wir vorbeikamen, hoben sich Wolken grünschillernder Aasfliegen von 121 den verstümmelten Leichen. Bei vielen Bauern, sonderlich den jungen, hatte das Kriegsvolk sich einen Henkerwitz gemacht und die Wehrlosen entmannt. Hingestreckt lagen sie in Lachen gestockten Bluts.

Wir rannten davon, gejagt von Entsetzen und Grauen, mieden die Dörfer, schlichen auf Irrwegen durch Wälder und Dickicht, daß wir dem Jammer entkämen. Aber Greuel und Jammer war überall, war in verborgensten Schluchten der einsamsten Forste wie draußen an den Straßen im breiten Land. Denn in die verlorensten Schlupfwinkel hatten die elenden Bauern sich verkrochen, hausten in Erdlöchern und Höhlen, schlangen Wurzeln und rohe Schwämme, fraßen das grüne Gras und starben an Hunger und Pestilenz. Und nicht einmal nur fanden wir sie, Weiber, Kinder und Männer, verkrümmt und verkrampft, die Hände verkrallt in die Erde, gleich Tieren verreckt, und zwischen den Zähnen noch staken ihnen Büschel von Gras, mit denen sie den Hunger zu stillen gesucht, der ihnen das Gedärm zerriß . . .

Wir saßen auf einer Höhe am Waldrand, sahen nieder auf das weite, sonnige Land. Fern glitzerte ein Flußlauf her. Mich kam bittere Klage an:

»Wie ist dies Land gesegnet mit fruchtbaren Äckern, mit Wäldern voll Hirschen und Rehen – und ist nun zur rauchenden Brandstatt worden! Fluch den Verderbern!«

»Das ist der Krieg«, sagte mein Gesell, »wie ihn die Herren verstehen, der Krieg, der aus der Gier kommt. Aus der Gier nach einem elenden Fetzen Lands, den einer dem andern nicht gönnt. Überall Gier! In den Städten der Wucherer, der das Korn einrafft in seine Scheuern, hinaufteuert Mehl und Brot, die letzte Speise der Armen; auf den Burgen die Herren, ohne Unterlaß kriegend um jeden Pfifferling, unersättlich im Raffen und Rauben; auf den Thronen die Herzoge und Fürsten, die wieder die Kleinherren unter ihr Joch beugen, einen um den andern, gejagt bei Tag und Nacht von der Gier nach mehr. Saugt einer dem andern das Mark aus den Knochen!« 122

»Du hast recht. Das ist der Fluch: Arbeit tut nur der Bauer im Feld, in der Stadt der Handwerksmann. Die andern alle leben von den beiden, von – uns! Wir Armen und Niedrigen sollen es tragen auf unsern Schultern, das ganze Reich: Herren und Kriegsvolk, Fürsten und Grafen und Kaiser –«

»Klöster und Bischöf!« warf Giers dazwischen.

»Ja, und Erzbischöfe und Äbte, Kaufleut und Wucherer!«

»Es gibt kein Kloster und kein Geweihter auch nur einen Pfennig an Steuer fürs Reich! Und haben sie Land und Dörfer und Zinsmänner, mehr als ein Herzog – sie steuern dafür keinen Batzen! Das halbe Reich ist ihr eigen – sie nehmen Zinsen und fordern Fron, aber sie steuern nicht! Wer hat das gesetzt? ›Gebt dem Kaiser, was sein ist‹, hat der Herr gesagt. Das wollen sie nicht hören. So muß das andre Halb die doppelten Steuern zahlen! Wucher und Gier!«

Und beide schrien wir fast zugleich: »Es muß mit der alten Ordnung ein End' sein. Ein neues Wesen muß werden zwischen den Ständen, zwischen den Menschen. Wo nicht, geht die Welt zugrund in Blut und Brand!«

Wir reckten die Faust in grimmiger Wut, schrien Flüche hinaus in die goldene Mittagsruh. Aber niemand hörte sie als etwa der Specht, der klopfend an den Bäumen lief.

»So ein Specht wollt ich sein«, sagt ich, »und das Geziefer herausfangen, das unter der Decke verborgen sitzt und uns aussaugt bis aufs Blut!«

»Wär eine bessere Hilf, Urs: anzünden den Baum – daß alles verbrennt! Ist eher kein Rat!«

Ich sah erschrocken auf Giers, der dastand mit flammendem Blick. »Ich sag dir, Urs: muß ein Feuer aufbrennen im ganzen Reich, das alles stürzt, was oben ist, und Gottes Gerechtigkeit heraufführt in die Zeit!«

Es graute uns beiden vor dem Wort, auch dem Giers, da es gesprochen war. Stumm schritten wir hin, dem Flußlauf entgegen, der Donau zu, nach Ulm. Dort wiesen wir dem Meister 123 Burkhart, der damals am Dom war, unsere Zeichenbücher, insonders die Blätter mit der Verkündung Mariä, die wir noch beim Grasser in München gemacht, und er nahm uns auf in die Hütte.

Wir dienten dem Dom . . .

 

Da waren unten, in der Erde verborgen und mit ihr verwurzelt, die urmächtigen Mauern, die alles trugen, den ganzen Dom mit seinem ungeheuren Lasten, wie einen Berg. Sie sahen niemals das Licht, niemand gedachte ihrer, wenn er bewundernd vor dem Dom stand und seine Schönheit pries. Und doch konnte ohne sie kein Stein des Gebäues sein. Aus ihnen herauf wuchsen die gewaltigen Pfeiler und Säulen, aufsteigend, als sollten sie den Himmel tragen, wuchsen hinauf ins Licht, hoch hinaus über Menschengröße und Menschenmaß, in eine erdferne Welt hinein. Und dort oben verzweigten sie sich in wunderbar kunstvoll gefügte Rippen und Gurten, wie der Baum sich auflöst in Äste und Zweige, die Krone zu bilden, die in seliger Fülle des Lichtes genießt; die Rippen zerteilten sich immer feiner und trugen das Gewölbe, den Himmel selbst. Jeder Teil trug und ward getragen, jeder lastete und wurde belastet, auch das Gewölbe oben stemmte und preßte sich, Stein wider Stein, und konnte nur dadurch allein frei über dem Abgrund schweben, aller Schwere zum Trotz. Und selbst die Mauern unten in der Tiefe, auf denen alle Last ruhte – auch sie wurden wieder getragen von der Erde selbst . . .

Wir schritten unter dem Dach über die Gewölbe, stiegen auf den Gerüsten umher unter den Gewölben, sahen, wie die Felder zwischen den Rippen sich gegeneinander brachen, jedes anders geneigt und gebogen, wie sie ihre Last weitergaben, ein Stein an den nächsten, bis die Rippen sie aufnahmen und wieder auf die Säulen übertrugen, die sie hinabführten bis in den Grund. Eines stützte das andere und ward wieder vom andern gestützt . . . Es war das Gesetz der Erde . . . 124

Das Gesetz, daß nichts gegeben wird, nichts werden kann ohne Beschwer, ohne Last, ohne Leid. Das Gesetz, das vor alles Geschehen, vor alles Menschliche gestellt ist.

Das war das Leid der Welt. Die Pfaffen sagten, es sei von der Erbsünde her über uns. Ich mußte lächeln über die Torheit. Aber aus diesem Tragen und Leiden wuchs unsere Größe, unser Denken und Bauen, wuchsen unsere großen Meister und ihr Schaffen, unser Schauen und Fühlen, unser Beten und Glauben, wuchs . . . Gott selber . . . Und war es dann ein Fluch, eine Sünde? Nicht vielmehr eine Gnade, der Wegweiser zu Gott?

In einer finsteren Ecke des Doms war in der Wand ein Steingesicht eingefügt, vor dem stand ich oft; es sah mich an aus den stummen Augen, aus den Falten und scharfen Rinnen der Züge, und wir redeten miteinander wie Brüder, die unter der gleichen Bürde gehen. Und die Jünger und die Marien unter dem Kreuz, wie sie die Hände rangen und weinten – klagten sie um den sterbenden Meister und Sohn? Klagte Unsere Frau, die den Leichnam des Heilands auf dem Schoß hielt, erstorben und kalt, um den toten Sohn? Schrien die Märtyrer all, der Sebastian, der Laurentius, schrien sie um die Qual ihres Martertods? Nicht alle vielmehr um die Not ihrer Meister, die mit Meißel und Messer von der Marter und Qual ihres eigenen Lebens gezeugt und dafür das Antlitz der Heiligen hatten nehmen müssen, weil sie kein ander Gefäß fanden, ihr Leid und Schmerz darein zu gießen?

Auch zu ihrer Zeit war die Welt schlecht und morsch geworden, war Unterdrückung, Gier und Geiz, hochfahriges Prachten der Mächtigen, stummes Dulden der Armen gewesen. Auch zu ihrer Zeit ward über diese alt und faul gewordene Welt das Wort von oben gesprochen, dröhnten Nacht für Nacht die Posaunen des Untergangs. Sie, mit den feineren Sinnen, die stillen Meister, die Lehrer und Weiser, litten bitterer unter dem Leid der Welt, fühlten es früher und herber als die andern, und darum allein war ihnen gegeben, es auszusprechen. 125

Wir sind ins Leben gestellt, es stetig zu wandeln, zu ändern, den Dom zu bauen, der aus der Tiefe in die Lichthöhen Gottes steigt. Aber die Welt ist des Stoffes, des Beharrens, der Schwere. Und es ist das Gesetz der Erde, daß alles Verändern, alles Neue erkauft werden muß mit Opfer und Blut. Nicht immer mit dem Blut des Leibes – auch die Seele kann bluten. Und das ist herber und schwerer. Das ist das Leid der Welt, das Gesetz des Stoffes. So muß unser Innengesetz wider das Erdgesetz stehen und unser viele müssen fallen und untergehen, ehe der Dom wird. Das sind die Steine, die in der Tiefe liegen und tragen müssen . . .

Aber der Menschendom ist ein ewiger Bau, der niemals vollendet werden kann, denn die Kreuzblume an der Spitze seines Turms ist der Fußschemel Gottes. Gott geht immer vor uns her und sieht sich nach uns um, ob wir ihm auch folgen. Aber wir können ihm nur nachgehen – nie ihn erreichen. Und so sind in dem ewigen Menschen- und Lichtdom, daran wir seit Urzeiten bauen, alle Steine nur Steine der Tiefe, alle nur tragend, alle nur solche, auf denen die Kommenden lasten. Alle sehnen sich nach dem Licht, wollen die Kreuzblume sein – und müssen doch unten sein und bleiben, auch wenn sie zu der Zeit, da sie dem Bau eingefügt wurden, die obersten waren. Denn an der unendlichen Höhe des Menschendomes gemessen, ist alles nur ein dunkles Unten, einerlei, ob der Stein ein paar Spannen höher oder tiefer, ein paar hundert oder tausend Jahre höher oder tiefer liegt. Er ist immer nur unten. Das ist das Leid der Welt.

Aber der Steindom, den wir bauen, ist ein Sinnbild jenes Menschen- und Lichtdomes, er stellt ihn als vollendeten dar und findet wirklich im Turmgipfel sein letztes Ziel, das uns erst in einer kommenden Ewigkeit werden kann. Er ist Sinnbild und Vorbild, Wecker und Rufer, wenn wir zusammenbrechen wollen über der Mühe und dem Grauen unseres Weges. Das ist das Geheimnis seiner Größe, darum erhebt er unsere Seelen und Herzen, einerlei, was die Pfaffen drin predigen und sagen. 126

Das ist das Lied des Domes.

Es klang mir aus in den Jahren, da wir dem Dom zu Ulm dienten, langsam und mählig. Erst etliche Töne vom Anfang, dann aus der Mitte ein paar, dann ein fernes Ahnen vom Ende. Ich verstand sie nicht, wußte nicht, wie ich sie zueinanderfügen sollt. Bis mit den Jahren und dem, was sie mir brachten, immer mehr und mehr aufstiegen und endlich das Lied voll in mir sang. Aber das war spät erst, und viel Leid und Verzagen, Verzweifeln und Zweifel lagen dazwischen wie spitze Steine auf einem Weg.

Vielleicht auch ist mir das ganze Lied damals nie erklungen, sondern erst heute, da ich dies schreibe als ein Späterer . . . Ja – wer kann es sagen, wäre es nicht möglich, daß ich auch heute noch immer nicht das ganze Lied höre, obwohl ich es glaube – daß mir auch jetzt nur der Anfang erst tönt und daß erst Spätere es voll vernehmen werden, die nach mir kommen, ja vielleicht auch sie nicht . . .? Denn wie der Dom selbst, ist auch sein Lied ohne Ende . . .

Auch Herbert Mertens sucht nach ihm. Er schafft an seiner Orgel. Unlängst kam er zu mir und bat mich um Hilfe, denn es fehlt ihm am Nötigsten: am Geld . . . Ich mußte ihn vertrösten, denn ich habe selbst nichts. Aber es ist wichtiger für uns, daß Herbert eine schöne Orgel zuwege bringt, als daß wir ein feineres Essen oder ein paar neue Kleider haben. Das sagte ich ihm auch und führte ihn hinaus in den großen Hühnerstall, zu all dem Gegacker und Gepiepse der Hennen und Kücken. »Wenn diese guten Tiere wieder ein paar hundert Eier gelegt haben, soll Ihre Orgel dafür etliche Pfeifen bekommen.«

Er lachte und schied zufrieden. Ich aber kehre zurück nach Ulm, zu Urs Brandt und Giers Hammer . . .

 

Ich stieg in der Nacht auf das Gerüst am Dom. Die Balken schnitten schwarze Striche ein in den mattleuchtenden Himmel, und dazwischen wanderten die Sternlichter hin, schoben sich unmerklich sacht weiter, verschwanden hinter den Balken und traten 127 wieder hervor. Und mitten unter ihnen flammte der neue Komet in rotem Schein.

Von unten herauf scholl durch die Stille der Nacht das Quinkelieren und Trummen der Hochzeitslust, das Lärmen des Volks. Ganz Ulm war auf, alle Bürger auf den Beinen, da die hoffärtige Jungfer Anna, des reichen Herrn Ehinger einzige Tochter, Hochzeit hielt. Wer nicht geladen war, stand gaffend auf der Gasse vor dem Haus. Sechs Tage schon dauerte die Lustbarkeit und wollte kein Ende nehmen. Als ein neuer Scherz war damals unter den Vornehmen aufgekommen, daß sich die Gäste spät in der Nacht, wenn sie zu ihren Herbergen wankten, voll Wein und Fraß, mit weißem Weizenmehl aus kleinen Säcklein beschütteten, daß sie aussahen, als kämen sie aus einem Schneesturm daher.

Das war zur selben Zeit, als zum drittenmal in der Spanne von fünf Jahren Mißwuchs war in ganz Deutschland und das Korn teurer wurde mit jedem Tag. Als die Bauern vielorts längst schon Baumrinden mahlen und unter das Hirsemehl mengen mußten, daraus das Brot zu backen.

Vor dem Tor des Hochzeitshauses hielten Stadtknechte Wacht mit gekreuztem Spieß, so drängten die Armen hinein. Denn im Hof stand allzeit ein Faß billigen, sauren Weins, daraus durfte sich jeder schöpfen nach Lust. Aber im Volk ging erschrockene Rede über den Kometen, der sich blutrot erzeigte, und über den Hochmut der Ehinger, die das Himmelszeichen mißachteten.

Ich sah pochenden Herzens auf zu dem furchtbaren Stern, der langsam und stetig heraufzog über unsern Himmel. Vor ein paar Jahren war die Pest im Rheinischen gewesen, an der fast jeder zweite starb. Mißwuchs war gewesen alle zwei Jahr. Was brachte der Komet? War das Maß des Jammers noch immer nicht voll?

In den Gassen standen zitternd und blaß, die nicht zu den Mächtigen gehörten, und wiesen mit taumelnder Hand nach dem Zeichen. Aus dem Brunnen draußen vor der Stadt, in der Alb, war statt des Wassers Blut geflossen. Einer hatte bittern Wermut gegeben, und es starb, wer davon trank. 128

Wir aber bauten am Dom, an dem man seit hundert Jahren schuf, und den auch wir nicht vollenden würden. Ich stand hoch oben über der Stadt, emporgehoben über die Erde, allein in der Nacht. Zu meinen Häupten brannte das Blutmal im Himmel, so nah, als könnt ichs mit Händen greifen. Da überfloß mich das Grausen, ich stieg nieder über schwanke Leitern und Stege, Steinbilder kamen aus der Nacht heran, schauten mich an, da ich vorüberging, aus den starren Augen der Entrückten. Zwischen ihnen und mir ging es hinab ins Bodenlose, klaffte der Abgrund schwarz. Ich wagte es nicht, die Hand nach den Bildern zu strecken, an den kalten Stein zu rühren. Sie sind hinweggenommen aus unserer Menschenwelt, hineingewachsen ins Leben der Ewigkeit, reden mit Wind und Wolken, Nachbarn dem Blitz und der Sonne. Wir haben keinen Teil mehr an ihnen.

Ich klomm die letzten Sprossen mit zitterndem Fuß, trat auf feste Stufen von Stein, war unten und ging davon, ins Dunkel der Gassen hinein. Murmelndes Beten klang neben mir: ein Mann und ein Weib knieten mit erhobenen Händen und lallten mit bebenden Lippen das Vaterunser, die Litanei der Heiligen, und ihre angstvollen Augen starrten empor nach dem Stern, wie Tieraugen aussehen zu dem Herrn, der mit dem Beil vor ihnen steht.

Da ich nahe zum Fischerturm hinkam, von dem man das Scherzwort braucht', daß dort auch die schönen Fischerinnen wohnten, fand ich an einer Hauswand lehnend eine von ihnen. Sie streckte die Hand aus nach mir, aber ohne den Ruf der lockenden Frauen, voll der Angst vielmehr und voll Sehnsucht nach einem Menschen. Da ging ich mit ihr. Wir schlichen in ein winziges Häuslein an der Mauer, eine Treppe empor, schlimmer als unsere Leitern am Domgerüst, und waren in einer Stube, so klein, daß man beinahe ins Bett fiel, wenn man hereintrat. Das Fenster stand offen. Ich hörte ganz leise, über die Stadtmauer her, das Rauschen der Donau, die sich an der Stadtmauer brach.

Die Frau warf mir die Arme um den Hals und weinte, sie 129 klammerte sich an mich. Sie war noch jung, ich fühlt' es an ihrem Leib.

»Müssen wir sterben, alle? Kommt jetzt das letzte Gericht?« Und die Zähne schlugen ihr aufeinander im Fieber der Angst.

Wir kauerten am Rand des Lagers, wir hielten uns innig umschlungen. »Ich bin so voll der Sünden – wenn ich jetzt sterben muß . . .«

»Es sind schon viel solcher Sterne über den Himmel gegangen, und die Erde steht immer noch . . .«

»Aber die Pfaffen schreien von der Kanzel, daß das Ende der Zeit gekommen sei . . .«

»Das tun sie immer, weil dann die Toren ihre Güter den Klöstern schenken, um Gnade vor Gott zu finden . . .«

»Was soll ich geben, daß ich Gnade finde?«

»Du törichtes Kind – glaubst du, daß Gott Gnade gibt für Geld? Für einen Acker? Ein Haus?«

»Für was dann? Wenn nicht einmal für das?«

»Für ein Herz . . .«

Sie hob den Kopf von meiner Schulter. Wir sahen voneinander kaum einen blassen Schimmer des Gesichts; ihre Augen nur glänzten mir feucht her wie Sterne durch einen Nebel.

»Mein Herz ist voll Sünden . . .«

»Heute nacht ist es rein geworden . . .«

Mit einem leisen Schrei warf sie sich an meine Brust, und wir taten das Werk der Liebe . . .

 

Am Morgen drauf – war ein Sonntag – ging ich mit Giers Hammer hinaus vor die Stadt, an der Iller hin, gegen Kirchberg. Zu Wiblingen kehrten wir in die Schenke ein. Sie war voll von lärmenden Bauern. Da wir eintraten, wurden sie stumm und blickten scheel, gaben uns den Gruß nur mürrisch zurück. Erst als sie sahen, daß wir keine Bürger waren, nur Hüttenknechte am Dom, fingen sie wieder zu reden an. Und bald ging der Stimmschwall über uns her wie Wasserbraus. 130

Wir horchten eine Weil, konnten aber nicht klug werden aus ihrem wilden Zorn. Mit einmal saß uns gegenüber ein Mann, des wir bisher kaum geachtet. Er hatte das Ansehen eines vornehmen Kriegsmannes, trug einen roten Rock und ziegelfarbene Hosen, am Hut eine Feder; ein Schwert an der Seiten. Er stellte den Holzkrug auf den Tisch.

»Mit Verlaub, Herrn, ich brings euch!« Und hob den Krug zum Trunk.

Giers riß ihm die Kanne vom Mund: »Nennt Ihr uns Herrn, so zerfreß Euch der Trunk das Gedärm!«

Der Fremde lächelte. »So bring ichs euch als guten Gesellen!« Er trank uns zu, und wir gaben Bescheid. Er wischte sich den Bart.

»Gott grüß euch, gute Gesellen! Was habt ihr für ein Wesen?«

Ich stutzte – Giers sah mich an. Dann sagte er langsam.

»Der arm' Mann in der Welt mag nit mehr genesen . . .«

Dem Kriegsmann gings wie ein Aufleuchten übers Gesicht. Er hob die Hand. »So seid ihr mir wahrlich gute Gesellen!« Und schlug mir in die Hand ein und danach dem Giers.

»Bist unser einer gewesen?« fragte er.

Giers sah den Fremden scharf an und lächelte. »Kenn Euch – vom armen Konrad her . . .«

Der andre fuhr ihm hastig ins Wort: »Halts Maul! Bin da der Jörg Pleß!«

»Bin froh, daß Ihr noch lebt, Hauptmann! Seid den Bluthunden aus dem Netz gelaufen . . .«

»Wohl! War hart . . . Und ists noch . . . Hab nirgends ein Weilen. Rings Späher und Feind.«

»So haltet Euch heimlich. Kann leicht kommen, daß wir Euer noch brauchen!«

»Wills Gott! Aber wenn das Feuer soll brennen, muß es aufleuchten weithin übers Land . . .«

»Laßt es erst heimlich fressen im Grund – daß es dann aufbrennt an tausend Ort zugleich!« 131

Der Jörg Pleß sah auf Giers, als wollt er ihm bis auf den Seelgrund schauen. »Willst einer sein, der mit der Lunten über Land geht?«

»Mag leicht sein, wenn die Zeit kommt . . .«

»Und dein Gesell –?«

»Wird tun wie ich!«

»So seid ihr mir Brüder! Hab ich euer Hand?«

Wir hielten ihm die Hand hin, er drückt' sie uns beiden.

Unter den Bauern brüllte einer laut:

»Und ze Ulm hand sie Hochzeit gehalten wie der Herr Kaiser –«

»Was hört man Neues von Ulm?« fragt' uns der Fremde.

Ich gab ihm Bescheid.

Da sprang er auf und schrie in den Lärm, hieb mit der Kannen auf den Tisch, daß der Wein verschüttet ward: »Lux, Schwärzel Franz, halts Maul! Hört an, die ehrlichen Hüttenknecht' da sagen euch Neues von Ulm, der Stadt. Wie der Ehinger die Hochzeit hat ausgericht' für sein' Tochter, die Ann'. Ist lieblich zu hören!«

Die Bauern wurden still, sahen her zu uns.

»Vom Haus des Herrn Ehinger bis zum Dom war die Straßen mit farbenem Tuch belegt. Die Leut haben sich gedrängt zu Seiten des bunten Wegs, auf dem die zarten Seidenschüchlein der Jungfer Braut hingingen, daß kein Spritzerlein Schmutz sie netze. Mit dem Tuch, das da ward in den Kot getreten, hätte man können hundert Menschen und mehr kleiden . . .«

Ein Bauer sprang auf, hob die Arme hoch: unter den Achseln lugte das nackte Fleisch vor, vorn sah man durch Löcher ein zerrissen Hemd. Die Hosen waren zerfetzt und zerfranst. »Schaut her da, sagts denen ze Ulm . . .«

»Still, Rapp-Steffen, los zu –!« rief der Jörg Pleß.

»Mit Pfeifen und Geigenklang schritt die Jungfer den Weg. Zinkenisten bliesen aus vollem Hals. Als sie zurück waren vom Münster, war es dem Volk erlaubt, sich um das Tuch zu balgen. Es wurde in Fetzen gerissen, so gierig waren die Armen 132 danach. Bekam keiner ein größeres Stück, als man für ein' Kappen braucht . . . Die Hochzeitsgäst' sahen von den Fenstern aus zu und wollten bersten vor Lachen über das Raufen . . .«

»So soll ihnen der Teufel ihr Lachen gesegnen!« schrie der Lux.

»Hört weiter, Bauern! Sieben Tage schon dauert das Fressen und Saufen – heut soll es ein End nehmen. An die hundert Gäst' sind geladen. Von weither sind sie gekommen, Ritter und Herrn, Kaufleut und Ratsherrn, von Augsburg und München. An die fünfzig Mastochsen sind durch ihren Schlund gewandert, so weit ist er –«

»Wir hand sie gemästet, von unserer Kleien und unserem Klee!«

»Zwölf Hirsche mußten über die Tafel springen –«

»Die hand unser' Felder zertreten und uns die Frucht geäst –«

»An die dreißig Schweine –«

»Von unseren Huben!«

»Sie tranken drei Fuder welschen Weins –«

»Wir haben den Vorspann müssen tun –«

»Statt daß unser' Ross' wären vor dem Pflug gangen –«

Ich holt ein Brot aus der Tasche; der saure Wein brannt' mir im Magen.

»Da – friß Paurenbrot, du Ulmer Knecht!« schrie einer mir zu und stieß mir den Laib hin. Ich schnitt ein Stück ab und aß. Es war bitter wie Gallen und schmeckt', als wäre Sand hineingebacken. Es verzog mir den Mund. Die Bauern gröhlten auf. »Wie schmeckt das Paurenbrot?« johlten sie; es war Hohn und Wut in dem Lachen. Ich würgte den Bissen hinab und redete weiter.

»Des Biers will ich gar nicht gedenken. Zucker und Gewürz ging auf, mehr als man in Ulm verbraucht sonst in einem halben Jahr . . . Und wenn sie nicht mehr saufen konnten, schluckten sie ein paar hundert Fettammern, in Zimtwein gekocht, den Durst zu reizen, und man trug ihnen unzähliges Geflügel auf, Hahnen und Hennen –« 133

Da brach das Toben neuerlich los. Sie schlugen mit den Fäusten auf den Tisch, Messer blitzten auf, sie hieben damit ins weiche Holz von Tisch und Bank.

»Und den Kietzenlienhart hat selbiger Herr Ehinger durch den Junker –«

»Der Junker Rechberg ist der Pfleger von Kirchberg, das dem Herrn Ehinger eigen ist –«, warf der Jörg Pleß hin.

». . . hat ihn aus Kirchberg lassen wegtreiben ins Elend samt dem Weib und den Kindern, weil er die Leibhennen nit hat geben können zum Zins . . .«

»Und den Bläsi-Riß dazu und den Klein-Thomas – alle mit Weib und Kind', um ein paar lumpige Hennen –«

»Wegjagen lassen ins Elend – auf die Straßen, unters fahrende Volk –«

»So essen die Herren ze Ulm in der Stadt –!«

»Und itzt – der Alt-Schwärzel?«

»Was ist mit dem?«

Der Schwärzel-Franz, der Sohn, schrie mich an, zornrot im Gesicht:

»Bist von Ulm und weißt nit von ihm?«

»Hat das Maul auftan und ein Wort wider den Sündwucher und die unchristlich Grausamkeit des Herrn gered't –«

»Da hat ihn der Ehinger lassen aufheben und ze Ulm lassen türmen und blocken. Jetzt soll er sich lösen mit fünfzig Pfund Heller, dafür, daß er hat einmal die Wahrheit gesagt . . .«

Und wild schrien sie durcheinander, die blanken Messer, wie Handschwerter anzusehen, blitzten durch die Luft:

»Wer soll fünfzig Pfund geben? Ganz Kirchberg bringts nit auf! Wer soll ihn lösen? Muß elend krepieren im Turm!«

Mit einem Sprung stand der Fremde mitten in der Stuben am Bauerntisch. Sein Gesicht war bleich, von Haß und Wut verzerrt. Eine Münze schmiß er hin auf den Tisch, mittenhin zwischen die Bauernfäuste und Messer:

»Damit werden wir zahlen und ihn lösen!« 134

Eine große Münze lag auf dem Tisch. Fremd, nicht aus Schwaben.

»Damit wollen wir die Zeche zahlen – allen, den Herrn!«

Zögernd streckten sich Hände aus, die Bauern stierten die Münze an. Schrift und Bild waren abgenützt, aber noch immer deutlich zu lesen. Giers Hammer griff nach dem Geldstück, das aus Silber war, dreht' es zwischen den Fingern und las langsam:

»Über hundert Jahr werdet ihr Gott und mir antworten.«

Die Bauern saßen erwartend, die Blicke starr auf Giers und dem Fremden. In der Schenke war es still mit einmal, daß man eine Maus hätt' können laufen hören. Der Fremde nahm Giers die Münze aus der Hand und hielt sie hoch, seine Stimme klang hart:

»Ist geschlagen im vierzehnhundert und fünfzehner Jahr. Und ist geschlagen von – Johannes Huß –!«

Ein Atmen ging über die Bauern hin wie ein Stöhnen. Einem pfiff die Luft durch die Gurgel, als stünde der Henker vor ihm mit dem Schwert und er tät den letzten Zug.

»Heut schreiben wir 1510 . . . Fehlen noch fünf Jahr . . . Kann leicht sein auch weniger . . .«

Der Fremde ging zur Tür. Er sah nicht mehr zurück. Uns winkt' er zu sich, wir folgten ihm vors Haus. Dort stand sein Pferd.

»Wann ich zu Ulm euch heimsuchen will –?«

»So fragt an der Hütten nach Giers Hammer und Urs Brandt!«

Er schwang sich in den Sattel, lachte übers ganze Gesicht.

»Hammer und Brand – fügt sich gut zu unserm Werk! Lebt wohl!« Mit vornehmem Anstand zog er den Hut und ritt davon.

Wir hatten genug von unserm Weg und gingen nach Ulm zurück.

»Wer war der Fremde?«

Giers sah sich vorsichtig, fast ängstlich, nach allen Seiten um. Dann sagte er leise: »Der Joß-Fritz . . .« 135

Ich erschrak über dem Namen.

»Der den Bundschuh hat aufgeworfen?«

»Der selbige . . . Er trägt noch heut die alte Fahne unter dem Wams auf der Brust . . .«

»So will er wieder –?«

»Wieder und immer wieder – er oder ein anderer –! Bis der Bauer frei ist von Herrenzwang und Tyrannei!«

 

Jeden Freitag versammelten sich »die Brüder« im Haus Peter Scherers, des Schusters. Sie redeten miteinander von Gott und den göttlichen Dingen. Sie lasen aus alten Schriften, die sie sorglich geheimhielten; denn die Pfaffen machten Jagd auf die vergilbten Blätter wie auf lebendige Ketzer. Es waren lauter Arme, die da zusammenkamen, aus den Gesprächen über Gottes Lieb' und Gnade Trost fürs irdische Leiden zu finden. Und es war der Hans Truckenprot, der uns zu den Brüdern brachte. Unter den Gesellen am Dom war er der einzige, mit dem wir näheren Umgang hatten. Er war uns ein Gutes an Jahren voraus, war als ein Junger im Heiligen Land gewesen; er kannte Rom und Florenz und hatte manchen von den großen italischen Meistern und ihre Werk' gesehen. Nun saß er seit Jahren zu Ulm in der Domhütte fest und meißelte gelassen am Stein.

An einem Sonntag hörten wir in der Predigt das Wort: »Um deinetwillen sei die Erde verflucht. Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen!« Giers und ich, wir sahen uns an, als hätten wir das Wort zum erstenmal vernommen.

Da wir aus der Kirche kamen, zusammen mit Hans Truckenprot, sagte ich: »So ist die Arbeit ein Fluch? – Hat der Moses, der das schrieb, nie das Glück erfahren, das aus dem Schaffen und Werken kommt?«

Truckenprot sah mich lächelnd an; dann sagte er langsam und wägend: »Nein! Dort unten ist Glück: in einem kühlen, schattigen Garten sitzen und luftigen Tänzerinnen zuschauen, die halbnackt springen und singen, und dazu die Trommeln schlagen; es 136 ist Glück, unter dem Zelt zu liegen und die Herden zu überschauen . . . Aber unser Glück kennen die dort im Morgenland nicht . . .«

Giers fuhr auf: »Was sollen uns dann die fremden Geschichten und Mären? Wir können keine Lehr draus nehmen . . .«

Truckenprot lächelte immerzu und schwieg wie einer, der Besseres weiß. Von Stund aber war in uns ein verborgener Stachel; bei jedem Wort, das wir hörten, aus der Schrift, stand eine Frage in uns auf und noch eine. Es war der Fragen kein Ende. Am nächsten Freitag, nach Feierabend, führte uns Truckenprot zu dem Schuster und den Brüdern.

Da wir in das winzige Häuslein an der Blau traten, vernahmen wir schon unter der Tür das wütende Keifen eines Weibes, dem eine schüchterne Mannsstimme vergebens Einhalt zu tun bestrebt war.

»Tappt mir der Schmutzfink mit seinen Dreckschuhen den ganzen Flur und die Treppen voll Fußstapfen! Und habs grad noch gescheuert! Kommst mir noch einmal ins Haus mit einer Fuhr Dreck an dein' Schweinsklauen, so schütt ich dir den Wascheimer über dein' Grindkopf –!«

Die Männerstimme ließ sich vernehmen:

»Liebs Weib, sei doch eingedenk, wie unser Herr zu Maria und Marta gesprochen hat: du machst dir viel unnütze Sorgen – eins nur ist not: daß wir nach dem Reich Gottes trachten und seiner Seligkeit . . .«

»Da hast das Taufwasser, du Narr!« schrie die Stimme. Wir hörten ein Geräusch, als werde ein großer Zuber ausgegossen, einen unterdrückten, gurgelnden Schrei – und da wir unterdes ein paar Schritte weitergegangen, sahen wir nun den Peter Scherer, ein kleines, dürres Männlein, dem sein knochiges, ergrimmtes Weib eben ein mächtiges Schaff schmutzigen Wassers über den Kopf ausgegossen hatte, daß er triefend stand, während der Heinold Aislinger erschrocken vor dem Zorn der Schererin die steilen Stufen herabsprang und uns beinah über den Haufen 137 riß. Ein nasser Hadern flog hinter ihm her, war auch so gut gezielt, daß er sich dem Aislinger um das Haupt wand und ihm das Gesicht verhüllte. Der Peter Scherer war nach oben entflohen, und auch wir fandens für gut, das ungastliche Haus zu verlassen, denn die Schererin hatte nun auch den Truckenprot erblickt und ihr Grimm kehrte sich jetzt gegen ihn, also, daß sie ihn mit dem groben Reisigbesen bedrohte.

Da wir uns in der Näh mit dem Aislinger und Truckenprot zusammenfanden, fragte Giers:

»Ist das euer Lesen und Forschen nach dem Reich Gottes?«

Der Hans gab ihm verweisend Antwort: »Bruder, deine lose Rede will ich nicht gehört haben . . . Das Reich Gottes muß Verfolgung leiden . . .«

Aislinger aber sagte: »So kommt morgen alle zu mir, nach dem Vesperläuten . . .«

Wir standen noch zögernd; der Truckenprot sagte, und es lag ein leiser Spott in seiner Rede: »Freund, ich denke, es ist besser, wenn wir uns nach einem andern Ort umsehen . . .«

Heinold schwieg und die andern hatten ein schwaches Lächeln um die Lippen. Da meinte Giers Hammer: »Liebe Gesellen, warum sollen wir nicht einmal hinausgehen vor die Stadt und draußen irgendwo niedersitzen ins grüne Gras? Dort hört uns niemand, stört uns kein Schelten und kein Wasserschaff . . . Und ich glaube, es ist unter Gottes ewigem Himmel besser von göttlichen Dingen reden als in einer engen, modrigen Stuben . . .«

Die andern sahen ihn fast erschrocken an, als hätt' er neuerlich ein sündhaftes Wort gesagt. Aber es schien, daß keiner eine sanftere Hausfrau daheim hatte als Scherer, der Schuster, und so stimmten sie endlich alle zu.

 

Wir saßen auf einer kleinen Höh, kaum eine halbe Stund weit von der Stadt, über der Brucken; sahen das Münster aufragen über die Häuser von Ulm wie einen mächtigen Berg. Der Turm stand mit dem Notdach jäh abgeschlossen, ein häßlicher 138 Stumpf. Der Dom war anzusehen wie eine edle, schöne Figur, der man den Kopf abgeschlagen. »Werden sie nie den Turm vollenden?« fragte ich, wie schon so oft.

Um uns war Sommer. Wir saßen an einem grünen Wald, die Vögel sangen drein. Wege und Straßen waren fernab, es war Stille und Einsamkeit ringsum, der leise Wind ging durch die Blätter der Bäume. Die Sonne stand weit schon in West und ihr später Schein lag auf den Spitzen und Zacken des Münsterbau's, überflammte den Turm.

»So lies denn, Hildpolt«, sagte der Truckenprot. Und Hildpolt Zwissel, der Leinweber, zog aus dem Brustlatz ein Bündel beschriebener Blätter, legte sie auf seine Knie und hub endlich zu lesen an, mit einer ängstlichen, schüchternen Stimme.

Ich sah über die Gesichter hin, die sich gesenkt hatten, die Worte des Hildpolt mit Andacht zu vernehmen, und es überkam mich seltsam. Halb Mitleid mit den armen, verachteten, kleinen Menschen, die sich in rührender Sorge um den Weg zu Gott mühten; halb Verachtung für die Demut und Niederkeit, die sie gleichsam mit ständig gefalteten Händen wohlgefällig zur Schau boten. Es lag über den Gesichtern wie grauer Spinnwebschleier. Sie konnten nicht mehr aufrechtgehen und gradhin einem andern ins Aug sehn, konnten kein lautes Wort mehr sagen. Vielmehr hielten sie immer Kopf und Augen sittig gesenkt, voll Demut und Ergebung in Gottes Willen, sie sprachen leise und schüchtern, als wäre es schon Hochfahrt und Sünde, die Stimme voll zu heben. Sie waren arm und niedrig, aber dies Niedrigsein war ihnen heimliche Lust, sie waren eitel darob und brüsteten sich voll Dünkel ihrer Demut . . . Auch wir, Giers Hammer und ich, waren stolz, daß wir nicht zu den Reichen und Mächtigen gehörten, die den Armen Unrecht taten zu aller Stund. Aber wir waren ehrlich stolz darob und nicht eitel. Doch die, wie sie da mit gefalteten Händen um Hildpolt Zwissel saßen – ich hätte ihnen den grauen Schleier der falschen Demut, der Heuchelei, mögen wegreißen, zusehen, ob drunter noch Männergesichter steckten. 139

Aber seltsam gings nun, während Hildpolt las. Ich hörte kaum zu, was er mit seiner leisen, demütigen Stimme lispelte; ich sah nur die Brüder an, in deren Zügen es wunderlich zu leben begann. Es war, als hebe der freie Abendwind, der Heuduft und den Geruch grüner Wiesen mit sich trug, von den Gesichtern den grauen Demutsschleier ab, erst einen Zipfel an einem End – es kam drunter ein erschrockenes Staunen zum Vorschein – dann fing er sich unter dem Spinngeweb und zerrt' es vollends zur Höh, ich sah in krampfig aufgerissene Augen, die ungläubig entsetzt ins Blau des Himmels, ins wehende Grün des Waldes starrten. Angstvoll deckten sie wieder den Schleier übers Gesicht, sie schlossen geblendet die Augen – aber der Wind tat einen letzten, machtvollen Ruck und riß den Schleier noch einmal empor, der flatternd entwich – und die Brüder saßen wie gelähmt, als hätte man sie auf schwerer Missetat ertappt. Aber jetzt sah ich, da der Heuchelschleier weg war, etwas wie Blut und Leben in den Gesichtern und etwas wie – Scham. Und nun hört' ich erst, was der Hildpolt lispelte:

»Nun ist da aber noch ein Zweites, das denn freilich sehr ins Auge sticht als Innigkeit, Andacht und Jubilieren. Aber ehrlich gesagt: das Beste ist das keineswegs! Denn es stammt mitunter nicht aus Gottesliebe, sondern aus bloßer Natürlichkeit, daß man derlei schmelzende Gefühle zu kosten bekommt, und die solches häufiger erleben, sind darum noch lange nicht die Besten. Wozu noch kommt, daß solche Erlebnisse den Menschen stark von seiner Umgebung abziehen. Aber die selben Menschen, wenn sie hernach in der Gottesliebe gewachsen sind, haben vielleicht nicht mehr so viele ›Gefühle‹ und ›Erlebnisse‹! Und daran erst kommt an den Tag, ob sie wirklich Gottesliebe besitzen; wofern sie auch ohne solchen Rückhalt Gott unentwegt Treue halten . . .«

Der Zwissel schwieg still und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Aber es war nicht so warm mehr, eher schon abendlich kühl. Die Brüder saßen stumm, keiner mochte dem andern ins Aug sehen. Endlich sagte der Truckenprot: 140

»Es ist verwunderlich, Brüder: wir haben das Wort doch oft schon gelesen, aber diesmal will michs dünken, als hätt ichs zum erstenmal gehört . . . Das ist ein hartes Wort!«

Ängstlich meinte Peter Scherer: »Obs nicht kommt, weil wir im Freien sitzen – daß uns etwa der Teufel sündhafte Gedanken . . .«

»Wo ist der Teufel?« schrie Giers den Schuster an, daß der schier rücklings ins Gras fiel. »Hat der Teufel da oben den Himmel gemacht, den blauen, hat der Teufel etwa den grünen Wald gebild't und das frischgrüne Gras? Singt etwa der Teufel aus den Vögeln, die wir da drin hören im Wald, Gott zu ewigem Lob? – Was verwundert euch das Wort? Ich acht es als ein gar herrlich, feines Wort und möcht gern wissen, wer es gesagt hat . . . Es muß ein sonderlich teurer, werter Meister sein . . .«

Die Brüder saßen mit offenem Mund ob der polternden Rede. Truckenprot faßte sich wieder und sprach: »Alles, was wir da lesen, hat Meister Eckehart gesagt, der große Lehrer . . .«

»Wo lebt er? Den möcht ich predigen hören!«

Die Brüder lächelten nachsichtig, wie über die Rede eines unwissenden Kindes. Der graue Schleier begann sich schon wieder zu senken . . .

»Der Meister ist lang schon tot . . . an die zweihundert Jahr schon . . .«

»Ist mir leid«, sagte Giers Hammer. »Lebt' er noch, und lehrt' er tausend Meilen weit von da – ich wollt nicht rasten, bis ich dort wär . . . Lies weiter, Hildpolt!«

Die Brüder sahen ganz erschrocken drein, wie der Giers Hammer, der heute zum erstenmal unter ihnen war, herrisch über sie befahl. Aber Hildpolt gehorchte.

Und wieder hob der freie Wind den grauen Schleier von den Augen der Brüder. Ich sah sie groß und staunend werden, als sie die Worte vernahmen:

». . . die Liebe, die da stark ist wie der Tod, der uns das Herze bricht. Und das ist, daß der Mensch auch auf das ewige Leben 141 Verzicht leistet, auf alles, was er von Gott und seinen Gaben dereinst etwa besitzen könnte, also, daß die Hoffnung auf das ewige Leben ihn hinfort nicht rühre noch erfreue oder ihm seine Mühsal leichter mache. Und warum dies? Weil ein jeglicher, der um Lohn dient, auch um göttlichen Lohn, auch um das ewige Leben, ja selbst um die Liebe Gottes – nicht um des Guten willen gut ist, sondern um Lohn! Und sonach nicht in Wahrheit ein guter Mensch ist . . .«

Der Atem der Lauschenden ging hörbar, sie sogen die Luft ein, als müßten sie ersticken. Der eine ward bleich, der andere rot. Der Hildpolt wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. »Ist, als ob heut andere Wort' stünden im Text«, murmelte er. Truckenprot saß starr, er vermochte nicht, wie er sonst gewohnt war, den Sätzen des Meisters eine Deutung beizufügen.

Der Abendwind flog kühler her, er blätterte in der Schrift auf Hildpolts Knien, als suche er voll Ungeduld nach einem Wort, das der Säumige noch immer nicht gefunden. Und Hildpolt las, ganz verwirrt, was der Wind ihm aufschlug und vorhielt . . .

»Sage ich weiter: Gott ist weise – es ist nicht wahr, ich bin weiser als er! Sage ich ferner: Gott ist etwas Seiendes – es ist nicht wahr! Er ist – etwas ganz Überschwengliches, er ist – ein überseiendes Nichtsein! . . . Darum schweig und schwätze nicht von Gott! Denn indem du von ihm schwätzest, lügst du, tust Sünde. Auch erkennen sollst du nichts von Gott, denn Gott ist über allem Erkennen. Hätte ich einen Gott, den ich erkennen könnte, ich wollte ihn nicht länger für Gott halten! Erkennst du etwas von ihm: nichts von dem ist er! . . .«

Da hielt ich nicht länger an mich. Ich sprang auf und lief davon, durch den Wald, einen Feldweg hin, nach der Straße, über die Brücke, hinein in die Stadt.

Überseiendes Nichtsein! Mir drehte sich taumelnd alles im Kreis! Abgründe brachen auf vor mir, Abgründe hinab und Abgründe empor – was aufwärts, was abwärts! Wo oben und 142 unten! Ein schwingendes, kreisendes Lichtbrausen flog um mich her, riß mich in sich ein, warf mich wie einen Ball dem Unendlichen in den flutenden Schoß.

Überseiendes Nichtsein! Du mein Gott – das hatte ein Mensch gesagt, gelehrt – und es war vergessen zweihundert Jahr – und die Pfaffen leierten uns die Ohren voll mit albernem Tand, sie gaben uns Steine für Brot. Wie ein flammender Sonnstrahl ins Meer einbricht, so stürmte die Gottschau des Meisters in den Abgrund des Ewigen ein!

Ich rannte durch die Gassen, ohne Ziel, wußt' nicht, wohin ich lief, bis ich plötzlich auf einen Menschen prallte und eine heisere Stimme gröhlend und rülpsend mich anschrie: »He, Urs Brandt, alter Bacchant – woher des Wegs?«

Ich starrte in ein rotes Säufergesicht und erschrak: da stand wankend der Klaus Frank, mit dem ich vor Jahr und Tag zu Erfurt auf der hohen Schul gesessen, Arithmetik, Geometrie und Astronomie studiert. Er war älter als ich, gute zehn Jahr. Aber er sah aus wie ein Mann von sechzig Jahr, verkommen und verwüstet, verfallen, daß Gott erbarm. Er wankte im Rausch, hielt sich an mir fest.

»Brü-Brüderlein Urs, du alter Goliard! Komm mit auf die Burß – sauf mit mir! Neinein, mußt mit, Herzbruder, ich laß dich nit – heut saufen wir bis an den lichten Tag!«

Ich wollte mich wegreißen von ihm, aber er hielt mich umkrallt, rülpste und spie, wankte dahin, riß mich mit sich mit eiserner Faust, hinein in ein schmutziges Haus: die Burß. Es stank drin nach Schweiß und Unrat, nach Moder und saurem Wein. Lärmen und Gröhlen dröhnte über die Treppen herab, Fluchen und Lachen besoffener Scholaren, dazu ein schrilles Bubengeschrei – wohl ein Schütz, den sein Bacchant schlug, weil er nicht genug Fleisch und Wein für ihn erbettelt und gestohlen.

Ich gab dem Klaus einen Stoß vor die Brust, daß er an die Wand flog. Aber schon hielt er mich wieder mit beiden Armen umklammert, sein stinkender Atem stieß mir ins Gesicht. 143

»Hoho, Brüderlein Urs, nicht so wild! Ko-komm mit, wi-holla! Uah! – will dir was zeigen – – du alter Anostra – – Anastro – – hoho, brings nicht heraus . . . haha, ein Heidenspaß, sag ich dir! Komm mit!«

Und er zerrt' mich in ein Loch zu ebener Erd. Ein zitternder Schütz, ein Bub von zehn Jahr vielleicht, stand da. Auf dem Tisch brannt' ein schwelendes Talglicht, daneben stand eine Kanne Wein und es lag eine Wurst und ein Brot dabei.

»Brav, Konz, hast deinen Herrn nicht vergessen! War auch einmal so ein unschuldigs Kind wie du!«

Er begann zu weinen, fiel auf den einzigen Schemel am Tisch, stützte den Kopf in die Hände und heulte wie ein geprügelter Hund.

»Ich bin ein Schwein! Urs – sag mir, bin ich ein Schwein? Du gottverfluchtes Schwein!« Er riß sich an den Haaren, fuhr auf, packte mich wieder am Arm, schrie den Schützen an:

»Fahr ab, Teufelskrot!« Er schmiß ihm das Messer nach, der Bub wischte schnell aus der Tür. Klaus sah mich an, blinzelnd aus nassen Augen, blöde lachend. Er schluckte, griff unsicher nach der Kanne und fand sie nicht. Statt ihrer stieß er mit der Hand an eine Kugel, geformt aus Lehm, die hing an einer Schnur von der Decke herab, mitten über dem Tisch, neben dem Licht. Er starrte sie an, die Augen wurden groß und weit, ein breites Grinsen kam über sein Gesicht.

»Da, schau, Urs – wei-weißt du, wa-was das ist? He? Haha, du neunmal gescheiter Scholar! Das weißt du nicht, wa-was?« Geheimnisvoll neigte er sich zu mir, hob den Finger an den Mund:

»Das da – siehst –«, er wies auf das Licht, »das ist die So-Sonne, die gu-gute Sonne – hopla! . . . Und das da, der Dreckbatzen da, die Kugel, ist die Erde. Die rennt um die So-Sonne –«

Er krallte sich an mir hoch, stand taumelnd vor mir, das Gesicht plötzlich ganz ernst. »Ich bin besoffen; ja . . . Aber die Erde 144 rennt um die Sonne . . . Das sage ich dir! Glaubst du's nicht?« Er brüllte mich an: »He, du stummer Fisch – glaubst du, was ich dir sag? Ja oder nein?!«

Er wartete nicht auf Antwort. Er starrte die Kugel an, und ein Lächeln kam über das verwüstete Gesicht, daß mir weh und elend ums Herz wurde.

»Das hab ich gefunden, ich – Klaus Frank . . . Habs gefunden bei den Alten . . . waren gescheiter als die blöden Hunde heute, die einen Dreck von den Sternen wissen . . . Der Koppernik weiß es auch, der Pfaff! Aber er traut sichs nicht sagen . . . Renn, faule Sau!« brüllte er die Erdkugel an, gab ihr einen Stoß – und die Kugel schwang sich an ihrer Schnur um das Licht, schwang sich in Kreisen um die Sonne . . .

Der Trunkene stierte sie an und lachte, glücklich wie ein Kind über ein Spielzeug . . . Und plötzlich begann er um den Tisch zu wanken, lallend und torkelnd, packte mich wieder, riß mich mit, drehte mich um sich herum, wurde schwindlig und hielt keuchend ein. Ich aber hatte, vorüberhuschend für einen Augenblick, den Schatten der Kugel über die Kanne gleiten sehen. Auch Klaus hatte es bemerkt. Er wies mit zitterndem Finger:

»Da – merk auf – siehsts? Jetzt wieder – da – wieder – haha! Weißt, was das ist? Haha! Die Herren Doktores und Professores wissen es nicht, wissen einen Dreck! Ich weiß es – Klaus Frank Norimbergensis! Vivat Klaus Frank! . . .«

Er hielt mich am Wams und schüttelte mich dran.

»Weißt du, was das ist? Nein? Du Schafskopf! So schau heut abends den Mond an, du alter Ochs!«

Ich starrte ihn an, aus dem Rausch und Erkennen, einsames Wissen und verlorene Verzweiflung schrie. Ich starrte die Kugel an, die langsamer schwang und mählig zur Ruhe kam. Aber mir war, als drehe sich alles um mich, Kugel und Licht und Stube und Tisch – ich sah durch unendlichen Raum den Schatten der Erde weithin fliegen wie einen flatternden Mantel im Sturm – und er traf den Mond und schlug ihn mit Finsternis . . . 145

Überseiendes Nichtsein . . . klang es dazwischen . . .

Klaus hockte am Tisch und weinte in seinem Rausch.

Von der Gasse her scholl näherkommend wüstes Gröhlen, der alte Bacchantenchor:

»So gehn wir gassaten
die Straßen auf und ab . . .«

Klaus zuckt' in die Höh. »Schmeiß den Riegel vor, Urs – will sie nicht sehen, die besoffenen Schweine . . .«

Ich schob den Holzriegel vor die Tür.

»Ich bin auch ein besoffenes Schwein, Urs! Ja . . . Aber ich habe . . . die Welt auf den Kopf gestellt . . .«

Draußen polterte die Meute der Bacchanten in den Flur. An der Tür wurde gerüttelt. »Mach auf, Klaus – wir haben Wein zum Saufen –«

»Er hat Licht –«

»Mach auf – verfluchter Dachs!«

Klaus saß still mit ängstlichen Augen. Da wurde die Tür mit einem Fußtritt gesprengt, die Horde torkelte herein. Kaum sahen sie mich, brüllten sie schon:

»Ad idem! Ad idem!«

Klaus fuhr hoch: »Laßt den Urs Brandt! – Ist mein alter Freund und Kumpan, von der Erfurter Schul her –«

»Von welcher Burß?« schrie mich einer an.

»Von gar keiner! Bin Steinmetz am Dom!«

Die Bacchanten gröhlten auf: »Ad idem! Hinaus! Vexiert den Hund! Peitscht ihn mit Ruten!«

Aber inzwischen hatte einer die Kugel erblickt. »Da schaut – spielt schon wieder mit seiner Erdkugel, der Narr! Da hast deine Erde!« Er riß sie von der Schnur und hieb sie dem Klaus mit der flachen Hand auf die Stirn, daß sie dort breitgeschlagen kleben blieb.

Mit einem Schrei wie ein zu Tod getroffenes Tier fuhr der 146 Klaus hoch, dem andern an die Gurgel: »Du elender Schuft! Du – Seelmörder!«

Wüster Lärm brach los, der Tisch fiel um, das Licht erlosch zuckend an der Erde. In seinem letzten Schein riß ich den Scholaren von Klaus weg, warf ihn gegen die andern, daß sie taumelten, packte den Schemel, schlug damit einen Kerl zu Boden, der gegen mich anlief, und stürzt' aus der dunklen Stube, aus dem Tor, auf die Gasse.

Ich rannte im Sturmschritt – kreisend fuhr ich mit der Faust durch die Luft – die Erde flog durch den Abgrund um die Sonne, ihr Schatten jagte hinterdrein, peitschte über den Vollmond hin – und eine donnernde Stimme schrie über die Stadt:

»Überseiendes Nichtsein . . .«

Vor mir stieg über das Münster der Vollmond hoch, glänzend und blendend. Jäh hielt ich in meinem irren Lauf ein: an seinem untern Rand war ein Stück herausgeschnitten – eine Finsternis begann, wie der Klaus Frank sie vorausgesagt . . .

Weiter und weiter fraß sich der Schatten in die blinkende Scheibe des Mondes. In den Gassen ward es lebendig – Menschen kamen vors Tor der Häuser, schauten aus Fenstern, Rufe, Schreie wurden laut, angstvolles Jammern, beruhigende Rede bedächtiger Bürger, Lärm wie von einem aufgestörten Bienenvolk . . .

Immer dunkler wurde der Mond, immer schmaler sein leuchtender Teil, blutrot glomm die verfinsterte Scheibe, die Stimmen der Furcht wurden lauter und reicher an Zahl, Weiber schlugen heulend die Hände vors Gesicht. Der Dom stieg, ein einsamer Berg, in die sternfunkelnde Nacht empor, der Mond war zur dünnen Sichel geworden – Rufen, Schreien und Weinen, Schelten und Beten ringsum, die Stadtwächter rannten, zur Ruhe mahnend, vorbei und zitterten selber vor Angst . . .

Und jetzt – jetzt schob sich der blutrote Schatten langsam hinweg – der leuchtende Glanz des Mondes nahm stetig zu, 147 Schreie stiegen auf, Jubelrufe – irgendwo begann eine Kirchglocke zu läuten, noch eine und noch eine, Brausen der Stimmen schwoll auf, und mit einmal ward das Tedeum angestimmt, schluchzend, mit zitternden Lippen gesungen von Männern, Weibern und Kindern . . .

Ich aber sang nicht. Denn in mir war das Donnern der kreisenden Gestirne, aus dem unaufhörlich das eine Wort schrie:

»Überseiendes Nichtsein . . .«

 

Im ersten Halbschlaf, wenn man noch nicht wirklich träumt, wenn das Tageserleben nur erst langsam mit dem Denken der Tiefe zu verfließen beginnt, war ich heute nachts in Königsberg in dem Zimmer des Museums, in dem der Schreibtisch Immanuel Kants steht. Dabei hatte ich aber auch das Gefühl, als wäre dies eigentlich die Studierstube des Weisen und er wäre noch am Leben, und ich in die Stadt gekommen, ihn zu besuchen. Nur wunderte ich mich, daß in seinem Zimmer, das ich mir immer puritanisch einfach vorgestellt hatte, ein paar Büsten Kants umherstanden und daß an den Wänden lauter Bildnisse des Philosophen hingen. Aber schon hörte ich einen leisen, schlürfenden Schritt im Nebenzimmer, und Kant erschien unter der Tür, etwas gebückt, fast hätte man es bucklig nennen dürfen, den Rock bis zu dem weißen Jabot am Hals eng geschlossen, im Nacken den Haarbeutel. Die zarten Hände sahen aus den Spitzenmanschetten kaum hervor. Er blickte mich fragend an aus großen, wundervoll blauen Augen, und mich befiel eine solche Verwirrung über diesen Blick, daß ich kein Wort hervorbrachte, mich nur stumm verbeugen konnte. Er lächelte freundlich, trippelte zu seinem winzigen Sekretär, von dem ich nicht begreifen konnte, wie von diesem Tischchen aus das Denken der Welt in eine neue Bahn gelenkt worden sei . . .

Er lud mich zum Sitzen ein. Aber ich stammelte etwas davon, daß mir die Ehrfurcht vor dem größten Philosophen aller Zeiten . . . 148

Da schob er mir einen Sessel hin und ich mußte mich setzen. Ich hatte völlig vergessen, warum ich hergekommen. »Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« fragte Kant mit einer eigentümlich sanften Stimme. Da fiel mir endlich ein, daß ich unlängst bei Meister Eckehart etliche Sätze gelesen, die ich nicht ganz verstand. So zog ich denn aus der Tasche ein Bündel alter, vergilbter Blätter – es waren die nämlichen, die Hildpolt Zwissel vor sich gehabt – und las Kant vor, was der Leinweber hilflos gestammelt. Kant sah mich erstaunt an.

»Wer hat das geschrieben, mein Herr?«

»Meister Eckehart, Herr Professor . . .«

»Wer ist das? Ich habe nie von ihm gehört.«

»Er hat im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert gelebt . . .«

Kant schüttelte den Kopf. »Es ist mir leid, daß ich diesen sublimen Denker nicht eher kennen gelernt; ich finde in seinen Sätzen mein ganzes System vorweggenommen . . .«

Ich sah ihn betroffen an. »Sie haben recht, Herr Professor – es fällt mir erst jetzt auf . . . Aber ich möchte mir hier die Bemerkung erlauben, daß dies vielleicht nicht so wunderbar ist. Aus Ihnen und Meister Eckehart spricht die Stimme des gleichen deutschen Bluts, durch die Jahrhunderte hin . . . Das selbe Denken über Gott und die letzten Dinge . . .«

Kant lächelte eigenartig. »Sie mögen recht haben . . . Früher hätte ich eine solche Meinung heftig bestritten, daß das Denken ans Blut gebunden sei; ich glaubte, daß die Vernunft bei allen Völkern zum gleichen Ergebnis gelangen müsse; heute . . . da ich ein wenig weiter gekommen bin, gebe ich es gern zu, daß das deutsche Denken etwas anderes sei, als etwa das französische oder gar das chinesische oder jüdische . . . So hat also auch der alte Meister Eckehart alles gesagt, was ich mühsam deduziert habe . . . Ich hätte mir die Mühe sparen können, hätte ich früher von ihm gewußt . . .« Damit lächelte er wieder sehr fein und fast belustigt. »Sind Sie in meiner ›Kritik‹ bewandert?« 149

»Ich hoffe es, wenigstens so weit, als ein Laie das sagen darf . . .«

»Dann begreife ich nicht, was Sie unverständlich finden. Der Meister sagt, nur in etwas poetischer Art, das nämliche, was ich über diesen Gegenstand gelehrt habe . . . Es däucht mich sogar, daß er es eigentlich klarer ausgedrückt habe als ich, wohl deshalb, weil er nicht zu Philosophen, sondern zu einfachen Leuten in der Kirche gesprochen hat . . .«

»Wenn Sie, Herr Professor, die Güte hätten, mir zu erklärren . . .«

Kant saß, den linken Arm auf der Platte seines Sekretärs, etwas vornübergeneigt, und sah mich, da er kleiner war, ein wenig von unten her an, mit einem leise lächelnden, gütigen Gesicht, in dem die wunderbaren Augen wie blaues Feuer brannten. Er hob dozierend die rechte Hand, die Spitzen des Daumens und Zeigefingers berührten sich leicht.

»Sie werden wissen, mein Herr, daß, nach meinem System, die sichtbare Welt, die uns umgibt, nur eine Welt der Erscheinung ist, eine Welt unserer Sinne. Diese Welt ist unendlich vielfältig, zerteilt in Raum und Zeit. Aber Raum und Zeit sind ja nur Anschauungsformen unserer Sinnesorganisation. Denken wir uns aber all das hinweg, was in der Welt von unseren Sinnen und unserem Denken herrührt, so bleibt etwas zurück, für das wir keinerlei Bestimmung haben, keinerlei Namen, keinerlei Vorstellung, einfach nichts. Darum aber doch auch wieder kein Nichts. Ich habe dies Unbenennbare das ›Ding an sich‹ genannt . . .«

Ich nickte. »Das ist mir vollständig klar, Herr Professor . . .«

»Nun denn . . . Für dies Ding an sich gilt keiner unserer Begriffe. Es ist kein Sein – denn das ist ein menschlicher Begriff; keine Zahl, wir können nicht von ›Dingen an sich‹ sprechen. Es ist etwas völlig Jenseitiges. Es ist das, was Ihr Meister ›überseiendes Nichtsein‹ nennt . . .«

»So nennt er aber doch Gott –?« 150

Kant lächelte fein. Er sah mich an, aber der Blick ging durch mich hindurch in eine uferlose Ferne, und mir wurde plötzlich eiskalt, daß ich kaum das Zittern meiner Glieder zu beherrschen vermochte.

»Sie werden vielleicht auch wissen, mein Herr, daß ich Gott ›eine reine Vernunftidee‹, ein ›regulatives Prinzip der reinen Vernunft‹ genannt habe. Ich will damit sagen, daß wir über das Dasein eines Gottes nicht das mindeste ausmachen können, daß wir nur aus verschiedenen, vor allem moralischen Gründen gezwungen sind, an einen Gott zu glauben. Zu glauben, verstehen Sie wohl! Kein Wissen und Beweisen – nur ein Glauben! Die Idee eines Gottes steht als sittlicher Richter über unserem Leben, bestimmt unser Tun in moralischer Hinsicht – daher ich von einem regulativen Prinzip gesprochen habe. Es ist ein Glück, daß wir das Dasein eines Gottes nicht beweisen können: denn sonst könnten wir gar nicht moralisch handeln, weil wir stets die Aussicht auf Lohn und Strafe vor Augen hätten und daher nicht um des Guten willen, sondern aus eigennützigen Gründen so oder so handelten . . . Weiter konnte ich aber nicht gehen, wollte ich nicht den Boden der reinen Philosophie verlassen. Ihr Meister Eckehart aber hat es gewagt. Er setzt Gott und das ›Ding an sich‹ gleich. Und in der Tat – es ist nichts dagegen einzuwenden. Gott als der unerforschbare, aller Bestimmung bare Seinsgrund – muß er nicht das ›Ding an sich‹ sein, das unfaßlich jenseitige Etwas, für das wir keinen Namen haben? Der Meister hat einen solchen Namen versucht – ein kühnes Unterfangen, wie ich gestehen muß, aber er hat einen Ausdruck gewählt, der eigentlich aus lauter Widersprüchen besteht; und damit dargetan, daß dieser Name mehr ein Negativum sein soll, ein Ausschließen aller menschlichen Begriffe und Vorstellungen. Ein Sein, das eigentlich doch kein Sein ist, denn das wäre ein menschlicher Begriff, also: ein Nichtsein. Aber doch auch kein Nichts – also ein seiendes Nichtsein. Aber eines, das über unserem Sein und Denken steht – also ein 151 überseiendes Nichtsein . . . Ich bewundere die Sprachgewalt dieses erhabenen Denkers, sonderlich in Ansehung der Zeit, in der er gelebt hat . . . Ich kann Ihnen aber verraten, mein Herr –« und dabei wurde sein Lächeln ganz wunderbar sein und gütig, fast schalkhaft – »– ich habe, seit ich meine ›Kritik‹ schrieb, noch ein wenig mehr erlebt und gesehen . . . Ich würde das Buch, wenn ich es heute neu schreiben dürfte, vielleicht etwas anders abfassen . . . und vielleicht würde es dann den Lehren des Meisters Eckehart sehr ähnlich ausfallen . . .«

Ich zitterte jetzt so, daß ich mich krampfhaft an meinem Sessel anhalten mußte. Kant bemerkte es und lächelte mir freundlich zu.

»Ich sehe, mein Herr, Sie verstehen mich . . . Wenn ich heute schriebe, würde ich etwa über die Gottesidee noch hinzufügen: . . . Wenn Gott das nämliche ist, wie das Ding an sich, der einige, ewige Weltgrund, der allem Sichtbaren zugrunde liegt, so ist, jenseits der Welt der Erscheinungen, alles eines und einig. In Gott ist dann die ganze Welt, Sie, ich, alle Menschen, alles ›Geschaffene‹, alle Kreatur. Das alles als etwas Einiges, Untrennbares, nicht in Dinge und Wesen Zerteiltes. Daher gibt es hier auch keinen Schöpfer und kein Geschaffenes mehr. Erst wenn ich aus diesem unfaßlichen ›überseienden Nichtsein‹ heraustrete in die Welt der Erscheinungen, in die Welt von Raum und Zeit, ist die Sonderung und Zersplitterung wieder da, es gibt nun einen ›Gott ‹ und ›Kreaturen‹ . . . Da ich aber weiß, daß auch ich, d. h. mein innerstes Wesen, das, was ich das ›intelligible Ich‹ genannt habe, eigentlich das Ding an sich, somit die Gottheit ist, so kann ich auch sagen, daß ich der Schöpfer der Kreaturen sei . . . ›Ich‹ – das heißt mein innerer Seinsgrund . . . Kehre ich aber wieder in das jenseitige ›überseiende Nichtsein‹ zurück, so gehen mit mir alle Geschöpfe, geht auch Gott – der ja nur unsere irdische Vorstellung von jenem überseienden Nichtsein ist – in das unfaßliche Etwas ein, das wir im Gegensatz zu unserer Vorstellung ›Gott‹ etwa auch als ›Gottheit‹ 152 bezeichnen könnten . . . Ist es nicht ein höchst erhabener Gedanke, daß dann im Grund alles, jeder Stein, jede Schnecke am Weg ebenso wie der Mensch, eins ist mit der ›Gottheit‹? Nicht mit ›Gott‹ – der ist für uns Menschen etwas über uns! Aber mit der ›Gottheit‹, in die also ›Gott‹ ebenso eingehen kann wie alles Geschaffene. Bei diesem Eingehen in die Gottheit ›stirbt‹ also alles Zerteilte und Zerspaltene, ›stirbt‹ Gott ebenso wie der Mensch, das Tier, der Stein, und wird . . . Gottheit . . . Ein ewiges Sterben und Werden . . . Aber ich sehe, mein Herr, ich habe da vielleicht schon etwas zu viel gesagt für Ihre derzeitigen Nervenkräfte . . .«

Und mit einem entzückenden, etwas ironischen Lächeln erhob sich Kant und verneigte sich sehr höflich vor mir: ». . . Auch habe ich noch einen ziemlich weiten Weg vor mir, weshalb ich gütigst zu pardonnieren bitte, wenn ich mich jetzt empfehlen muß . . . Ihr ganz ergebener Diener, mein Herr!«

Damit verneigte er sich nochmals vor mir, der wie gelähmt saß, griff nach seinem Hut, der plötzlich auf dem Sekretär lag, nahm seinen Stock aus der Ecke und trippelte zur Tür hinaus.

Ich strebte mit aller Kraft, mich aus dem Sessel zu erheben, meine Glieder waren bleischwer, wie das im Traum so oft der Fall ist. Ich zog mich an dem Sekretär in die Höhe, wankte mehr kriechend als gehend zur Tür und sah, daß diese – ins Freie führte . . . Eine endlose Straße lag vor mir, sie verlor sich in grauer Ferne im Nebel . . . Und auf dieser Straße sah ich jetzt, schon sehr weit, Immanuel Kant dahinwandern, den Hut unterm Arm, sah ihn geschäftig mit eilenden Schritten gehen – es mußten Schritte eines Riesen sein, denn er verschwand rasch im Nebel, kaum daß ich ihn erblickt . . . Der Nebel senkte sich über meinen Blick und mein Bewußtsein . . .

 

Und ich las aus den Schriften des Meisters Eckehart:

»Abermals will ich nie Gesagtes sagen: Gott und Gottheit sind so verschieden wie Himmel und Erde. Auch Gott 153 wird und vergeht. Da alle Kreaturen ihn aussprechen, da wird Gott. Als ich noch im Grund und Boden der Gottheit weilte, in ihrem Strom und Quell, da fragte mich niemand, wohin ich wollte oder was ich täte: da war niemand, der mich hätte fragen können. Erst indem ich ausströmte, kündeten alle Kreaturen Gott. Und warum reden sie nicht von der Gottheit? – Alles, was in der Gottheit ist, ist Eines, und von dem kann man nichts reden! Nur Gott tut etwas; die Gottheit tut nichts, sie hat nichts zu tun. Gott und Gottheit sind unterschieden als Tun und Nichtstun. Wenn ich dann zurückkomme in den Grund und Boden der Gottheit, in ihren Strom und Quell, so fragt mich niemand, woher ich komme oder wo ich gewesen bin. Das heißt es: Gott vergeht.

Das unseiende Sein ist jenseits von Gott, jenseits von aller Unterschiedenheit: da war ich nur selber, da wollte ich mich selber und schaute mich selber als den, der diesen Menschen gemacht hat. So bin ich denn die Ursache meiner selbst nach meinem ewigen und meinem zeitlichen Wesen.

Als ich aus der Gottheit hervortrat, da sprachen alle Dinge: ›Es gibt einen Gott!‹ Aber in dem Durchbruch, da ich ledig stehen will im Willen Gottes und ledig auch von diesem Gotteswillen, da bin ich weder Gott noch Kreatur: ich bin, was ich war und was ich bleiben werde, jetzt und immerdar. Da bin ich so reich, daß Gott mir nicht genug sein kann nach allem, was er als Gott ist, denn ich empfange in diesem Durchbruch, was ich und Gott gemeinsam sind.

Daß man dies verstehe, ist nicht erforderlich, denn es ist eine unbedachte Wahrheit, die ist gekommen aus dem Herzen Gottes, unmittelbar!«

Ich saß auf einem Holzschragen in der Domhütte, Giers Hammer und Hans Truckenprot mir gegenüber. Seit der Abendwind damals die Brüder also erschreckt, kamen sie nur mehr selten zusammen. Truckenprot verwahrte die Schriften und wir lasen oft daraus. 154

Die Steinfiguren der Verkündung standen halbfertig, wir hatten nur säumig an ihnen gearbeitet, seit Wochen und Monden schon. Heut aber ruhte in der Hütte Meißel und Schlegel, es lastete dumpfe Stille über den Räumen: der Meister Burkhart lag hart darnieder, wir wußten, daß es mit ihm zuende ging . . . Es war uns wie ein Zeichen vom Sterben des Doms, vom Sterben unserer alten Kunst . . . Verdrossen sah Giers auf das Steinbild Unserer Frau: der Kopf war vollendet, ein liebliches Mädchengesicht schaute ängstlich verschüchtert vor sich hin. Aber die übrige Gestalt bot kaum die Umrisse des Gewands.

»Wann ich die Worte des Meisters hör«, sagte Giers Hammer, »möcht ich das Stümperwerk da zerschlagen in tausend Stück . . . Wir haben die Risse gemacht vor ein paar Jahr – aber inzwischen ist in der Welt ein Menschenalter vergangen und mehr. Das macht, weil über sie das Wort von oben ist gesprochen worden . . . Der Bauer murrt im Land, wohin du hörst; der Joß-Fritz geht um – und nicht er allein. Die Herren treiben ihr wütigs Regiment wilder mit jedem Tag, jagen das arm Volk mit Gewalt in Aufruhr . . . Allorts schmält es über den schändlichen Pfaffentrug, über den Geiz und das lasterhafte Leben der Mönche und Bischöf. Die Lehr des Meisters Eckehart geht heimlich hin im stillen Grund und wend't die Herzen hin zum wahren Gott . . . Der Ryßwick in Niederland hat Christum einen törichten Phantasten genannt, der die ganze Welt in Jammer 'bracht hat mit seinem einfältigen Evangelium . . . Sie haben ihn verbrannt . . . Im Westen über dem großen Meer steigt ein neues Land aus dem Wasser auf. Die Welt soll eine Kugel sein – frei schweben im Abgrund . . . Mir gehts im Kopf um wie ein Wirbelwind, dreht sich mir alles im Kreis – und nicht mir allein. Die Welt ist gärig worden wie ein junger Wein. Es steigt eine neue Welt auf – auch bei uns. Was soll da noch das Meißeln am alten Stein! Immer die alten Bilder von Unserer Frau und dem Engel, den alten Aposteln und Heiligen – bald so die Händ' und bald so – aber im Grund immer das gleich' . . .« 155

»Sinds denn die Heiligen, die wir meißeln, Giers? Haben wirs nicht oft bered't, daß es unser eigen Fühlen, unser eigen Not und Suchen ist, die wir dem Stein und Holz zu tragen geben?«

»Ja – aber es hebt ein neu Denken und Fühlen in der Welt an, darum brauchts auch ein neu Gewand dafür. In ein Madonnengesicht kann ichs nicht einbilden, was in mir ist – und du kannst's nicht in einen Engel! Braucht neue Gefäß für den neuen Wein. Neue Wort' für die neue Weis' . . .«

»Du denkst an die neue, fremde Kunst von Italien her . . .«

»Die welsche Kunst kenn ich«, warf Truckenprot ein; »sie ist unheilig im tiefsten Grund . . .«

»Du meinst, weil sie gern schöne, nackte Weiber und Männer hinstellt, wie?« lachte Giers Hammer.

Hans wurde ein wenig rot im Gesicht. »Nein«, sagte er leise; »aber sie weigert der Seele ihr Teil, ist eine Kunst des Auges bloß. Aber unsere Kunst – wenn wir ein Bild machen, aus Holz, aus Stein, auf eine Tafel – so tut sich hinter ihm die Weite der Seele auf wie ein unendliches Land, und das erst ist es, was wir darstellen wollen, das erst ist unser' Kunst, nicht das Bild, das wir für Augen stellen. Das kann die neue welsche Kunst nie. Sie nimmt uns unser bestes, eigenstes Teil. Darum sag ich, daß sie unheilig sei und nichts von Gott weiß, malt sie auch noch so viel Heilige!«

»Ja, du sollst recht haben«, meinte ich. Drauf Giers:

»Müssen wir drum ewig bei den Heiligen bleiben? Denk an den alten Grasser: was hat der schon vor zwanzig Jahr geschnitten? Die Maruskentänzer, he? Wie sie wirbeln in wildem Drehn, wie sie anschleichen gleich Katzen, eitel dahertrippeln – zahnluckige, alte Gecken! . . . Der hats gekonnt! Und hats gewußt!«

Er warf den Holzschlegel weg, mit dem er gespielt. »Ich mag nimmer dies ruhige, liebliche Stehen, dies singende Kindleinwiegen! Sturm soll niederfahren, einbrechen in die Mäntel, daß sie wild flattern und fliegen, der Sturm, der durch die Welt 156 braust, durch die Gemüter der Menschen, soll wühlen in den Gesichtern der Bilder, die wir machen, in ihren Geberden – schreien sollen sie, nimmer lächeln und dulden, die Arme zum Himmel werfen, nimmer demütig die Hände falten! . . . Ich kann die Gottsmutter nicht fertig machen . . .«

»Geht mir wie dir«, sagte ich dumpf. »Mein Engel soll ihr das Heil künden, das der Welt soll kommen . . . Mir ist, er müßt daherstürmen mit einem Flammschwert, dreinhauen wie die Engel am letzten Tag, wie sie der Dürer gemacht hat in seiner Apokalypsen . . . Was soll da der Lilienstengel! . . .«

Truckenprot saß mit erschrockenem Gesicht. Da scholl draußen, vom Turm, das hastige Läuten einer kleinen Glocke; wir sahen uns erschrocken an und wußten, was es bedeute.

Der alte Sagenhart trat ein, ernst und still. »Der Meister Burkhart liegt in den Zügen . . . Sie läuten für ihn . . .«

Wir knieten nieder und beteten für den sterbenden Meister . . . Sein Scheiden war uns wie das Siegel, das man am Ende setzt . . .

Die Glocke wurde still.

Und wieder ging die Tür. Ein Hüttenknecht kam und nickte uns zu mit nassem Blick: »Der Herr Meister ist tot . . .«

Wir beteten das Miserere . . .

Dann sagte der Knecht zu Giers Hammer und mir: »Es steht einer draußen, der hat nach euch gefragt . . .«

Wir gingen hinaus: da stand Joß-Fritz vor uns: »Es ist Zeit, Gesellen, – ihr sollt mit dem Brand umgehen im Land . . .«

Ich sah zum Dom auf, dessen Pfleger in dieser Stunde gestorben, der letzte Hüter der alten Kunst; sah zurück zur Werkstatt, darin die Steinbilder standen, die wir nicht mehr vollenden konnten. Vor uns lag wieder die endlose Straße der Vaganten, der Bettler und Fahrenden . . . 157

 


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