Ernst Kratzmann
Die neue Erde
Ernst Kratzmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wenn einmal schon eine Nachricht von den Menschen uns erreicht, dann ist es Unglück oder gar noch Schande und Schmach. Nun sind es zwei Jahre, daß Männer, die sich Deutsche nannten, in Versailles ihren Namen unter den Haß- und Vernichtungsvertrag setzten und damit deutsches Land und Volk für unabsehbare Zeit, wenn nicht für ewig, unter das Joch seiner Todfeinde beugten. Wir haben seither den »Frieden«, nach dem die Verräter einmal zur Unzeit so stürmisch begehrten. Aber noch immer fordern unsere Peiniger aufs neue, fordern mit dem Recht der 37 Gewalt von einem Volk, das sich selbst entwaffnet, sich selbst die Ehre abgesprochen hat und sich nicht genug tun kann in kriecherischer Erfüllung aller Befehle eines toll gewordenen Hasses.

Ich lese es nun schon zum drittenmal, aber es ist so und es steht klar vor mir in dem Zeitungsblatt: der Reichstag hat das Londoner Ultimatum angenommen, hat uns verpflichtet, in siebenunddreißig Jahren hundertzweiunddreißig Milliarden Goldmark an unsere Feinde zu zahlen . . .

Dies Land, dem man die besten und fruchtbarsten Gebiete entrissen, dem man alle Mittel genommen, sich selbst zu erhalten, sich nur vor dem Hunger zu wahren, dem man den Osten, dem man die Kolonien entrissen hat, dies Land hat sich durch seine »Volksvertreter« verpflichtet, ein ganzes Menschenalter hindurch unsinnige Summen an seine Peiniger zu zahlen, ohne daß ein einziger Mensch im Land sagen könnte, woher sie kommen, wer sie aufbringen soll! Und zu diesem Wahnwitz schweigt das niedergetretene Volk, statt daß man das Gesindel im Reichstag mit Fußtritten auseinanderjagte und dem Feindpack seine »Verträge« in Fetzen vor die Füße schmisse – komme dann, was will . . .

Was soll das heißen: siebenunddreißig Jahre lang? Unsere Kinder und Enkel werden zahlen und zahlen, sie werden hungern und darben, werden arbeiten und schuften im Dienst der »Sieger«; wer einen Sohn zeugt, wird einen Sklaven zeugen, dem er mit der Geburt ein Schandmal, dem er für die Zeit seines Lebens den furchtbarsten Fluch aufbürdet. Unsere Äcker und Felder, unsere Fabriken, unsere Schiffe, all unser Besitz bis auf das Hemd am Leib wird den Fremden gehören. Es wird geschehen, was nie noch geschehen ist, seit es eine Menschheitsgeschichte gibt – ein Volk von siebzig Millionen wird vom ersten bis zum letzten Mann Fronarbeit leisten, durch Jahrzehnte hin, für Frankreich, für England, für weiß Gott noch welche andere Staaten, die uns niedergetreten haben dank unserer eigenen Niedertracht.

Wenn ich von nun an mich mühe, dem Moorboden Frucht abzuringen, wenn ich Vieh züchte, Torf steche – so wird jeder 38 Spatenstich für den Feind sein, jede Ackerfurche wird Korn für den Feind tragen. Jeder Arbeiter wird täglich, sein ganzes Leben lang, für den Todfeind sich placken, wir werden Schiffe bauen für den Feind, unsere Seeleute werden in fernen Meeren sterben, an fernen Küsten scheitern, um Reichtümer für den Feind herbeizuschaffen, unser Geist wird sich um Erfindungen mühen, deren Frucht der Feind verprassen wird, unsere Frauen werden Kinder gebären, nur, damit es dem Todfeind niemals an Sklaven mangle. Ich stehe auf meinem Grund und Boden, der vor dem Gesetz mein eigen ist und doch längst nicht mehr mir gehört. Die Arbeit, die ich froh, wie einen Gottesdienst an der Erde vollzog, sie ist mir vergällt, sie scheint mir von nun an wie Verrat, weil sie dem Feind dienen wird.

Und statt daß diese grauenvolle, teuflische Forderung, die nur mehr offener Hohn und Übermut ist, endlich einmal das ganze Volk zu einem einzigen, wütenden Willen zusammenschweißte, einig und eins machte – statt daß es in einem einzigen Aufschrei der Wut sich aufrisse vom Boden, um lieber zugrunde zu gehen als weiterhin die Schmach des Wehrlosen zu tragen –: statt dessen Hader und Zank zahlloser Parteien, Verderbnis und Fäulnis, wohin einer sieht . . .

Wie tief noch will uns Gott beugen!

 

Aber das ist die wundervolle Art der Erde: seit ich diese letzten Zeilen schrieb, sind Wochen dahingegangen. Und ich habe wieder zum Spaten gegriffen, habe Gräben gezogen, Torf gestochen, habe die Kartoffeln gehäufelt, ich habe mit Hinrichs und Klas einen Anbau an das Haus begonnen und werde ihn bald vollenden, ich habe etliche Schafe gekauft, denn ich will auf den kümmerlichen Weiden die genügsamen Tiere halten und will, daß wir uns künftig in selbstgefertigte Wolle kleiden.

Ich habe es noch vor Wochen fast als Verrat empfunden, das Land zu bebauen, um damit dem Feind zu dienen. Aber die Erde kennt unsere menschlichen Torheiten nicht. Sie weiß nichts von 39 unsern Schandverträgen und Gemeinheiten. Sie weiß überhaupt nichts von menschlichem Wahn und Wahnsinn. Sie fordert ihr Recht und die Erfüllung ihrer Gesetze. Es war mir in den schlaflosen Nächten immer wieder, als redete ihre Stimme aus den Tiefen herauf: das alles ist euer Menschenwerk, das vergessen wird, weil es gegen das Gesetz ist. Mein Gesetz ist: blühen und fruchten, sterben und auferstehen. Du bist mein Knecht. Geh an dein Werk . . . So habe ich wieder zum Spaten gegriffen.

 

Ich denke heute noch mit einem geheimen Grauen an den Tag zurück, da das geschehen ist:

Ich war allein draußen im Moor, beim Torfstich. Glühender Mittag stand über dem Weit. Mir war heiß, ich hatte nichts mehr zu trinken im Krug. Die Luft zitterte über dem Boden, daß die Ferne wie hinter einem Schleier verschwand. Ich mußte ausruhen und legte mich in den kümmerlichen Schatten der aufgeschlichteten Torfziegel nieder. Hasso streckte sich neben mich hin. Fast fielen mir die Augen zu, aber ich war zu ermüdet, um Schlaf zu finden. Das Blut pochte mir in den Schläfen, eine seltsame Unruhe war in mir.

Über das Moor her kam ein Mann gegangen. Ein Bauer. Er trug ein kleines Bündel auf dem Rücken, das ihn doch niederzudrücken schien, denn er stützte sich schwer auf den Stock. Und hinter ihm ging noch einer und noch einer, eine Frau und ein paar Kinder folgten ihnen. Woher plötzlich die Menschen? Mitten durch Moor und Bruch, mitten durch meinen Grund, ohne Weg und Pfad, unbehindert über Wassergräben und Rinnsale hinüber? Wo ich in all der Zeit nie einen Fremden gesehen hatte?

Die Leute sahen aus wie Menschen, die von Haus und Hof vertrieben wurden, die »ins Elend gehen«, wie man vor Zeiten einmal sagte . . . Ist es soweit schon – treibt man den Bauern schon von der Scholle?!

Ich richtete mich erschrocken auf, die Bauern anzurufen – und ringsum war Leere, weites, einsames Land . . . 40

Da taumelte ich hoch und starrte um mich, das Herz begann mir zu schlagen, daß ich die Adern am Hals fühlte. Rings alles leer – kein Mensch . . .

Hasso, der halb schlafend neben mir gelegen, stand auch auf und sah mich schweifwedelnd an, als wollte er fragen: was nun? Da fiel mir erst auf, daß er, der immer Wachsame, keinen Laut gegeben hatte, als die Fremden vorübergegangen . . .

Ich stand immer noch und sah um mich . . .

War das der Wahnsinn . . .?

Habe ich . . . das zweite Gesicht . . .?

Ich habe mir seither eingeredet, daß es ein kleiner Sonnenstich gewesen sei, in der ungewohnten Mittagsglut . . . Hinrichs spricht nicht ohne Grund von denen, die im Mittag umgehen, und warnt davor, um diese Zeit im Feld zu arbeiten . . .

Aber ich weiß doch, wer die Gestalten waren, die an mir vorübergegangen sind, schweigend, unerreichbar für meinen Ruf . . . Sie werden bald wirklich über Land wandern, da und dort, in Nord und Süd . . .

Am Abend ist mir jetzt wieder seltsam zumute, wie damals, im ersten Winter . . . Als gingen sie jetzt wieder ums Haus . . .

Heide und Moor sind auch am sonnenhellen Sommertag voll der verlorenen Tiefen, in denen das Abgründige wohnt. Und die Grenzen zwischen Ahnung und Wirklichkeit – wer kann sie finden und angeben? Es mag wohl einer unversehens sie überschreiten, ohne daß er dazu im Kopf verdreht sein müßte . . .

 

Wenn ich diese zwei ansehe, Hinrichs und sein Weib – es will mir immer wieder ganz unglaubhaft scheinen, daß es noch solche Menschen geben soll in heutiger Zeit. Diese Frau, eine Bauernmagd –: und sie ist wie eine Königin, voll der Würde und Gelassenheit, voll einer unnahbaren Hoheit in ihrem Gehaben, in ihrer Rede und ihrem Gang. Es sind Gestalten, beide, aber sonderlich Friedgert, wie heraufgestiegen aus Urtagen, da noch Königinnen am Meerstrand ihr Linnen wuschen, Königinnen, 41 Töchter der Riesen, in der Mühle die schweren Steine drehten, daß Funken stoben und die Mahlspindel samt der Burg verbrannten. Friedgert trägt die hellblonden Flechten ihres reichen Haares wie eine goldene Königskrone. Und ich begreife jetzt die ruhige Sicherheit, mit der Hinrichs an die Frau denken konnte in den Jahren der Trennung: dieses Weib gehörte ihm für Leben und Tod, kein anderer Mann würde es je wagen, sich ihr ungebührlich zu nahen. Wie muß dies gewesen sein, als die beiden noch jung waren, als das Blut noch begehrend durch ihre Leiber brannte und sie sich fanden in einer Sommernacht!

Ich habe vor langen Jahren, als noch tiefer Friede war, einmal in Florenz etwas Seltsames erlebt. Ich bekam in meiner Pension keinen Platz mehr, man hatte mir bei einem »avoccato« ein Zimmer gesichert. Als ich hinkam, öffnete mir eine junge Frau, mit dem Kind auf dem Arm. Ich prallte fast entsetzt zurück: denn vor mir stand jene Madonna Fra Angelicos, die der Besucher erblickt, wenn er ins Obergeschoß des Klosters von San Marco emporsteigt . . . Sie stand vor mir, genau gleich in allen Zügen, als sei sie eben ans dem Bild herausgetreten: das selbe matt rötlichblonde Haar, die gleiche, schwachgelbliche, elfenbeinfarbene Haut, die mandelförmigen Augen, die gleiche demutsvolle Haltung, der sanft ergebene Ausdruck des Gesichtes – so völlig gleich jener Madonna, daß Fra Angelico einzig dies Mädchen, oder nein, diese junge Mutter, nur sie, als Vorbild für seine Verkündigung genommen haben konnte. Ich habe dann später noch oft das Urbild in San Marco mit der jungen Frau verglichen und die Ähnlichkeit wurde nur noch erstaunlicher und – beglückender. Denn ist es nicht beglückend, daß immer wieder das uralte Erbgut des Volkes, zersplittert und zerteilt durch Zeugung und Geburt auf Tausende und Millionen von Menschen, verspritzt wie ein Wassertropfen in ein Meer, immer wieder im Strom der Jahrhunderte sich einmal doch von neuem eint, zusammenfindet, genau in der gleichen Art, wie es einmal war? Daß es wieder heraufsteigt als der gleiche Mensch, wie er vor 42 Jahrhunderten gelebt? Ich sehe die junge Mutter vor mir und weiß: genau so stand Fra Angelico vor dieser mädchenhaften Frau und malte in ängstlicher Sorgfalt und Andacht ihr Bild . . . Ihre Züge gingen unter in Nachkommen und Enkeln und Urnachfahren – aber sie verloren sich nicht. Sie lächelt mir heute wieder entgegen wie damals vor fünfhundert Jahren dem frommen Meister von San Marco . . .

Und ein zweites Mal geschah mir Ähnliches in einer kleinen Stadt in Württemberg. Ich schlenderte an einem Tennisplatz vorüber und sah einem spielenden Mädchen zu. Eine Erinnerung stieg in mir auf – das Fremdartige des Kleides, des Spieles, störte mich noch – dann wußte ich es: die selbe, die gleiche Gestalt, das nämliche Gesicht hatte ich schon einmal gesehen an einer Schnitzfigur des Jahres 1420, die unweit in einer Nachbarstadt stand . . .

So erscheint mir Friedgert. Sie hat einmal als Königin auf einem germanischen Hof gelebt, ist an der Seite des Stammesfürsten auf dem Hochsitz gesessen, streng und herb, stolz und gelassen. Die wildesten Gesellen, vor denen jeder Feind zitterte, wenn sie ihn anstürmten mit urrauhem Kampfgeschrei – sie wurden still und standen in Ehrfurcht von den Wandbänken auf, wenn sie die Königshalle betrat. Sie redete wenig. Aber jedes Wort wog und galt. Wenn sie der Herr um ihren Rat fragte, horchte der Kreis der Männer auf und ihr Wort war Ausspruch der Gottheit. Wenn sie die Losstäbe warf, wurde das Gewebe der Nornen kund.

Sie ist nicht schön. Nur herb und untadelig. Und sehr aufrecht. Das ist das erste, was man an ihr fühlt. Aufrecht und aufgereckt. Unbeugsam. Sie ist edel und adelig.

Hinrichs und ich trafen uns mit Friedgert draußen vor der Stadt, in dem kleinen Krug, wo Fuhrleute und Wandergesellen einkehren. Sie kam auf einem offenen Leiterwagen mit dem Bauern, bei dem sie bisher in Dienst gestanden. Die Bäuerin und ein paar Knechte und Mägde waren mitgefahren. Sie waren 43 alle in Festkleidern, Friedgert in einem schwarzen Gewand. Alle waren sie ernst und still und doch erfüllt von einer wahren Freude, die man aus ihren Gesichtern lesen konnte, auch ohne daß sie lächelten. Der Wagen war mit grünem Reisig geschmückt.

Als sie ausstiegen und uns die Hände gaben, merkte ich bald, wie sehr der Bauer die Magd schätzte, wie ungern er sie verlor. Niemand behandelte sie als Magd. Auch die Bäuerin nicht. Friedgert sah mich gelassen an, dann gab sie mir freundlich die Hand. Ich verbeugte mich nach städtischer Gewohnheit, die ich noch nicht abgelegt habe, vor ihr, tief, und niemand verwunderte sich darüber.

Der Bauer sollte Friedgerts, ich Hinrichs' Trauzeuge sein. Wir gingen aufs Standesamt. Dort fand einfach und schlicht, amtlich trocken und karg die Trauung statt, und Klas, der gar nicht mitgekommen war, wurde als Sohn von Hinrichs anerkannt und sein Muttername in den Namen des Vaters verwandelt: Klas Hinrichs. Alles ging nüchtern und sachlich vor sich, aber der Beamte und der Schreiber starrten dabei die Frau an, daß ihnen die gewohnten Redeformeln sichtlich nur mit Mühe von den Lippen kamen.

In die Kirche gingen wir nicht. Als ich Hinrichs daheim gefragt hatte, ob er sich denn nicht auch vor dem Priester trauen lassen wolle, sah er mich von der Seite an, nahm die Pfeife aus dem Mund, spuckte bedächtig aus und sagte dann etwas gedehnt: Nee!

Ich fragte, halb scherzend, ob er vielleicht ein Sozialdemokrat sei? Er sah mich noch einmal an, diesmal fast etwas verächtlich über die alberne Frage, und gab mir überhaupt keine Antwort.

Nach der Trauung gingen wir in den Krug zu einem einfachen Mahl. Ich kam neben dem Bauern zu sitzen. Es ging still und ehrbar zu, niemand dachte daran, sich einen Rausch zu trinken. Der Bauer tat den üblichen Spruch auf die junge Frau, karg in Worten, trocken, wie es die Art ist hier oben, aber ich merkte ihm an, wie er diese Frau mit einer scheuen Ehrerbietung ansah, heute 44 noch immer, nachdem sie über zwanzig Jahre lang, von ihrem zehnten Jahr an, auf seinem Hof gedient, nachdem sie vor Jahren das uneheliche Kind geboren. Kein unziemlicher Scherz wurde darüber laut.

Als die Gespräche ein wenig lebhafter wurden, wünschte mir der Bauer Glück, daß Friedgert auf meinen Hof ziehe, und das nämliche tat die Bäuerin. Ich sah, daß ihr die Augen feucht wurden, als sie ein wenig von Friedgerts Leben sprach; seltsam, diese spärlich aufsteigenden Tränen in dem harten, strengen Gesicht der alternden Frau . . .

Dann brachen wir auf, die Knechte hoben vom Wagen des Bauern eine große Truhe, buntbemalt – die Brautgabe an Friedgert für ihren langen Dienst. Alle reichten ihr die Hand, zuerst der Bauer, ernst und mit wenig Worten, in denen Dank und Glückwunsch lag, dann die Bäuerin, der nun richtig die Tränen aus den Augen liefen, als sie Friedgert umarmte, endlich die Knechte und Mägde. Dann gaben sie auch Hinrichs und mir die Hände, und der Bauer empfahl die ehemalige Magd in meine Hut, als wäre sie seine eigene Tochter.

Dann rollten wir hinaus in die Heide, wir nach Südwest, der Bauer nach Südost.

Am Abend langten wir auf dem Hof an. Klas kam uns mit Hasso entgegen. Der Junge begrüßte die Mutter ruhig und gelassen. Es geschieht alles einfach und still zwischen diesen Menschen, ohne alle Redensarten und ohne jegliches Getue. Es ist alles selbstverständlich.

Hasso umbellte den neuen Hausgenossen ein wenig, und als Friedgert mit einem frohen Lächeln ihn anrief und die Hand nach ihm streckte, sprang er an ihr hinauf und leckte ihr das Gesicht ab. Da lachte Friedgert laut auf – das erstemal, daß ich sie lachen hörte. Und Hinrichs schmunzelte.

Ich trat auf die Hausschwelle, und als die beiden mir, wieder ernst geworden, entgegenkamen, gab ich der Frau und dem Mann die Hand und führte sie in das Haus ein. Das geschah alles ohne 45 Worte. Hinrichs ging mit Friedgert in die Stube, die wir in den letzten Wochen glücklich vollendet hatten, und ich in die meine.

Eine Stunde später saßen wir alle um den gemeinsamen Tisch und aßen das Nachtmahl, das Friedgert bereitet hatte, ihr erster Dienst in meinem Haus. Und damit ist es wohnlicher geworden, da nun eine Frau da ist und Frauenarbeit verrichtet, wie es sich gehört.

Nach dem Essen, als wir aufstanden, dankte mir Hinrichs, und Friedgert tat ebenso. Dann gingen sie in ihre Stube und Klas in den Stall zu den Pferden, der Kuh und den Schafen.

Ich aber sitze allein in meiner Stube, das stille Licht der Lampe bescheint das Schreibpapier und läßt die Holzschnitte an den Wänden ein wenig aus dem Dunkel treten.

Der heutige Tag ist bedeutsam für den Hof und mich, das weiß ich.

 

Das Korn hat geblüht und Ähren angesetzt.

Die Kuh hat ein Kalb geworfen, die Schafe haben Lämmer bekommen.

Mein kleines Kleefeld, das wir sorglich gedüngt haben, ist grün von saftigen Luzernen.

Friedgert hat vor dem Haus einen kleinen Garten angelegt – hoch an der Zeit, wenn wir noch etwas Gemüse und Blumen ernten wollen.

Die Erde hat mich angenommen . . .

 

Wenn germanische Königinnen aus Urzeiten heraufsteigen und wieder unter uns gehen, wenn heiliges Urwissen um verborgene Dinge und Wesenheiten immer wieder in einem Mann lebendig wird, wenn die Erde alljährlich Frucht trägt und nie müde wird zu blühen – ist es dann töricht, an die Auferstehung des Volkes aus tiefster Not und Schmach zu glauben? Töricht und zwecklos, all seine Kraft an diesen Aufstieg zu setzen?

Eines aber steht mir nun, nachdem ich lange über diese Dinge 46 nachgedacht, fest: aus dem äußeren Leben, aus Politik, Wirtschaft oder Handel, kann uns niemals Hilfe werden. Käme über Nacht ein Wundermann, der unsere alte Armee uns wieder hinstellte, verdoppelt, verdreifacht; der uns Geld und Lebensmittel in Überfluß hinschüttete – es wäre nur das Siegel zu unserem endgültigen Verderben: wir gingen in Bosheit des Herzens, in Übermut und wüstem Materalismus zugrunde. Noch schlimmer als es 1918 der Fall war. Nein, innerlich müssen wir erst gesunden, müssen uns wieder auf uns selbst besinnen, wenn irgend es Rettung für uns geben soll. Müssen wieder begreifen lernen, daß nicht Geschäft, Gewinn, Geld, Auto, Wohlleben Ziel und Zweck unseres Daseins ist, sondern nur dies: daß wir uns wieder dem Urgrund des Seins verbunden fühlen, neu und doch vielmehr so, wie es einmal war, eh unser Eigenstes von Fremden verschüttet wurde.

Kein Volk kann auf die Dauer ohne Religion leben. Das Christentum ist für den größten Teil des Volkes längst nur mehr überkommene Formsache; es ist nicht mehr Ausdruck unserer Weltanschauung, es besteht nur mehr auf unseren amtlichen Ausweispapieren. Seit Jahrzehnten hat überhaupt kaum jemand noch eine Weltanschauung. Wozu auch? Die Börsenkurse waren weit wichtiger.

Eine so furchtbare Not aber wie den Krieg besteht man nicht mit dem Glauben an das Bankkonto. Der Krieg war die schwerste und nur einem innerlich gefesteten, innerlich ganzen Volk eben noch erträgliche Belastungsprobe, die je einem Volk auferlegt ward. Und darum unser grauenhafter Zusammenbruch! Das Christentum war längst bedeutungslos geworden und konnte keinem Denkenden, vor allem aber keinem wirklich deutschen Menschen mehr etwas geben. Es war nicht aus unserem Boden und Himmel erstanden und konnte uns also im Augenblick der Not nicht stützen. Etwas anderes haben wir aber einstweilen nicht an seine Stelle zu setzen. Einstweilen – müssen wir sehen, ob nicht, wenn wir die schalen Trümmer der Scheinkultur unserer letzten hundert Jahre wegräumen, darunter verschüttetes, absichtlich verdecktes eigenes 47 Urgut zum Vorschein komme. Auf Eigenes müssen wir uns besinnen. Vielleicht ist es in den Jahrhunderten, da es vergessen und verachtet in der Tiefe ruhte, weiter gewachsen, groß geworden.

Und wir müssen den Materialismus und den Eigennutz austilgen, von Grund aus.

Und unsere Uneinigkeit! Wir müssen endlich ein Volk werden. Seit tausend Jahren nennen wir uns so und werden es immer weniger.

Unsere Niederlage war eine Gnade des Schicksals, eine Rettungsmöglichkeit in letzter Stunde. Gott streckt uns noch einmal die Hand entgegen – fassen wir sie, gehen wir neuen Höhen entgegen. Schlagen wir sie aus, so ist es zu Ende mit uns. Unsere Niederlage ist der Beginn einer furchtbaren Reinigung, einer Katharsis in wahrstem Sinn. Nun liegen wir im Fieber, das die ungesunden Säfte in unserem Leib verbrennen und ausscheiden soll. Furchtbar war die Krankheit, furchtbar muß das Fieber sein.

Ist es das erstemal, daß wir solche Zeiten erleben?

Wie töricht und klein, das zu glauben. Ich, der Geschichtskundige, hatte es vergessen, bin in Kleinmut verzagt gewesen, habe schon das Ende aller Dinge gesehen. Ich mußte daran erinnert werden, in seltsamer Weise . . . Draußen im Moor, durch die merkwürdigen Gäste, die sich da manchmal einstellen, an die ich mich nun nachgerade gewöhnt habe, daß sie mir kaum mehr Schrecken einjagen.

Ich bin zu dem geworden, was man einen Spökenkieker nennt. Weil ich oft mit Leuten rede, die gar nicht da sind. Mag sein. Freilich ist dann auch jeder Dichter ein Spökenkieker . . . Aber die Leute sind ja wirklich da! Viel wirklicher als die, die auf zwei Füßen von Fleisch und Bein herumgehen und sich wunders wie klug dünken.

Erst vor ein paar Tagen war wieder so einer da. Draußen im Bruch, in der Mittagsglut, wenn die Luft über dem Boden flimmert und die Dinge in der Ferne so seltsam anders und fremd 48 werden – da kommen sie gern. Der von neulich stieg aus dem Torfgraben, schwarz und braun wie ein Moormann, und setzte sich auf einen Haufen von Torfziegeln. Nickte mir zu und zündete sich die Pfeife an. Merkwürdig, wie die brennen mochte, da er doch gerade eben aus dem Wasser kam. Jetzt erkannte ich ihn auch.

»Wie kommst du denn da her, Hein Lünemann? Du bist doch in Flandern –?«

»Ach, Unsinn, Flandern, Karpaten, Rußland! In einem Graben wars. Und der da erinnert mich so gemütlich an unsern alten Graben draußen, wo wir zuletzt beisammen waren. Na, du weißt ja . . . Schön hast du ihn ausgestochen! . . . Da unten liegen übrigens noch viele! Vom alten Fritz her, vom Blücher und weiß Gott noch aus welcher Zeit. Auch so ein paar alte Heiden sind dabei. Rauhbeinige Kerle. Aber gute Gesellen . . . Wenn du Courage hast, nehme ich dich einmal mit zu ihnen . . .«

»Das versteh ich nun aber nicht mehr, Hein: wie kommt ihr da alle zusammen, der eine von da, der andere von dort? Und liegt ihr wirklich da unten in der Erde, sozusagen mit Leib und Seele?«

»Oller Schafskopp! Begreift noch immer nicht. Wir hausen überall dort, wo einer einen Schützengraben aushebt zum Kampf.«

»Der Graben da ist doch kein . . .«

»Ist auch ein Schützengraben, jawohl . . . Oder meinst du vielleicht, daß jetzt kein Krieg mehr ist, weil man nicht mit Kanonen schießt? Und meinst auch gar noch, daß ihr allein jetzt in der Sch . . . sitzt und es denen früher niemalen so ergangen ist wie jetzt euch? . . . Na, und das übrige, das von der Seele und vom Leib – na, das begreifst du ja doch noch nicht. Wirst's schon einmal sehen, früh genug . . .«

Einen furchtbaren Qualm machte Hein Lünemann mit seiner Pfeife. In dicken, graublauen Schwaden lag er über dem Moor. Ihn selber sah ich gar nicht mehr. Verdammt nochmal, das Moor brannte! Vor drei Tagen schon glaubte ich den Brand erloschen, 49 den ich der fruchtbaren Asche wegen gelegt – nun war er wieder aufgeflammt. Daran war Hein Lünemann schuld mit seiner Pfeife . . .

 

Ein wenig nach Süden, eine halbe Stunde von meinem Hof weg, dehnt sich eine schwache Bodenwelle hin. Dort stehen ein paar einsame Eichen. Wie auf Rembrandts Blatt mit den drei Bäumen. Und ebendort wird jetzt ein Haus gebaut. Ein Bauernhof wie der meine, nur etwas größer.

Vor einem halben Jahr habe ich in der Stadt den Hans Wießbach getroffen. Der hat nach dem Zusammenbruch als Freiwilliger im Osten gekämpft, gegen die polnischen Banden. Und als die Berliner Schandbuben auch die Ostfront preisgaben und deutsches Land an Polen auslieferten, ging er in die Stadt. Dort habe ich ihn getroffen, voll Galle und Verdruß. Er war der Schwiegersohn eines reichen Händlers geworden und das war einstweilen sein einziger Beruf.

»Der Alte will, daß ich in die Krämerbude eintreten soll – aber dort sehen sie mich nicht. Darüber gibts denn nun täglich Krach und die Lene heult. Ein Sauleben das!«

»Wie wärs mit der Wehrmacht?«

»Laß mich in Frieden mit der roten Bande!«

»Hör an, Hans, mach's wie ich: werd ein Heidebauer!«

»Bist du ganz verrückt geworden? Was versteh ich von der Landwirtschaft? Und was wächst schon da draußen im Sumpf?!«

»Komm hinaus und schau dich um!«

Wirklich war er im Frühjahr gekommen. Mit der jungen Frau, einem netten Ding, das mächtig in ihn verliebt ist. Ich führte ihn herum, durch den Torfstich, zeigte ihm das Kornfeld, den Klee. Wir wanderten in der Umgebung des Hofes umher. Die Anhöhe mit den Eichen gefiel ihnen beiden. Als sie am nächsten Morgen heimfuhren, war Wießbach nachdenklich und die Frau halb ängstlich, halb hoffnungsfroh.

Und wieder ein paar Wochen später hatte er richtig das Land 50 gekauft, das gegen Mittag an meinen Grund angrenzt, und die Höhe mit den Eichen dazu. Er hat es billig bekommen, es hat keinen Wert, denn nur Narren und Spökenkieker können da siedeln. Der Schwiegervater hatte getobt, aber in Hans erwachte der alte Draufgänger, der nicht umsonst zweimal das »Eiserne« bekommen hat. »Die Mitgift ist mein,« hatte er erklärt, »ich tu, was ich will. Und machst du mir Schwierigkeiten, so geh ich davon und laß dir die Lene zum Andenken da, samt dem Kind, das unterwegs ist. Daß ihr's nur wißt!«

Da gab der Alte nach. Und nun wird an dem Hof gebaut und in ein paar Wochen will Hans seinen Einzug halten.

Ich habe ihn allzeit gut leiden mögen, aber ich bin doch froh, daß es bis zu seinem Haus immerhin eine halbe Stunde zu gehen ist. Unsere Voreltern haben gewußt, warum sie es vorschrieben, daß jede neue Siedlung so weit von der nächsten alten entfernt sein muß, als eine Feldhenne in einem Flug fliegen kann. Und wenns, wie bei uns, noch um ein gutes Stück weiter ist, schadets auch nicht. Der Deutsche gedeiht nur in der Einsamkeit. Er verträgt es nicht, daß ihm der Nachbar über den Zaun sieht. Das Beisammenhocken in den Städten hat ihn verderbt . . . Vom Moor aus kann ich das neue Anwesen gar nicht sehen, es liegt hinter dem Erlenbruch, und das ist mir lieb. Ich will draußen allein sein.

 

Nun ist Hans eingezogen auf seinem Hof, mit der Frau, mit zwei Knechten und zwei Mägden, einem Paar Pferde, einer Kuh und etlichen Schafen, mit Hühnern und Gänsen. Er fängts gleich im großen an. Ich will sehen, ob er durchhält. Geld hat er ja, mehr als ich. Er soll mir nur keinen Dampfpflug oder so ähnliches Zeug herausbringen in meine Einsamkeit . . .!

 

Ein paar Tage, bevor sie ankommen sollten, hörte ich in der Nacht vom Fahrweg her Räderknarren, Peitschenknallen und Pferdetraben. 51

Jetzt, mitten in der Nacht, rückt Wießbach an?

Ich muß aufstehen, die Fuhrleute kennen den Weg nicht – sie geraten in den Bruch . . . Ich stand hastig auf und ging hinaus, dem Schall entgegen. Es war Mondschein, der Nebel kroch vom Bruch herüber und deckte die Sicht gegen den Fahrweg. Hasso schnupperte im schwachen Wind. Er witterte die fremden Menschen und die Pferde. Aber er gab nicht Laut.

Ich kam zum Weg. Der Nebel wurde leichter und durchsichtig. Da kamen sie auch schon heran: große, mächtige Fuhrwerke, bespannt mit schweren, schnaubenden Gäulen, wuchtigen Tieren, Mecklenburgern oder Holsteinern, zwei, drei, fünf . . . Du guter Gott – brachte denn Wießbach Hausrat für ein ganzes Dorf mit? Zwölf Wagen waren schon an mir vorbeigezogen . . . und daneben – – seltsam – – Reiter, alle mit Lederpanzer und Helmen – –

Jetzt fiel mir auch die fremde Tracht der Fuhrleute auf. Ich erkannte sie: spätes dreizehntes Jahrhundert . . .

Als der zwanzigste Wagen an mir vorüberzog, begannen die vorne zu singen: nach Osten wollen wir reiten, nach Osten wollen wir ziehn, all über die grünen Heiden . . .

Die Reiter neben den Fuhrwerken, die Fuhrleute selbst stimmten ein und ich sang auch mit. Ich hätte es allen zuschreien mögen, die faul und feig in den Städten lagen und nicht wußten, wie sie Tag und Leben totschlagen sollten mit eingebildeter Geschäftigkeit, allen, die ihre Kraft brach und müßig feiern ließen:

Nehmt Land! Nehmt Land! In Ost und West – auf den Heiden und Mooren, auf den Inseln und Halligen – nehmt Land! Macht Land! Aus Sümpfen und Meerboden – macht Land! Aus Sandheiden und Bruch! – Bringt Pflüge, macht Land! Ringsum Feind! Bringt Waffen! Waffen und Pflug! –

Die Wagen, hochbepackt mit Hausrat und Ackergerät, zwischen dem Weiber und Kinder saßen; die Reiter, auf deren Helmen der Mondschein matt schimmerte, schwanden im Nebel. Ein Mädchen, auf dem letzten Fuhrwerk, sah mich im Vorbeifahren lang 52 an und lächelte. Sie schien mir seltsam bekannt – ich wußte nicht, wo ich sie schon einmal gesehen. Zwei blonde Zöpfe hingen ihr lang über den Rücken. Ich wollte sie anrufen, die Hand nach ihr strecken, aber ich konnte mich nicht regen, brachte keinen Laut hervor.

Ich sah dem Wagen immerzu nach – und da – mir begann das Herz stürmisch zu schlagen – da bog er vom Weg ab – – rollte langsam auf mein Haus zu und hielt vor dem Tor . . .

Was soll das . . . bedeuten . . .?

Der Nebel ging hoch. Das Fuhrwerk vor dem Haus war fort, aufgelöst in Nacht. Hasso, neben mir, witterte im Wind, er war unruhig und knurrte leise. Ich stand allein in der Mondnacht. Die Ferne war jetzt ganz klar.

Nehmt Land!

 

Hermann von Salza, der Deutschordensmeister, ruft Hermann Balk, den Landmeister von Deutschland, und mit ihm sieben Ritter. »Hört: Deutschland ist eine Kampfstatt wüster Gier. Alle gegen alle. Der Kaiser fern, unten in Italien, ficht gegen den Papst, gegen die lombardischen Städte. In Deutschland lehnen sie sich auf gegen ihn. Alle.

In Jerusalem ist unseres Bleibens nicht mehr. Das heilig Land geht verloren. Wir verderben dort unten. Zu glühend die Sonne, zu fremd das Land. Was kümmert uns Jerusalem! – Ihr geht nach Ost! Bekämpft die Heiden. Nehmt das Land. Ruft Bauern aus dem Reich. Bauern und Kaufmann, junge Menschen, die daheim nicht Grund und Boden haben. Gebt ihnen Land; nehmt es für sie. Baut Burgen, Dörfer, Städte. Weiter – immer weiter. Dem Meer entlang, hinauf – bis Riga!«

Die acht gehen nach Ost. Ganz allein. Und bauen ein neues Reich.

Hermann Balk hebt das blanke Schwert hoch zum Himmel: »Damit –« und schlägt an den Pflug: »Dafür!« Um eine uralte riesige Eiche ziehen sie im weiten Kreis mit dem Pflug 53 einen Graben, in die Eiche bauen sie, versteckt im Geäst, einen Auslug; von dort sieht der Wächter Tag und Nacht nach allen Seiten der vier Winde.

Die Eiche und der Graben – daraus wird später die Stadt Thorn. Heute gehört sie den Polen.

Die Hanse kommt. Im Meer gehen ihre Schiffe. Und auf den Flüssen tief ins Land hinein, bis weit hinein nach Rußland.

Aus den Straßen durch halb Deutschland hin knarren ihre Fuhrwerke, hochbeladen mit Kaufmannsgut. Ganz Deutschland überzieht sie mit ihrem Netz, das aus Geben und Nehmen, aus redlicher Mühe und ehrlichem Fleiß, aus Kühnheit und Klugheit gewoben ist. Jeder Hansamann muß zwei Dinge handhaben können: den Schreibkiel und das Schwert . . .

Noch früher, ein paar Menschenalter vorher, steht der Welfe vor dem Rotbart. Zu Gericht. »Du hast mich im Stich gelassen, vor Legnano. Durch deine Schuld bin ich den Lombarden erlegen. Du bist in der Acht!«

»Was hast du in Italien zu schaffen? Du – deutscher König?! Ich habe in Deutschland neues Land gemacht – ostwärts der Elbe. Habe die Wenden besiegt, habe die Dänen gebändigt. Du – hast deutsches Blut in Strömen vergossen – für einen blauen Traum. Fern im Süden, der uns fremd ist und fremd bleibt. Dein Traum wird verwehen. Mein Werk nicht . . . Ich gehe in die Acht . . . Nach mir kommen andere . . . auf meinem Weg . . .«

In Stralsund, in der Nikolaikirche, stehen noch heute die Stühle der Nowgorod-Fahrer, der Schonen- und Bergenfahrer. Sie sind reich geschnitzt, mit Eichhornjagd und buntem Zierat, mit Wappen und derbem Spruch.

Ich bin in der Marienburg gestanden, fern im Osten, und in Marienwerder, der Ordensburg. Beide Grenzwacht, heute mehr denn je. Nicht mit Geschütz und Panzerturm – aber die Menschen, die rings um sie wohnen und zu den Wunderwerken von ehedem aufblicken, können nie ganz mutlos werden. 54

Ein Traum von deutscher Größe und Macht: die Marienburg. Säle und Hallen, Remter und Wehrgänge, Höfe und Waffenkammern, Türme und Mauern, weithin gedehnt, eine Stadt für sich, Feste zugleich und prunkvoller Fürstensitz kunstliebender Herren: das ist die Marienburg. Kein Feind hat sie je erobert. Und nicht einmal Versailles hat sie uns nehmen können. Grenzwacht in Ost!

Ganz Trutz und ragende Herrlichkeit: Marienwerder. Aufsteigende Gralsburg. Ich habe sie an einem Herbstmorgen gesehen, als die Nebel über der feuchten Niederung langsam hochgehend sich lösten und aus den ziehenden Schleiern goldstrahlend und aufleuchtend im Sonnglanz die Burg emporwuchs. Vom Schloßhof sieht man den Lauf der Weichsel – heute der Grenzfluß! Von da bis hinüber zu uns –: verlorenes Land, einmal deutsch!

Völkerschicksale über die Erde hin . . . Nach Osten fuhren die Wagen heut Nacht – oder war es vor sechshundert Jahren? – nach Kurland, Livland, nach Samland. Überall wurde aus Sumpf und Wildnis deutsches Ackerland. Heute trennt uns von ihm der polnische Keil. Deutschland liegt zertreten und zerrissen im Staub.

Völkerschicksale über die Erde hin. Was muß geschehen und werden, daß wir wiederum auferstehn?

Warum hat der letzte Wagen vor meinem Haus gehalten?

In unserem Blut glost Fieberbrand.

Gestern Abend zuckte ein fahles Leuchten über dem Horizont, vor einem glanzlos mattgrauen Himmel.

In der Tiefe, bei den letzten Dingen, will Neues werden. Dunkel unbestimmt fühl' ich es. Aber ich weiß nicht was, nicht wie. Nur dumpf schmerzhaft das Verlangen und Sehnen: heraufführen will ich es helfen, herauf an den Tag . . .

Am Morgen fand ich mich auf dem Feld. Die Sonne brach durch die Frühnebel, die in der Nacht den Zug nach dem Osten gesehen. Der Tau glänzte auf den gelben Butterblumen. Auf 55 dem Grund, der noch vor einem Jahr Sumpf gewesen, reift nun mein Korn der Ernte entgegen. Auf der Wiese, die man vor einem Jahr noch kaum betreten konnte, weiden nun mein Vieh und die Pferde.

Friedgert schnitt, als ich heimkam, im Garten die ersten Blumen, die sie gezogen, und stellte sie in meine Stube auf den Tisch, an dem ich zu schreiben und zu lesen pflege. Als ich ihr dankte, fiel mir der Goldschmuck ein, den man in Stralsund bewahrt, der Goldschmuck von Hiddensoe . . .

Ich dachte, wie wundervoll er an ihrem Hals glänzen müßte, der Schmuck der germanischen Fürstentochter . . . Welcher König hat ihn einst seiner Geliebten geschenkt? Wohin ist seine Kampfschar zerstoben? Völkerschicksale über die Erde hin!

Manchmal ist mir, die Zeit wäre wie ein unendlich tiefer, durchsichtig klarer See. Ich beuge mich über die Flut und blicke hinab – fünfzig – hundert Jahre hinab, und zwei und drei Jahrhunderte und noch tiefer – ein Jahrtausend tief und noch weiter hinab . . . Ich sehe in einem Bild und Blick das Geschehen von Jahrtausenden vor mir und es wird zu einem unendlich herrlichen Gewebe – verwirrend scheinbar in seinem bunten Linienzug – und im Grund doch so einfach und schlicht . . .

Und ebenso einfach und schlicht wäre es, unsere Not zu wenden und vielleicht sogar zu enden, wäre nur einiger guter Wille unter uns, wäre in jedem von uns ständig das Gefühl wach: ich bin verantwortlich auch für die andern, verantwortlich für jeden von uns, der die gleiche Luft unter gleichem Himmel atmet, dem gleiches Blut durch die Adern rollt wie mir.

Ich bin vor zwei Wochen in die Stadt gefahren. Ich weiß nicht eigentlich, warum. Ich hatte nichts Dringliches dort zu tun. Ein wenig hatte ich wohl zu verkaufen, dies und jenes war uns nötig geworden, aber gar so wichtig war es nicht. Nachher freilich habe ich wieder gesehen, daß es doch sehr notwendig war, denn ich habe ein wenig Not wenden können, habe fünf Menschen retten und unserem Volk erhalten können. 56

Ich ging die gewohnten Wege: ins Museum, in den Dom, durch alte Gassen und Höfe. Stand vor meinen geliebten gotischen Schnitzfiguren und blieb endlich bei einem Antiquitätenhändler vor dem Schaufenster hängen. Dort war eine wundervolle Holzbüste aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert ausgestellt, ein Männerkopf, irgendein Heiliger wohl; herrliche Arbeit. Ein seltsam bewegtes, von geheimem, innerlichem Leben erfülltes Antlitz, durchwühlt von zahllosen Furchen und Rinnen, aus denen das Wissen und das Leid um Welt und Sein sprachen, jenes Wissen, das überwunden und erkannt hat und nicht mehr trauert und klagt. Es ist im Grund ein sehr unchristliches Werk, denn dies Gesicht gehörte einem Menschen, der aus eigener Kraft heraus seinen Weg gefunden hat. Es liegt gar keine fromme Ergebung darin, eher Trotz und kühne Auflehnung gegen Schicksal und Gott. Je länger ich das Werk ansah, desto gewisser ward ich, daß es das Selbstbildnis des unbekannten Meisters sein müsse, den ich zu lieben begann, fern über die Jahrhunderte hinweg. Und schließlich trat ich ein, sah mich ein wenig bei dem Mann um, dessen Laden mit tausend wertlosen Nichtigkeiten erfüllt war, und fragte nebenhin nach dem Heiligen. Er stammte aus dem Besitz eines verarmten Sammlers, und kostete so wenig, daß ich augenblicks zugriff und ihn sogleich verpacken ließ, ihn mitzunehmen.

Indessen fiel mir noch etwas auf: ein Sekretär, aus dem achtzehnten Jahrhundert, schön erhalten, mit köstlicher Einlegearbeit, Blumen und Tieren. Ich fragte auch danach, und als ich den Laden verließ, war auch der Schreibtisch mein eigen. Ich ging nach dem Gasthof, meinen Wagen zu holen, um die neuerworbenen Schätze aufzuladen. Ich mußte unwillkürlich lächeln: das hätte ich mir vor einem Jahr nicht träumen lassen, daß ich nun bereits wieder anfangen konnte, Altertümer zu sammeln, wie ich es, recht bescheiden, vor dem Krieg mit meinen paar Dürer- und Rembrandtblättern begonnen.

Als der Schreibtisch auf den Wagen verladen wurde, fragte 57 ich nach Namen und Wohnung des früheren Besitzers. Der Händler wußte ihn angeblich nicht – er wollte mir die billigere Einkaufsquelle nicht verraten. Ich versicherte ihm vergeblich, daß ich gar nicht mehr kaufen könne, weil ich zu wenig Geld habe, daß ich an dem Mann nur einfach rein menschlich Anteil nehme – er zuckte die Achseln. Ich stieg ärgerlich auf den Kutschbock und fuhr im Schritt die enge Gasse hin. Und da geschah das Seltsame: eine ältere Frau und ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren kamen mir entgegen, und als sie an meinem Wagen vorübergehen wollten, rief es halblaut: »Da, Mutter – der hat unsern Sekretär gekauft . . .«

Ich hielt mit einem Ruck an und lief den Frauen nach.

»Von Ihnen stammt der Sekretär und der Heilige von 1490? Darf ich Sie besuchen?«

Sie waren fast erschrocken und standen verlegen. Ich konnte ihre traurige Lage aus ihren Gesichtern lesen: die Frau mit versorgten, ängstlichen Zügen, hager von Mangel und Kummer, gekleidet in die Reste einer ehemals vornehm-bürgerlichen Eleganz; die Tochter mit dem gewissen Ausdruck der Hoffnungslosigkeit, den ich so wohl aus der Zeit meiner Wanderung nach dem Krieg kenne, und der so furchtbar, eine Anklage gegen Zeit und Schicksal, in dem jungen Gesicht stand. Jetzt bemerkte ich auch ein in Tuch eingeschlagenes Paket, das sie unter dem Arm trug, und ich begriff: sie waren wieder auf dem Weg zu dem Händler, um etwas zu verkaufen – für einen Pappenstiel . . .

»Gehen Sie nicht wieder zu Matthiesen, meine Damen! Ich bin kein Händler – ich habe den Schreibtisch nur aus Liebe zu den alten Dingen gekauft, meine Stube draußen in der Heide etwas wohnlicher zu gestalten . . . Und es würde mich freuen, wenn Sie mir Ihre Wohnung sagen wollten . . . Matthiesen wollte sie mir nicht verraten . . .«

Und da sie immer noch zögernd und verschüchtert standen, nannte ich ihnen meinen Namen und fügte aus einer plötzlichen Eingebung hinzu: »Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie 58 helfen . . . daß Sie nicht mehr Ihre schönen alten Sachen verkaufen müssen . . .« Und dabei deutete mein Blick auf den Pack, den das Mädchen unter dem Arm trug.

Die Frau sah fragend auf die Tochter – und die lächelte, wie um sich selbst Mut zu machen: »Dr. Mertens –« sagte sie, und nannte Straße und Haus. Dann kehrten sie um und gingen ihren Weg zurück. Ich aber fuhr schnell in meinen Gasthof, ließ Wagen und Pferde dort und suchte dann das angegebene Haus auf.

Ich fand alles, wie ich es erwartet. Dr. Mertens – ein feiner älterer Herr, etwas weltfremd und ängstlich, ehemals vermögender Privatgelehrter, Kunstschriftsteller und Sammler – heute völlig verarmt, vor dem Nichts stehend. Das Vermögen: in Kriegsanleihe angelegt, heute wertlos. Die ganze Familie lebt vom Verkauf der Möbelstücke und Kunstgegenstände. Wenn einmal nichts mehr zu verkaufen da sein wird – dann, ja, was dann?

Auch ein Sohn ist da. Etwa vierundzwanzig Jahre, ein hübscher Mensch, der die stille, etwas verträumte Art des Vaters geerbt. Er hat die zwei letzten Kriegsjahre mitgemacht, war schwerkrank aus dem Feld heimgekommen, sitzt nun, ganz aus dem Geleise geworfen, daheim, und kann die Zeit nicht begreifen und meistern. Alle vier, Eltern und Kinder, lebten tatlos dahin und warteten dem Ende oder dem Wunder entgegen. Da war sie wieder, jene kümmerlich kraftlose Haltung der guten Bürgerkreise, die es den Novemberlingen so leicht gemacht hat, die Macht an sich zu reißen. Das einzige, wozu der Sohn sich aufgerafft hatte, war die alberne Idee, nach Südamerika auszuwandern und sich dort als Landbauer zu betätigen. Er hat einen Freund, wie es scheint ein tüchtiger, tatkräftiger Kerl, von dem diese Absicht ausging. Und ich begriff auch, was diesen Freund dazu veranlaßte, denn als von ihm die Rede war, wurde das Mädel blaß und ging aus dem Zimmer.

Mit Dr. Mertens fand ich bald zusammen. Ich erzählte ihm kurz meine eigene Geschichte. Als er hörte, daß wir sozusagen 59 Fachgenossen seien und ich knapp vor dem Krieg schon damit umgegangen sei, mich als Privatdozent zu habilitieren, wurde er gleich warm. Über meine Heidebauernschaft aber konnte er sich nicht genug verwundern. Er begriff nicht, wie ein Gelehrter, ein Büchermensch Bauer werden und Mist aufs Feld führen konnte.

Aber da hielt ich ihm eine gesalzene Predigt über den Standes- und Bildungsdünkel seiner Kreise – die nicht mehr die meinen sind, denn ich habe dieser engstirnigen Bande den Rücken gekehrt! – sagte ihm derb und ohne Rückhalt meine Meinung, daß er und vor allem seine Kinder zu jung und zu gut seien, um tatlos vom Ausverkauf zu leben und dann den Gashahn aufzudrehen, wenn das unbestimmt erwartete Wunder nicht eintrat, sagte ihm, daß es keinen schöneren und edleren Beruf gebe, als den des Bauern, und daß es vor allem für »gebildete« Menschen herrlich sei, der Erde zu dienen, bewußt und denkend zu tun, was der Bauer aus urvererbter Gewohnheit, dumpf und gedankenlos und oft unzufrieden vollzieht.

Und als Mertens schon ganz klein und demütig geworden, kam ich zum Schluß mit meinem Hauptschlag:

»Sie können gar nichts Besseres tun, als sofort alles Entbehrliche verkaufen – die neueren, wertlosen Sachen natürlich, die besser bezahlt werden als die alten, wirklich kostbaren Dinge. Mit dem Erlös kaufen Sie draußen in der Heide, in meiner Nachbarschaft, Land. Es ist billiger Boden. Sie bauen sich dort ein Haus, noch in diesem Sommer. Und fangen an, das Land urbar zu machen. Ein Jahr leben Sie von Kartoffeln, und am Sonntag gibt es ein Huhn im Topf. Und nach einem Jahr ernten Sie so viel, daß es schon leichter gehen wird. Immer leichter.

Und Sie, junger Mann, Sie bleiben im Land. Auswandern ist Fahnenflucht – Gemeinheit. Ja – es ist so, ich nehme das Wort nicht zurück.

Entschließen Sie sich, Herr Doktor! In einer Stunde fahre ich zurück auf meinen Hof. Ich nehme Sie mit. Und noch in dieser Woche kaufen Sie das Land!« 60

Die Alten saßen stumm, völlig ratlos und ohne Entschluß. Der Sohn hatte einen roten Kopf und war wütend über die Frechheit dieses aus den Wolken geschneiten landbauenden Grobians. Endlich streckte mir Mertens die Hand über den Tisch entgegen. »Sie sind ein guter Mann, Herr Doktor, Sie meinen es sicherlich ehrlich mit uns. Aber . . . ich kann doch nicht . . . was meinst du, Elise . . .?«

Die Frau sah kummervoll drein. »Ja . . . ich weiß nicht . . . man muß einen so wichtigen Entschluß doch gründlich bedenken . . .«

»Bis es zu spät ist!«

Und da geschah etwas sehr Rührendes und Schönes. Die Tochter, die längst schon an der Tür gehorcht haben mochte, denn ich hatte dort den Fußboden knarren gehört, stand plötzlich auf der Schwelle. Wie verwandelt. Entschlossen und klar das Gesicht. Sie war hinreißend schön in diesem Augenblick.

»Tu es, Vater! Es ist eine Fügung Gottes . . . Und du, Herbert, geh jetzt und hol den Wolfgang . . . Er soll auch mitfahren.«

Sie trat näher, sah mir voll in die Augen und sagte:

»Ich bitte Sie darum, Herr Doktor!«

Ich stand freudig auf und streckte ihr die Hand hin. »Abgemacht – er soll kommen, Fräulein Hanne. Und wenn Ihre Eltern und Ihr Bruder nicht wollen, so gehen Sie mit dem Wolfgang, und ich will Trauzeuge sein. Ich habe schon Übung darin . . .« Nun lachten sie doch alle, und Hanne wurde rot.

Eine Stunde später kam ich mit dem Wagen vors Haus, wir luden den Schreibtisch wieder ab und trugen ihn hinauf, weil sonst kein Platz auf dem kleinen Fuhrwerk gewesen wäre, und dann rollten wir hinaus in die Heide: Doktor Mertens, Hanne und Wolfgang. Der Sohn blieb bei der Mutter, er hatte meine Grobheit noch nicht verwunden.

Als ich spät abends ankam, waren Hinrichs und Friedgert etwas erstaunt über die Gäste. Und Hinrichs, der den Zusammenhang erriet, meinte trocken: »Wenn der Bas noch oft in die Stadt fährt, kriegen wir bald ein ganzes Dorf zusamm!« 61

 


 << zurück weiter >>