Ernst Kratzmann
Die neue Erde
Ernst Kratzmann

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Die letzten Wochen waren so erfüllt von wichtigen Ereignissen – wichtig freilich nur für uns Heidebauern – daß ich nicht dazukam, neben der drängenden Arbeit noch meiner liebgewordenen Beschäftigung mit diesen Blättern nachzugehen. Wenn ich abends todmüde ins Bett sinke, habe ich nicht mehr Kraft und Sammlung genug, noch zur Feder zu greifen. Empfände ich nicht eine Art von innerer Verpflichtung, das Werden und Gedeihen unserer Siedlung für spätere Jahre aufzuzeichnen, ich säße auch heute abends nicht am Schreibtisch.

Die Sache begann damit, daß eines Abends, Ende März, ein Bauer auf meinem Hof erschien: Jürgen Rothkopf . . . Er hatte das Geld bekommen, fuhr ins Landamt, zu »unserem guten Rat«, mit dem er bei der Versteigerung seines Hofes zu tun gehabt, und in dem er den Wohltäter vermutete; der wollte nichts davon wissen, schickte ihn aber zu mir heraus, weil da vielleicht etwas zu hoffen sei. So machte sich der Mann auf den Weg und ging zwölf Stunden weit durch die Ödnis, bis er endlich zu mir fand . . . Nun stand er vor mir, übergab mir einen Brief des Rates, fragte, ob das Geld von mir sei, und ob er da siedeln könne . . .

Das Geld sei nicht von mir, konnte ich wahrheitsgemäß sagen, aber wenn er es noch habe, könne er sich gern hier ansiedeln. Denn der gute Rat empfahl ihn mir als tüchtigen Mann.

Rothkopf ist Witwer. Seine Frau, die während der Versteigerung seines Gutes in die Wochen gekommen war, starb an der Geburt des Kindes. Ich erfuhr nun, daß der elende Epstein sie in rohester Weise aus dem Haus werfen ließ; das überstand sie nicht. Jetzt begriff ich, warum der Kerl zu meinem Überfall geschwiegen hatte. Ich hoffe, daß ich ihm das noch heimzahlen kann . . .

Rothkopf hat drei Kinder: einen Sohn von sechzehn Jahren und zwei Töchter von vierzehn und zehn Jahren. Er suchte sich unweit 183 von Hannemanns Hof einen Fleck aus, wo er alsbald zu bauen begann. Aber nun fing es an: wir haben alle keine Zeit, ihm zu helfen. Das große Feld muß bestellt werden, ebenso Wießbachs und meine Äcker, die ich noch etwas vergrößert habe; bei Mertens muß gepflügt und gedüngt, gesäet und gesteckt werden. Hannemann braucht noch unsere Hilfe. Und zu allem Überfluß stellte sich nun heraus, daß Fritz Petergen, der junge Bauernsohn, den uns Wolf Janssen zugebracht, mit einer Magd seines Herrn über den Winter so gut Freund geworden war, daß wir im Sommer dort mit neuerlichem Nachwuchs rechnen dürfen. Jetzt redet Petergen davon, sich ebenfalls einen eigenen Hof zu bauen und sucht schon nach einem geeigneten Ort dafür. Wir haben ihm klargemacht, daß er warten müsse – woher sollen wir die Mittel nehmen, einen Hof nach dem andern zu bauen? Das hat er wohl nur halb eingesehen, denn er hält uns für Großkapitalisten.

Wir können die Arbeit nicht mehr bewältigen. Mich überfällt oft schäumende Wut, wenn ich bedenke, mit welch geringen Mitteln uns geholfen werden könnte. Für welch unsinnige Zwecke wird das Geld vergeudet – und hier, wo man Dutzende von Menschen versorgen, wo man damit zugleich Land, Nahrung für Viele gewinnen könnte – hier zuckt man in den Ämtern die Achseln und hat »keine verfügbaren Mittel« übrig . . . Nun steigt mir doch manchmal die würgende Sorge auf: haben wir nicht ein unmögliches Werk begonnen, an dem wir alle scheitern müssen? Ist es nicht Wahnwitz, mit nahezu leeren Taschen Neuland gewinnen zu wollen, neue Höfe? Wir haben zu wenig Vieh, aber wir können nicht mehr halten, denn es fehlt uns an Futter. Dazu brauchen wir Felder. Um Felder zu bestellen, brauchen wir Menschen. Für die Menschen brauchen wir Geld und Essen. Fürs Essen brauchen wir wieder Felder und Vieh . . . Es geht ewig im Kreis . . .

Ich rannte oft tobend in meiner Stube umher, fluchend und laut redend, daß Hasso mir verwundert zusah. Aber es wurde nicht besser damit. 184

Mertens, Janssen, auch Herbert, graben und pflanzen, was ihre Arme hergeben, aber es ist alles nur halbe Arbeit. Zu wenig, zu wenig! Sie brauchen alle Augenblicke meinen Hinrichs, daß er ihnen rate und sie anleite. Und ich kann ihn keine Stunde entbehren. Klas und Friedgert können die Arbeit im Hof kaum mehr bewältigen. Kuh und Kalb und Pferde, Schweine und Schafe, die Hühner, der Garten, die Obstbäume – sie alle fordern Arbeit, Arbeit!

Der gute Rat, bei dem ich Rettung suchte, schickte mich an einen Freund im Arbeitsamt. Der hat mir endlich ein wenig aus der Not geholfen. Er hielt selbst Umschau unter den Arbeitslosen, und eines Tages kamen zwei Männer zu uns heraus: Müller und Kleebinder. Sie sind beide zwischen dreißig und vierzig, können alles und nichts, verstehen jedes Handwerk, haben aber keines gelernt, haben auch Kenntnisse im Landbau, sind aber keine Bauern. Aber sie haben das arbeitslose Herumlungern in der Stadt übersatt und wollen bei uns siedeln . . . Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Wie sie sich denn das nur vorstellten!

Nun, sie wüßten schon, meinte der eine. Sie wollten zunächst bei uns als Knechte eintreten. Aber daneben wollten sie anfangen, sich ein eigenes Haus zu bauen, einen Kartoffelacker anlegen, und später halt dann . . .

Aber ich hatte kein Geld, sie zu bezahlen! Da machten sie freilich lange Gesichter. Aber endlich meinten sie, wenn sie nur Essen bekämen, das Geld sollte ich ihnen dann später auszahlen, alles auf einmal. Das sei vielleicht sogar besser.

So sagte ich denn in Gottes Namen Ja, denn die zwei Kerle gefielen mir. Nur wußte ich noch nicht, was ich ihnen zu essen geben sollte. Denn sie sahen mir ganz so aus, als ob sie mit gutem Appetit gesegnet seien . . . Aber ich machte ihnen klar, daß es sich bei unserer Siedlung nicht darum handle, Geld zu verdienen, reich zu werden, sondern darum, Dienst an der Gemeinschaft zu tun, Boden zu gewinnen und zu halten, uns und andern die 185 Notdurft des Lebens zu sichern. Das sei unser einziger Lohn. Ich hoffe, daß sie das eingesehen haben . . .

Aber das war noch nicht alles. Sie kamen zugleich im Namen von noch ein paar Leuten. Da war ein gewisser Wittkopp mit seiner Frau, auch arbeitslos, der aber noch so viel Mut und Glauben in sich hat, daß er ernsthaft nach Arbeit sucht, ganz gleichgiltig, was für eine es sei. Er wolle nur gern zu Pferden, zu Vieh kommen. Ja, Wießbach konnte ihn brauchen – aber er hat nicht genug, ihn bis zum Herbst zu erhalten . . . Hans fluchte wie vor Jahren im Feld, wenn es irgendwo an der Front schief gegangen war. Überall das verdammte Geld . . .

Andern Tags fuhr ich mit Kleebinder in die Stadt, die Siebensachen der beiden zu holen und mir Wittkopp und seine Frau anzusehen. Auch er gefiel mir recht gut. Es sind alles Leute, die der Zusammenbruch aus dem Geleise geworfen hat. Sie wollen arbeiten – aber es gibt keine Arbeit für sie. Ich habe jetzt – in meinem engen Kreis – die furchtbare und verantwortungsvolle Aufgabe, verantwortungsvoll vor unsern Siedlern, vor den Arbeitslosen, von denen vielleicht mancher würdiger sein könnte als die, die ich mir auswähle! – die Aufgabe, unter diesen Unglücklichen jene zu finden, die noch nicht ganz zermürbt sind, die noch Willen und Tatkraft besitzen, die nicht von kommunistischen Lehren verseucht sind, Menschen, die auch der Opfer wert sind, die wir alle für sie bringen.

Zunächst ging ich ins Arbeitsamt. Der Freund unseres guten Rates empfing mich sehr liebenswürdig, aber helfen konnte er mir nicht. Endlich ging er mit mir in, ich weiß nicht mehr wie viel Amtsstuben. Aber das Ergebnis war doch, daß mir für meine vier Schützlinge die Unterstützung für ein halbes Jahr im Voraus ausbezahlt wurde. Das erforderte mächtige Hürdensprünge des Amtsschimmels. Für die Riesensumme, die ich da nun erhielt, konnte ich, ebenfalls erst mit vieler Mühe, Mehl, Gries, Bohnen und ein wenig Speck kaufen. Es fehlt eben überall und an allem.

Dann aber vereinbarte ich auf dem Arbeitsamt noch eine 186 wichtige Sache. Man wollte mir fünfzehn bis zwanzig Mann senden, arbeitswillige Menschen, deren Unterhalt von der Stadt übernommen werden sollte – dafür bekamen sie dann keine Unterstützung! – und die drei bis vier Wochen lang bei uns graben mußten. Alle die neuen Felder, die wir jetzt anlegen wollen, brauchen Entwässerungsgräben. Wir müssen in unserem kleinen Wäldchen Bäume fällen, müssen Balken daraus schneiden. Für all das sind Arbeiter nötig.

So fuhr ich denn am nächsten Tag mit Kleebinder, mit Wittkopp und seiner Frau, mit etlichen Säcken und Kisten Lebensmitteln und ein paar Koffern und Truhen heraus in die Heide. Wießbach nahm das Ehepaar Wittkopp auf. Er hat schon geradezu ein Massenlager in seinem Haus, denn Rothkopf kann noch nicht in seinem unfertigen Hof wohnen.

Jetzt aber trat wieder ein Ereignis ein, das den guten Hans in Harnisch brachte. Rothkopf kann allein nicht wirtschaften. Sein Haus steht noch als nacktes Holzgerüst. Er arbeitet mit dem Sohn Tag und Nacht, aber er muß noch dazu ein Feld bestellen, will er nicht alsbald verhungern. Rasch entschlossen ging er zu Wießbachs zweiter Magd: ob sie ihn nehmen wolle. Die sagte unverzüglich Ja, und Hans steht nun ohne eine Magd da . . . Aber alles Fluchen half nichts. Sie blieb noch ein paar Tage, bis sie Frau Wittkopp in den wichtigsten Arbeiten unterwiesen hatte, dann zog sie zu Rothkopf. Dort kocht sie auf offenem Feuer – denn einen Herd haben sie noch nicht – hilft Schilf schneiden und das Dach decken, trägt Backsteine zu, mischt den Kalk mit Sand, kurz, sie arbeitet aus Leibeskräften, aber nun fürs eigene Haus.

Aber da kam unerwartet die Hilfe aus der Not. Diesmal war Wießbachs Schwiegervater, der um unsere Lage weiß, der Retter. Eines Tages fuhr bei mir ein Wagen vor, dem ein tadellos gekleideter Herr entstieg, das Einglas vor dem linken Aug', peinlich korrekt im Benehmen, sehr straff und zurückhaltend: ich erkannte auf den ersten Blick den ehemaligen Offizier, einen Herrn 187 von und zu. Mir wurde schwach zumute: wollte dieser Unglücksvogel am Ende auch hier siedeln und von uns ein Haus haben . . .?

Er stellte sich vor: Oberst von Kalckreith. Ich – mit schwerbeschmutzten Stiefeln, zerschlissenem Anzug, unrasiert, verneigte mich knapp: »Sehr angenehm«, und nannte meinen Namen. »Wünschen?«

»Ich möchte mich hier bei Ihnen ansiedeln. Ich habe von Ihrem schönen Unternehmen gehört . . . Ich glaube, ich kann hier etwas leisten . . .«

Die Art, wie er das sagte, gefiel mir. Das war die echte norddeutsche Art: zurückhaltend, etwas steif und förmlich, aber man fühlte hinter jedem Wort: es gilt!

»Sehr gern«, sagte ich. »Aber wir haben keinen Groschen Geld mehr und wissen gegenwärtig nicht, wo wir Arbeitskräfte hernehmen sollen, woher Pferde, Vieh, Essen . . .«

»Da kann ich Ihnen vielleicht helfen . . . Ich möchte mein Vermögen und das meiner Frau in Grund und Boden anlegen, ehe . . . äh, hm . . . Ich fürchte – bitte das ganz vertraulich zu behandeln – einen, äh . . . Staatsbankerott . . .«

»Ich auch . . .«

»So . . . äh! . . . Ich möchte mich also hier ankaufen, ein Haus bauen und Landwirtschaftler werden . . . Ich habe noch heute meine zwei ehemaligen Diener bei mir – brave Kerle, Bauernsöhne. Die würden mit Freuden mitkommen. Das wäre fürs erste . . .«

Ich reichte ihm die Hand, an der dicke Erdkrusten eingetrocknet waren. »Abgemacht, Herr Oberst! Kommen Sie mit mir zu meinem Freund Wießbach, und dann sehen wir uns den noch verfügbaren Grund an . . .«

Zwei Stunden später fuhr ich mit Herrn von Kalckreith den kleinen Wald entlang, der südlich der Eichenhöh sich hinstreckt. Er liegt ebenfalls etwas höher als das umgebende Land und geht, weiter gegen Mittag, wiederum in eine langgezogene Bodenwelle über, die Ulenhöh – alles Moränenzüge von der Eiszeit her. 188 Zwischen ihr und der Eichenhöh liegt weites Brachland. Viel Torf, Sumpf, dazu auch etwas trockener Boden. Das ist die Erde, die ich mit Hilfe der zu erwartenden Arbeitsmänner zu Acker umwandeln will.

Ich verhehlte dem Oberst nicht die Schwierigkeiten, die es da geben müßte. Aber er erwiderte kurz: »Schwierigkeiten sind da, um überwunden zu werden. Auf fruchtbarem Boden kann jeder bauen . . .«

Auf der südlichen Höhe, zugleich der Grenze unseres Eigentums, wollte er siedeln; einen Teil der Niederung fruchtbar machen. Wir vermaßen flüchtig das Land, und er empfahl sich am späten Nachmittag.

Zwei Tage danach kam er mit seiner Frau, die viel Ähnlichkeit mit Elise Mertens hat, nur womöglich noch steifer und korrekter ist. Sie hat sicher eine harte Hand, aber sie dürfte nicht ungut und karg, nicht hochmütig, nur sehr förmlich sein. Der Plan ihres Gatten gefiel ihr. Sie sagte Ja – und das schien wichtig, denn das Geld gehört offenbar ihr.

Und nun, da ich dies schreibe, sind wir um ein paar tausend Mark reicher! Als uns der Oberst das Geld herzählte, reckten wir, Hans und ich, die Arme – eine steinschwere Last war uns von den Schultern gefallen. Wir fuhren in die Stadt, boten Wießbachs Schwiegervater des Anstands wegen das Geld an, und atmeten auf, als er sich vielmals dafür bedankte: »Bevor nicht in unsere Staatsfinanzen Ordnung gekommen ist, will ich kein Bargeld . . .«

Nun gings ans Kaufen! Wir erwarben drei Paar Pferde, eine trächtige Kuh, etliche Schweine und Ziegen, dazu Acker- und Hausgerät, Holz für einen Hausbau – auch Herbert ging nicht leer aus. Währenddessen saßen Klas und Friedgert auf dem Markt und verkauften Eier und Hühner. Und da ich nie an Zwischenhändler abgebe, so löse ich dafür jedesmal einen hübschen Batzen. So kam es, daß wir endlich mit einer ganzen Herde von allerhand Getier, beladen mit hunderterlei Gerät und Waren, 189 nachhause fuhren, und daß unsere Taschen dabei noch immer nicht ganz leer waren.

Ich glaube, ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so froh gewesen, noch nie so wahrhaft glücklich. Die dunklen Sorgen der letzten Monate sind verflogen. Wir haben zu wirtschaften bis zur nächsten Ernte. Die Erde trägt uns, sie hat uns angenommen. Und wenn uns Gott nicht ganz verläßt, so muß sie uns so viel abwerfen, daß wir wieder ein Jahr hausen können, ohne Mangel und Kargen, ohne fremde Hilfe. Ja, wenn es nur halbwegs gut geht, wird uns ein stattlicher Überschuß bleiben.

Jetzt bin ich sogar froh, daß uns der Staat – dieser Staat! – nicht geholfen hat! Daß wir alles aus eigener Kraft zuwege gebracht haben, aus der Kraft unserer Siedler selbst.

Daheim wurden sie alle zusammengerufen. Hannemann und Rothkopf bekamen je ein Paar Pferde, etliche Ziegen und Schweine. Dazu auch von mir Hühner. Ein Paar Pferde übernahm Wießbach, aber sie sollen auch für Mertens arbeiten. Und dann wurde große Rechnung gemacht. Jedem Siedler sein Soll und Haben genau aufgezeichnet, – die Habenseite ist freilich noch leer. Doch niemand zweifelt, daß sie bald das Soll überwiegen wird.

Ich aber bin zu einer neuen Würde gelangt. In der Stadt erklärte man mir, daß unsere Siedlung, die nun sechs Anwesen zählt, bald sieben oder acht umfassen wird, auf der nun an die vierzig Menschen hausen, sich »als Gemeinde konstituieren« müsse, und daß sie einen Namen und einen Vorsteher zu wählen habe . . .

In der denkwürdigen Sitzung, die heute bei mir stattfand, wurde ich einstimmig zum Bürgermeister gewählt und der Name meines Hofes für die ganze Siedlung genommen: Neulandhof . . .

So hat denn Giers Hammer recht behalten: ich bin Bürgermeister geworden. Das bedeutet für mich zwar eine Belastung mit manch unliebsamer Schreibarbeit – aber ich bin doch nicht böse darüber: denn nun habe ich mehr als früher noch die 190 Möglichkeit, das Leben unserer Siedler in der neuen Bahn zu lenken, die ich mir vorgezeichnet. Ich habe da etwa gleich auch das Recht, Trauungen vorzunehmen, und Rothkopf sowie der junge Fritz Petergen machten sogleich Gebrauch von meiner neuen Amtsgewalt. Ich gab die Paare zusammen, hielt ihnen eine einfache, kurze Ansprache, und hatte die Freude, daß Herr von Kalckreith bei Rothkopf, dessen trauriges Schicksal ich ihm erzählt hatte, Trauzeuge war und ihm ein recht stattliches Hochzeitsgeschenk übergab.

So haben wir also bisher nach guter, uralter Sitte schon vier Paare zusammengegeben und ein Kind mit Namen genannt, ohne daß dazu anderes nötig gewesen wäre als ein paar ehrbare Zeugen. Nichts sonst, und niemand sonst . . . Und kein fremder Spruch, nur die schlichte Rede eines ehrlichen deutschen Mannes.

Oberst von Kalckreith gefällt mir immer mehr. Während sein Haus auf der Ulenhöh gebaut wird, wohnt er bei mir. Er fühlt sich in meiner schlichten Kate wohl – sie erinnere ihn an seine Kriegsquartiere, meint er – und wir reden des Abends von tausend Dingen, wenn ich nicht zu müde bin.

Ich sagte einmal, nicht ohne etwas geheime Bosheit: es freue mich, daß er mir damals, bei seinem ersten Besuch, die Hand gereicht habe, obwohl die meine voll Erde gewesen sei . . . Aber da wurde er fast zornig.

»Ich bin stolz auf meinen alten Adel«, sagte er. »Aber Adel heißt: daß man ein Dutzend und mehr Vorfahren aufzählen kann, die ganze Kerle gewesen sind und Ehre im Leib hatten. Das ist Adel. Sonst nichts. Ob man ein ›von‹ vor dem Namen stehen hat oder eine Grafenkrone auf dem Wagenschlag, ist Nebensache.«

»Das soll ein Wort sein, Herr Oberst! Ich habe diese Ihre Antwort herausgefordert – es freut mich, daß sie so ausgefallen ist, wie ich es erwartet habe . . . Wir Deutschen beugen uns gern vor dem Adel – aber nur vor dem wahren Adel. Vor einem nur, der selbst etwas leistet und nicht nur auf Grund längst vergessener, sagenhafter Heldentaten verschollener Väter Vorrechte 191 fordert und hochnasig auf die gemeinen Bürgerlichen herabsieht; oder gar auf den Bauern . . . Das wollte ich zwischen uns klargestellt haben.«

Damit reichte ich ihm die Hand, die er mit festem Druck ergriff.

»Ich habe mit Verwunderung gesehen«, sagte er ein andermal, »daß Sie hier auf Neulandhof geflissentlich jeder Berührung mit der Kirche aus dem Weg gehen. Da Sie alle doch keine Kommunisten sind, ist mir das eigentlich unverständlich . . .«

Ich seufzte etwas beklommen. Wie sollte ich diesem guten, aber nicht eben sehr denkgewohnten Mann klar machen, was heute noch den Wenigsten klar geworden ist?

»Sie haben offenbar bisher bei Ihrem überlieferten Kirchenglauben volle Befriedigung Ihres metaphysischen Bedürfnisses gefunden, nicht wahr?«

»Gewiß. Ich bin lutherischer Protestant und habe als Offizier in der stolzen, nur auf sich selbst bauenden Glaubenssicherheit des Wittenbergers immer den festen Boden gefunden, auf dem ich stehen konnte.«

»Sie sind hiebei aber einer Täuschung unterlegen, Herr Oberst. Sie verwechseln Ihre eigene innere Festigkeit mit dem Glauben, zu dem Sie sich nach Ihrer Meinung bekennen. Ich bin weit entfernt davon, die Größe des deutschen Mannes Luther anzutasten. Aber er war ein Kind seiner Zeit wie alle Menschen. Und er stand erst am Anfang! Er konnte nichts anderes tun, als in das uns einstmals aufgezwungene, völlig wesensfremde Religionsgebäude eines morgenländischen Volkes eine, sagen wir: ein wenig deutsch klingende Note – hineinzudeuten. Das Wesen dieses Glaubens aber blieb. Und auch Luther blieb zeitlebens am Alten haften, klammerte sich immer mehr und mehr an ›die Schrift‹, das Buch, das ›Wort Gottes‹, an jene kunterbunt zusammengeklitterte, in einem Zeitraum von wohl mehr als tausend Jahren entstandene jüdische Schriftensammlung, an der dann noch im Abendland Jahrhunderte lang geändert, gedeutet, gefälscht, die 192 durch unzulängliche Übersetzungen verdreht wurde, bis sie endlich die Gestalt annahm, die wir kennen . . . Die wissenschaftliche Forschung hat die uns vor allem wichtigen Bücher des Neuen Testaments längst als Schriften einer sehr späten, nachchristlichen Zeit erkannt. Und überlegen Sie einmal, Herr Oberst, wie sehr gerade Ihr eigenes Tun und Handeln als Offizier, auf das Sie mit Recht stolz sind, den wichtigsten Bibelstellen widerspricht . . .«

»Das wäre –!«

»Jawohl! Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen! Wer dir den Rock nimmt, dem gib auch den Mantel . . . Wer dich auf die linke Backe schlägt . . . Wenden Sie einmal diese Lehren und viele ähnliche auf unser Leben, aufs Leben der Völker an . . . Etwa gleich auf die Zeit von 1914 bis zur Gegenwart . . .«

Der Oberst sah mich groß an und wurde ziemlich rot im Gesicht.

»Gewiß – über solche Stellen hilft die Auslegekunst unserer Priester wunderbar hinweg, um die Gläubigen nicht merken zu lassen, wie ganz unmöglich der Glaube ist, zu dem sie sich angeblich bekennen . . . Aber die weitaus meisten denken ja niemals über diese Dinge nach. Sie sind von Kindheit an gewohnt, sich in blindem Gehorsam vor dem Priester zu beugen, der es doch wissen muß . . . Freilich, hat man einmal angefangen, mit eigenem, wirklich selbständigem, selbstsicherem Blick jenes Religionsgebäude zu prüfen – dann erkennt man hinter der mühsam aufgekleisterten Scheinfassade, die ein wenig deutschen Stil zeigt, das wildfremde, für uns ganz und gar unmögliche Gebäude, und – man verläßt es . . .«

»Damit sprechen Sie aber der Kirche ja geradezu die Daseinsberechtigung ab –?!«

»Allerdings! Jede Kirche kann nur bestehen, wenn sie davon überzeugt ist, die alleinseligmachende zu sein. Andernfalls wird sie von einer verdrängt, die diese Überzeugung eben hat. Jede muß – unduldsam sein. Jede muß notwendigerweise alle 193 Menschen in ihre Reihen zu ziehen trachten. Das kann ihr aber nur gelingen, wenn sie vor allem die Schule in ihre Hand bekommt, die Jugend in ihrem Sinn zu erziehen. Sie muß weiterhin, ihr Bestehen zu sichern, alle Maßnahmen des Staates in ihrem Sinn, zu ihrem Vorteil zu lenken versuchen. Daher jene famose Formel von der Einheit zwischen Thron und Altar, die wir der Zeit des übelsten Despotismus und der schwärzesten Reaktion verdanken, dem Vormärz. Die Kirchen können sich nur verteidigen, indem sie angreifen . . .

Damit ist aber bereits das politische Kirchentum gegeben, zu dem somit unbedingt und zwangsläufig jede Kirche gelangen muß. Ganz gleichgültig, welcher Konfession.«

»Dann darf man also überhaupt keine Kirche dulden?«

»Nein.«

»Wie sollen aber dann die Millionen von Menschen leben, die zu schwach sind, um allein, auf sich gestellt, vor den ewigen Fragen des Lebens zu bestehen?«

»Da sehen Sie die ungeheuren Aufgaben unserer Zeit. Die Mehrzahl der heutigen Menschen sind Seelenkrüppel; sie brauchen die Krücken einer Konfession, weil sie sich nicht getrauen, allein vor ihrem Gott zu bestehen. Sie brauchen – vor allem in der Todesstunde – einen versöhnenden, zauberkundigen Medizinmann, der den Zorn der Gottheit über ihre erbärmliche Krüppelhaftigkeit beschwichtigt. Und sehen Sie: diese Art Menschen muß verschwinden! Wenn einmal die überwiegende Mehrzahl Aller seelisch so stark geworden ist, daß sie keines Schamanen mehr bedarf – dann ist das Volk Herr in seinem Haus. Früher nicht!«

Herr von Kalckreith blieb an diesem Abend etwas schweigsam. Aber ich glaube, er hat zum erstenmal im Leben über religiöse Dinge wirklich nachgedacht, und ich hoffe, daß er auf dem rechten Weg ist.

Inzwischen wächst sein Haus auf der Ulenhöh hoch. 194

 

Ich gab dem Herrn Krafft Hengstberg in Nördlingen meinen Brief. Er las und lächelte eigen. Schrieb dann ein paar Wort auf ein Zettel, faltet' und siegelte und reicht' ihn mir hin.

»Damit geh zum alten Meister Mang Losenapf im Reimlinger Turm, lieber Gesell. Kann einen Gehilfen brauchen . . .«

Ich stieg die steilen Holzstufen hinauf, im Reimlinger Tor, schlug oben an die schwere Holztür, zweimal, dreimal, mit der Faust. Drin, in der Stube, krächzte es heiser. Ich trat ein. Da war eine einzige große Stuben, so breit wie der ganze Turm. In der Ecke ein Herd, auf dem brannte das Feuer, ein Topf hing brodelnd drüber. Am Herd saß der alte Losenapf, mit weißem Haar, gebückt, mit zittrigem Kopf.

»Gott grüß, Meister Mang. Ich soll Euch das geben vom Herrn Hengstberg.« Er nahm den Zettel und schüttelte wackelnd den Kopf. »Mußt mirs lesen, was drin steht. Siech nimmer die Schrift . . .«

»Der Urs Brandt soll als Wächter von heut an im Turm wohnen zu deiner Hülff. Krafft Hengstberg.«

Ich mußt es dem Alten zweimal laut sagen, bis er begriff. Er blinzelte mich an aus den kleinen, rotgerandeten Augen und nickt'. »Habs not! Hohe Zeit! Siech nimmer, hör nimmer! . . . Je, je . . .! Ist bitter, das Alter! Oh weh, ja! . . . Steig höher – die Stuben oben ist deine. Mußt schauen, Tag und Nacht, ringsum . . . mußt blasen, wenn Feuer ist, wenn der Feind kommt . . .«

Ich stieg noch eine Treppe hoch, fast eine Leiter schon, und kam in die Wächterstube. Sie war hell und so groß wie die unten, es stand, aus rohen Brettern gezimmert, ein Bett in der Ecke, nahe dem Herd, ein Tisch in der Mitte. An der Wand hing das Feuerhorn und eine große, ungefüge Laterne. Das war alles. Aber die vier Fenster ließen Licht einströmen in goldener Flut, wie in kein Haus der Stadt. Eins ging hinaus in das freie Land, eins nach der Stadt, je eins gegen die Stadtmauern hin. 195 Ich konnte schauen nach allen Seiten, hinaus übers Ries, gegen die Berge hin, zum Himmel auf mit seinen ziehenden Wolken, über die Dächer der Stadt, zur Georgskirche hinüber. Von drunten her scholl gedämpft das Lärmen der Straße, Knarren der Fuhrwerke, Peitschenknallen, Wiehern der Pferde, dumpfes Brüllen der Zugochsen. Ich sah hinab auf die Straße, auf der ich selbst vor einer Stunde noch gewandert, mit dem Brief des Herrn Kellers Weigand in der Tasche. Ich blickte hinab und sah die Menschen kommen und ins Tor verschwinden, sah sie aus dem Tor gehen, hinaus ins herbstsonnige Land, Bauern und Bürger, fahrendes Volk, Fuhrknechte auf mächtigen Wagen, Reisige und Kriegsleute zu Fuß.

Ich hatte jahrelang von den Gerüsten am Ulmer Dom auf die Stadt hinabgesehen; aber dort war ich so hoch über dem festen Boden, daß ich wie ein Vogel fast schon in den Wolken war und kaum mehr die winzigen Menschen sah, die unendlich tief unter mir über die Erde hinkrochen wie Ameisvolk. Aber jetzt war ich wohl über den Menschen, und doch ihnen noch nah genug, und das war mir neu, ließ mich den ganzen Nachmittag auf Speis und Trank vergessen, hielt mich am Fenster fest, denn immerzu lief unter mir, durchs Tor aus und ein, lief Tag um Tag der Strom der Menschen, immerzu stetig ein Strom, kam und ging, und es war lustig, von oben zu sehen, nur Köpfe und Hüte, und drunter zappelten die Beine vor und zurück. Immerzu ein Strom, kam aus dem Land draußen, von weither, aus Feldern, Wäldern und Städten, lief ein durchs Tor und schwand wieder hinweg, immer, Tag aus, Tag ein. Menschflut über die Erde hin. Sie trugen in ihren Herzen und Sinnen tausend Gedanken, gute und böse, erhabene und erbärmlich kleine, die mit ihnen durchs Land liefen, sie trieben und lenkten und andere Gedanken trafen, ihnen die Hände reichten zum Bund oder sich feindlich gegen sie stellten zum Kampf. Geistflut über die Erde hin, verborgen und geheim – bis sie einmal aufbrach zum Sturm und offenbar wurde in Tat und Gewalt. 196

Da lugt' ich aus dem Fenster, ein Späher und Wächter der heimlich ziehenden Flut, ein Torhüter der guten Stadt Nördlingen zum Schein, in Wahrheit bestellt, den Bauern aufzutun, wenn sie vor die Stadt kamen und Einlaß begehrten. Überallhin zog heimlich die Flut: vom Herrn Keller Weigand, der die Artikel der Bauernschaft aufgestellt – herein in die Stadt zum Herrn Hengstberg, der im Rat saß als einer der Ehrbaren, und in Wahrheit es mit den Bauern hielt – und der nun mich als Torwächter gesetzt neben den alten Mang Losenapf, den ein Kind mit der Hand umwerfen konnte. Die Wache unten im Tor – die war gefährlicher, wohl. Aber da mußte sich ein Weg finden, auch die unschädlich zu machen, wenn es einmal so weit war.

Am Abend stieg ich hinab zu Meister Mang, mein Essen zu heischen. Jetzt war auch eine alte Frau da, sein Weib, das mich mißtrauisch und ängstlich ansah. Aber sie hatte auch für mich gekocht, nicht einmal schlecht, und so saßen wir zu dritt um den Tisch und löffelten schweigend die Mahlzeit ein. Drunten wurde das Tor geschlossen; es wurde stiller auf der Straße, leise nur scholl manchmal ein Rufen und ein Lachen herauf. Aus den Gassen und Höfen tönten die letzten Geräusche des Tages verschwommen ineinander, zu einem dunklen Ton, wie das Summen eines Bienenvolks. Von fern kam der erste Hornruf der Mauerwachen herüber, ganz nah gab ein anderer die Antwort.

Ich zündete meine Laterne am Herdfeuer an, bot den Alten eine friedvolle Nacht und stieg in meine Stube hinauf. Sie war erfüllt von einem schwachen, glimmernden Licht – ich stellte die Laterne weg und lief ans Fenster, sah hinaus ins nachtschwarze Land. Die Straße unten verlor sich im Dunkel. Der Himmel war voll von tausend Sternen. Aber unten fühlt ich die Erde, ich roch den Duft der Äcker und Wiesen, hörte die Grillen singen, die Quellen gehn, hörte die Wälder rauschen, all übers Weit hin; über die Stadt hin ging Grillensang, Quellen-Laut und Waldatem, floß Sterngang – alls eins, ging 197 Waldrauschen und Glockenlaut – wo kam er her? Von einem Dom weit über den Bergen? Klang er mir im Blut? Kam er aus den Domen der Jugend, der zukommenden Zeit? Klang er aus Erdtiefen auf? – Und darüberhin Sterne, tausend und tausend überhin – der Himmel war nur mehr ein Sternenmeer. Ich lief ans andere Fenster und sah aus ins Land: Himmel – und ans dritte Fenster und sah aus und aus, und mir ward taumelig und wirr, ich schlug die Hände vors Gesicht und kniet' zu Boden und lacht' und weint' und wußte nicht warum, und sah wieder auf, und die Sterne huben zu rühren und zu kreisen an und zu schwingen, und mir fielen die alten Sagen ein, daß die Sterne irgendwo weit im Unendlichen fliegen, daß sie Welten seien, wie die Erde auch, daß alle, alle, auch wir, die Erde, durch eine uferlose Ewigkeit ziehen und kreisen, inmitten die Sonne . . .

Da warf ich mich längshin zu Boden und begann zu weinen, in Strömen, aber mir war selig zumut und überselig, und das Herz schlug mir wild und war voll zum Zerbersten. Ich wollte irgendwas tun, was Großes, ich war berstend voll der Tat, die Hände krampften sich mir nach Tun und Vollbringen, ich sprang auf und sah zu den Sternen und fuhr mit den Armen durch die Luft, kreisend, und lachte und weinte dazu.

Ich fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Ich sah wieder die Erdkugel des unseligen Klaus Frank um das einsam blakende Talglicht schwingen; ich dachte an Giers Hammer, der auf Straßen und heimlichen Waldsteigen unterwegs war, ein glimmender Feuerbrand, begierig, den Menschen die Sonne eines neuen Tages zu bringen. Undeutlich wogten die Bilder um mich, ich sprang wieder auf und sah hinaus – jetzt war ein grauer Lichtschimmer über das Land gebreitet, er wuchs, überfloß die Weite und wurde zu Morgen . . .

Die Tage kamen und gingen. Ich fühlte mich oben in meiner Stube wie ein gefangenes Tier. Ich war das Stillsitzen nimmer gewohnt, ich hatte nichts zu tun und zu schaffen und konnte doch nicht müßig von früh bis abends aus dem Fenster gaffen. Ich 198 lief in meinem Gefängnis auf und nieder, tausendmal war ich daran, mein Bündel auf den Rücken zu nehmen und davonzulaufen, hinaus in den goldroten Herbst, über Höhen und durch Täler, und gelte es nichts andres als wandern und gehen, immer neuen Fernen zu.

Aber die Tage wurden grau und trüb, es begann zu regnen. Ich saß im Turm und hatte es gut, hatte zu essen und eine warme Stube – und doch verwünschte ich mein Schicksal, das mich in ohnmächtiger Langweile hielt. Manchmal stieg ich nieder zur Wache im Tor, ich mußte die Männer erkunden, mußte zum Schein mit ihnen gut Freund werden – aber entweder schliefen sie oder sie tranken, bis sie taumelnd aufs Stroh fielen. Das war gut für mich zu wissen, gut auch, daß ich bald wußte, wo die Torschlüssel zu finden waren – aber das wüste Volk war mir zuwider wie nicht der schmutzigste Bettler, mit dem ich ehdem die Straße fuhr.

Dann strich ich wieder durch die Gassen, trat in die Georgskirche und stand vor dem großen Altar. Da überkam michs voll Wehmut, wenn ich die wunderbaren Gestalten sah, den bitterlich weinenden Johannes, den Georg, der den Drachen überwunden hat. Wie urlang war das her, daß ich selbst in einer Werkstatt stand, beim Grasser in München, und solche Bilder aus dem sein duftenden Holz schnitt. Der Altar – das war seine Zeit, die Engel, die in wildem Schwung die Luft zerteilten, hätten können von seiner Hand sein. Wie lang war das vorbei! Es lag ein ganzes Leben dazwischen . . . Dann ging ich wohl zum alten Meister Hans, der in der Stadt eine Werkstatt hielt und recht kümmerlich kleine Figuren aus Holz schnitt, Heilige und Marien, den Gekreuzigten wohl auch, für armselige Kirchen draußen im Ried – ohne sonderliche Kunst und Freud. Ich sah ihm zu, wie er ängstlich und genau seine Bilder schnitt, immer die nämlichen, nach immer dem gleichen Vorbild seit dreißig Jahren schon. Aber ich bat ihn doch, einmal einen Georg machen zu dürfen, für eine Kapelle draußen vor der Stadt. 199 Zögernd gab er mir ein paar Blätter schönen Papiers und Stifte, daß ich den Riß entwerfen sollt. Und damit saß ich denn, glücklich der Arbeit, oben im Turm, hatte den Tisch ans Fenster gerückt und zeichnete.

Draußen ging leis der Regen nieder. Auf dem Herd glühte das Feuer. Und in mir auch glühte das alte Feuer auf, da ich endlich wieder einmal ein Werk beginnen durfte.

Beim Georg dacht' ich an Giers Hammer. Beim Drachen an die Herren und Pfaffen, die uns umklammert hielten mit tötlicher Gewalt; aber schon waren wir daran, den Spieß zu schärfen, den wir ihnen in den Schuppenpanzer stoßen wollten, mitten ins Herz!

Und damit überkam mich wieder der alte Grimm. Der Stift fuhr übers Blatt in krausen Schwüngen der Hand, aus steinigem Grund schoß giftspeiend der Drache dem Helden entgegen, dessen Roß sich steil aufbäumte, daß es schier nach hinten überschlug und der Reiter sich kaum noch im Sattel hielt. In rasender Wucht stieß der Jörg mit dem Speer nach dem Wurm – der Mantel flog in wehendem Sturm um ihn her, eine wildflatternde Wolke, aus der wie ein Blitz, weißgischtend, der tötliche Stich nach dem Untier fuhr . . . Da war kein ruhig heiligmäßiges Stehen, gewärtig der gläubigen Beter – nur Zorn und Gewalt, schäumende Wut und schmetternde Kraft.

Da ich dem Meister das fertige Blatt hinhielt, erschrak er so sehr, daß ihn das Zittern befiel und er sich nach einem Schemel umsah, als hätt' ihn der Schlagfluß gerührt. Starrte mich an, voll Entsetzen und staunender Furcht zugleich. Wischt' sich den Schweiß von der Stirn. Bis er endlich zu stottern begann:

»Lieber – das mag ein' große Kunst sein, 'leicht für die Herren in München . . . Aber für uns nit hie zu Nördlingen . . . Wann ich so ein' Georg den Bauern mach, schlagen sie mit den Flegeln nach mein' alten Kopf. Und die Weiber halten den Heiligen für den leibhaftigen Teufel . . . Nein! Hie mußt du fein liebliche Heilige machen, die still und geruhsam stehen, holdselig 200 lächeln und nit so wild grausam die Glieder renken wie ein armer Sünder bei der peinlichen Frag . . .«

Aber ich kam wieder und wieder und sprach ihm zu und endlich vermocht ichs über ihn, daß er mir einen Klotz ließ, schönes Lindenholz, nicht allzu groß, den Georg daraus zu schneiden – vielleicht daß er ihn einem Ratsherrn verkaufen mocht. Er bot mir zwei Gulden dafür und ich schlug ein.

Das war eine wundersam feine Zeit, die nun kam. Ich saß in meiner Turmstuben, hoch über den Menschen, in der schönsten Werkstatt, die einer sich wünschen mag, und schnitt und grub meinen Junker Jörg aus dem weichen, edeln Holz. Draußen war übles Wetter, auf den Straßen lief kein Hund. Ich schert' mich den Teufel um Wächterdienst und Horn, ich führte die Messer und Schaber und lief in meiner Stuben hin und wieder, laut redend mit mir und Giers und Jörg, mit Kaiser und Pfaffen, Bauern und Bürgern, und dann stand ich wieder vor dem Holz und zog das Eisen seine krause, wilde Bahn. An nichts andres dacht' ich mehr, ich lebte nur mehr dem stillen Holz, daß es mit jedem Tag lebendiger ward von meiner einwendigen Glut, meinem wildrollenden Blut.

So kam der Winter heran, es fiel der erste Schnee. Ich merkt' es nur daran, daß es mit einmal in meiner Stuben heller war als sonst. Da lag draußen die Welt weiß.

Das Werk geriet mir über die Maßen wohl. Ich hab nie einen Menschen so geliebt wie den Junker Jörg aus Holz, da er anfing, mir ins brennende Aug zu sehn . . . Den Giers Hammer so nicht, kein Weib, das ich je für kurze Stunden im Arm gehabt, niemand auf der Welt. Der Jörg kam mir aus Bluttiefen herauf, war ich, war Giers, war Herzschlag und Sehnsucht der Zeit, war mein' eigne, gottglühende Sehnsucht nach dem, was uns all unstet durch Land und Leben trieb. Am Morgen ging mein erster Blick nach ihm, ich schlief ein mit dem Aug nach dem schwachen Schein, der von dem hellen Holz aus dem Dunkel der Stube glomm. 201

Und ein Abend kam, da war der Jörg fast schon vollendet, ich konnte nicht schlafen, so wild war ich in meinem Drang. Da nahm ich das trübe Licht, rückt' es zurecht und hub an zu zeichnen, so toll drauflos, als wär der Teufel in mir. Ich wußt selber nicht was. Kein Wie und Wozu . . .

Ich sah über ein weites Land, von hoch oben, wie ichs zu Ulm vom Münsterdach getan, über Hügel und Dörfer hin, über Wälder, die wie schwellende Brüste von Frauen waren, über Flüsse, und ganz in der Ferne eine Stadt, in der war ein riesiger Dom. Hoch oben am Himmel eine Wolke, die ging über das ganze Land und Bild, dunkel und schwer, wie von Blei, daß die Menschen auf der Erde unter ihr litten und gebeugt ihres Weges schlichen, unter der Last der furchtbaren Wolke, die ihrem Leben die Sonne nahm.

Da wuchs mitten aus der Erde, aus Hügeln und Wäldern herauf in die Höhe, ein Mensch – wuchs riesenhaft auf, hoch und höher als ein Dom, höher noch als der höchste Berg, wuchs zu mächtigen, stämmigen Knien, an denen die Sehnen spielten, wuchs weiter zu Schenkeln, stark, um einen ganzen Himmel zu tragen, wuchs weiter zu Lenden und höher hinan zu Brust und Schultern und einem Haupt – und da erschrak ich wild – denn dies Haupt trug das Gesicht von Giers Hammer, er selber wars, der da stand in der unendlichen Weite, die Augen und das Gesicht sprühend vor Zorn und Kraft – und nun hob er die Arme, Arme eines Riesen, daß an den Schultern die Muskeln vorquollen, hob sie empor und faßte in wildem Grimm nach der Wolke, griff hinein in ihr Dunkel und Last und riß sie entzwei, daß mit einmal die Sonne heiß niederfuhr, Blitzstrahlgarben aufs Land in der Tiefe warf . . .

Und der Giers lachte, schallend und laut, daß es wie Donner hinscholl über die Städte und Wälder . . .

Vom Klang seiner Stimme wurde ich wach und sah wirr ins Dunkel. Das Licht glomm in letztem Schein. Die Stube lag schwarz. Mit schmerzendem Aug sah ich vor mir das Blatt. Und 202 ich erschrak: das war ein Gesicht aus der Apokalypse, aber noch ganz anders voll Leben und Zorn, kein Bild zu einem fremden Buch, das keiner verstand – vielmehr die heimlich Offenbarung der Zeit, unsriger Zeit, die uns anging und uns im Herzen brannt'.

Knisternd losch das Licht; mit dumpfem Kopf fiel ich schwer aufs Stroh, schlief ein und schlief wie ein Toter bis an den hellen Tag.

Am Morgen nahm ich einen Hammer und vier Nägel und schlug das Bild an die Wand, meinem Bett gegenüber, daß ichs beim Erwachen gleich sehen konnte, als erstes im neuen Licht . . .

Der Meister Hans kam die Stiege heraufgekrochen, den Jörg zu besehen. Er stand lange davor, kratzte sich hinterm Ohr und wollt ihn mitnehmen. Aber das litt ich nicht. Bis er ihn verkauft', mußte er dableiben. Scheltend ging er davon. Aber drei Tage später bracht' er den Herrn Krafft Hengstberg zu mir. Dem brach die helle Freude aus den Augen und er sah mich groß an. »Das hast du gemacht?«

»Warum nicht?« fragt ich dawider, mit einem leisen Trotz.

»So ein Bild hat man in Nördlingen noch nicht geschaut . . . Was solls gelten?«

Ängstlich zog ihn der Meister beiseit. Aber Herr Krafft roch den Braten und wollte nur mit mir handeln. Endlich bekam der Meister vier Gulden – davon mußt' er mir zwei geben, und Herr Krafft schenkte mir einen dazu . . . Als er ging, reicht' er mir die Hand hin wie einem Herrn . . .

Den Giers Hammer an der Wand hatt er sich angesehen, lang. Dann schaute er her zu mir mit einem seltsamen Blick – er verstand, was das Bild sagen sollt' . . .

Jetzt gab mir der Meister ein neues Holz, daß ich ihm wieder eine Figur mache. Ich wills bedenken, sagte ich. Denn mir ging seit ein paar Tagen was andres durch den Kopf.

Aus dem Giers Hammer war mir langsam der unselige Klaus Frank geworden, der auch mit den Händen wild in den Himmel 203 griff und die Sterne herumwarf in neue Bahn . . . Ich wußte, was für Beschwer sie den Astronomen machten, die tollen Wege des Mars und der Venus über den Himmel, bald vor, bald zurück, daß sie Schleifen zogen wie verschlungene Brezeln, die der Bäcker macht. Sie nannten sie Epizyklen und waren nicht klüger damit.

Ich rollte mir aus Lehm Kugeln, sechs an der Zahl. Und an einem stillen Abend stellte ich auf den Tisch in die Mitte ein Licht – das war die Sonne. Rings um sie zog ich mit der Kohle Kreise, für jede Kugel einen. Darauf sollten meine Planeten laufen . . .

Darüber saß ich den ganzen Winter. Über der Stadt lag der Schnee, ich sah auf weiße, spitze Dächer hinaus. Am Tag schnitt ich bisweilen an dem neuen Holz, das mir der Meister gegeben; ich scherte mich nicht drum, daß ich ihm einen Johannes machen sollt oder eine Maria – die hatte ich satt und übersatt. Ich schnitt einen armen Bauern, wie ich ihn so tausendoft gesehn. Er stand mit schlottrigen Knien, gebückt, die Hände demütig aufgehoben, als bettelt' er um Gnad. Sein Kleid war zerrissen, zitternd stand er mit nackten Füßen. Man sah durch die Lumpen den hageren Leib. Der Meister brummte, so oft er kam, aber ich ließ ihn greinen.

An den Abenden rollte ich meine Sternkugeln ihre Bahn – schneller die eine, die andre gemachsam; lugte an der Erde vorüber nach dem Mars, nach der Venus hin – und ganz langsam wurde es klar in mir, es kam wie ein Fieber über mich: ich hatte erkannt, wie die Planeten liefen, bald in der gleichen Richtung mit der Erde, bald ihr entgegen, daß sie am Himmel einmal vorwärts, einmal zurückzuwandern schienen . . . Über die Einsamkeit meiner Nächte, die ohne Schlaf war, kam ein großes Licht – ich stand in seinem Gottesschein als ein Gesegneter der Erkenntnis . . . Wie der Giers Hammer griff ich mit den Händen hinein in die Sternbahnen, in Gottes schimmerndes Geschmeide . . . Ich stand in seinem Glanz und faltete die Hände zum Gebet. 204

Die Sonne rückte kaum merklich höher, es ging in ein neues Jahr. In der Stadt, wenn ich einmal hinunterstieg von meinem Turm, hört' ich manchmal ein Reden, von einem Pfaffen, sollt' ein Mönch sein in Wittenberg, der sei aufgestanden wider den Papst und hätt' die Bulle, mit der ihn der Römer gebannt, in einem Feuer vor der Stadt verbrannt. Aber keiner wußte davon mehr, und nicht, um was der Streit ging; ich hielts für ein bloßes Gerede. Wer sollte auch so was wagen! Aber es schlich mir doch wie ein Grauen durchs Blut: ich gab den Sternen am Himmel ein neues Gesetz – und ich ahnte, daß andere, die mehr darum wußten, es bald vollkommener tun würden – und da sollte einer gekommen sein, der wider die größte Macht dieser Welt aufstand, gegen den Papst und seine Kirch? Und wieviele waren unterwegs, ich selber mit ihnen, die eine neue Ordnung im Reich wollten auftun wider Herrenzwang und Papstgewalt! Wie seltsam ging eins ins andere! Wußte keiner vom andern und wollten doch alle das gleich'! Wenn das wirklich war, was ich von Wittenberg hört – – mußt ich nicht hinlaufen zu dem Mönch, ihm die Hand darbieten zum Bund, meine Hand für die Bauern, für tausend und hunderttausend? Er für den Geistkampf – wir für Faust und Spieß?

Und draußen kam der Frühling übers Land . . .

In den Nächten war ein wildes Brausen in den Höhen, am Tag strichen Zugvögel durchs blaue Himmelmeer. In meinem Blut wurde die Unruh lauter mit jedem Tag, das Stillsitzen furchtbarer mit jeder Stund. Ich schrie nach den Bauern, daß sie vors Tor zögen, schrie nach Kampf und Sturm, nach Tat und Not!

Über die Wiesen fiel Gold über Nacht – tausend gelbe Blumen taten sich auf. Die Kinder und jungen Mägde liefen hinaus, flochten sich Kränze ins Haar und tanzten im Reihn – ich stand oben im Turm und sah brennenden Augs nach ihrem lichten Spiel.

Einmal zog fahrendes Volk daher, von fern, ein Karren mit zwei kleinen Pferden davor. Irgendwoher floß mir ein zitterndes 205 Glück ins Herz, das mir zu schlagen begann, wild selig mit einmal – warum?

Die Pferde führte ein Mann – und war sein Haar auch schon merklich grau – ich kannte ihn wieder! Ihn und die Frau, die hinter dem Wagen schritt . . . Und neben der Straßen, am Wiesenrand –? Im rotblonden Haar den Blumenkranz –?

Du blöder Tor! Kommt dir die Gret, das volljunge Weib? Gilt dir der Blütenreif um ihre Stirn?

Aber ich stürzte die Stufen hinab, hinaus vors Tor. Da hielt der Wagen auf dem leeren Feld, wo sonst Fuhrwerke und fremde Bettler mußten bleiben, und der Vater ging in die Stadt, zum Magistrat, um die Erlaubnis zu bitten, daß er den Bürgern seine Künste zeige. Ich rannte vorbei an ihm und stand neben dem Karren vor der Gret. Die sah mich an – groß staunend aus weitem Aug – – und mit einmal ging ein Aufblühen über ihr Gesicht und machte es schön, wie ich noch kein Menschenantlitz schön gesehen . . . Zögernd gaben wir uns die Hand und sagten kein Wort dazu.

Ein paar von den Torwächtern kamen, Kinder und Weiber dazu aus der Stadt. Wir ließen von einander, als kennte eins das andere nicht. Die Spießknechte wollten mit der Gret ihre Späße treiben, aber sie kehrt' ihnen den Rücken und die Mutter schob sie knurrend zur Seite. Der Alte kam zurück und die Fahrenden fingen an, aus Stangen ein Gerüst zu bauen. Mit einmal kehrte der Vater sich zu mir und zeigte mir an, daß er die Erlaubnis habe, das Seil, auf dem die Gret abends tanzen sollt, von den Stangen aus zu einem Fenster im Turm zu spannen – ob ich ihm dabei helfen wollt.

»Kennst mich nimmer? Damals am Laacher See – wie ihr geblasen und gegeigt habt und ich euch gelesen hab –?«

Er sah mich an und gab mir die Hand. »Gott grüß! Bist unser noch oder bist städtisch worden?«

»Bin euer noch. Gib her den Strick!«

Wir zogen ihn zusammen auf und mir schlug das Herz vor 206 Angst, daß auf dem dünnen Seil die arme Gret laufen sollt – den Gaffern drunten, ihren gierigen Augen zur Lust . . .

Der Abend kam. Ich stand am Fenster, zu dem das Tau ging, und starrte hinab – zitternd und das Herz heiß brennend vor Zorn und wilder Begier nach dem jungschönen Weib . . .

Die Fahrenden hatten Fackeln angezündet im Kreis. Um den Platz, wo ihr Karren und das Gerüst stand, war ein Strick gespannt; an dem drängten sich die Menschen, sie gafften mit offenen Mäulern oder riefen unflätige Scherze. Da begannen die Alten und der Sohn mit Dudelsack, Trommel und Pfeife zu spielen, lärmend und schrill. Und mit einmal sprang die Gret aus dem Wagen, ihr Bruder warf die Pfeife weg und begann mit ihr einen wilden Tanz. Mir schlug die Scham brennend ins Gesicht, da ich sie also sah – in kurzem Wams, glänzend von tausend bunten Lappen und Flittern, mit nackten Armen und nackten Beinen. Die Männer drängten gierig nach vor, die Weiber schalten auf die fahrende Bübin, die also schamlos die argen Männer mit ihrem Fleisch locke wie eine Hübschlerin. Und schon war der Tanz zuende – die Gret war weg wie der Blitz, verkrochen im Wagen, und ihr Bruder begann jetzt, brennende Fackeln durch die Luft zu werfen, er fing sie, hielt sie in stetem Flug, schleuderte sie hoch, trug sie auf Nase und Stirn, daß sie aufrecht standen im Gleichgewicht. Auf einmal schmiß ihm der Alte ein blitzendes Messer zu – die Spitze grad mitten ins Gesicht – voll Schreck schrien die Gaffer auf – aber pfeilschnell fings der Junge, ließ die Fackeln zu Boden sausen, daß sie plötzlich in kleinen Löchern in der Erde ringsum in einem Feuerkreis standen – ein zweites, drittes Messer flog ihm entgegen, und nun ließ er die Messer durch die Luft wirbeln wie früher die Fackeln.

Aber plötzlich hielt er jäh an, warf den Kopf zurück, hob ein Messer mit der Hand über den weit aufgerissenen Mund, und ließ es sich in den Schlund gleiten. Laut kreischten die Leute auf, die Frauen schlugen entsetzt die Hände vors Gesicht. Und schon schluckte der Junge die übrigen Messer . . . 207

Inzwischen aber stieg die Gret aus dem Wagen. Niemand außer mir sah sie, denn ihr Bruder stand gerade bei einem halbwüchsigen Mädchen und zog der Entsetzten eins der verschluckten Messer aus dem Mund. Und jetzt, aus dem Lachen und Beifallsjohlen des Volks heraus, schwang sich die Gret an dem Gerüst empor und stand oben in der Nacht, breitete die Arme aus, wie um das Gleichgewicht zu finden – aber ich wußte mit einmal, daß sie sich mir entgegensehnten! Der Junge hatte eben einer dicken Frau das letzte Messer aus dem Brusttuch gezogen und sprang nun in die Mitte des Feuerkreises, packte zwei Fackeln und warf sie wirbelnd empor – jetzt erst, da die Gret sie geschickt auffing, sahen alle sie und ihr dumpfes Sehnen nach unbeschwertem, vogelleichtem Schweben über der Erde schlug als hundertfacher Schrei zu ihr auf, die rotflammend oben stand und nun den ersten Schritt aufs schwanke Seil tat . . . Mein Herz begann rasend zu schlagen, ich klammerte mich an einen Balken, um nicht zu Boden zu sinken. Unten fing wieder die wilde Musik an, die Menschen starrten entsetzt zu dem schönen Weib auf und konnten, wie festgebannt, kein Glied regen. Sie schritt hinaus auf ihre schauerliche Bahn, bis sie in der Mitte des Seils stand – und nun begann sie mit den Fackeln zu spielen, warf sie wirbelnd um den Kopf, daß ihr rotes Haar aufglänzte wie glühendes Kupfer, und während unter ihr die Musik immer wilder tobte und ich nun völlig an sie verloren stand, lief sie plötzlich wie auf ebenem Grund flink aufs Fenster zu – schleuderte im Bogen die Fackeln hinunter, sprang ins Dunkel hinein – mit einem Jubelschrei in meine ausgebreiteten Arme. Sie zittert' so sehr, daß sie ins Knie brach, und ich mit ihr. Kniend hielten wir uns umfaßt, ich mußt sie halten um den Leib, und vergrub das Gesicht in ihre Brust. Ich fühlt an der Wange den Schlag ihres Herzens, ihre bloßen Arme lagen um meinen Nacken.

»Wars so furchtbar, Gretli, das Seil?«

»Das Seil –?« Sie lachte leis. »Nein . . .«

»Was zitterst dann so?« 208

»Vor der Lieb, der heiligen Lieb . . .«

Da ging Gott selber durch unser Herz. Wir hatten, alle zwei, nur mehr ein Herz . . .

Wir stürmten, vorbei an der Tür des alten Mang Losenapf, die steilen Stufen hinauf, ich trug sie, ich riß sie über die Steintritte durchs Dunkel hindann, in dem noch immer der wilde Trommelton dröhnte, das gellende Pfeifen – und dann waren wir oben . . .

Wir brachen zu Boden, wir knieten vor einander, wir küßten uns, so, als wollte eins dem andern das Blut aus den Adern trinken. Wir stammelten irre Worte, die Liebe brach aus unseren Schreien, unserem Lachen und Weinen wie ein tosender Brand. Ich zog ihr das Flitterkleid von den Schultern, ihr nackter Leib glühte in meinen Armen, da ich sie in die Ecke trug, zu meinem Lager . . .

Ich ging unter in den Wonnen, die sie mir gab. Nie noch war mir ein Weib geworden wie die Gret, so wild und ohne Ermatten, so unstillbar nach immer neuer Lust. Aus fernem Ungewiß, aus versunkenem Leben vergangener Zeit, war sie in meinen Arm geflogen, ein lohender Feuerbrand – mit ihr zusammen wehte ich hinaus in neues Ungewiß. Wir hatten nichts in der Welt als nur uns selbst, eines das andre – das hielten wir umklammert voll tötlicher Angst und Begier, wir verlorenen Zwei, im unendlich endlosen Abgrund, in dem wir hinbrausten, ein einziger, brennender Stern . . .

Da uns endlich das letzte Ermatten überfloß, war es spät geworden und still. Längst war unten das Tor geschlossen, die Stadt erstorben, ohne Laut. Ich hob mich leise vom Lager. Die Gret lag in Schlaf, ihr lichter Leib schimmerte im blassen Schein, der von den Fenstern her in die Stube drang. Ich sah hinaus – der Himmel schwang im flimmernden Glanz unzähliger Sterne. Kühl strömte der Nachtwind über mich hin, er war voll vom grünen Duft der Wiesen, der neu erwachenden Wälder. Ich meinte, ihr Rauschen zu hören. Und von irgendwoher klang wieder wie 209 damals an meinem ersten Abend im Turm das Läuten der Glocke, die man nicht mit dem Ohr vernimmt . . .

Im Dunkel draußen gingen Menschen über Berge, durch Städte und Länder, trugen brennende Herzen in der Brust – einsame Sterne, die sich mühten, die Nacht zu durchhellen. Ich mußte wieder an den Mönch in Wittenberg denken, ob er wohl noch im Leben war; und an Giers Hammer, an Joß Fritz. Irgendeiner von den Menschensternen war auch der Meister Eckehart; ein irrer Stern, der in rotem Schein zerbarst, der arme Klaus Frank, der die Erde um die Sonne fliegen ließ und im Rausch verkam. Und einer auch der Ulrich Ensinger, der Meister, der den Turm ersonnen am Münster zu Ulm, mochte er nun einmal zu Stein werden oder ewig nur Traum und Sehnsucht bleiben. Und ein Stern war auch die Gret, ihr glührotes, liebübervolles Herz.

Ich ging zurück und legte mich zu ihr, das Gesicht in ihr Haar gedrückt. Der Mond war in die Stuben geschlichen. Die Gret schlief, satt und tief. Der Mondschein fiel ihr über Haar und Gesicht und Brust. Jetzt kroch er auf den Tisch hinüber, traf meine Erdkugeln, daß sie lange Schatten warfen – und an der Wand reckt' sich der Giers in den Himmel, bog die Wolken von einand' und riß sie entzwei, daß die Sonne ausbarst wie ein Glutbrand, wild niederbrach übers Land, über Saaten und Städt', daß sie aufbrannten mit tausend flammigen Armen zum Himmel. Der Giers schrie, wie ein Stier, wie ein Feuerhorn gellt, der Mondschein auf dem Tisch ward gelb und rot, die Weltkugeln glühten auf, die Wand – ich taumelte empor voll Schreck und sprang ans Fenster – da schlugen die Flammen ganz nah vor mir aus ein' Dach, Funken rasten durchs Nachtschwarz auf. Ich riß das Horn vom Nagel und blies den Feuerruf – wild, voll Angst, brüllte die Stadt wach, vom Feilturm kam Antwort, die Gret fuhr aus dem Schlaf und schrie auf voll Todangst, stürzt' her zu mir – ich hielt sie im Arm, nackt, sie zittert', daß sie kaum stehen konnt'. 210

Die Gassen wurden lebendig von Menschen, unter uns ward ein Toben und Schreien, Laufen und Heulen, Glocken huben an, die Gret schlug mir die Arme um den Hals und stammelt' mir heiß ins Ohr, ich riß sie vom Fenster, warf sie über den Tisch, bog sie zurück und küßt' ihren glühflammroten zitternden Leib, verbiß mich drein, daß wir vor Wonnen vergingen, indes unten die Menschen tobten und rasten, die Sturmglocke dröhnte, der Brand zum Himmel sprang und der einwendig Brand über uns zusammenschlug wie ein roter Himmelssturz . . .

Da ich am Morgen nach einem kurzen Schlaf erwachte, stand die Gret vor mir – die Frühsonne umfloß ihren lichten Leib mit tausend goldigen Funken. Sie lachte mir zu:

»Urs – hol mir ein' Mantel aus dem Wagen und ein' Kittel – so kann ich nicht aus dem Tor laufen –«

Aber es dauerte lang, eh' ich sie lassen mocht' . . .

Dann lief sie davon, die Stufen hinab, durchs Tor hinaus. Ich stand oben und sah ihr lächelnd nach. Dann aber warf ich mich aufs Stroh und schlief von neuem ein.

Aber wieder schrak ich empor – eine Stimme klang mir ins Ohr, daß ich ungläubig den Mann anstarrte, der da vor mir stand: aber er wars, war Giers Hammer, der lachend auf mich niedersah.

»Auf, Urs – komm mit! Wir wandern wieder durchs Land! Die Obern befehlens dir! . . . War schon beim Hengstberg – er weiß drum. Das Stillsitzen hat ein End . . . Ist nur schad um den Bauern, den du da hast halb aus dem Block geschnitten – ist ein feins Stück! Hab auch den Jörg gesehen – kannst noch ein Messer führen! Und was soll da der Riesenmann, der mein Gesicht hat? Bist nicht faul gewesen über den Winter! Ists dir leid, daß wir wandern?«

Ich stand langsam auf und sah Giers an. Er war der Alte geblieben, voll Leben und Kraft.

Um mich war noch der Duft der Gret, von ihrem Haar, ihrem jungen Leib. Ich ging zum Fenster und sah hinab – und mir 211 wurde so weh, wie noch nie in all meiner Zeit: die Gaukler waren weg – der Wagen fort – die Gret . . .

Ich kehrte mich zu Giers um: »Gott grüß, Giers! Komm – wir gehen!«

»Was hast –? . . . Urs –: das fahrende Mädel – ists die?«

Ich stand voll Scham. »Laß sein, Giers . . . Ist vorbei . . .«

Ich sucht meine Siebensachen, schnürte mein Bündel, nahm das Bild von der Wand und tats auch dazu. Wir stiegen hinab, ich gab dem alten Mang Losenapf die Hand, der kaum begriff, was ich von ihm wollt – und dann ging ich mit Giers, ein letztesmal durch die Gassen, hinaus durchs Baldinger Tor, wir ließen die Stadt im Rücken. Der Wind fiel uns an, spielt' uns in Haar und Bart, die Lust der Weite kam mit einmal wieder mächtig über mich, wir gingen die alte Straße wieder, die kein Ende hat. Die Quellen flossen lauter dahin, Sonne und Wolken flogen über den Himmel, und die Welt war wieder weit wie ehdem. Blut und Atem des Lebens ging durch mich hin, nahm mich mit, ich fühlt' wieder alles, um das es in der Welt ging, groß und klein, mit Leid und Beschwer, aber immer voll der Kraft. Das schwang und strömte voll Flutgewalt rings um mich, wie ich meine Sternbälle hatte um die Sonne gewirbelt, und ich schwang mit und war ein Stern wie sie.

Giers hatte das Gesicht vorgestreckt, als wittere er Kommendes im Wind. Er sprach:

»Wir gehen die alte Straße wieder, die kein Ende hat. Urs – ich möcht nimmer stillsitzen und – bleiben. Das Wandern ist unser bestes Teil. Wir gehen, die Bäume kommen uns entgegen und grüßen uns, bleiben dahinter, und neue kommen, Berge kommen und Wälder, Städte und Dörfer – und wir gehen und sie bleiben und werden für uns zu Gewesenem, wir nehmen sie alle mit in unserem Aug und Herz und gehen dem Neuen zu . . . Aber die immerzu beharren und stillsitzen, wissen ums Ferne nicht, kennen nur sich und wissen nicht um die Weite der Welt, werden enge und klein und böse. Die wollen den Wind nicht kennen und 212 nicht den Sterngang, der über den Himmel rollt und ewig das Neue bringt. Das Leben ist ein Wanderweg – was soll da Beharren und Bleiben?

Urs – in Wittenberg ist einer aufgestanden, heißt Martin Luther. Der hat das Gottswort aufgehoben aus quelltiefem Born ans Licht – ist rein und klar wie am ersten Tag.

Er hat des Papsts Bannbullen verbrannt vor allem Volk. Sein Wort fliegt durchs ganze Reich und die Herzen jubeln ihm zu. Und sonderlich unter den Armen hat er die meisten Freund, unter den Bauern. Sind alle wild und gärig und wollen nichts anders mehr, als hören das neu Evangelium.

Wir sind beisammen gesessen, die Hauptleut vom Bund, und viel Boten aus allem Land. Da haben wir erkannt: machen wir uns frei vom Herrenzwang – 's ist nur halbes Werk, kommt nicht auch der Glaub hinzu, der neue Glauben. Leib und Seel – muß beid's zusamm frei werden, kann eins nicht sein ohne das ander'. Drum sind wir zum Schluß kommen, daß wir noch warten. Der Luther ist unser Helfer und Bundesfreund. Sein Wort soll den Bauern frei machen innerlich – und dann kommen wir, machen ihn frei nach dem Leib, frei von den Herren. Den Bauern und uns all zusamm . . .«

Der Himmel war blau, es schwammen weiße Wolken drin, die Wiesen standen in jungem Grün, und unser Hoffen war jung und neu wie sie . . .

 


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