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Vierter Teil. Das konträre Sexualempfinden

Dreizehntes Kapitel

Homosexualität

Unter allen Verirrungen des Geschlechtstriebs nimmt die Homosexualität eine Sonderstellung ein. Ist sie doch zu allen Zeiten und bei allen Völkern nachweisbar, dabei von größter praktischer Bedeutung und in sozialer wie in juristischer wie schließlich in psychologischer Hinsicht gleich wichtig. Diese Tatsachen haben dazu geführt, sie insofern von andern Triebabweichungen abzugrenzen, als man die Homosexualität, bzw. die konträre Sexualempfindung als Inversion bezeichnet und dadurch den andern Verirrungen, den Perversionen, gegenübergestellt hat; wir glauben indes, mit der alten Bezeichnung auskommen zu können.

Heute hat sich wohl allgemein die Anschauung durchgesetzt, daß in dem Begriff Homosexualität sehr verschiedene Zustände, Einstellungen und Verhaltungsweisen vereinigt sind, die ihrer Entstehung wie ihrem Wesen nach bedeutende und deutliche Unterschiede zeigen. Es ist dabei sehr bemerkenswert, daß trotz intensivster Forschungstätigkeit eine Übereinstimmung über die verschiedenen Probleme, die sich an die Homosexualität wie an ihre Unterarten anknüpfen, noch nicht erzielt werden konnte; die neue Tiefenpsychologie hat gerade in dieser Hinsicht nur recht wenig erreicht. Dies gilt auch für die Hormonforschung und für die Versuche, mit Hilfe entwicklungsgeschichtlicher, embryologischer und zoologischer Ergebnisse die Frage zu klären. Wir werden also gerade bei diesem Kapitel weitgehend in der Lage sein, das, was Krafft-Ebing über die Homosexualität erhoben und niedergelegt hat, ziemlich unverändert zu verwenden, und das gilt auch für die von ihm zusammengestellten Beobachtungen und Krankengeschichten, allerdings mit der Einschränkung, daß sich die sehr genaue Einteilung und die Gliederung in Stufen nicht mehr aufrechterhalten lassen.

Zu den festesten Bestandteilen des Ichbewußtseins gehören nach Erreichung der vollen geschlechtlichen Entwicklung das Bewußtsein, eine bestimmte geschlechtliche Persönlichkeit darzustellen, und das Bedürfnis, während der Zeit geschlechtlicher Vollreife im Sinne dieser besonderen geschlechtlichen Persönlichkeit sexuelle Akte zu vollbringen, die, bewußt oder unbewußt, auf eine Erhaltung der Gattung abzielen.

Bis auf dunkle Ahnungen und Dränge bleiben Geschlechtsgefühle und Sexualtriebe bis zur Zeit der Entwicklung der Generationsorgane in einem Ruhezustand. Es ist nun sehr schwierig zu entscheiden, ob das Kind, wie Krafft-Ebing meinte, generis neutrius ist oder – nach Freud – bisexuell. Jedenfalls fehlt beim Kinde im allgemeinen die seelische Beziehung zu Personen des andern Geschlechts, und das ist um so bemerkenswerter, als doch schon früh in der Erziehung, Beschäftigung, Kleidung usw. das Kind von Kindern andern Geschlechts getrennt wird. Wenn auch nicht immer, so doch in der Mehrzahl der Fälle bleiben die daraus hervorgehenden Eindrücke aber seelisch unbeachtet, weil sie offenbar sexuell unbetont bleiben, da die noch unentwickelte Hirnrinde für sexuelle Gefühle und Vorstellungen noch nicht aufnahmefähig ist.

Mit der beginnenden anatomischen und funktionellen Entwicklung der Zeugungsorgane sowie der sekundären Geschlechtscharaktere entwickeln sich beim Knaben, bzw. Mädchen die Grundlagen eines ihrem Geschlecht entsprechenden seelischen Empfindens, wozu Erziehung und noch mehr äußere Einflüsse klarerweise sehr viel beitragen.

Bei normaler ungestörter sexueller Entwicklung gestaltet sich ein bestimmter, dem Geschlecht entsprechender Charakter. Es entstehen bestimmte Neigungen, Reaktionen im Verkehr mit Personen des andern Geschlechts, und es ist psychologisch bemerkenswert, wie verhältnismäßig rasch sich der bestimmte, dem betreffenden Geschlecht zukommende seelische Typus herausentwickelt. Diese Form ist dann so festgefügt, daß nicht einmal der spätere Verlust der Zeugungsorgane (etwa durch Kastration) oder das Klimakterium, bzw. Senium sie völlig zerstören können (die Veränderungen, die die psychosexuelle Persönlichkeit durch Impotenz, Potenzangst, durch anatomisch bedingte Störungen des normalen Geschlechtsverkehrs usw. erfährt, sind anderer Art; ihre Bedeutung, auf die wir bereits so oft hingewiesen haben, bleibt also unbestritten).

Es ist hier eine überaus wichtige Frage, ob die peripheren Einflüsse der Keimdrüsen (Hoden und Eierstöcke) oder ob zentrale, zerebrale Bedingungen für die psychosexuelle Entwicklung entscheidend sind. Für die große Bedeutung der Keimdrüsen spricht zwar die Tatsache, daß angeborener Mangel oder Entfernung vor der Pubertät die Entwicklung des Körpers wie der Sexualpsychose mächtig beeinflußt, so daß diese verkümmert, bzw. sich einigermaßen dem Wesen des andern Geschlechts nähert (Eunuchen, Viragines). Wir fassen jedoch diese körperlichen Vorgänge in den Genitalorganen nur als mitwirkende Faktoren in jenem Werdegang auf; denn daß sie nicht ausschließlich entscheidend sind, geht daraus hervor, daß sich eine gegensätzliche Sexualempfindung auch dann entwickeln kann und entwickelt, wenn die Keimdrüsen anatomisch und physiologisch normal sind. Hier kann also die Ursache dieses Zustandes, der Homosexualität, nur in einer Anomalie der zentralen, zerebralen Bedingungen gelegen sein.

Die Homosexualität tritt im Zuge der Entwicklung des Geschlechtslebens spontan ohne äußere Anlässe zutage, als individuelle Erscheinungsform einer abnormen Artung des Geschlechtslebens, und stellt dann eine angeborene Erscheinung dar; oder sie entwickelt sich erst in weiterer Folge, nachdem das Geschlechtsleben zuerst normal verlaufen war, auf Grund bestimmter schädlicher Einflüsse und erscheint damit als erworben.

Je genauer man nämlich die sogenannten erworbenen Fälle von Homosexualität erforscht, um so deutlicher zeigt sich, wie ausschlaggebend und entscheidend hier stets die Veranlagung ist. Wir glauben demgemäß für jene Fälle, die man der erworbenen Homosexualität zurechnet, eine latente Homosexualität oder zumindest Bisexualität annehmen zu sollen, zu deren Manifest-* ??? Zeiel Fehlt im Buch werden allerdings die Einwirkung auslösender gelegentlicher Ursachen nötig war. Es wäre somit die »erworbene« Homosexualität, wie schon Krafft-Ebing bemerkt hat, richtiger als tardive Homosexualität ( Näcke) zu bezeichnen.

Wenden wir uns nun der Frage zu, was als eigentlich entscheidend für die Homosexualität anzusehen ist, so haben wir uns an einen bereits weit früher, im allgemeinen Teil des Buches, aufgestellten Grundsatz zu erinnern, nämlich an die Unterscheidung zwischen Perversion und Perversität. Nicht sexuelle Akte am eigenen Geschlecht, also das, was wir als Perversität bezeichnen, sind entscheidend, sondern die perverse Empfindung gegenüber dem eigenen Geschlecht, die Perversion. Denn gerade homosexuelle Akte werden häufig beobachtet, ohne daß ihnen eine Perversion zugrunde läge. Ein sexuelle Parästhesie, eine Triebabweichung besteht hier nicht, sondern es handelt sich um normalen Sexualtrieb bei physisch unmöglicher naturgemäßer Geschlechtsbefriedigung. Bezeichnende Beispiele sind dafür die so verbreiteten Vorkommnisse dieser Art in Gefängnissen, Schiffen, Kasernen, Internaten usw., wo zum normalen Geschlechtsverkehr sofort zurückgekehrt wird, sobald dieser nur möglich ist.

Krafft-Ebing hat für das Zustandekommen seiner »erworbenen« Homosexualität sehr weitgehend die Onanie verantwortlich gemacht, eine Anschauung, die sich heute nicht mehr aufrechterhalten läßt. Gewiß, die bei jugendlichen Personen gleichen Geschlechts so weit verbreitete mutuelle Onanie ist an und für sich eine homosexuelle Perversität, ohne aber zuerst einmal etwas mit einer Perversion zu tun zu haben. Immerhin kann diese Art der Onanie für die Homosexualität, womit hier die wirkliche Perversion gemeint ist, von Bedeutung sein, und zwar in der Weise, daß durch die mutuelle Masturbation die bei nicht wenigen Individuen durchaus latente perverse, hier also homosexuelle Einstellung manifest wird und in weiterer Folge bleibt. Ähnlich liegen die Dinge dann, wenn ein z. B. bisexuell veranlagter Mensch in einem Zeitpunkt, in dem er den normalen Koitus aus Potenzschwäche oder auch nur aus Potenzangst ablehnt, den Ausweg einschlägt, der ihm aus seiner Jugend her vertraut ist, und also in älteren Jahren zur mutuellen Onanie mit Personen gleichen Geschlechts zurückkehrt und somit homosexuell wird.

Wir möchten aber sogleich betonen, daß wir trotz aller dieser Möglichkeiten und Vorkommnisse durchaus auf dem Standpunkt stehen, daß es eine erworbene Homosexualität nicht gibt, und daß somit die Homosexualität in jedem Fall angeboren ist. Der Widerspruch, in dem wir uns somit zu Krafft-Ebing befinden, ist bloß scheinbar; denn wenn Krafft-Ebing auch der »erworbenen« Homosexualität ein eigenes Kapitel gewidmet hat, so hat er diesem doch bereits die Feststellung vorausgeschickt, daß man nicht von einer erworbenen, sondern bloß von einer tardiven Homosexualität sprechen könne. Krafft-Ebing sagt ja auch, daß kein Fall nachzuweisen sei, in welchem bei unbelasteten Individuen die Perversität zur Perversion geworden wäre. Und weiter: »Man kann einen Unbelasteten noch so weibisch erziehen und ein Weib noch so männlich, sie werden dadurch nicht homosexuell werden. Die Naturanlage ist entscheidend, nicht die Erziehung und anderes Zufällige, wie z. B. Verführung. Von konträrer Sexualempfindung kann nur die Rede sein, wenn eine Person des eigenen Geschlechts einen psychosexuellen Reiz ausübt, also Libido und Orgasmus vermittelt, namentlich aber seelisch anziehend wirkt. Ganz anders die Fälle, wo als Notbehelf bei großer Sinnlichkeit und mangelhaftem ästhetischem Sinn eine Person des eigenen Geschlechts zu einem onanistischen Akt an ihrem Körper (nicht zu einem Koitus in seelischem Sinn) benutzt wird Allerdings hat Krafft-Ebing die Möglichkeit offen gelassen, daß bei belasteten, wahrscheinlich bisexuell veranlagt gebliebenen, d. h. nicht zu ausschließlich heterosexueller Empfindung ausgebildeten Individuen die bisher latent gebliebene perverse Sexualität sich unter dem Einfluß der Neurasthenie zur Perversion entwickeln kann.

Wenn wir nun Krafft-Ebings verschiedene Entwicklungsstufen, bzw. Erscheinungsformen der Homosexualität anführen, so möchten wir betonen, daß wir diese als klinische Krankheitsgruppen auffassen, wie das auch Moll getan hat; außerdem trennen wir seine erste Stufe, die er als psychosexuale Hermaphrodisie bezeichnet hat, ab und besprechen sie als Bisexualität gesondert. Es bleiben dann übrig

1. die Neigung bloß zum eigenen Geschlecht ( Homosexualität),

2. der Zustand, daß auch das ganze psychische Sein der abnormen Geschlechtsempfindung entsprechend geartet ist ( Effeminatio und Viraginität),

3. der Zustand, daß sich die Körperform derjenigen nähert, welcher die abnorme Geschlechtsempfindung entspricht. Dabei finden sich aber niemals wirkliche Übergänge zum Hermaphroditismus, hingegen vollkommen differenzierte Zeugungsorgane, so daß also, wie bei allen krankhaften Perversionen des Sexuallebens, die Ursache im Gehirn gesucht werden muß ( Androgynie und Gynandrie). Unbeschadet der in solchen Fällen fast immer nachweisbaren innersekretorischen Veränderungen.

Krafft-Ebing hat die Homosexualität als ein funktionelles Degenerationszeichen und als Teilerscheinung eines neuropsychopathischen, meist hereditär bedingten Zustands bezeichnet, eine Annahme, welche auch durch die weitere Forschung durchaus Bestätigung gefunden hat. Als Zeichen dieser neuropsychopathischen Belastung lassen sich anführen:

1. Das Geschlechtsleben derartig organisierter Individuen macht sich in der Regel abnorm früh und in der Folge abnorm stark geltend. Nicht selten bietet es noch anderweitige perverse Erscheinungen, außer der an und für sich durch die eigenartige Geschlechtsempfindung bedingten abnormen sexuellen Richtung.

2. Die geistige Liebe dieser Menschen ist vielfach eine schwärmerisch übersteigerte, wie auch ihr Geschlechtstrieb sich mit besonderer, selbst zwingender Stärke in ihrem Bewußtsein geltend macht.

3. Neben dem funktionellen Degenerationszeichen der konträren Sexualempfindung finden sich oft anderweitige funktionelle, vielfach auch anatomische Entartungszeichen.

4. Es bestehen Neurosen (Hysterie, Neurasthenie, epileptoide Zustände usw.). Fast immer ist zeitweilig oder dauernd Neurasthenie nachweisbar. Diese ist in der Regel konstitutionell, in angeborenen Bedingungen wurzelnd. Geweckt und unterhalten wird sie durch (mutuelle) Masturbation oder durch erzwungene Abstinenz.

Bei männlichen Individuen kommt es auf Grund dieser Schädlichkeiten oder schon angeborener Disposition zur Neurasthenia sexualis, die sich wesentlich in reizbarer Schwäche des Ejakulationszentrums kundgibt. Damit erklärt sich, daß bei den meisten Individuen schon die bloße Umarmung, das Küssen oder selbst nur der Anblick der geliebten Person die Ejakulation hervorruft. Häufig ist diese von einem abnorm starken Wollustgefühl begleitet, bis zu Gefühlen »magnetischer« Durchströmung des Körpers.

5. In der Mehrzahl der Fälle finden sich psychische Anomalien (glänzende Begabung für schöne Künste, besonders Musik, Dichtkunst usw., bei intellektuell schlechter Begabung oder allgemeiner Verschrobenheit) bis zu ausgesprochenen psychischen Degenerationszuständen (Schwachsinn, moralisches Irresein).

Bei zahlreichen Homosexuellen kommt es temporär oder dauernd zu Irresein mit degenerativem Charakter (pathologische Affektzustände, periodisches Irresein, Paranoia usw.).

6. Fast in allen Fällen, die einer Erhebung der körperlichen und geistigen Zustände der Vorfahren und der Blutsverwandten zugänglich waren, fanden sich Neurosen, Psychosen, Degenerationszeichen usw. in den betreffenden Familien vor.

Wie tief die angeborene konträre Sexualempfindung wurzelt, geht auch aus der Tatsache hervor, daß der wollüstige Traum des männlichen Homosexuellen männliche, der des weibliebenden Weibes weibliche Individuen, bzw. Situationen mit solchen zum Inhalt hat.

Die Beobachtung von Westphal, daß das Bewußtsein des angeborenen Defektes geschlechtlicher Empfindungen gegenüber dem andern Geschlecht und des Dranges zum eigenen Geschlecht peinlich empfunden werde, trifft nur für eine Anzahl von Fällen zu. Häufig fehlt sogar das Bewußtsein der Krankhaftigkeit des Zustandes. Die meisten Homosexuellen fühlen sich glücklich in ihrer perversen Geschlechtsempfindung und Triebrichtung und unglücklich nur insoferne, als gesellschaftliche und strafrechtliche Schranken ihnen in der Befriedigung des Triebs zum eigenen Geschlecht im Wege stehen.

Bevor wir uns nun den verschiedenen Theorien über Entstehung und Art der Homosexualität zuwenden, möchten wir ganz kurz aus der Geschichte ihrer wissenschaftlichen – und leider vielfach pseudowissenschaftlichen – Erforschung einige Daten anführen.

Der erste wissenschaftliche Bericht über Homosexualität bei Männern stammt von Moriz, der in seinem »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« bereits 1791 zwei Lebensgeschichten von Männern mitteilte, die von einer geradezu schwärmerischen Liebe zu Personen des eigenen Geschlechts beseelt waren.

Die ersten genaueren Mitteilungen über diese rätselhaften Naturerscheinungen rühren von Casper her, der dieselben zwar mit der Päderastie zusammenwirft, aber schon die treffende Bemerkung macht, daß die Anomalie in den meisten Fällen angeboren und gleichsam als eine geistige Zwitterbildung anzusehen sei. Es bestehe hier ein wahrer Ekel vor geschlechtlicher Berührung von Frauen, während sich die Phantasie an schönen jungen Männern, an männlichen Statuen und Abbildungen ergötze. Schon Casper ist es nicht entgangen, daß in solchen Fällen Immissio penis in anum (Päderastie) nicht die Regel ist, sondern daß auch durch anderweitige geschlechtliche Akte (mutuelle Onanie) sexuelle Befriedigung erstrebt und erzielt wird.

In seinen »Klinischen Novellen« gibt Casper das interessante Selbstbekenntnis eines diese Perversion aufweisenden Menschen und steht nicht an zu erklären, daß, abgesehen von verderbter Phantasie, Entsittlichung durch Übersättigung im normalen Geschlechtsgenuß, es zahlreiche Fälle gebe, wo die »Päderastie« aus einem wunderbaren, dunklen, unerklärlichen, angeborenen Drang entspringe. Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts trat ein gewisser Assessor Ulrichs, selbst mit diesem perversen Trieb behaftet, auf und behauptete unter dem Schriftstellernamen »Numa Numantius« in zahlreichen Schriften, das geschlechtliche Seelenleben sei nicht an das körperliche Geschlecht gebunden, es gäbe männliche Individuen, die sich als Weib dem Manne gegenüber fühlten (»anima muliebris in corpore virili inclusa«). Er nannte diese Leute »Urninge« und verlangte nichts Geringeres als die staatliche und soziale Anerkennung dieser urnischen Geschlechtsliebe als einer angeborenen und damit berechtigten, sowie die Gestattung der Ehe unter Urningen. Ulrichs blieb nur den Beweis dafür schuldig, daß diese allerdings angeborene paradoxe Geschlechtsempfindung eine physiologische und nicht vielmehr eine pathologische Erscheinung sei.

Ein erstes anthropologisch-klinisches Streiflicht auf diese Tatsachen warf Griesinger, indem er in einem selbst beobachteten Falle auf die starke erbliche Belastung des betreffenden Individuums hinwies.

Westphal verdanken wir die erste Abhandlung über die in Rede stehende Erscheinung, die er als »angeborene Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewußtsein der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung« definierte und mit dem seither allgemein angenommenen Namen »konträre Sexualempfindung« bezeichnete.

Westphal läßt es unentschieden, ob die »konträre Sexualempfindung« Symptom eines neuro- oder eines psychopathischen Zustands sei oder als isolierte Erscheinung vorkommen könne. Er hält fest an dem Angeborensein des Zustands.

Krafft-Ebing hat dann auf Grund der bis 1877 veröffentlichten Fälle die erste eingehende wissenschaftliche Darstellung der Homosexualität gegeben. Es ist erstaunlich, in welch bedeutendem Maße sich seine Anschauungen über ein halbes Jahrhundert hinaus bewährt haben, obwohl sich die sexualpathologische Forschung doch gerade der Homosexualität mit ganz besonderem Eifer gewidmet hat. Die Krankengeschichten, die Krafft-Ebing zu dieser Triebabweichung beigebracht hat, können als durchaus klassisch bezeichnet werden; sie sind auch in dieses Buch aufgenommen worden.

Von späteren Autoren hat sich besonders Moll große und bleibende Verdienste erworben, zumal dieser Forscher über ein ganz hervorragendes Krankenmaterial verfügen konnte. Begreiflicherweise hat sich auch die moderne Tiefenpsychologie mit der Homosexualität beschäftigt; Freud und seine Schüler, dann Adler und schließlich Stekel haben auf diesem Gebiet gearbeitet.

Wesentlich mehr als so gut wie alle andern Perversionen hat die Homosexualität Veranlassung gegeben, ihr Vorkommen und ihre Entstehung zu erklären. Es mag dies damit zusammenhängen, daß die Homosexualität jene Triebabweichung ist, die am frühesten bekannt war, daß diese Perversion sowohl weit verbreitet ist, wie viele damit Behaftete in Konflikt mit Gesellschaft und Gesetz bringt, und daß schließlich die Homosexuellen, um eben jene Gefährdung und jene Nachteile abzuwenden, sich selbst für die Erforschung und Aufklärung ihres Zustandes eingesetzt haben. Dazu kommt noch, daß es hier im Gegensatz zu andern Perversionen möglich schien, die Homosexualität biologisch, anatomisch, embryologisch, anthropologisch usw. zu erklären.

Überblickt man indessen die einschlägige Literatur und die verschiedenen untereinander stark in Widerspruch stehenden Theorien, so muß man zugeben, daß eine durchaus befriedigende Erklärung bisher nicht vorliegt.

Wir möchten nun einige der wichtigsten Erklärungsversuche anführen. Die Homosexualität, die dem Laien als Laster, dem Juristen als Verbrechen erscheint, wird zwar von den mit ihr Behafteten als eine Anomalie anerkannt, aber auf eine »Laune der Natur« zurückgeführt und als ebenso berechtigt betrachtet wie die normale heterosexuelle Liebe. An diesem Standpunkt halten die Homosexuellen schon seit Plato fest. Heißt es doch in Platos Symposion: »Es gibt keine Aphrodite ohne Eros. Es sind aber der Göttinnen zwei. Die ältere Aphrodite ist ohne Mutter entstanden, des Uranos Tochter, und deshalb nennen wir sie Urania. Die jüngere Aphrodite ist des Zeus und der Artemis Tochter, sie wird Pandemos genannt. Der Eros der ersteren muß also Uranos, der der andern Pandemos heißen. Mit der Liebe des Eros Pandemos lieben die gewöhnlichen Menschen; der Eros Uranos hat aber kein weibliches Teil erwählt, sondern nur männliches, das ist die Liebe zu Knaben. Wer von dieser Liebe begeistert ist, wendet sich dem männlichen Geschlecht zu.« Aus manchen andern Stellen in den Klassikern gewinnt man sogar den Eindruck, daß die uranische Liebe höher gestellt wurde als ihre Schwester.

Neuere Erklärungsversuche der homosexuellen Empfindungen sind sowohl von Philosophen als auch von Psychologen und Naturforschern ausgegangen.

Eine der sonderbarsten Erklärungen rührt von Schopenhauer her (Die Welt als Wille und Vorstellung), der allen Ernstes meinte, die Natur habe verhüten wollen, daß alte (d. h. über 50 Jahre alte) Männer Kinder zeugen, da diese erfahrungsgemäß nichts taugten. Um dies zu erreichen, habe die weise Natur den Geschlechtstrieb bei älteren Männern auf das eigene Geschlecht hingelenkt! Der große Philosoph und Denker wußte offenbar nichts davon, daß konträre Sexualempfindung in der Regel ab origine besteht, und daß im Senium allerdings vorkommende Päderastie an und für sich nur geschlechtliche Perversität, noch nicht aber Perversion erweist.

Vom psychologischen Standpunkt aus versuchte Binet die sonderbare Erscheinung zu erklären, indem er, in Anlehnung an Condillac, gleich wie bei andern seltsamen psychischen Phänomenen, sie mit dem Gesetz der Ideenassoziation, d. h. der Assoziation von Vorstellungen mit Gefühlen, im Entstehungsstadium zu begründen vermeinte. Der geistreiche Psycholog nimmt an, der bis dahin geschlechtlich undifferenzierte Trieb werde dadurch bestimmt, daß ein erstmaliger lebhafter sexueller Erregungsvorgang mit dem Anblick oder auch Kontakt einer Person des eigenen Geschlechts zusammentreffe. Dadurch werde eine mächtige Assoziation geschaffen, die sich durch Wiederholung festige, während der ursprüngliche assoziative Vorgang vergessen, bzw. latent werden könne. Diese Ansicht, welche auch von Schrenck-Notzing u. a. zur Erklärung der angeblich meist erworbenen konträren Sexualempfindung herangezogen wird, hält einer eingehenden Kritik nicht stand. Psychologische Momente sind zur Erklärung einer solchen schwer degenerativen Erscheinung nicht ausreichend.

Chevalier wendet auch mit Recht gegen Binet ein, daß durch einen solchen psychologischen Erklärungsversuch weder die Ursprünglichkeit der homosexuellen Triebe, d.h. ihr Vorkommen schon lange vor jeglicher assoziativer Verknüpfung von Sexualgefühlen mit Vorstellungen, noch die Abneigung gegen das andere Geschlecht, noch das oft so frühe Auftreten von sekundären psychischen Geschlechtscharakteren seine Erklärung finde. Bemerkenswert ist aber immerhin Binets feine Äußerung, daß derlei Haften von assoziativen Knüpfungen nur bei prädisponierten (belasteten) Individuen möglich sei.

Auch die von Seiten der Ärzte und Naturforscher ursprünglich versuchten Erklärungen entsprechen und befriedigen nicht. Gley behauptete, die konträr Sexuellen hätten ein weibliches Gehirn (!) bei männlichen Geschlechtsdrüsen, und das zugleich krankhafte Gehirnleben bestimme das Geschlechtsleben, während normalerweise die Geschlechtsdrüsen die sexuellen Funktionen des Gehirns bestimmten. Auch Magnan spricht vom Gehirn eines Weibes im Körper eines Mannes und umgekehrt; Ulrichs kommt der Sache etwas näher, indem er »anima muliebris virili corpori innata« behauptet und sich damit seine angeborene Effeminatio zu erklären versucht. Nach Mantegazza bestehen bei solchen konträr Sexuellen anatomische Anomalien, insofern durch einen »Fehler der Natur« die für die Genitalien bestimmten Nerven sich im Mastdarm verbreiten, so daß nur in diesem der wollüstige Reiz ausgelöst werde, der sonst durch Reizung der Genitalien erfolgt. Solche Errores loci und Saltus macht aber niemals die Natur, so wenig als sie ein weibliches Gehirn dem männlichen Körper beigibt. Der sonst scharfsinnige Autor dieser Hypothese übersieht ganz, daß der Anus (bzw. die Päderastie) von Homosexuellen in der Regel abgelehnt wird. Mantegazza beruft sich, um seine Hypothese zu stützen, auf die Mitteilungen eines bekannten hervorragenden Schriftstellers, der ihm versicherte, er sei mit sich noch immer nicht im reinen, ob er einen größeren Genuß bei dem Koitus oder der Defäkation empfinde. Die Richtigkeit dieser Erfahrung zugegeben, würde sie doch nur beweisen, daß der Betreffende sexuell abnorm und sein Wollustgefühl beim Koitus auf ein Minimum herabgesetzt war. Überdies ließe sich daran denken, daß abnormerweise seine Rektalschleimhaut besonders erogen wäre.

Bernhardi fand (zufällig) bei fünf Effeminierten keine Spermatozoen, bei vieren nicht einmal Spermakristalle und glaubte die »Lösung des mehrtausendjährigen Rätsels« dadurch gegeben, daß er annahm, der »Pathicus (Effeminierte) sei eine Mißgeburt weiblichen Geschlechts, die mit dem Manne nichts gemein habe als die in manchen Fällen nicht einmal völlig entwickelten männlichen Genitalien«. Auf einen Sektionsbefund, der eventuell Hermaphroditismus nachgewiesen hätte, vermochte sich dieser Autor indes nicht zu stützen. Gleichwohl erklärte er auch die aktiv vorgehende Tribade (Viragines und Gynandrier) für »eine Mißgeburt männlichen Geschlechts, der gegenüber die passive Tribade ein so vollkommenes Weib ist, wie der aktive Pädikator ein vollkommener Mann«.

Einen Versuch, Tatsachen der Heredität zur Erklärung der Anomalie zu verwerten, machte Krafft-Ebing, indem er auf Grund der Erfahrung, daß sexuelle Perversionserscheinungen nicht selten schon bei den Eltern vorkommen, die Vermutung aussprach, daß die verschiedenen Stufen angeborener konträrer Sexualempfindung verschiedene Grade erblich angezeugter, von der Aszendenz erworbener oder sonstwie entwickelter sexueller Anomalie seien, wobei auch das Gesetz der progressiven Vererbung in Betracht komme.

Gehen wir nun zu den Erklärungsversuchen über, die auf biologischer, anatomischer, embryologischer, anthropologischer Grundlage beruhen, so beginnen wir mit den Untersuchungen von Lydston und Kiernan. Sie fußen auf der Tatsache, daß die niedersten Tiere bisexuelle Organisation aufweisen, sowie auf der Annahme, daß die Monosexualität sich überhaupt erst aus der Bisexualität entwickelt habe. Kiernan nimmt nun an, indem er die konträre Sexualempfindung dem Begriffe des Hermaphroditismus unterzuordnen versucht, daß bei belasteten Individuen Rückschläge in frühe hermaphroditische Formen des Tierreichs wenigstens funktionell eintreten können. Er sagt wörtlich: »The original bisexuality of the ancestors of the race, shown in the rudimentary female organs of the male, could not fail to occasion functional, if not organic reversions, when mental or physical manifestations were interfered with by disease or congenital defect. It seems certain that a feminily functionating brain can occupy a male body and vice versa.«

Auch Chevalier geht von der ursprünglichen Bisexualität im Tierreich und von der im menschlichen Fötus ursprünglich vorhandenen bisexuellen Veranlagung aus. Die Differenzierung der Geschlechter mit markanten körperlichen und psychischen Geschlechtscharakteren ist ihm ein Resultat unendlicher Evolutionsvorgänge. Die seelisch-körperliche geschlechtliche Differenzierung geht der Höhe der Entwicklungsvorgänge parallel. Auch das Einzelwesen hat diese Evolutionsstufen durchzumachen – es ist ursprünglich bisexuell, aber im Kampf der männlichen und weiblichen Streitkräfte wird die eine besiegt, und es entwickelt sich, dem Typus der heutigen Evolution entsprechend, ein monosexuelles Individuum. Aber Spuren der unterdrückten Sexualität erhalten sich. Unter gewissen Umständen können diese »caracteres sexuels latents« Darwins Bedeutung gewinnen, d. h. Erscheinungen konträrer Sexualität hervorrufen. Chevalier faßt diese aber mit Recht nicht als Rückschlag (Atavismus) im Sinne Lombrosos u. a., sondern mit Lacassagne als Entwicklungsstörung auf.

Als Steinach seine innersekretorischen Forschungen veröffentlichte, glaubte man damit neue Möglichkeiten für die Erklärung der Homosexualität gewonnen zu haben. Gewisse Befunde Steinachs wurden von den Homosexuellen in einer recht unerfreulichen Agitation zu verwerten versucht; es stellte sich aber bei der Überprüfung heraus, daß nichts dafür sprach, daß die Hoden Homosexueller anders beschaffen seien als die Heterosexueller, bzw. daß sie andere Zellelemente (die F-Zellen Steinachs) enthielten. Und es sei noch gleich bemerkt, daß auch seit Steinach die Endokrinologie und die Hormonforschung kein Material beigebracht haben, das für die Erklärung der Homosexualität verwendbar wäre.

Zusammenfassend hat Krafft-Ebing folgende Punkte hervorgehoben:

1. Der Sexualapparat besteht aus a) den Geschlechtsdrüsen und den Befruchtungsorganen; b) spinalen Zentren, welche teils hemmend, teils erregend auf a) einwirken; c) zerebralen Gebieten, in welchen sich die psychischen Vorgänge des Geschlechtslebens abspielen.

Da die ursprüngliche Veranlagung von a) eine bisexuelle ist, muß dies auch für b) und c) vorausgesetzt werden.

2. Die Tendenz der Natur auf heutiger Entwicklungsstufe ist die Hervorbringung von monosexuellen Individuen, und ein empirisches Gesetz lautet dahin, daß normaliter das der Geschlechtsdrüse entsprechende zerebrale Zentrum sich entwickelt (Gesetz der sexuell homologen Entwicklung).

3. Diese Vernichtung konträrer Sexualität ist aber heutzutage noch nicht vollständig. Wie der Processus vermiformis am Darmrohr auf frühere Organisationsstufen hinweist, so finden sich auch am Sexualapparat, ganz abgesehen von hermaphroditischen Verbildungen (als Ausdruck teilweiser Entwicklungsexzesse oder Bildungshemmungen der Geschlechtsgänge und äußeren Genitalien), bei Mann oder Weib Residuen, welche auf die ursprüngliche onto- und phylogenetische Bisexualität hinweisen.

Es sind dies beim Manne der Utriculus masculinus (Reste der Müllerschen Gänge), ferner die Brustwarzen, beim Weibe das Paroophoron (Überbleibsel des Urnierenteils der Wolffschen Körper) und das Epoophoron (Reste der Wolffschen Gänge und Analogon der Epididymis des Mannes). Überdies haben beim Weibe Beigel, Klebs, Fürst u. a. Andeutungen der bei weiblichen Wiederkäuern regelmäßig in der Seitenwand des Uterus vorhandenen Reste der Wolffschen Körper in Gestalt der sogenannten Gartnerschen Kanäle vorgefunden. Diese Tatsachen stützen die Annahme einer auch zerebral vorhandenen bisexuellen Veranlagung des Geschlechtsapparates.

4. Nicht selten kommen Individuen vor, bei denen die körperlichen und psychischen Geschlechtscharaktere gemischt sind, oder bei denen diese sogar im Sinne des entgegengesetzten Geschlechts vorherrschen (Weibmänner oder Mannweiber).

5. Diese Erscheinungen konträrer Sexualität finden sich beim Menschen nur bei organisch belasteten Personen. Bei normal Organisierten bleibt das Gesetz der monosexuellen und der den Geschlechtsdrüsen homologen Entwicklung gewahrt.

Beim Hermaphroditismus zeigt sich, daß das zerebrale Zentrum sich unabhängig von den peripheren Geschlechtsorganen sowie von den Geschlechtsdrüsen entwickelt. Beim Pseudohermaphroditismus bleibt das obige Gesetz im Sinne monosexueller, der Geschlechtsdrüse homologer Entwicklung gewahrt, während sich allerdings beim wahren Hermaphroditismus sowohl physisch als psychisch beide Zentren beeinflussen, wodurch das Liebesleben bis zur Asexualität neutralisiert wird und ein deutliches Streben zur Geltendmachung und Vermischung beider Geschlechtscharaktere seelisch und körperlich auftritt.

Daß Hermaphroditismus und konträre Sexualempfindung aber an und für sich nichts miteinander zu tun haben, ergibt sich daraus, daß der Hermaphrodit nicht konträr sexuell ist, und daß umgekehrt, bei konträrer Sexualempfindung, bisher nie Hermaphrodisie anatomisch beobachtet wurde. Es erklärt sich dies aus der Verschiedenheit der Entstehungsbedingungen, die für die Homosexualität in zentralen (zerebralen), für die Hermaphrodisie in ausschließlich den peripheren Teil des Geschlechtsapparates treffenden Schädigungen gesucht werden müssen.

Krafft-Ebing hat die angeführten Tatsachen als ausreichend angesehen, um nachstehenden entwicklungsgeschichtlich und anthropologisch begründeten Versuch einer Erklärung der konträren Sexualempfindung zu geben. Es ist dabei sehr bemerkenswert, daß er die (eigentliche) Homosexualität und die »psychische Hermaphrodisie«, also das, was heute allgemein als Bisexualität bezeichnet wird, getrennt behandelt.

Nach Krafft-Ebing ist demzufolge bei der Homosexualität das empirische Gesetz verletzt, nach dem die Entwicklung der Geschlechtsdrüsen und des zerebralen Zentrums gleichartig erfolgt. Dabei bleibt wenigstens das Gesetz der monosexuellen Entwicklung gewahrt, wobei jedoch paradoxerweise das den Geschlechtsdrüsen gegensätzliche Zentrum den Sieg über das eigentlich zur Herrschaft bestimmte Zentrum davonträgt. Es muß dann angenommen werden, daß das zum Streit und zur Geltendmachung seiner Rechte berufene Zentrum zu schwach veranlagt ist, was sich auch vielfach in schwacher Libido und schwächlich ausgeprägten physischen und psychischen Geschlechtscharakteren zu erkennen gibt.

Bei der psychischen Hermaphrodisie erscheint nicht nur jenes ersterwähnte empirische Gesetz verletzt, sondern auch das der monosexuellen Artung des Individuums. Diese bleibt immerhin andeutungsweise erhalten, indem eines der beiden Zentren, und zwar regelmäßig das konträre, vorherrscht – jedoch ohne über das andere zu obsiegen. Es ist dies um so sonderbarer, als dem konträren Zentrum ja keine entsprechenden Geschlechtsdrüsen, überhaupt kein peripherer Sexualapparat zur Stütze dienen, was wohl als Beweis angesehen werden kann, daß das zerebrale Zentrum autonom und auch in seiner Entwicklung von den Geschlechtsdrüsen unabhängig ist.

Sehr wesentlich ist nun, daß Krafft-Ebing diese Verletzung von Naturgesetzen anthropologisch und klinisch als eine degenerative Erscheinung auffaßt. Er vermochte tatsächlich in allen Fällen von konträrer Sexualempfindung hereditäre Belastung nachzuweisen. Die Frage indessen, worauf dieser Faktor (die Belastung) und seine Wirksamkeit beruhe, vermochte Krafft-Ebing nicht zu beantworten.

An Analogien bei belasteten Individuen fehlt es nicht, denn als Ausdruck von offenbar schon im Zeugungskeim gelegenen, die körperliche und seelische Entwicklung störenden Einflüssen findet man bei der Homosexualität eine Fülle anderer Erscheinungen mangelhafter oder perverser Artung (also anatomische und funktionelle körperliche und seelische Entartungszeichen).

Die konträre Sexualempfindung ist aber nur die stärkste Ausprägung einer ganzen Reihe von Erscheinungen partieller Entwicklung seelischer und körperlicher konträrer Geschlechtscharaktere, und man kann geradezu sagen: je undeutlicher sich die psychischen und physischen Geschlechtscharaktere bei einem Individuum darstellen, um so tiefer steht dasselbe unter der durch ungezählte Jahrtausende hindurch erfolgten Züchtung zur heutigen Stufe vollkommen homologer Monosexualität.

Moll, der sein sehr großes Homosexuellenmaterial in vorbildlicher Weise wissenschaftlich ausgewertet hat, steht auf dem sehr richtigen Standpunkt, daß eine einheitliche Erklärung der Homosexualität schon mit Rücksicht auf die so zahlreichen wie wesentlichen Unterschiede kaum möglich ist, die diese Perversion und noch mehr ihre Betätigung zeigen. Moll weist weiters darauf hin, daß sich durchaus nicht notwendigerweise eine angeborene Disposition zu entwickeln brauche, sondern daß dazu vielfach bestimmte Voraussetzungen nötig seien, und daß nicht selten die Entwicklung einer solchen angeborenen Disposition überhaupt ausbleibe. Von besonderer Wichtigkeit ist schließlich Molls Hinweis auf die mangelhafte sexuelle Differenzierung als Grundlage der Homosexualität und auf die Bedeutung und Verbreitung der Bisexualität.

Wenn wir nun daran gehen, all das zusammenzufassen, so möchten wir zuerst eine bereits früher gemachte Feststellung wiederholen, nämlich die, daß wir heute kaum über die Anschauungen Krafft-Ebings hinausgekommen sind. Eine befriedigende Erklärung läßt sich für die Homosexualität ebensowenig, ja vielleicht noch weniger geben als für die andern Perversionen. Die sexualpsychologische Forschung hat immerhin dazu geführt, daß die Homosexualität bei weitem nicht mehr so rätselhaft erscheint wie früher einmal. Dazu hat besonders das Studium der kindlichen Psyche beigetragen; und wenn wir auch, wie bereits früher mehrfach erwähnt, das Kind nicht als »polymorph pervers« im Sinne Freuds auffassen, sondern als sexuell undifferenziert, so sind doch jedenfalls gewisse homosexuelle Züge beim Kind nicht zu übersehen. Von hier aus betrachtet, ist die Homosexualität beim Erwachsenen weit leichter verständlich, schon weil sich den älteren Erklärungen nunmehr die anreiht, daß die konträre Sexualempfindung als das Fortbestehen einer – normalerweise etwa im Pubertätsalter korrigierten – infantilen (homosexuellen) Einstellung zu betrachten ist. Diese Anschauung läßt sich ohne weiteres mit der Krafft-Ebings vereinen, da jenes Fortbestehen sehr wahrscheinlich nur bei angeborener Anlage (zur Homosexualität) möglich ist. Auch dort, wo diese sexuelle »Verirrung« ein Abirren vom normalen Lebenslauf, ein »Abweichen von der sexuellen Leitlinie« ist ( Adler), wird wohl eine angeborene Disposition zugrunde hegen. Nehmen wir noch dazu, daß bei zahlreichen Bisexuellen der Umschlag von der Hetero- zur Homosexualität durch Potenzschwäche und Potenzangst herbeigeführt wird, so finden wir bereits, daß auch die konträre Sexualempfindung im wesentlichen die gleichen Wurzeln hat wie die andern Abweichungen des Geschlechtstriebs. Die angeborene Disposition ist ja letzten Endes keine Erklärung eines Zustandes; ihre wirkliche Bedeutung liegt auf prognostischem, forensischem, sowie schließlich auf rassenbiologischem Gebiet.

Wie kaum bei einer andern Perversion muß man bei der Homosexualität das männliche und das weibliche Geschlecht getrennt besprechen. Die Gründe dafür sind teils praktischer, teils sozialer Natur, denn diese Triebabweichung ist ja dadurch gekennzeichnet, daß sie den ganzen Charakter des Individuums beeinflußt und umstimmt. Anders als z. B. der Masochist und der Sadist ist der homosexuelle Mann von seiner Perversion determiniert, besonders dann, wenn es sich um eine Effeminatio handelt. Es ist klar, daß dadurch auch seine Einstellung zum Leben und seine Stellung in der Gesellschaft weitgehend bedingt sind. Dazu kommt noch der sehr wichtige Faktor, daß die Homosexualität in den meisten Kulturstaaten unter Strafsanktion steht, so daß der Homosexuelle nicht nur aus gesellschaftlichen, sondern auch aus juristischen Gründen gezwungen ist, seine Perversion geheimzuhalten. Bei der Frau liegen die Dinge, wie auf den ersten Blick erhellt, wesentlich anders. Denn so ziemlich der einzige Nachteil, der sich für sie aus der Homosexualität ergibt, besteht in der Unmöglichkeit oder doch zumindest verringerten Möglichkeit, sich mit einem Manne zu verbinden bzw. die Vorteile der Ehe zu erlangen. Auch dann, wenn der perverse Trieb zur Viraginität führt, sind damit soziale und gesellschaftliche Nachteile kaum verbunden, es kann sogar im Gegenteil zu einer Entwicklung verschiedener im praktischen Leben wertvoller Fähigkeiten und damit zu Erfolgen im Beruf usw. kommen.

Die soziale Bedeutung der Homosexualität hat dazu geführt, daß in einem gewissen Gegensatz zu andern Perversionen verschiedentlich versucht wurde, die Zahl der Homosexuellen, bzw. den Hundertsatz der Bevölkerung, den sie bilden, festzustellen – obwohl zweifelsohne zumindest im europäischen Kulturkreis der Masochismus unter der männlichen Bevölkerung stärker verbreitet ist als die Homosexualität. Wirklich brauchbare Ergebnisse sind aber in dieser Hinsicht unserer Ansicht nach bisher noch nicht zu verzeichnen. Umfragen, wie sie unter Hochschülern oder Arbeitern angestellt wurden, ergaben einen Hundertsatz zwischen 4½ und 6 %. In Wirklichkeit dürften aber diese Ziffern viel zu hoch sein, und zwar deshalb, weil sich unter den Befragten verhältnismäßig viele noch bisexuelle Individuen befanden, bei denen offenbar infolge ihrer Jugend die endgültige sexuelle Differenzierung noch nicht eingetreten war. Ebensowenig verwendbar sind die Angaben, die homosexuelle Männer in dieser Beziehung machen. Gehört es doch zum Charakterbild des Homosexuellen, die Perversion, also das, was ihn von seinen Geschlechtsgenossen im allgemeinen unterscheidet, möglichst vielen Personen zuzuschreiben, was wohl in letzter Linie auf ein Kompensationsbestreben zurückzuführen ist (die Homosexualität wird, bewußt oder unterbewußt, als Defekt und somit als unlustbetont empfunden, und im Bestreben, zu einer Korrektur dieser Empfindung zu gelangen, wird gewissermaßen über das Ziel geschossen, also überkompensiert, wobei die Annahme einer möglichst großen Zahl von Schicksalsgenossen offenbar als denktechnisches Hilfsmittel Verwendung findet). Auch die von verschiedenen Psychoanalytikern bei Analysen anscheinend heterosexueller Fälle festgestellte Homosexualität ist nur mit großer Vorsicht verwendbar, da bei der Erhebung der jugendlichen Homosexualität das Stadium der sexuellen Undifferenziertheit aufgeschlossen wird, in dem selbstverständlich auch homosexuelle Strömungen zu finden sind. Alles in allem wird man aber auch bei vorsichtigster Beurteilung die Zahl der Homosexuellen als nicht gering ansehen dürfen und schätzungsweise etwa 1 % aller erwachsenen Menschen des europäischen Kulturkreises als homosexuell zu betrachten haben.

So wie die meisten der sexuellen Triebabweichungen tritt auch die Homosexualität nicht selten mit andern Perversionen verbunden auf; am häufigsten ist die Kombination von Homosexualität, Sadismus und Pädophilie. Als Musterbeispiel möchten wir auf den beim Sadismus besprochenen Fall Dippold hinweisen. Es ist eine der betrüblichsten Erscheinungen der europäischen Zivilisation, daß noch immer wieder Fälle vorkommen, in denen gewissenlose Lehrer die ihrer Obhut anvertrauten Knaben zu sadistischen und gleichzeitig homosexuellen Akten mißbrauchen. Seltener beim Manne, häufiger bei der Frau ist die Verbindung von Homosexualität und Masochismus. Aber auch andere Perversionen, zumal der Fetischismus, können homosexueller Natur sein.

Von Bedeutung für die Homosexualität ist ferner, ob das Sexualobjekt, beim Mann also der Mann, beim Weibe das Weib, in einem bestimmten Alter stehen muß oder nicht. Von »reiner« Homosexualität könnte eigentlich nur dort die Sprache sein, wenn das begehrte Individuum bereits zur vollen körperlichen und sexuellen Entwicklung gelangt ist. Es gibt natürlich auch solche Fälle, häufiger aber findet man Beziehungen, in denen die Homosexuellen – beiderlei Geschlechts! – nach wesentlich jüngeren Personen suchen. Es kann sich dies bis zur echten Pädophilie entwickeln, bei der es sich um Kinder im Vorpubertäts- oder höchstens im Pubertätsalter handelt, oder es kann, was im allgemeinen die häufigste Form homosexueller Beziehungen sein dürfte, das sexuelle Begehren auf Jünglinge und junge Mädchen abzielen. Es muß dabei in Betracht gezogen werden, daß homosexuelle Akte an Kindern deshalb verhältnismäßig häufig ausgeführt werden, weil die Angst vor sozialen und juristischen Folgen hier geringer ist, als wenn es sich um erwachsene Personen handelt.

Die Bedeutung und vor allem die Verbreitung der Bisexualität, der »psychischen Hermaphrodisie« Krafft-Ebings, wurde erst verhältnismäßig spät erkannt, ist jedoch so beträchtlich, daß schon deshalb eine eigene Erörterung am Platze ist. Außerdem unterscheidet sich die Bisexualität von der Homosexualität dadurch, daß sie noch zahlreiche Verbindungen mit dem Normalen aufweist, so sehr, daß sie kaum als eigentliche Perversion anzusprechen ist, und das sogar in der Mehrzahl der Fälle.

Krafft-Ebing, der ja, wie bereits gesagt, die Bisexualität als psychische Hermaphrodisie beschrieben und als erste Stufe der konträren Sexualempfindung betrachtet hat, hat als für sie kennzeichnend angegeben, daß neben ausgesprochen sexueller Empfindung und Neigung zum eigenen Geschlecht solche zum andern vorgefunden wird. Diese ist aber viel schwächer und zudem nur zeitweilig vorhanden, während die homosexuelle Empfindung primär und nach Zeit wie nach Stärke vorwiegend im Geschlechtsleben zutage tritt. Die heterosexuelle Empfindung kann nur andeutungsweise vorhanden sein, allenfalls sich bloß im unbewußten (Traum-)Leben geltend machen oder aber (wenigstens zu Zeiten) mächtig zutage treten. Dabei besteht aber immer die Gefahr, den homosexuellen Empfindungen, die ja mächtiger veranlagt sind, ganz anheimzufallen und zu dauernder und ausschließlicher konträrer Sexualempfindung zu gelangen.

Wir haben bereits früher betont, daß die Bisexualität in vielen Fällen kaum die Grenzen des Normalen überschreitet, und stehen schon deshalb nicht völlig auf dem Standpunkt Krafft-Ebings. Es gibt nämlich zweifelsohne sehr zahlreiche Fälle, in denen der Sexualverkehr mit Personen gleichen Geschlechts, der vom normalen Menschen doch stärker abgelehnt wird als eine andere Perversion, ohne inneren Widerstand oder Hemmung vollzogen wird. Wenn wir auch durchaus von der Notwendigkeit überzeugt sind, Perversion und Perversität zu trennen, so möchten wir doch gerade dort, wo die homosexuelle Note hineinspielt, annehmen, daß die perverse Handlung, die Perversität, nur bei perverser Einstellung, also bei Perversion, möglich ist, zumindest wenn es sich um erwachsene Personen handelt. In der Praxis liegen die Dinge so, daß weit häufiger, als aus dem ärztlichen Material, den Krankengeschichten und ähnlichen Belegen hervorgeht, bisexuelle Neigungen bestehen, wobei die homosexuelle Komponente weder stark genug ist, um erhebliche Schwierigkeiten bei der Auffindung und Eroberung des Sexualpartners zu überwinden, noch die betreffende Person zwingt, dauernd homosexuellen Geschlechtsverkehr zu suchen. Es ist dabei sehr wesentlich, daß solche Menschen eine deutliche Vorliebe für Personen haben, bei denen die sekundären Geschlechtscharaktere schwach und undeutlich ausgeprägt sind. So kommen für bisexuelle Männer als Partner einerseits bartlose Jünglinge mit annähernd weiblichen Körperformen in Betracht, oder aber anderseits Frauen, deren Typus ins Männliche hinüberspielt, mit breiten Schultern, schmalen Hüften, unentwickelten Brüsten usw. Bisexuelle Frauen bevorzugen ganz ähnliche Typen. Man hat vielfach angenommen, daß es sich hier um einen überzüchteten Ästhetizismus handelt, um eine Überkultur oder dergleichen, und es ist bekannt, daß diese Anschauungen am stärksten von den bisexuellen Personen selbst vertreten werden. In Wirklichkeit handelt es sich da um einen sexuellen Infantilismus, um ein Fortbestehen der sonst nur in der Kindheit, also vor dem Pubertätsstadium, vorkommenden mangelhaften geschlechtlichen Differenzierung. Es erscheint immerhin möglich, daß der für die Bisexualität so bezeichnende geschlechtliche Spieltrieb dem kindlichen Spieltrieb nicht fernsteht.

Man findet bei dieser Gruppe stets auch eine ganze Reihe verschiedener perverser Akte. Der normale Koitus kommt für die Bisexuellen auch beim Verkehr mit Partnern des andern Geschlechts in der Regel nur als Notbehelf in Frage. An seine Stelle treten mutuelle Onanie und Cunnilinguus; auch die Verbindung mit andern Perversionen wie Pädophilie, Sadismus, Triolismus usw. ist nicht selten.

Gerade bei der Bisexualität spielt die in diesem Buche bereits so vielfach als Ursache verschiedener Triebabweichungen aufgezeigte Potenzangst und Potenzschwäche eine beträchtliche Rolle. Sie ist hier aber manchmal auch so zu verstehen, daß Potenzstörungen beim normalen, also heterosexuellen Geschlechtsverkehr deshalb auftreten, weil eigentlich eine Neigung zum eigenen Geschlecht vorliegt, so daß dann also deutlicher ausgeprägte sekundäre Geschlechtscharaktere, wie Brüste, Hüften usw., hemmend auf den Geschlechtstrieb einwirken und somit die Durchführung des Aktes unmöglich machen. Es ist für die Beurteilung solcher Fälle sehr wesentlich, den wahren Sachverhalt festzustellen.

Die der Potenzschwäche des Mannes ziemlich analoge Frigidität der Frau ist demnach auch im Rahmen der Bisexualität keine Seltenheit. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß manchen Fällen von Frigidität nichts anderes zugrunde liegt als eine latente Homosexualität, die begreiflicherweise das Zustandekommen der geschlechtlichen Befriedigung beim heterosexuellen Verkehr unmöglich macht. Von praktischer Bedeutung ist es ferner, daß gerade Frauen mit einem überreichen Liebesleben, gleichgültig ob dieses freiwillig oder unter Zwang (Prostitution) zustande kommt, bisexuell eingestellt sind oder sich zumindest solcherart betätigen. Überhaupt ist die Bisexualität unter Frauen zweifelsohne stärker verbreitet als unter Männern, wobei es sicher eine große Rolle spielt, daß, wie gleichfalls früher erwähnt, beim weiblichen Geschlecht ein Stehenbleiben auf der sexuellen infantilen Stufe recht häufig ist (klitorieller Erregungstypus). Die Notwendigkeit, auf dem Wege über den Cunnilinguus zum Orgasmus zu gelangen, legt schon an und für sich den homosexuellen – lesbischen – Verkehr nahe, der noch dadurch begünstigt wird, daß soziale Folgen schädlicher Art bei der Frau so ziemlich wegfallen.

Gehen wir nun zu den Krankengeschichten über, so haben wir darauf hinzuweisen, daß zweifelsohne der größte Teil aller Bisexuellen gar nicht zur ärztlichen Beobachtung, Beratung und Behandlung kommt. Die nachstehenden Fälle sind durchwegs schwere Formen; bezeichnend für sie ist die hier eigentlich stets nachzuweisende Verbindung der Bisexualität mit andern Perversionen.

Beobachtung 164. X., 36 Jahre, Privatmann, suchte mich wegen einer Anomalie seines sexuellen Fühlens auf, die ihn die beabsichtigte Eingehung einer Ehe bedenklich erscheinen lasse. Patient stammt von neuropathischem Vater.

Sehr frühes Erwachen des Sexualtriebes; mit 8 Jahren, ohne alle Verführung, begann er zu masturbieren, vom 14. Jahre ab normale Ejakulation. Patient war geistig gut veranlagt, interessierte sich auch für Kunst und Literatur. Er war von jeher muskelschwach und hatte nie Neigung zu Knabenspielen und auch später nicht zu männlicher Beschäftigung. Er hatte ein gewisses Interesse für weibliche Kleidung, Putz und Beschäftigung. Schon von der Pubertät an bemerkte Patient eine ihm unerklärliche Neigung für männliche Personen, besonders sympathisch waren ihm junge Burschen aus den untersten Volksklassen.

Ganz besonders zogen ihn Kavalleristen an. Impetu libidinoso saepe affectus est ad tales homines aversos se premere. Quodsi in turba populi, si occasio fuerit, bene successit, voluptate erat perfusus; ab vigesimo secundo anno interdum talibus occasionibus semen eiaculavit. Ab hoc tempore idem factum est si quis, qui ipsi placuit, manum ad femora posuerat. Ab hinc metuit ne viris manum adferret. Maxime periculosos sibi homines plebeios fuscis et adstrictis bracis indutos esse putat. Summum gaudium ei esset si viros tales amplecti et ad se trahere sibi concessum esset; sed patriae mores hoc fieri vetant. Paederastia ei displacet: magnam voluptatem genitalium virorum adspectus ei affert. Virorum occurrentium genitalia adspici semper coactus est. Im Theater, Zirkus usw. interessieren ihn nur männliche Darsteller. Eine Neigung zu Damen will Patient nie bemerkt haben. Er geht ihnen nicht aus dem Wege, tanzt sogar gelegentlich mit ihnen, aber er verspürt dabei nie die geringste sinnliche Regung.

Nun kamen gehäufte Schlafpollutionen, die ihn sehr schwächten. Nur sehr selten träumte er anläßlich dieser Pollutionen von Männern, nie von Weibern. Nur einmal trat ein laszives Traumbild (daß er päderastiere) ein. Sonst träumte er dabei von Sterbeszenen, Angefallenwerden von Hunden und dergleichen. Patient litt nach wie vor unter größter Libido sexualis. Oft kamen ihm wollüstige Gedanken, im Schlachthaus sich am Verenden der Tiere zu weiden oder auch sich von Burschen prügeln zu lassen, jedoch widerstand er solchen Gelüsten, ebenso dem Drang, in militärische Uniform sich zu kleiden.

Um die Masturbation loszuwerden und seine Libido nimia zu befriedigen, entschloß er sich, das Lupanar aufzusuchen. Den ersten Versuch, mit dem Weibe sexuell sich zu befriedigen, machte er, nach reichlichem Weingenuß, mit 21 Jahren. Die Schönheit des weiblichen Körpers, überhaupt jede nackte Frau war ihm ziemlich gleichgültig. Er war aber imstande, den Koitus mit Genuß auszuführen, und besuchte von nun an das Bordell regelmäßig aus »Gesundheitsrücksichten«.

Von nun an gewährte es ihm auch großen Genuß, sich von Männern ihre sexuellen Beziehungen mit Personen des andern Geschlechts erzählen zu lassen.

Auch im Lupanar kommen ihm häufig Flagellationsideen, jedoch bedarf er nicht der Festhaltung solcher Bilder, um potent zu sein. Er betrachtet den sexuellen Verkehr im Lupanar nur als Auskunftsmittel gegen den Drang zur Masturbation und zu Männern, als eine Art Sicherheitsventil, damit er sich nicht einmal einem sympathischen Manne gegenüber kompromittiere.

Patient möchte nun heiraten, aber er fürchtet, daß er keine Liebe und dann auch keine Potenz einer anständigen Dame gegenüber haben werde. Daher seine Bedenken und sein Bedürfnis nach ärztlichem Rat.

Patient ist eine sehr intelligente Persönlichkeit, eine durchaus männliche Erscheinung. Auch in Kleidung und Haltung bietet er nichts Auffälliges. Gang, Stimme sind durchaus männlich, gleichwie Skelett, besonders Becken. Die Genitalien sind ganz normal entwickelt. Sie sind, gleichwie das Gesicht, reichlich behaart. Niemand von den Angehörigen und Bekannten des Patienten ahnt etwas von seinen sexuellen Anomalien. Bei seinen konträr sexuellen Phantasien will er sich nie in der Rolle des Weibes dem Manne gegenüber gefühlt haben. Seit einigen Jahren ist Patient von neurasthenischen Beschwerden fast ganz frei geworden.

Die Frage, ob er sich für angeboren konträr sexuell halte, vermag er nicht zu beantworten. Es scheint, daß eine ab origine sehr schwache Neigung zum Weib, bei großer zum Mann, durch sehr früh eingetretene Masturbation zugunsten konträrer Sexualempfindung noch mehr abgeschwächt wurde, ohne aber ganz auf Null zu sinken. Mit dem Aufhören der Masturbation besserte sich dann wieder einigermaßen die Empfindung für das Weibliche, jedoch nur in grob sinnlicher Weise.

Da Patient erklärte, aus Familien- und geschäftlichen Rücksichten heiraten zu müssen, mußte diese heikle Frage ärztlich beantwortet werden. Glücklicherweise beschränkte sich Patient darauf zu fragen, ob er als Ehemann potent sein werde. Die Antwort berücksichtigte den Umstand, daß er an und für sich potent war, so daß er es voraussichtlich auch im ehelichen Verkehr mit seiner Frau wohl sein werde, wenn sie ihm wenigstens geistig sympathisch sei. Überdies könne er ja, indem er mit seiner Phantasie geeignet nachhelfe, jederzeit seine Potenz verbessern ( Krafft-Ebing).

Dieser Fall ist sehr bezeichnend für jene bisexuellen Naturen, bei denen das gesamte Geschlechtsleben von der Norm abgewichen erscheint. Sadistische und masochistische Regungen lassen sich ebenso erkennen, wie eine sogar recht deutlich fetischistische Note. Es kommen hier sowohl verspäteter Infantilismus wie Potenzangst als Ursachen in Betracht, und es ist sehr wichtig, daß die Hauptfrage, die an den Arzt gerichtet wird, der Potenz gilt. Begreiflich also, daß solche Menschen der Frau ausweichen, weil es bei ihr ja auf den die volle Potenz erfordernden Koitus ankommt.

Beobachtung 165. Herr X., 42 Jahre, Beamter, datiert seine konträre Sexualempfindung von einer Rauferei mit einem Schulkameraden her, als er zehn Jahre alt war. Er sei bei diesem Raufen dem andern zufällig an die Genitalien geraten. Dieser sei sofort still geworden, habe sich ihm später genähert, ihn zu mutueller Masturbation verführt. X. empfand den sich mit dem um zwei Jahre älteren Kameraden entwickelnden sexuellen Verkehr höchst angenehm, setzte ihn später mit andern jungen Leuten fort. Von der Pubertät ab schwärmte er geradezu für junge Leute, besonders Kellner Kellner spielen überhaupt in der Vita sexualis der Homosexuellen eine große Rolle (wahrscheinlich auf fetischistischer Grundlage)..

Mit 20 Jahren erkannte er die Abnormität seiner Vita sexualis, näherte sich Frauen, war aber vom Akt mit solchen angewidert und kaum potent.

Er gewann es über sich, homosexuellen Verkehr zu meiden, entsagte auch dem mit Frauen, lernte mit 24 Jahren eine Ballerine kennen, war entzückt von ihr, vollkommen potent und höchst befriedigt beim Koitus. Derselbe Erfolg in den nächsten Jahren auch mit andern Frauen. Mit dem 30. Jahre schwand diese sexuell normale Episode seines Lebens. Er verlor immer mehr die normale Libido, verkehrte seit fünf Jahren gar nicht mehr heterosexuell, griff wieder zu Masturbation, trieb mutuelle mit 17- bis 20jährigen Burschen, die ihn sehr befriedigte, aber ihn in unangenehme Erpressungsangelegenheiten verwickelte.

Neuerlich bestanden seine sexuellen Akte in bloßem Küssen, Umarmen, da schon dabei Orgasmus und Ejakulation erfolgten.

Die psychische Persönlichkeit des X. ist abnorm. Er ist intellektuell beschränkt, in seinem ganzen Wesen eckig, eigenartig, entschieden psychopathisch minderwertig. Über seine früh gestorbenen Eltern weiß er keine Mitteilungen zu machen. Er ist einziges Kind. Körperbau und äußere Erscheinung durchaus männlich ( Krafft-Ebing).

Krafft-Ebings Einteilung der Homosexualität in verschiedene Stufen beginnt mit jener Gruppe, bei der ausschließlich sexuelle Empfindung und Neigung zu Personen desselben Geschlechts vorliegt, wobei sich aber diese Anomalie nur auf die Vita sexualis beschränkt, auf den Charakter und die gesamte geistige Persönlichkeit hingegen nicht tiefer und auch nicht belastend einwirkt.

Bei diesen Homosexuellen ist das Geschlechtsleben grundsätzlich gleich dem normaler heterosexueller Menschen. Indes erscheint vielleicht eben wegen der Verkehrung des Geschlechtstriebes das Liebesleben hier verzerrt, gewissermaßen karikiert, was noch dadurch gesteigert wird, daß diese Homosexuellen gewöhnlich auch Hypersexuelle sind, so daß ihre Liebe zur schwärmerischen Brunst neigt. Das zeigt sich in positivem Sinn, also in besonders innigem Anhängen an den geliebten Mann, im Wunsch nach andauernder enger Verbindung mit ihm, noch mehr aber negativ durch Eifersucht, die nicht selten die übertriebensten Formen annimmt, durch unglückliche Liebe usw.

Der Homosexuelle dieser Stufe oder auch der schlechthin Homosexuelle wird nur von Männern angezogen und gefesselt; weibliche Reize sind ihm gleichgültig und selbst zuwider. Trotzdem kommt es vor, daß sich solche Homosexuelle verheiraten, gewöhnlich aus äußeren Gründen, manchmal auch aus ethischen Rücksichten. Solche Ehen können sogar konsumiert werden, wenn es gelingt, sich durch eine entsprechende Anstrengung der Phantasie statt der Gattin eine geliebte männliche Person vorzustellen (relative Potenz). Der Koitus ist aber ein schweres Opfer, kein Genuß; zu seiner Ausführung werden verschiedene Hilfsmittel angewendet, wie Alkohol, Drogen usw.; auch zufällig etwa durch den Füllungszustand der Blase bewirkte Erektionen werden für den coitus maritalis verwertet. Am wichtigsten ist es, daß es gelingt, die für solche Menschen mit dem Weibe unabtrennbar verbundenen sexuellen und erotischen Hemmungen zu kompensieren. Vom Geschlechtsverkehr abgesehen, lehnen aber solche Homosexuelle den Umgang mit Frauen keineswegs ab, wobei ihnen allerdings Vorzüge des Geistes wichtiger sind als ästhetische Momente.

Die Art und Weise, in der die sexuelle Befriedigung herbeigeführt wird, ist auf dieser Stufe sehr verschieden. Ein großer Teil der Homosexuellen ist mit sexueller Neurasthenie behaftet, und es genügt also schon deshalb ein verhältnismäßig geringer Kontakt mit dem Geliebten, wie er z. B. beim Tanzen – aber auch beim Sport – vorkommt, um den Orgasmus herbeizuführen. Sehr verbreitet ist ferner die Onanie in Verbindung mit lebhaften Phantasievorstellungen, auch mutuelle Masturbation ist keineswegs selten. Die Päderastie tritt sehr stark zurück. Es gibt allerdings auf dieser Stufe auch eine Reihe von Homosexuellen, die gleichzeitig mit einer ästhetischen Parästhesie – bei gleichzeitiger sexueller Hyperästhesie – behaftet sind, die geradezu an Fetischismus denken läßt; diese Triebabweichung nötigt dann zum Verkehr mit sozial tiefer stehenden, oft gänzlich verkommenen Männern, mit denen außer der Päderastie auch andere oft unvorstellbar scheußliche Perversitäten vorgenommen werden. Praktisch wichtig ist es, daß die Homosexuellen dieser Stufe im allgemeinen Verkehr mit gleichaltrigen Männern oder vollerwachsenen Jünglingen suchen, so daß also Knabenschändung nur ausnahmsweise vorkommt, wie überhaupt unreife männliche Individuen in der Regel abgelehnt werden, abgesehen natürlich von dem stets zu berücksichtigenden Umstand, daß so manchesmal sexueller Verkehr mit Knaben oder ganz jungen Männern sozial und juristisch gefahrloser ist als mit gleichaltrigen Personen ausgeführte Perversitäten.

Bei aller Reserve, die wir der Einteilung der Homosexualität in Stufen und Gruppen entgegenbringen, müssen wir doch auch für die hier besprochene Stufe das Verhältnis festlegen, in dem hier Geschlechtsleben und Persönlichkeit zueinander stehen. Grundsätzlich läßt sich sagen, daß hier noch kein Zusammenhang zwischen Perversion und sozialer Einstellung und Betätigung besteht. Charakter und Beschäftigung bleiben also dem anatomischen Geschlecht des betreffenden Individuums entsprechend. Gleichzeitig fügen sich solche Homosexuelle bei Sexualakten meistens in die Rolle, die ihnen bei heterosexuellem Fühlen zukäme. Gerade in letzter Beziehung läßt sich indessen gegen die nächste Stufe Krafft-Ebings hin (Effeminatio) keine deutliche Grenze ziehen.

Gehen wir nun zu den Krankengeschichten über, so werden wir zumindest in schweren Fällen stets hereditäre Belastung finden; auch die Verbindung mit andern Perversionen und Perversitäten ist hier keine Seltenheit.

Beobachtung 166. Herr H., 30 Jahre, den höheren Ständen angehörig, stammt von neuropathischer Mutter. Seine Geschwister sind nervenkrank, er selbst ist seit der Pubertät konstitutionell neurasthenisch.

Schon als Knabe fühlte er sich zu Mitschülern hingezogen. 14 Jahre alt paedicatus est (von einem älteren Kameraden). Er habe sich das gerne gefallen lassen, aber hinterher große Reue empfunden und sich nie mehr zu einer solchen Verirrung hergegeben. Herangewachsen trieb er mutuelle Masturbation. Mit wachsender Neurasthenie genügte es ihm, eine Person des eigenen Sexus zu umarmen, an sich zu pressen, um zur Ejakulation zu gelangen. Dies war nun fortab die Art seiner Befriedigung. Zu weiblichen Personen fühlte er sich nie hingezogen. Seiner Anomalie war er sich bewußt. Vom 20. Jahre ab machte er energische Versuche apud puellas, um seine Vita sexualis zu sanieren. Bis dahin hatte er seine abnormen Gelüste nur für jugendliche Verirrung gehalten. Es gelang ihm cum muliere zu koitieren, aber er fühlte sich davon ganz unbefriedigt und wandte sich wieder dem Manne zu. Seine Vorliebe sind 18-20Jährige. Ältere Männer sind ihm nicht sympathisch. H. empfindet seine soziale Situation peinlich. Er fürchtet beständig Entdeckung seiner Perversion und erklärt, eine solche Schande nicht überleben zu können. Nichts in Habitus und Benehmen verrät den konträr Sexualen. Genitalien normal entwickelt, überhaupt keine Degenerationszeichen. An die Möglichkeit einer Änderung seiner abnormen Sexualität glaubt er nicht. Das weibliche Geschlecht hat für ihn nicht das geringste Interesse ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 167. Herr Y., 40 Jahre, Fabrikant, stammt von neuropathischem Vater, der an Apoplexia cerebri starb. In der mütterlichen Familie sind mehrfach Herderkrankungen des Gehirns vorgekommen. Zwei Geschwister des Patienten sind sexuell normal, aber konstitutionell neuropathisch, gleichwie Patient selbst. Derselbe versichert, ohne alle Verführung seit dem 8. Jahre zu Masturbation gekommen zu sein. Seit dem 15. Jahre habe er sich zu gleichaltrigen schönen Knaben hingezogen gefühlt, deren mehrere er zu mutueller Masturbation verführt habe. Herangewachsen, waren es ausschließlich Jünglinge von 17 bis 20 Jahren, bartlos, von schönen, weiblich mädchenhaften Zügen, die ihn fesselten, während das weibliche Geschlecht auch nicht den geringsten Reiz für ihn besaß.

Früh gelangte Y. zur Erkenntnis, daß seine Vita sexualis pathologisch geartet sein müsse; er empfand aber die Befriedigung seiner abnormen Bedürfnisse als naturgemäß und erklärte sich damit, daß er, obwohl feinfühlig und streng moralisch, über Bedenken, solchen Trieben zu folgen, hinwegkam. Ekelhaft erschienen ihm nur die Berührung des Weibes, die er nur zweimal erfolglos versuchte, und Automasturbation, die er, sinnlich sehr bedürftig, notgedrungen und ohne seelische Befriedigung ausübte. Er versicherte, daß er redlich gegen seinen furchtbaren Trieb, der ihn fast vogelfrei erscheinen lasse, und der von aller Welt als grauenhaft hingestellt werde, angekämpft habe, aber umsonst, denn in seiner Befriedigung habe er nur etwas seiner Natur Vorgeschriebenes zu tun empfunden. Dem Manne gegenüber habe er sich immer in aktiver Rolle gefühlt und auf vom Gesetz nicht verbotene Betätigung beschränkt. Gleichwohl verwickelte sich Y. in Erpressungen, verlor seine geachtete und einträgliche Stellung, führte ein trauriges Wanderleben, bis er sich entschloß, über Meer eine neue Existenz sich zu gründen, das ihm auch bei seiner Geschicklichkeit und Ehrenhaftigkeit gelang.

Als ich Y. kennenlernte, war er der Verzweiflung und dem Selbstmord nahe, zumal da eine von einem erfahrenen Arzt unternommene Suggestivbehandlung, auf die Y. seine letzte Hoffnung gesetzt hatte, wegen Nichthypnotisierbarkeit vollkommen fehlgeschlagen hatte.

Außer Zeichen neurasthenischer Verfassung, teils aus Anlage, teils aus Abstinenz und Gemütsbewegungen, ferner kleinem Penis, bei sonst wohlgebildetem Genitale, fand ich an Y. nichts Pathologisches. Die sekundären physischen und psychischen Geschlechtscharaktere waren durchaus männlich ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 168. Herr P., 37 Jahre, stammt von einer sehr nervösen und mit konstitutioneller Migräne behafteten Mutter. Er selbst hat als Junge an Hysteria gravis gelitten, von jeher sich nur zu hübschen jungen Männern hingezogen gefühlt und beim Anblick ihrer Genitalien sich sehr aufgeregt. Bald nach der Pubertät begann er mutuelle Masturbation mit Männern. Nur solche, die etwa 25 bis 30 Jahre alt sind, haben für ihn Anziehungskraft. Er fühlt sich in weiblicher Rolle beim homosexualen Akt, versichert, daß er mit der ganzen Glut seiner Seele weiblich liebe, nur die Pose des Mannes, gleich einem Schauspieler, habe. Schon als Junge habe man ihn seiner weibischen Gesten und Gesinnungen wegen verspottet. Mädchen machten nie auf ihn Eindruck. In der Meinung, seine Vita sexualis sanieren zu können, heiratete er ohne alle Neigung vor einigen Jahren. Er zwang sich zum coitus cum uxore, war sogar potent, indem er sich statt der Frau einen jungen Mann dachte, und zeugte ein Kind. Allmählich wurde er aber neurasthenisch, seine Phantasie erlahmte und damit seine Potenz. Er mied seit 2 Jahren den coitus maritalis, wandte sich wieder dem homosexualen Verkehr zu und ließ sich kürzlich an einem öffentlichen Orte inter masturbationem mutuam mit einem jungen Manne betreten.

Er entschuldigt dies damit, daß er, durch längere Abstinenz sehr libidinös, beim Anblick der Genitalien eines Mannes in einen förmlichen Affekt geraten sei »wie berauscht« und sich in einer Art Sinnesverwirrung damals befunden habe ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 169. Herr N., 41 Jahre, ledig, stammt aus einer Verwandtenehe. Die Eltern sollen psychisch normal gewesen sein, ein Vatersbruder war in der Irrenanstalt. Die Brüder des N. sollen hyper-, aber heterosexual sein. Schon mit 9 Jahren fühlte sich N. sinnlich zu Kameraden hingezogen. Mit 15 Jahren begann er mit solchen mutuelle Masturbation zu treiben, später auch Koitus inter femora.

Mit 16 Jahren ging er ein Liebesverhältnis mit einem jungen Manne ein. Seine Liebe zum eigenen Geschlecht habe sich genau so entwickelt, wie er sie in Romanen zwischen Mann und Weib geschildert fand.

Nur schöne junge Männer von etwa 20 bis 24 Jahren reizten ihn. Seine erotischen Träume waren ausschließlich homosexual. Er fühlte sich dabei in weiblicher Rolle, desgleichen im Verkehr mit Männern.

Er behauptet, von Kindesbeinen an eine mehr weibliche Seele gehabt zu haben. Er interessierte sich nicht für Knabenspiele, wohl aber für Kochen und weibliche Arbeiten. Auch später hatte er keine Lust zu männlichem Sport, kein Vergnügen am Rauchen und Trinken. In seinem bewegten Leben hatte er eine Episode als Koch in einem überseeischen Lande, wo seine Leistungen ganz zufriedenstellend waren. Er verlor diese Stelle dadurch, daß er mit dem Sohne des Dienstgebers eine Liebschaft anfing.

Vom 22. Jahre ab erkannte er, daß er auf abnormen sexuellen Bahnen sich bewege. Er war davon beunruhigt, versuchte einen Umschwung seiner Empfindungen, indem er sich zum Besuch von Bordellen zwang, empfand dabei aber nur Ekel, brachte es nicht einmal zu einer Erektion. Eines Tages machte er, verzweifelt über seine Situation und die Entdeckung seiner Schande durch die Familie, einen Selbstmordversuch. Von seiner Wunde genesen, ging er in fremde Länder, fühlte sich nach wie vor sehr unglücklich, mit sich zerfallen, von seiner Familie ausgestoßen. Es blieb ihm nur die Hoffnung, daß ihn mit zunehmendem Alter seine Neigung zum Manne verlassen werde ( Krafft-Ebing).

Die nächste Gruppe Krafft-Ebings, die Effeminatio, sollte eigentlich dadurch gekennzeichnet sein, daß die gesamte Einstellung solcher Homosexueller darin besteht, sich dem Mann gegenüber weiblich zu fühlen. Jedoch, wie bereits früher betont, ist diese volle Ausbildung der Triebabweichung eher die Ausnahme als die Regel, so daß es sich empfiehlt, als Merkmal die Tatsache anzunehmen, daß die seelische Persönlichkeit und der Charakter von der abnormen geschlechtlichen Empfindungsweise beeinflußt sind.

Diese Fehlform des Fühlens und Handelns zeigt sich vielfach schon in den Kinderjahren: der Knabe liebt es, in der Gesellschaft kleiner Mädchen zu verweilen, mit Puppen zu spielen, der Mutter in der Besorgung der Hausgeschäfte zu helfen, er schwärmt für Kochen, Nähen, Sticken, entwickelt Geschmack in der Auswahl weiblicher Kleidung usw. Herangewachsen verschmäht der Effeminierte Rauchen, Trinken, Sport, während er Gefallen an Putz und Schmuck findet. Auffällig ist die Beziehung zur Kunst: auf allen Gebieten der Kunst werden eigentlich wertlose, süße, glatte, geleckte Werke bevorzugt.

Sehr eigenartig ist das Benehmen andern Männern gegenüber. In einer den normalen Mann anwidernden und abstoßenden Weise nehmen solche Homosexuelle ein mädchenhaftes, »züchtiges« Gebaren an, das besonders bei älteren Personen durchaus widerlich wirkt. Sie geben sich teils zurückhaltend und verschämt, teils kokett und aggressiv, kurzum, sie trachten das zu bieten, was ihrer Meinung nach dem weibliebenden Mann am andern Geschlecht gefällt.

Die sexuellen Gefühle und Triebe solcher auch im ganzen Seelenleben mitbetroffener Homosexueller führen dazu, daß sich diese ausnahmslos dem Mann gegenüber weiblich einstellen. Sie fühlen sich demgemäß abgestoßen von gleichartigen Personen des eigenen Geschlechts, da sie in diesen ja ihre Mitbewerber und Konkurrenten erblicken, hingegen hingezogen zu sexuell normalen Männern oder zu nicht effeminierten Homosexuellen. Wiederum spielt im Liebesleben die Eifersucht eine ganz außerordentliche Rolle.

Bei vollkommen entwickelter Effeminatio erscheint heterosexuelle Liebe als eine ganz unverständliche Sache und ein sexueller Verkehr mit einer Person des andern Geschlechts als undenkbar und unmöglich. Versuche dieser Art scheitern an der eine Erektion vollkommen verhindernden Hemmungsvorstellung des Ekels, ja selbst des Grausens, was sofort begreiflich wird, wenn man sich die Lage eines sexuell normalen (heterosexuellen) Mannes vorstellt, dem eine sexuelle Betätigung mit einem andern Mann zugemutet würde. Wenn – ganz ausnahmsweise – der normale Geschlechtsakt doch gelingt, so beruht das auf besonders reger Phantasie, wenn es nicht überhaupt gegen die Einreihung des betreffenden Falles in diese Gruppe spricht.

Im Geschlechtsverkehr selbst fühlt sich der Effeminierte immer als Weib. Die Technik besteht in succubus, passivem coitus inter femora, passiver Masturbation, eiaculatio viri dilecti in os, passiver Päderastie. Merkwürdigerweise kommt aber auch aktive Päderastie vor, wobei es sich freilich ereignen kann, daß dieser Akt zu sehr an den Koitus erinnert, dadurch ekelhaft und demgemäß unmöglich wird.

Sehr wichtig für die Gruppe ist es, daß die eigentliche Knabenliebe bei ihr nicht vorkommt. Daß bei schwächerem Sexualtrieb die perverse Einstellung innerhalb der Grenzen der platonischen Liebe bleibt, ist selbstverständlich möglich und sogar nicht selten. Schließlich sei gleich hier erwähnt, daß die schon im jugendlichen Alter zu beobachtende Vorliebe für weibliche Kleidung fetischistische Kraft gewinnen kann, so sehr, daß der Homosexuelle in erster Linie Transvestit ist. Eine Verbindung mit andern Perversionen ist bei dieser Stufe der Homosexualität verhältnismäßig selten zu finden, dafür aber lassen sich, so gut wie immer, die einen oder andern Zeichen erblicher Belastung nachweisen.

Nachstehend einige bezeichnende Krankengeschichten:

Beobachtung 170. Herr E., 31 Jahre, ist der Sohn eines potator strenuus. Sonst findet sich nichts Belastendes in der Familie. E. wuchs einsam auf einem Dorfe auf. Schon mit 6 Jahren fühlte er sich glücklich in der Umgebung von bärtigen Männern. Vom 11. Jahre ab errötete er, wenn er schönen Männern begegnete, und getraute sich nicht sie anzusehen. In weiblicher Gesellschaft war er ganz unbefangen. Bis zum 7. Jahr trug er Mädchenkleider. Er war ganz unglücklich, als er sich davon trennen mußte. Sein Liebstes war ihm, in der Küche und im Hauswesen mitzuhelfen. Die Schuljahre verliefen ruhig. Ab und zu hatte E. ein tiefes, aber nicht dauerndes Interesse für einen Mitschüler. Nachts träumte er immer häufiger von Männern mit blauen Kleidern und Schnurrbärten. Herangewachsen ging er in einen Turnverein, um mit Männern in Verkehr zu kommen, aus gleichem Grund auf Bälle, aber nicht der schönen Mädchen wegen, die ihm ganz gleichgültig waren, sondern um der Tänzer willen, wobei er sich in den Armen eines solchen dachte. Immer fühlte er sich aber einsam, unbefriedigt, und allmählich wurde er sich bewußt, nicht wie andere junge Burschen geartet zu sein. Sein ganzes Sinnen und Trachten war, einen Mann zu finden, der für ihn Liebe empfinden möge. Mit 17 Jahren verführte ihn ein Mann zu mutueller Masturbation. Die Reaktion im Bewußtsein waren Wonneschauer, Angst, Scham. Er erkannte nun die Abnormität seines sexuellen Fühlens, war anfangs deprimiert, einmal dem Selbstmord nahe, fand sich aber dann in seine eigenartige Situation, sehnte sich nach Männern, konnte aber bei seiner mädchenhaften Schüchternheit Jahre hindurch nicht zum Verkehr mit solchen gelangen, masturbierte notgedrungen, aber nicht häufig, da er nicht besonders libidinös war. Höchst peinlich war ihm, wenn Mädchen sich um seine Gunst bewarben, was oft der Fall war. Mit 26 Jahren kam E. in eine Großstadt, und nun wurde ihm reichlich Gelegenheit zu homosexuellem Verkehr. Er lebte seit einiger Zeit mit einem gleichaltrigen Mann in gemeinsamem Haushalt wie Mann und Frau. Er fühlte sich dabei glücklich und in weiblicher Rolle. Seine sexuelle Befriedigung ist mutuelle Masturbation und coitus inter femora. E. ist ein geschätzter Arbeiter, hochangesehen, in seinem Benehmen und Charakter durchaus viril, von normalen Genitalien, ohne Degenerationszeichen. Er lieferte mir Beweise dafür, daß sein jüngerer Bruder, der das Weib flieht und darüber klagt, er sei äußerlich ein Mann und doch keiner, ebenfalls homosexual empfindet. Auffallend ist auch, daß zwei Schwestern E.'s, die früh starben, jungen Männern aus dem Wege gingen, nie in der Küche, fast immer im Stall verkehrten und, wo sie nur konnten, Männerarbeit verrichteten, zu welcher sie besondere Anstelligkeit zeigten ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 171. B., Kellner, 42 Jahre, ledig, wurde mir von seinem Hausarzt, in den er verliebt war, als an konträrer Sexualempfindung leidend zugeschickt. B. gab bereitwillig Auskunft über sein sexuelles Vorleben, froh, endlich einmal eine autoritative Auskunft über seine sexuellen Zustände zu bekommen, die ihm von jeher krankhaft erschienen seien.

B. weiß von seinen Großeltern nichts zu berichten. Der Vater sei ein jähzorniger, aufgeregter Mann gewesen, Potator, von jeher sexuell sehr bedürftig. Nachdem er 24 Kinder mit derselben Frau gezeugt, habe er sich von ihr scheiden lassen, und noch dreimal seine Wirtschafterin geschwängert. Die Mutter sei gesund gewesen.

Von den 24 Geschwistern seien nur noch 6 am Leben, mehrere nervenkrank, aber nicht sexuell abnorm, bis auf eine Schwester, die von jeher mannsüchtig sei.

B. will von Kindesbeinen an kränklich gewesen sein. Schon mit 8 Jahren sei sein Geschlechtsleben erwacht. Er habe masturbiert und sei auf die Idee verfallen, penem aliorum puerorum in os arrigere, was ihm großen Genuß gewährt habe. Mit 12 Jahren fing er an, sich in Männer zu verlieben, am meisten in solche in den 30er Jahren mit Schnurrbart. Schon damals sei sein sexuelles Bedürfnis sehr entwickelt gewesen, und er habe Erektionen und Pollutionen gehabt. Von da an habe er wohl täglich masturbiert und sich dabei einen geliebten Mann gedacht. Sein Höchstes sei aber gewesen, penem viri in os arrigere. Dabei habe er unter größter Wollust Ejakulationen bekommen. Nur etwa 12mal sei ihm dieser Genuß bisher zuteil geworden. Ekel vor dem Penis anderer habe er bei ihm sympathischen Männern nie empfunden, im Gegenteil. Päderastie, die ihm sowohl aktiv als passiv höchst ekelhaft sei, habe er stets abgelehnt. Beim perversen Geschlechtsakt habe er sich immer in der Rolle des Weibes gedacht. Seine Verliebtheit in ihm sympathische Männer sei grenzenlos gewesen. Alles hätte er für seine Geliebten tun mögen. Er habe vor Aufregung und Wollust gezittert, wenn er ihrer nur ansichtig wurde.

Mit 19 Jahren ließ er sich von Kameraden öfters verführen, ins Lupanar mitzugehen. Er habe nie Spaß am Koitus gehabt und nur im Moment der Ejakulation eine Befriedigung verspürt. Um Erektion beim Weib zu bekommen, habe er sich immer einen geliebten Mann beim Akt vorstellen müssen. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn das Weib immissio penis os gestattet hätte, was ihm aber immer versagt blieb. Notgedrungen habe er Koitus geübt, sei sogar zweimal Vater geworden. Das letzte Kind, ein Mädchen von 8 Jahren, fange bereits an, Masturbation und mutuelle Onanie zu betreiben, was ihn als Vater sehr betrübe. Ob es denn dagegen keine Abhilfe gebe?

Patient versichert, daß er sich Männern gegenüber immer in einer weiblichen Rolle (auch bei sexuellem Verkehr) gefühlt habe. Er habe sich immer gedacht, seine sexuelle Perversion sei dadurch entstanden, daß sein Vater, als er ihn zeugte, ein Mädchen zeugen wollte. Seine Geschwister haben ihn auch immer wegen seiner weiblichen Manieren verspottet. Zimmerauskehren, Abwaschen sei ihm immer eine angenehme Beschäftigung gewesen. Man habe auch seine Leistungen in dieser Richtung vielfach bewundert und gefunden, daß er geschickter sei als manches Mädchen. Wenn er je konnte, verkleidete er sich als Mädchen. Im Fasching erschien er auf Bällen in weiblicher Maske. Das Kokettieren bei solcher Gelegenheit sei ihm trefflich gelungen, weil er eine weibliche Natur habe.

Zum Trinken, Rauchen, zu männlicher Beschäftigung und Vergnügung habe er nie recht Lust gehabt, dagegen Nähen mit Leidenschaft betrieben und als Junge wegen beständigem Spielen mit Puppen oft Schelte bekommen. Sein Interesse im Zirkus oder Theater nahmen nur Männer in Anspruch. Er konnte oft dem Drang nicht widerstehen, in Pissoirs herumzulungern, um männlicher Genitalien ansichtig zu werden.

An weiblichen Reizen habe er nie Gefallen gefunden. Koitus sei ihm nur gelungen, wenn er sich einen geliebten Mann dachte. Nächtliche Pollutionen wurden immer durch laszive, Männer betreffende Traumsituationen ausgelöst.

Trotz vielfacher sexueller Exzesse hat B. nie an Neurasthenia sexualis gelitten und sind überhaupt keine Symptome von Neurasthenie an ihm nachweisbar.

Explorat ist zart, hat spärlichen Backen- und Schnurrbart, der ihm erst im 28. Jahr gewachsen ist. Sein Äußeres, ausgenommen leicht wiegender Gang, bietet nichts, was auf eine weibliche Natur hindeuten würde. Er versichert, daß man seinen weibischen Gang schon oft bespöttelt habe ( Krafft-Ebing).

Krafft-Ebing hat noch eine weitere Gruppe konträr Sexueller aufgestellt, die sogenannten Androgynen, und versteht darunter Personen, bei denen nicht nur der Charakter und das ganze Fühlen – so wie bei der Effeminatio – der abnormen Geschlechtsempfindung entsprechen, sondern wo sich das Individuum sogar im Knochenbau, in der Gesichtsform, der Stimme, also nicht bloß in seelischer und psychosexueller, sondern überhaupt in anatomischer Hinsicht dem Geschlecht nähert, dem es sich auf Grund seiner Perversion zugehörig fühlt. Es mag dahingestellt bleiben, ob, wie Krafft-Ebing meint, diese anatomische Ausprägung einer zerebralen Anomalie eine besonders hohe Stufe der Entartung darstellt. Sicher ist hingegen, daß diese Abweichung etwas ganz anderes ist als die Hermaphrodisie, was sich schon daraus klar ergibt, daß bis jetzt bei konträrer Sexualempfindung niemals Übergänge zur hermaphroditischen Verbildung der Genitalien gefunden wurden. Denn die allerdings nicht seltenen anatomischen Degenerationszeichen wie Epispadie und Hypospadie sind lediglich Entwicklungshemmungen geschlechtlich ansonsten wohl differenzierter Organe; die Genitalien androgyner Männer erwiesen sich bisher immer geschlechtlich vollkommen differenziert.

Hier ist indessen der Hinweis am Platze, daß trotz des bisher noch sehr spärlichen Beobachtungsmaterials endokrine Einflüsse bei den Androgynen eine wesentliche Rolle spielen dürften. Die primären Geschlechtscharaktere (Genitalien) sind zwar normal entwickelt, die sekundären indessen (Skelett, Behaarung, Kehlkopf, Fettverteilung, Hautbeschaffenheit), deren Entwicklung, wie wir wissen, endokrin bedingt ist, weisen deutlich in die Richtung einer hormonalen Hypo- oder Dysfunktion.

Es ist klar, daß hier wiederum fließende Übergänge zur früheren Gruppe, zur Effeminatio, bestehen, so daß wir in erster Linie aus historischem Interesse die Androgynie als eigene Stufe der Homosexualität beibehalten. Die nachstehende Krankengeschichte Krafft-Ebings kann als klassisch bezeichnet werden.

Beobachtung 172. Herr v. H., 30 Jahre alt, ledigen Standes, stammt von einer neuropathischen Mutter. Nerven- und Geisteskrankheiten sollen in der Familie des Kranken nicht vorgekommen und der einzige Bruder desselben geistig und körperlich vollkommen normal sein. Patient war von Kindesbeinen an von neuropathischer Konstitution und nach dem Zeugnis seiner Verwandten nicht wie andere Knaben. Früh fielen seine Abneigung gegen männliche Beschäftigung und seine Vorliebe für weibliche Spielereien auf. So verabscheute er alle Knabenspiele und gymnastischen Übungen, während das Spiel mit Puppen und weibliche Arbeiten für ihn besonderen Reiz hatten. Patient entwickelte sich in der Folge körperlich gut, blieb frei von schweren Erkrankungen, aber geistig blieb sein Wesen abnorm, einer ernsteren Lebensauffassung unzugänglich und von entschieden weiblicher Gefühls- und Gedankenrichtung.

Im 17. Lebensjahr zeigten sich Pollutionen, die, gehäuft, schließlich auch bei Tage auftraten, den Kranken schwächten und mannigfache nervöse Störungen hervorbrachten. Es entwickelten sich Erscheinungen von Neurasthenia spinalis, die bis in die letzten Jahre fortdauerten, mit dem Seltenerwerden der Pollutionen aber sich verminderten. Onanie wird in Abrede gestellt, ist aber sehr wahrscheinlich. Eine schlaffe, weichliche, träumerische Gedankenrichtung machte sich seit der Pubertätszeit immer mehr bemerklich. Vergebens waren die Bemühungen, den Kranken zu einem eigentlichen Lebensberuf zu bringen. Seine intellektuellen Funktionen, wenn auch formal ganz ungestört, erhoben sich nicht zur Höhe wirksamer Leitmotive eines selbständigen Charakters und höherer Lebensanschauungen. Er blieb unselbständig, ein großes Kind, und nichts bezeichnete deutlicher seine originär abnorme Artung als seine tatsächliche Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, und sein eigenes Geständnis, daß er für eine geordnete, vernünftige Geldgebarung kein Verständnis habe und, sobald er Geld besitze, dasselbe für Antiquitäten, Toilettegegenstände und dergleichen ausgebe.

Er lernte nichts Ordentliches, verbrachte seine Zeit mit Toilette und künstlerischen Tändeleien, namentlich mit Malen, wozu er eine gewisse Befähigung zeigte, aber auch hierin leistete er nichts, da es ihm an Ausdauer fehlte. Zu einer ernsten Gedankenarbeit war er nicht zu bringen, er hatte nur Sinn für Äußerlichkeiten, war immer zerstreut, von ernsten Dingen gleich gelangweilt. Verkehrte Streiche, sinnlose Reisen, Geldverschwenden, Schuldenmachen kehren in seinem ferneren Leben immer wieder, und selbst für diese positiven Fehler seiner Lebensführung fehlte ihm das Verständnis. Patient fühlt sich geschlechtlich als Weib dem Manne gegenüber und empfindet Zuneigung zu Personen des eigenen Geschlechts, bei Gleichgültigkeit, wenn nicht geradezu Abneigung gegen Personen des weiblichen. Er will zwar im 22. Jahr mit Frauen geschlechtlich verkehrt und in normaler Weise den Beischlaf ausgeübt haben, aber teils wegen Steigerung der neurasthenischen Beschwerden jeweils nach dem Koitus, teils aus Angst vor Ansteckung, wesentlich aber aus mangelnder Befriedigung will er sich bald vom weiblichen Geschlechte abgewandt haben. Über seine abnorme sexuelle Lage ist er sich nicht ganz klar; einer Hinneigung zum männlichen Geschlechte ist er sich bewußt, gesteht aber verschämt nur zu, daß er gewissen männlichen Personen gegenüber ein beseligendes Gefühl der Freundschaft empfinde, ohne daß sich ein sinnliches Gefühl beigeselle. Das weibliche Geschlecht verabscheut er gerade nicht, er könnte sich sogar entschließen, ein Weib, das ihn durch gesinnungsverwandte künstlerische Neigungen anzöge, zu heiraten – wenn ihm nur die ehelichen Pflichten, die ihm unangenehm wären und deren Leistung ihn matt und schwach mache, erlassen blieben. Daß Patient schon mit Männern geschlechtlich verkehrt habe, stellt er in Abrede, aber sein Erröten und seine Verlegenheit dabei, noch mehr ein Vorfall in N., wo Patient vor einiger Zeit im Gasthaus geschlechtlichen Umgang mit jungen Leuten versucht und einen Skandal veranlaßt hat, strafen ihn Lügen.

Auch die äußere Erscheinung, Habitus, Körperbau, Gesten, Manieren, Toilette sind auffällig und erinnern entschieden an weibliche Formen und Verhältnisse. Patient ist zwar über mittlerer Größe, aber Thorax und Becken sind von entschieden weiblicher Bildung. Der Körper ist fettreich, die Haut wohlgepflegt, zart, weich. Dieser Eindruck eines Weibes in männlicher Kleidung wird gesteigert durch den spärlichen Haarwuchs im Gesicht, den tänzelnden Gang, das schüchterne, gezierte Wesen, die weiblichen Züge, den schwimmenden neuropathischen Ausdruck der Augen, die Spuren von Puder und Schminke, den stutzermäßigen Zuschnitt der Kleidung mit busenartig hervortretendem Oberkleid, die gefranste, damenartige Halsschleife und das von der Stirn abgescheitelte, glatt zu den Schläfen abgebürstete Haar.

Die körperliche Untersuchung läßt den zweifellos weiblichen Bau des Körpers erkennen. Die äußeren Genitalien sind zwar gut entwickelt, jedoch ist der linke Hoden im Leistenkanal zurückgeblieben, die Behaarung des Mons Veneris ist schwach und dieser ungewöhnlich fettreich und prominent. Die Stimme ist hoch, ohne männlichen Timbre.

Auch die Beschäftigung und Denkweise des v. H. ist eine entschieden weibliche. Er hat sein Boudoir, seinen Toilettentisch, an dem er stundenlang mit allen möglichen Verschönerungskünsten die Zeit vertändelt; er verabscheut Jagd, Waffenübungen und dergleichen männliche Beschäftigung, bezeichnet sich selbst als einen Schöngeist, spricht mit Vorliebe von seinen Malereien und dichterischen Versuchen, interessiert sich für weibliche Arbeiten, die er, wie z. B. Sticken, auch ausübt, und bezeichnet es als sein höchstes Glück, sein Leben in einem künstlerisch gebildeten und ästhetisch feinfühligen Kreis von Herren und Damen mit Konversation, Musik, Ästhetik und dergleichen zubringen zu können. Seine Konversation dreht sich vorwiegend um weibliche Angelegenheiten – um Moden, weibliche Handarbeiten, Kochkunst, Haushaltungsangelegenheiten.

Patient ist wohlgenährt, jedoch etwas anämisch. Er ist von neuropathischer Konstitution und bietet Symptome von Neurasthenie, die durch eine verfehlte Lebensweise, zu langen Aufenthalt im Bett, im Zimmer, Verweichlichung unterhalten werden ( Krafft-Ebing).

Es mag fraglich erscheinen, ob der Transvestismus, also der Drang, die Kleidung des andern Geschlechts zu tragen, nicht besser beim Fetischismus besprochen worden wäre. Da es aber immer strittig sein wird, was bei diesem eigenartigen Zustandsbild wesentlicher ist, der Fetischismus oder die Homosexualität, und da letztere Perversion in den praktisch wichtigen Fällen von Transvestitismus kaum je fehlt, so halten wir uns für berechtigt, den Transvestitismus hier zu besprechen.

Seitdem Westphal 1870 den ersten solchen Fall veröffentlicht hat, sind nicht wenige hierher gehörige Beobachtungen mitgeteilt worden, und man kann ruhig sagen, daß der Transvestitismus häufiger vorkommt als man glauben sollte, zumal es ja solchen Perversen oft genügt, nur zu Hause sich zu verkleiden, so daß sie also mit den Behörden nicht in Konflikt kommen.

Der Transvestitismus ist von hohem theoretischem Interesse. Zunächst muß man sich daran erinnern, daß es ganz allgemein für überdurchschnittlich phantasievolle Menschen immer wieder lustbringend ist, sich zu verkleiden, und es hat sicher einen tieferen Sinn, wenn schon in der Antike, aber auch, seit jeher bis heute, bei primitiven Völkern Männer Frauenkleidung angelegt haben, wenn sich durch allen Wandel der Zeiten hindurch Maskenfeste erhalten haben, wenn die Großstädter heute die Tracht der Landbevölkerung anziehen usw. Klarerweise gelangt man von hier aus auf dem Wege der fließenden Übergänge zu jenen Formen, die schon den Charakter einer Perversion tragen, und schließlich zur Perversion selbst. Man wird stets leichter auf eine Perversion schließen können, wenn ein Mann Frauenkleidung trägt, als wenn eine Frau männliche Tracht anlegt. Entscheidend ist immer die Verbindung von Verkleidung und Sexualerlebnis, denn es ist stets abwegig, von einer Perversion zu sprechen, wenn die Sexualsphäre nicht tangiert ist.

Seit Westphals Mitteilung hat man verschiedene Versuche gemacht, den Transvestitismus zu erklären. Westphal selbst hat angenommen, daß es sich um eine periodische Geistesstörung handle. Hirschfeld hat die Transvestiten als sexuelle Zwischenstufe betrachtet. Havelock Ellis spricht von einer sexoästhetischen Inversion. Moll unterscheidet fünf Gruppen; die erste (Zwangshandlungen) und die fünfte (Verkleidung aus praktischen Zwecken) können hier wohl unbesprochen bleiben. Bei der zweiten und dritten Gruppe anerkennt er das Bestehen einer Homosexualität, bei der vierten glaubt er – nach Havelock Ellis – ein homosexuelles Einfühlungssymptom zu finden. Wir möchten den Transvestitismus als eine Verbindung von Fetischismus und Homosexualität auffassen. Dabei können wir einerseits auf jene beim Fetischismus angeführten Krankengeschichten hinweisen, bei denen Tathandlungen und Situationen den Fetisch bilden, anderseits auf die dort gleichfalls schon besprochene Bedeutung, die Identifikation, Übertragung und Einfühlung für das Zustandekommen jener Perversion besitzen. Verwiesen sei auf die Krankengeschichten 45, 57, 58 und 93.

Sehr bezeichnend sind:

Beobachtung 173. Elise E., 24 Jahre, zeigte sich bei ärztlicher Untersuchung männlichen Geschlechts. E. hatte seit dem 14. Jahr Weiberkleider getragen, war auch als Schauspielerin aufgetreten, trug das Haar lang und nach Frauenart frisiert. Die Gesichtsbildung hatte etwas Weibliches, im übrigen war der Körper ganz männlich. Der Bart war sorgfältig ausgezupft. Die (männlichen) kräftig entwickelten Genitalien waren am Bauch durch eine kunstvolle Bandage nach aufwärts fixiert. Der Befund am Anus deutete auf passive Päderastie ( Taylor).

Beobachtung 174. X., Beamter in mittleren Jahren, mit einer braven Frau verheiratet, seit mehreren Jahren glücklicher Familienvater, erschien etwa alle 8 Tage im Bordell und legte dort Frauenkleidung und eine Frauenperücke an. In dieser Tracht legte er sich auf ein Bett und ließ sich von einer Prostituierten masturbieren, zog es aber bei weitem vor, wenn er eine männliche Person (einen Hausknecht des Bordells) dafür gewinnen konnte ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 175. Ein geistig sehr hochstehender Ordensgeistlicher, der besonders in künstlerischer und kulturhistorischer Beziehung Bedeutendes leistete, suchte ärztlichen Rat auf, weil er nicht umhin konnte, unter der Ordenstracht Damenwäsche aus Seide und Spitzen zu tragen. Er empfand diese Neigung vor allem deshalb als äußerst quälend, weil er in Anbetracht seines hohen Lebensalters fürchtete, auf der Straße einen Ohnmachtsanfall zu erleiden, bei welcher Gelegenheit seine eigenartige Neigung zutage treten würde (eigene Beobachtung).

Es gibt in allen Großstädten Transvestiten, deren Perversion so fest verwurzelt ist, daß sie die Mühe nicht scheuen, im Wege vielfacher ärztlicher Untersuchung die Behörden zu einer formellen Erlaubnis zum Tragen andersgeschlechtlicher Kleider zu bewegen. Es ist klar, daß diese schwersten Formen sich bereits in das Gebiet der Zwangsneurosen erstrecken.

Eine sehr unerfreuliche Begleiterscheinung des Transvestitismus ist die enge Beziehung zur männlichen Prostitution. In nicht wenigen Großstädten gibt es Lokale, in denen Männer in Frauenkleidern sich Homosexuellen gegen Entgelt hingeben. Es ist sehr zu begrüßen, daß in letzter Zeit gegen derartige Auswüchse behördlich eingeschritten wird.

Wenn wir nun die Homosexualität beim Weibe besprechen, so müssen wir zweifelsohne von der Bisexualität ausgehen. Denn es kann als sichergestellte Tatsache bezeichnet werden, daß diese Einstellung bei Frauen ganz wesentlich mehr verbreitet ist als bei Männern. Das geht schon daraus hervor, daß homosexuellen Akten (Perversitäten) zwischen Frauen sichtlich weit weniger Hemmungen entgegenstehen, was sich nur durch die Annahme einer – vielleicht häufig bloß latenten – Homosexualität erklären läßt. Begünstigt wird die Homosexualität der Frau zweifelsohne in hohem Maße dadurch, daß sie vom Gesetz nicht getroffen wird, so daß also die für den Mann so schwerwiegenden sozialen Folgen wegfallen. Ferner ist es von großer Bedeutung, daß für sehr viele Frauen gewisse Praktiken (z. B. mutuelle Onanie), die ihnen aus der Pubertätszeit her bekannt sind, den sichersten und bequemsten Weg zur geschlechtlichen Befriedigung auch weiterhin bilden. Die bei illegalem Sexualverkehr stets drohenden Gefahren der Schwangerschaft und der venerischen Ansteckung fehlen hier, und dazu kommen noch die sicher zahlreichen Fälle, in denen der – legale oder illegale – Sexualpartner nicht imstande ist, der Frau im Wege des normalen Koitus den Orgasmus zu vermitteln.

Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß alle Frauen bisexuell oder latent homosexuell seien, aber jene, die auf der infantilen Stufe verharren und also einerseits außerstande bleiben, durch den normalen Geschlechtsverkehr befriedigt zu werden, und anderseits nicht zur vollen sexuellen Differenzierung gelangt sind, sowie die Frauen, deren Geschlechtstrieb besonders stark entwickelt ist, bilden in allen Kulturnationen eine kaum zu überschätzende Gruppe.

Anderseits ist volle hundertprozentige Homosexualität bei der Frau wesentlich seltener zu finden als beim Manne. Während es durchaus homosexuelle Männer genug gibt, die trotz dieser Perversion sozial vollkommen eingeordnet und leistungsfähig sind, ist bei der Frau die volle Homosexualität nur in den seltensten Fällen mit einem Normaldasein vereinbar. Fast stets findet man bei solchen Frauen verschiedene neurotische Symptome, und es wird also nicht wundernehmen, daß die später mitgeteilten Krankengeschichten schwere Veränderungen des Seelenlebens aufzeigen.

Die praktische Bedeutung der Homosexualität der Frau ist bei weitem noch nicht genügend erkannt. Auch dort, wo es sich vorwiegend bloß um Bisexualität handelt, wird durch diese Triebrichtung der typisch weibliche Lebensablauf in hohem Maße erschwert. Bei der Frage der Verheiratung und bei der Gattenwahl treten ernste Schwierigkeiten auf, und der sonst selbstverständlich hingenommene Lebenszweck des Weibes, Mutter zu sein, wird zum Problem. Die Homosexualität macht sich ferner auch bei der Wahl des Berufes und bei der Berufstätigkeit bemerkbar. Bleiben diese Momente von den Eltern, der Familie, dem Gatten, dem Arzt unbeachtet, so können alle möglichen Konflikte entstehen und in weiterer Folge sich verschlimmern, die bei richtiger Erkenntnis wohl zu vermeiden wären.

Die Homosexualität der Frau unterscheidet sich auch dadurch von der des Mannes, daß sie weit öfters unbewußt bleibt und dann nur aus der Einstellung und der Verhaltensweise der betreffenden Frau erschlossen werden kann. Es ist wohl möglich, daß dies auf die typisch weibliche, durch die Erziehung in allen Kulturstaaten noch geförderte Schamhaftigkeit der Frau zurückzuführen ist. Für eine solche – latente oder unbewußte – Homosexualität spricht in erster Linie die Frigidität (was ja bereits bei der sexuellen Anästhesie und Hypästhesie erwähnt wurde). Es ist klar, daß dort, wo der Mann nicht als der eigentlich adäquate Partner empfunden wird, sowohl Erotik als Sexualität, vor allem aber letztere, defekt sind, und es ist ebenso klar, daß dann alle Behandlungsmaßnahmen versagen müssen. Umgekehrt wird man vielleicht auch dort, wo unter der Maske einer Hypersexualität eine Frau mit sehr vielen Männern, und zwar jeweils nur flüchtig, Geschlechtsverkehr ausübt, an eine Homosexualität denken müssen, die natürlich unbewußt ist und bleibt, aber immer wieder die Befriedigung im Geschlechtsverkehr, das Liebesglück, verhindert. Es wird sich also gerade bei der Frau immer empfehlen, bei den in diesem Buche in der ersten Gruppe zusammengefaßten Geschlechtsverirrungen an Homosexualität zu denken, zumindest aber dort, wo eine wegen ihrer körperlichen und seelischen Eigenschaften umworbene Frau den Sexualverkehr, ja jede Beziehung zum andern Geschlecht ablehnt und somit das Bild einer Flucht vor dem Geschlechtsleben bietet.

Eine sehr interessante, derzeit keineswegs endgültig zu beantwortende Frage bildet der Zusammenhang zwischen Homosexualität und Berufswahl der Frau. Man wird heutzutage natürlich nicht mehr so wie vielleicht vor einem Menschenalter aus der Tatsache, daß eine Frau statt der Ehe einen Beruf wählt, auf eine irgendwie abwegige Sexualeinstellung schließen dürfen. Es ist aber in diesem Sinn doch auffallend und wohl auch verwertbar, wenn eine Frau jede Ehemöglichkeit a limine ablehnt, und die dann in der Regel vorgebrachte Begründung, man könne die Ehe nicht mit dem Beruf vereinen, dürfte als Arrangement im Sinne der Individualpsychologie aufzufassen sein. Die Erfahrung lehrt, daß nicht wenige in ihrem Beruf den Durchschnitt weit übertreffende Frauen homosexuell sind; auch das Eingehen einer Ehe braucht nicht dagegen zu sprechen, ebensowenig wie dies bei männlichen Homosexuellen der Fall ist, da eine solche Ehe natürlich auch gegen die Triebrichtung aus sozialen oder andern Gründen geschlossen werden kann. Ärztlicher Hilfe bedürfen solche oft in jeder Hinsicht hervorragende Frauen natürlich nicht; dieser Hinweis auf die Beziehung zwischen Homosexualität und Berufswahl ist aber doch verwertbar, vor allem beim Auftreten anderweitiger nervöser Störungen.

Ähnlich den homosexuellen Männern zeigen auch die homosexuellen Frauen ein kennzeichnendes Charakterbild. Hier wie dort findet man eine gewisse übersteigerte Verfeinerung und Empfindlichkeit, alles, was klar, scharf umrissen, deutlich ist, wird abgelehnt, verschwimmende Übergänge, Schwebungen, Nuancen werden bevorzugt. Homosexuelle Frauen bedienen sich in ihrem Verkehrskreis eines an Andeutungen und Anspielungen reichen Jargons, winzige Kleinigkeiten werden auffällig wichtig genommen, und durch diese und ähnliche Hilfsmittel wird ein gewisser Abschluß gegen die Außenwelt angestrebt. Sehr auffällig ist die starke Eifersucht. Die homosexuelle Frau überwertet ihre Geliebte wesentlich stärker als der normale Mann die seine, auch deshalb, weil hier die Bindung weit über das rein Physische hinausgeht, und so gibt es auf dem Gebiet der Sexualverirrungen kaum einen tragischeren Anblick als den der alternden, von der jüngeren Geliebten verlassenen Homosexuellen.

Der Geschlechtsverkehr zwischen den homosexuellen Frauen besteht in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aus mutueller Masturbation. Cunnilinguus ist kaum weniger häufig, hingegen kommt die sogenannte Tribadie seltener vor (jene Methode, bei der durch Aneinanderreihen der äußeren Genitalien der Orgasmus angestrebt wird). Natürlich gibt es genug Verbindungen mit andern Perversionen wie Sadismus und Masochismus, viel seltener Fetischismus, auch Pädophilie ist unvergleichlich seltener als bei den männlichen Homosexuellen.

Anders als die homosexuellen Männer trachten die homosexuellen Frauen wenig von ihrer Einstellung merken zu lassen Vielleicht von gewissen Äußerlichkeiten abgesehen. Da heutzutage die Frauenmode ebenso wie der Haarschnitt männlichen Charakter trägt, so sprechen höchstens die Bevorzugung rauher (männlicher) Stoffe für Kleider und Hüte und die Ablehnung von Seide und dergleichen für eine homosexuelle Einstellung., sie behaupten denn auch nicht, eine »Auslese« oder dergleichen zu sein. Hingegen sind aus dieser Triebabweichung in den letzten Jahren sehr beachtenswerte literarische Werke hervorgegangen.

Da, wie bereits hervorgehoben, die Bisexualität bei der Frau weit häufiger vorkommt als die Homosexualität, ist auch die Zahl der wirklich schweren Formen gering. Aus eben diesem Grund kommt ärztliche Behandlung wohl nur bei jenen Fällen in Betracht, in denen anderweitige Perversionen vorliegen oder, was bei solchen neurasthenischen Personen nicht zu verwundern ist, wenn Sucht nach irgendeinem Rauschgift besteht. Ein anderer Grund, weshalb das Material an verwendbaren Beobachtungen bei der Homosexualität der Frau verhältnismäßig spärlich ist, liegt darin, daß sie, wie gesagt, juristisch nicht verfolgt wird.

Beobachtung 176. Frl. X., 55 Jahre alt; über die Familie des Vaters fehlen Nachrichten. Die Eltern der Mutter werden als zornwütig, launenhaft, nervös geschildert. Ein Bruder der Mutter ist epileptisch, ein anderer exzentrisch und geistig nicht normal. Die Mutter war sexuell hyperästhetisch und lange Zeit Messaline. Fräulein X. entwickelte sich normal, hatte nur geringfügige Kinderkrankheiten zu überstehen, war geistig sehr begabt, jedoch von neuropathischer Konstitution. Mit 13 Jahren erwachte, noch 2 Jahre vor der ersten Menstruation, die erste Liebesleidenschaft für eine Altersgenossin, »ein träumerisches Gefühl, noch ganz rein von Sinnlichkeit«. Die zweite Liebe galt einem älteren Mädchen, das Braut war, mit bereits quälendem sinnlichem Sehnen, Eifersucht und dem noch »unklaren Gefühl geheimnisvoller Ungehörigkeit«; zurückgewiesen von dieser Dame, verliebte sich Patientin in eine um 20 Jahre ältere, glücklich verheiratete Frau und Mutter. Sie vermochte sich in ihren sinnlichen Regungen zu beherrschen, so daß diese Frau nie den wahren Grund einer solch schwärmerischen »Freundschaft« ahnte und dieselbe auch ihrerseits durch 12 Jahre gerne gewährte. Patientin bezeichnet diese lange Zeit als ein wahres Martyrium. In den letzten Jahren, vom 25. Jahre ab, hatte sie begonnen, durch Masturbation sich zu befriedigen. Patientin dachte damals ernstlich daran, ob nicht eine Heirat sie retten könnte, aber ihr Gewissen sprach dagegen, denn sie hätte vielleicht ihr Unglück Kindern vererben oder einen vertrauensvollen Mann »unglücklich machen können«. 27 Jahre alt nahte sich ihr ein Mädchen mit unverhüllten Anträgen, schilderte den Unsinn der Entsagung, gab volle Aufklärung über den sie beherrschenden homosexuellen Trieb und war sehr stürmisch. Patientin duldete die Liebkosungen dieses Mädchens, ließ sich aber zu keinem sexuellen Verkehr herbei, da sie fühlte, daß ihr Sinnengenuß ohne Liebesleidenschaft widerlich sei. Geistig und körperlich unbefriedigt, im Bewußtsein eines verfehlten Lebens gingen Patientin die Jahre dahin. Sie schwärmte ab und zu für Damen ihres Bekanntenkreises, wußte sich aber zu beherrschen. Auch von Masturbation vermochte sie sich wieder zu befreien. 38 Jahre alt, lernte Fräulein X. ein um 19 Jahre jüngeres Mädchen A. kennen, von seltener Schönheit, aber aus demoralisierter Familie, von Kusinen früh zur mutuellen Masturbation verführt. Mit diesem Mädchen kam es zu einer richtigen Beziehung (mutuelle Masturbation), die lange, lange Jahre hindurch dauerte, bis die A. schließlich heiratete ( Krafft-Ebing).

Der nächste Fall zeigt deutlich die Schwierigkeiten, denen eine Homosexuelle in der Ehe begegnet.

Beobachtung 177. Frau R., 35 Jahre, den höheren Ständen angehörig, wurde mir von ihrem Manne zugeführt. Vater war Arzt und sehr neuropathisch. Die Geschwister des Vaters sollen sämtlich nervös sein. Die Mutter der Patientin war nervenkrank, litt an Asthma. Patientin litt schon seit dem 10. Jahre an habituellem Kopfschmerz, machte, außer Masern, keine Krankheiten durch, war begabt, genoß die beste Erziehung, hatte besonderes Talent für Musik und Sprachen, war genötigt, sich als Gouvernante auszubilden, war in den Entwicklungsjahren übermäßig geistig angestrengt, machte im 17. Jahre eine mehrmonatige Melancholia sine delirio durch. Patientin versichert, daß sie von jeher nur Sympathie für Personen des eigenen Geschlechts hatte und an Männern höchstens ästhetisches Interesse fand. Sinn für weibliche Arbeiten habe sie nie gehabt. Als kleines Mädchen habe sie sich am liebsten mit Knaben herumgetummelt. Patientin will gesund geblieben sein bis zum 27. Jahre. Da wurde sie ohne äußere Ursache gemütskrank – hielt sich für eine schlechte Person voll Sünde, hatte an nichts mehr Freude, war schlaflos. Während dieser Krankheitszeit war sie überdies von Zwangsvorstellungen geplagt, sich den Tod, ihr eigenes Sterben und das ihrer Angehörigen vorstellen zu müssen. Genesung nach etwa 5 Monaten. Sie wurde nun Gouvernante, war sehr angestrengt, bis auf zeitweise neurasthenische Beschwerden gesund. Mit 28 Jahren machte sie die Bekanntschaft einer 5 Jahre jüngeren Dame. Sie verliebte sich in dieselbe, fand Gegenliebe. Die Liebe war eine sehr sinnliche, wurde in mutueller Onanie befriedigt. »Ich habe sie abgöttisch geliebt – sie ist ein so edles Wesen«, meint Patientin, als sie auf dieses Liebesverhältnis zu sprechen kommt, das 4 Jahre währte und mit der (unglücklichen) Heirat dieser Freundin sein Ende fand. Einige Zeit nachher lernte Patientin ihren jetzigen Mann kennen und heiratete ihn ohne langes Besinnen, da er reich, ihr sehr zugetan und sein Charakter ihr sympathisch war. Vom ersten Koitus war sie moralisch tief deprimiert. So hatte sie sich die Ehe nicht gedacht! Anfangs war sie von heftigem Taedium vitae geplagt. Der Mann, welcher seine Frau aufrichtig liebte, tat sein Möglichstes, um sie zu beruhigen. Konsultierte Ärzte meinten, wenn Patientin gravid werde, sei alles gut! Der Mann konnte sich das rätselhafte Benehmen seiner Frau nicht erklären. Sie war freundlich gegen ihn, duldete seine Liebkosungen, verhielt sich beim Koitus, dem sie tunlich auswich, ganz passiv, war nach dem Akt tagelang matt, erschöpft, von Spinalirritation geplagt, nervös. Eine Reise des Ehepaars führte ein Wiedersehen mit der Freundin herbei, die in unglücklicher Ehe seit 3 Jahren lebte. Die beiden Damen zitterten vor Wonne und Erregung, als sie sich in die Arme sanken, waren von nun an unzertrennlich. Der Mann fand, daß dieses Freundschaftsverhältnis doch ein eigentümliches sei, und beschleunigte die Abreise. Gelegentlich überzeugte er sich durch die Korrespondenz seiner Frau mit dieser »Freundin«, daß der Briefwechsel genau dem zweier Liebenden entsprach. Frau R. wurde schwanger. Abortus etwa in der 9. Woche der Gravidität. Im Anschlüsse daran Erscheinungen von Hysteroneurasthenie. Patientin machte bei der Untersuchung den Eindruck einer höchst belasteten neuropadiischen Persönlichkeit. Unverkennbar war der neuropathische Ausdruck des Auges. Habitus durchaus weiblich. Außer sehr schmalem, steilem Gaumen keine Skelettabnormität. Patientin entschloß sich schwer zu Mitteilungen über ihre sexuelle Abnormität. Sie klagte, daß sie geheiratet habe, ohne zu wissen, was die Ehe zwischen Mann und Weib sei. Sie liebe ja ihren Gemahl herzlich ob seiner geistigen Vorzüge, aber der eheliche Umgang sei ihr eine Pein, sie leiste ihn widerwillig, ohne jemals eine Befriedigung davon zu empfinden. Post actum sei sie tagelang ganz matt und erschöpft. Seit dem Abortus und dem Verbot des Arztes, ehelichen Umgang zu pflegen, gehe es ihr besser, aber die Zukunft sei ihr schrecklich. Sie achte ihren Mann, liebe ihn geistig, möchte alles für ihn tun, wenn er sie nur sexuell künftig schone. Sie hoffe, daß mit der Zeit sie auch sinnlich für ihn fühlen könne. Wenn er Violine spiele, komme es ihr oft vor, als ob eine Empfindung in ihr auftauche, die mehr als Freundschaft sei, aber das sei nur eine flüchtige Empfindung, in welcher sie keine Gewähr für die Zukunft erblicke. Ihr höchstes Glück sei die Korrespondenz mit der früheren Geliebten. Sie fühle, daß dies unrecht sei, aber sie könne davon nicht lassen, sonst fühle sie sich namenlos elend ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 178. Fräulein N., 25 Jahre, stammt von angeblich gesunden Eltern. Sie ist sehr talentiert, besonders für schöne Künste. Schon als kleines Kind spielte sie am liebsten Soldaten- und andere Knabenspiele, war keck und ausgelassen und tat es darin selbst Knaben zuvor. Sie hatte nie Sinn für Puppen und für weibliche Handarbeit. Mit dem 15. Jahr trat die Pubertät ein. Bald darnach verliebte sie sich in junge Damen, aber nur platonisch, da sie ein sittliches Mädchen ist. Seit einigen Jahren ist ihre Libido sehr heftig geworden, so daß sie sich kaum beherrschen kann. Sie hat laszive Träume, in welchen nur weibliche Individuen eine Rolle spielen, denen gegenüber sie sich in männlicher Position fühlt. Seit einigen Jahren ist sie in eine ältere, etwa 40jährige Dame sterblich verliebt. Sie quält dieselbe mit ihrer Eifersucht. Fräulein N. sind Männer ganz gleichgültig. Sie könnte ruhig mit ihnen Zimmer und Lager teilen, während sie Personen des eigenen Geschlechts gegenüber Schamhaftigkeit an den Tag legt. Sie ist sich des Pathologischen ihres Zustandes bewußt. Fräulein N. hat männliche Gesichtszüge, tiefe Stimme, männliche Gehweise, ist ohne Behaarung im Gesicht, hat schwach entwickelte Mammae, trägt kurzgeschnittenes Haar und macht den Eindruck eines Mannes in Frauenkleidern ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 179. Fräulein O., 23 Jahre, stammt von schwer hysteropathischer Mutter. Von väterlicher Seite stammt Patientin aus unbelasteter Familie. Der Vater starb früh an Pneumonie. Patientin wird mir von ihrem Kurator zugeführt, weil sie kürzlich vom Hause in Männerkleidern durchging, um die Welt zu durchstreifen und »Künstler« zu werden. Patientin ist nämlich sehr für Musik talentiert. Schon seit Jahren ist Fräulein O. auffällig durch ihr keckes, mehr männliches Wesen und ihr Bestreben, Haar und Kleidung tunlichst nach männlichem Zuschnitt zu tragen. Seit dem 13. Jahr zeigte sie schwärmerische Liebe zu Freundinnen, denen sie oft durch brünstige Umarmungen geradezu lästig fiel. Patientin macht bei der Konsultation kein Hehl aus ihrer Leidenschaft für Personen des eigenen Geschlechts. Seit ihrem 13. Jahre sei sie sich bewußt, daß sie nur solche lieben könne. Sie fühle sich als Mann dem Weibe gegenüber, meint, sie sehe auch ganz männlich aus und ginge am liebsten in Männerkleidern. Vor nicht langer Zeit habe sie einen bei der Polizei angestellten Verwandten allen Ernstes um seine Vermittlung gebeten, daß ihr gestattet werde, in Männerkleidern zu gehen. Ihre erotischen Träume drehen sich nur um intimen Verkehr mit Freundinnen. Irgendein Interesse für Männer habe sie nie empfunden, auch nie daran gedacht, daß sie je heiraten könnte. Patientin fühlt sich in ihrer abnormen sexuellen Rolle ganz glücklich und kann sie nicht als krankhaft anerkennen. Daß ihr sexuelles Fühlen im Widerspruch mit dem anderer Frauen steht, vermag sie nicht einzusehen. Sie ist geistig entschieden beschränkt und originär psychisch abnorm. Das Skelett ist durchaus weiblich, bis auf auffallend große und mehr männliche Füße. Die Bewegungen und die ganze Pose, gleichwie auch der Gang sind mehr männlich. Die Stimme ist weiblich. Patientin hat seit dem 13. Jahr regelmäßig menstruiert ( Krafft-Ebing).

Die nächste Beobachtung ist außer ihrem reichen Erlebnisinhalt auch dadurch bemerkenswert, daß sie dem deutschen Dichter Frank Wedekind den Stoff für sein Schauspiel »Franziska« geliefert hat.

Beobachtung 180. Der Schwiegervater eines Grafen Sandor V. erstattete die Anzeige, dieser habe ihm einen größeren Geldbetrag unter einem Vorwand entlockt. Überdies habe sich herausgestellt, daß Sandor Verträge gefälscht, die im Frühjahr 1889 erfolgte Trauung fingiert habe und vor allem, daß dieser angebliche Graf gar kein Mann sei, sondern ein in Männerkleidern einhergehendes Weib und Sarolta (Charlotte) Gräfin V. heiße. S. wurde verhaftet und wegen Verbrechens des Betrugs und Fälschung öffentlicher Urkunden in Voruntersuchung gezogen. Im ersten Verhör bekennt S., 23 Jahre alt, daß er weiblichen Geschlechtes, katholisch, ledig und als Schriftsteller unter dem Namen Graf V. beschäftigt sei. Aus der Autobiographie dieses Mannweibes ergeben sich folgende bemerkenswerte, von anderer Seite bestätigte Tatsachen: S. stammt aus einer altadeligen, hochangesehenen Familie, in welcher Exzentrizität Familieneigentümlichkeit war. Eine Schwester der Großmutter mütterlicherseits war hysterisch, somnambul und lag wegen eingebildeter Lähmung 17 Jahre zu Bette. Eine zweite Großtante brachte wegen eingebildeter Todeskrankheit 7 Jahre im Bette zu, gab aber gleichwohl Bälle. Eine dritte hatte den Spleen, daß eine Konsole in ihrem Salon verwünscht sei. Legte jemand etwas auf diese Konsole, so geriet sie in höchste Aufregung, schrie »verwünscht, verwünscht!« und eilte mit dem Gegenstand in ein Zimmer, das sie die »Schwarze Kammer» nannte und deren Schlüssel sie niemals aus den Händen gab. Nach dem Tod dieser Dame fand man in der Schwarzen Kammer eine Anzahl von Shawls, Schmucksachen, Banknoten usw. Eine vierte Großtante ließ zwei Jahre ihr Zimmer nicht kehren, wusch und kämmte sich nicht. Nach zwei Jahren erst kam sie wieder zum Vorschein. Alle diese Frauen waren nebenher geistreich, gebildet, liebenswürdig. S.'s Mutter war nervös und konnte den Mondschein nicht ertragen. Von der väterlichen Familie behauptet man, daß sie einen Sporn zuviel habe. Eine Linie der Familie beschäftigt sich fast ausschließlich mit Spiritismus. Zwei Blutsverwandte väterlicherseits haben sich erschossen. Die Mehrzahl der männlichen Angehörigen ist außerordentlich talentiert. Die weiblichen sind durchwegs beschränkte, hausbackene Persönlichkeiten. Der Vater S.'s hatte eine hohe Stellung, aus der er jedoch wegen seiner Exzentrizität und Verschwendung (er verschwendete über 1½ Millionen) ausscheiden mußte. Eine Marotte des Vaters war es, daß er S. ganz als Knaben erzog, sie reiten, kutschieren, jagen ließ, ihre Energie als Mann bewunderte, sie Sandor nannte. Dagegen ließ dieser närrische Vater seinen zweiten Sohn in Frauenkleidern gehen und als Mädchen erziehen. Dies hörte mit dem 15. Jahre, wo dieser Sohn eine höhere Bildungsanstalt bezog, auf. Sarolta-Sandor blieb unter dem Einfluß des Vaters bis zum 12. Jahre, kam dann zur exzentrischen mütterlichen Großmutter nach Dresden und wurde von dieser, als der männliche Sport zu sehr überhand nahm, in ein Institut gebracht und in Weiberkleider gesteckt. 13 Jahre alt, ging sie dort mit einer Engländerin, der sie sich als Bub erklärte, ein Liebesverhältnis ein und entführte sie. Sarolta kam zur Mutter, die aber nichts ausrichtete und es zulassen mußte, daß ihre Tochter wieder Sandor wurde, Knabenkleider trug und jedes Jahr mindestens ein Liebesverhältnis mit Personen des eigenen Geschlechts begann. Daneben erhielt S. eine sorgfältige Erziehung, machte größere Reisen mit dem Vater, natürlich immer als junger Herr, war früh selbständig, besuchte zweideutige Lokale und rühmte sich sogar, eines Tages im Lupanar utroque genu puellas sedisse. S. war oft berauscht, begeistert für männlichen Sport, ein sehr gewandter Fechter. S. fühlte sich sehr zu Schauspielerinnen oder sonstigen alleinstehenden, womöglich nicht ganz jungen Damen hingezogen. Sie versichert, nie eine Neigung zu einem jungen Manne gefühlt und von Jahr zu Jahr eine zunehmende Abneigung gegen Männer empfunden zu haben. Seit etwa 10 Jahren lebte S. fast beständig ferne von ihren Angehörigen und als Mann. Sie hatte eine Menge Beziehungen mit Damen, machte mit solchen Reisen, verschwendete viel Geld, machte Schulden. Daneben ergab sie sich literarischer Tätigkeit und war geschätzter Mitarbeiter zweier angesehener Zeitschriften der Hauptstadt. Nur einmal dauerte eine solche Beziehung 3 Jahre. Vor Jahren machte S. die Bekanntschaft der um 10 Jahre älteren Frau E. Sie verliebte sich in diese Dame, machte mit ihr einen Ehekontrakt und lebte 3 Jahre mit ihr wie Mann und Frau in der Hauptstadt. Eine neue Liebe, die S. verhängnisvoll werden sollte, veranlaßte sie, das »Eheband« mit E. zu lösen. Diese wollte nicht von ihr lassen. Nur mit schweren Opfern erkaufte S. ihre Freiheit von E., die angeblich jetzt noch sich als geschiedene Frau beträgt und sich als Gräfin V. betrachtet! Daß S. auch bei andern Damen Leidenschaft hervorzurufen vermochte, geht daraus hervor, daß sie, als sie (vor der »Eheschließung« mit E.) eines Fräuleins D. überdrüssig geworden war, nachdem sie mit dieser einige tausend Gulden verjubelt hatte, von der D. mit Erschießen bedroht wurde, wenn sie ihr nicht treu bleibe. Während eines Aufenthaltes in einem Badeort verliebte sich S. in Marie E. und fand Gegenliebe. Nach etwa einem Jahr erreichte »er« das Ziel seiner Wünsche, indem Marie in Gegenwart eines Freundes ihres geliebten S. in einem Gartenhause von einem Pseudopriester in Ungarn getraut wurde. Den Trauschein stellte S. her. Das Paar lebte in Glück und Freude, und ohne die Anzeige des Schwiegervaters hätte diese Scheinehe voraussichtlich noch lange gedauert. Bemerkenswert ist, daß S. während des ziemlich langen Brautstandes die Familie seiner Braut über sein wahres Geschlecht vollkommen zu täuschen wußte. S. war passionierter Raucher, hatte durchaus männliche Allüren und Passionen. Seine Briefe und selbst gerichtliche Zustellungen gelangten unter der Adresse »Graf S.« an ihn; auch sprach er öfter davon, daß er zu einer Waffenübung einrücken müsse. Aus Andeutungen des »Schwiegervaters« geht hervor, daß S. (was dieser auch später zugestand) mittels in den Hosensack eingestopften Sacktuches oder auch Handschuhs ein Scrotum zu markieren wußte. Auch bemerkte der Schwiegervater einmal etwas wie ein erigiertes Membrum (wahrscheinlich ein Priap) am künftigen Schwiegersohn, der auch gelegentlich die Bemerkung fallen ließ, er müsse beim Reiten ein Suspensorium tragen. Tatsächlich trug S. eine Bandage um den Leib, möglicherweise zur Befestigung eines Priaps. Bezüglich der geistigen Individualität S.'s geben eine große Anzahl vorhandener Manuskripte erwünschten Aufschluß. Die Schriftzüge haben den Charakter der Festigkeit und Sicherheit. Es sind echt männliche Züge. Der Inhalt wiederholt sich überall in denselben Eigentümlichkeiten: – wilde zügellose Leidenschaft, Haß und Widerstand gegen alles, was dem nach Liebe und Gegenliebe dürstenden Herzen sich gegenüberstellt, poetisch angehauchte Liebe, in der auch nicht mit einem Zug Unedles berührt wird, Begeisterung für alles Schöne und Edle, Sinn für Wissenschaft und schöne Künste. Ihre Schriften verraten ungewöhnliche Belesenheit in Klassikern aller Sprachen, enthalten Zitate aus Poeten und Prosaikern aller Länder. Von berufener Seite wird auch versichert, daß S.'s dichterische Erzeugnisse nicht unbedeutend sind. Psychologisch bemerkenswert sind die das Verhältnis zu Marie berührenden Briefe und Schriften. S. spricht von der Seligkeit, die ihr an M.'s Seite blühte, äußert maßlose Sehnsucht, das angebetete Weib wenn auch nur für einen Moment zu sehen. Nach solcher Schmach wünscht sie nur mehr die Zelle mit dem Grab zu vertauschen. Der bitterste Schmerz sei das Bewußtsein, daß jetzt auch Marie sie hasse. Heiße Tränen, so viel, daß sie sich darin ertränken könnte, habe sie um ihr verlorenes Glück geweint. Bei der gerichtsärztlichen Untersuchung sagt S. etwa folgendes aus: Trotz ihrer schon von den ersten Lebensjahren an vorhandenen Zuneigung zum weiblichen Geschlecht will sie doch erst im 13. Jahr, gelegentlich der Entführung der Engländerin aus dem Dresdener Institut, die ersten Spuren sexuellen Triebes verspürt haben, der sich damals schon in Küssen, Umarmungen, Berührungen mit wollüstigen Empfindungen kundtat. Schon damals erschienen ihr in ihren Traumbildern ausschließlich weibliche Gestalten; sie habe sich, wie auch seither immer, in wollüstigen Träumen in der Situation eines Mannes gefühlt und gelegentlich auch Ejakulation dabei verspürt. Solitäre oder mutuelle Onanie kenne sie nicht. So etwas erscheine ihr höchst ekelhaft und der »Manneswürde« (!) nicht entsprechend. Sie habe sich auch niemals von andern ad genitalia berühren lassen, schon deshalb nicht, weil es ihr um die Wahrung ihres großen Geheimnisses zu tun war. Die Menses stellten sich erst mit 17 Jahren ein, verliefen immer schwach und ohne Beschwerden. Besprechung menstrualer Vorgänge verabscheut S. sichtlich, das sei etwas ihrem männlichen Bewußtsein und Fühlen sehr Zuwideres. Sie erkennt die Krankhaftigkeit ihrer sexuellen Neigungen an, wünscht sich aber nichts anderes, da sie sich in dieser perversen Empfindung vollkommen wohl und glücklich fühle. Die Idee eines sexuellen Verkehrs mit Männern mache ihr Ekel, und ihre Ausführung halte sie für unmöglich. Ihre Schamhaftigkeit erstrecke sich so weit, daß sie eher unter Männern schlafen könne als unter Frauen. So müsse sie, wenn sie ein Bedürfnis befriedigen wolle oder die Wäsche wechsle, ihre Zellengenossin bitten, so lange sich zum Fenster abzuwenden, damit sie ihr nicht zusehen könne. Als S. gelegentlich mit dieser Zellengenossin, einer Person aus der Hefe des Volkes, in Berührung kam, empfand sie wollüstige Erregung und mußte darüber erröten. S. erzählte sogar ungefragt, daß die von förmlicher Angst befallen wurde, als sie in der Gefängniszelle in die ihr ungewohnten Frauenkleider sich wieder einzwängen lassen mußte. Ihr einziger Trost war, daß man ihr wenigstens ihr Herrenhemd ließ. Bemerkenswert und für die Bedeutung von Geruchsempfindungen in ihrer Vita sexualis sprechend, ist auch ihre Mitteilung, daß sie gelegentlich einer Entfernung ihrer Marie jene Partien des Diwans aufgesucht und berochen habe, an denen Mariens Kopf zu liegen pflegte. Von Frauen interessieren S. nicht gerade schöne oder üppige, auch nicht sehr junge. Sie stellt überhaupt die körperlichen Reize des Weibes in zweite Linie. Sie fühlt sich zu denen von etwa 24 bis 30 Jahren hingezogen wie mit »magnetischem« Zug. Ihre sexuelle Befriedigung fand sie ausschließlich in corpore feminae (nie am eigenen Körper) in Form von Manustupration des geliebten Weibes oder Cunnilinguus. Gelegentlich bediente sie sich auch eines mit Werg ausgestopften Strumpfes als Priap. Sie ist religiös, hat lebhaftes Interesse für alles Edle und Schöne, ist sehr empfänglich für sittliche Wertschätzung seitens anderer. S. ist 153 cm hoch, von zartem Knochenbau, mager, jedoch an Brust und Oberschenkeln auffallend muskulös. Der Gang ist in Weiberkleidern ungeschickt ( Krafft-Ebing).


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