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Vorwort

Wie kaum ein anderes Buch hat R. von Krafft-Ebings »Psychopathia sexualis« Jahrzehnte hindurch nicht nur jenen, für die es der Autor bestimmt hatte: den Ärzten und Juristen, wichtige Dienste geleistet, sondern es war weit darüber hinaus für Wissenschaft und Forschung von großer Bedeutung, und es hat schließlich so manchem für Menschenkenntnis und Weltanschauung wertvolle Hilfen geboten.

Die außerordentliche Verbreitung der verschiedenen Perversionen nötigt jeden, der sich bemüht, in das seelische Verhalten seiner Umgebung, seiner Umwelt, seines Volkes einzudringen, sich mit den Problemen der sexuellen Psychopathologie zu befassen. Wir leben unleugbar in einer Zeit, in der Gesetze und Normen, die sonst gerade auf diesem Gebiet sich als wohltätige Hemmungen bewährt haben, an Zahl, an Kraft und an Macht verlieren. Wir sehen immer wieder, daß die mit andern Freiheiten zugleich erworbene Freiheit geschlechtlicher Betätigung in betrüblicher und schädlicher Weise mißbraucht wird. Und jene Fälle, die im Strom des gemeinschaftlichen Lebens mittreiben, obwohl sie sozial, eugenisch und volkshygienisch minderwertig, ja gefährlich sind, sind unvergleichlich zahlreicher als die schweren Formen, die Juristen und Ärzte zu sehen, zu hören und zu behandeln bekommen.

Deshalb kann heute das Studium der »Psychopathia sexualis« nicht mehr als ein Reservat dieser beiden Berufsgruppen betrachtet werden, sondern es ist Pflicht und somit Recht aller jener, die sich um richtige Orientierung im engeren wie im weiteren Kreise ihrer Umwelt aufrichtig bemühen. Und es mußte als überaus dankenswerte Aufgabe erscheinen, R. von Krafft-Ebings »Psychopathia sexualis« in einer den inzwischen erzielten Fortschritten der Erkenntnis entsprechenden Weise zu bearbeiten und neu herauszugeben.

Daß das Werk dabei sehr wesentlich verändert wurde, kann sicherlich nicht als Verletzung der Pietät betrachtet werden, denn es liegt ein volles Menschenalter wissenschaftlicher Forschung zwischen der Abfassung des Originals und dieser Neubearbeitung. In der Zwischenzeit sind mehrere neue Forschungsgebiete entstanden, z. B. die Tiefenpsychologie und die Endokrinologie, die sich gerade für den Bereich der sexualen Psychopathie als außerordentlich wertvoll erwiesen haben. Statt forensischer Darlegungen wurde als Anhang ein Kapitel über Therapie und Prognose der Sexualverirrungen aufgenommen.

Es ist – heutzutage – vielleicht nicht überflüssig, mit allem Nachdruck zu betonen, daß hier rein wissenschaftliche Tatsachen mitgeteilt und rein wissenschaftliche Anschauungen dargelegt werden. Daraus ergibt sich bereits, daß zu einer moralischen Wertung kein Anlaß besteht. Für die weitverbreitete Ansicht, daß die sexuellen Psychopathien auch moralisch zu beurteilen sind, wird u. a. angeführt, daß bei ihnen nicht nur der Arzt, sondern auch der Jurist einzugreifen hätte. Nun, bei einer Cholera oder einer Paralyse ist es auch nicht bloß nötig, den Kranken zu behandeln, die Isolierung – durch den Verwaltungsbeamten – ist bei Cholera ebenso selbstverständlich wie die Entmündigung durch den Richter – bei Paralyse, und doch wird es niemand einfallen, solch arme Kranke auch noch moralisch zu verurteilen. Die sexuellen Psychopathien sind Krankheiten; damit ist, in moralischer Hinsicht, alles gesagt.

Dr. Alexander Hartwich.


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