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Zweiter Teil. Erste Gruppe der Triebabweichungen. Anästhesie / Hypästhesie / Hyperästhesie / Paradoxien / Pädophilie /Gerontophilie / Zoophilie / Autosexualismus

Drittes Kapitel

Sexuelle Anästhesie

Eine Analogie zu den fließenden Übergängen, die überall in der Pathologie zwischen Gesundem und Krankhaftem bestehen, bilden innerhalb der sexuellen Psychopathie jene Formen, bei denen der Geschlechtstrieb fehlt oder doch zu fehlen scheint. Es ist für ihre Besprechung sehr wichtig, die beiden Geschlechter getrennt zu behandeln, weil der Zustand bei Männern weit deutlicher festzustellen ist als bei Frauen, und weil die erworbene (nicht die angeborene) sexuelle Anästhesie bei Frauen wesentlich häufiger vorkommt als bei Männern. Wird die sexuelle Anästhesie als pathologische Funktionsstörung des Geschlechtstriebes aufgefaßt, so fallen natürlich jene Fälle weg, bei denen es in physiologischer Weise zu einem Aufhören der Libido gekommen ist. Es ist ja bekannt, daß im Greisenalter der Geschlechtstrieb erlischt, und bei den sexuellen Widersinnigkeiten (Paradoxien) werden jene Fälle und Formen zu besprechen sein, bei denen sein Wiederaufleben von oft folgenschwerer Bedeutung ist. Grenzfälle zum Normalen findet man dort, wo durch verschiedene Erkrankungen teils des gesamten Organismus, teils der Fortpflanzungsorgane selbst, sowie durch Vergiftungen (Alkohol, Morphium) Geschlechtstrieb und Geschlechtsvermögen deutlich vorzeitig geschwunden sind.

Die innere Sekretion der Keimdrüsen und ihre Wirkung auf die Gehirnfunktionen ist hier der Hauptfaktor. Dafür sprechen sowohl die Fälle von operativer und durch Verletzungen entstandener (traumatischer) Kastration, wie auch die mit den verschiedenen Keimdrüsenoperationen erzielten Ergebnisse. Es wurde aber bereits früher erwähnt, daß sich an den Verlust der Hoden das Aufhören des Geschlechtstriebes nicht mit unbedingter Sicherheit anschließen muß; anscheinend kann die Hypophyse ihre Funktion mitübernehmen.

Weit mehr dem Gebiete der sexuellen Psychopathie zugehörig sind nun jene Formen von sexueller Anästhesie, die auf zwei vollkommen entgegengesetzte Momente zurückzuführen sind, auf die Enthaltung und auf die Ausschweifung. Beiden gemeinsam ist, daß über die ihnen zugeschriebene Wirkung keine Sicherheit herrscht. Es läßt sich aber sagen, daß die Enthaltung in dieser Beziehung gefährlicher ist. Freilich mit der Einschränkung, daß gewöhnlich nur jene Männer enthaltsam sind und bleiben, deren Geschlechtstrieb schon von vornherein schwach entwickelt war. Es hat zweifelsohne den Anschein, als ob die Keimdrüsen bei längerem Fehlen zerebraler erotischer Reize ihre Hormonproduktion teilweise oder auch ganz einstellen. Und wo entweder diese selbst verhältnismäßig gering ist, oder wo Vorstellungen sexueller Natur seltener vorkommen, ist sowohl die Basis für eine Abstinenz gegeben, als auch das Eintreten der sexuellen Anästhesie erleichtert.

Aus all dem folgt schon, daß die früher so oft als Ursache bezeichneten sexuellen Exzesse eigentlich kaum für das Eintreten der sexuellen Anästhesie in Betracht kommen. Es liegt weit näher, hier an eine allenfalls unerkannt gebliebene Lues zu denken, mit dem Ausgang in Tabes und daraus entstandener Impotenz, bzw. Anästhesie. Da zu den sexuellen Exzessen sich in der Regel auch alkoholische gesellen, dürfte auch die chronische Alkoholvergiftung mitbeteiligt sein.

Jedenfalls wird bei diesen Gruppen das Eintreten der sexuellen Anästhesie das gesamte Seelenleben des Mannes mehr beeinflussen, als dies dort der Fall ist, wo organische Erkrankungen den Zustand verursacht haben.

Die sexuelle Anästhesie gehört als angeborener Zustand beim Manne zu den großen Seltenheiten. Denn als unanfechtbare Beispiele können nur solche Fälle gelten, in denen trotz normal entwickelten und funktionierenden Fortpflanzungsorganen jede Regung des Geschlechtslebens überhaupt und von jeher mangelt. Es handelt sich da wohl immer um degenerierte Menschen, bei denen anderweitige funktionelle Zerebralstörungen, psychische Entartungszustände, ja selbst anatomische Entartungszeichen nachweisbar sind.

Beobachtung 1. K., 29 J., Beamter, sucht aus Sorge über seinen abnormen sexualen Zustand ärztlichen Rat; er möchte heiraten, da er allein in der Welt dastehe, aber nur aus Vernunftsgründen. Noch niemals habe er an sich irgendeine sinnliche Regung verspürt. Er kenne das Sexualleben nur aus Äußerungen anderer Menschen und aus erotischer Lektüre, die aber nie den geringsten Eindruck auf ihn gemacht habe. Er habe keine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht, nie eine Zuneigung zum eigenen gehabt, nie masturbiert. Seit dem 17. Jahr zeitweise Pollutionen, aber ohne begleitende wollüstige Traumvorstellungen. Erektionen nur morgens beim Erwachen und mit der Entleerung der Harnblase sofort schwindend. Bis auf seinen Mangel geschlechtlicher Gefühle hält sich K. für ganz normal. Irgendein psychischer Mangel ist an ihm nicht nachweisbar, aber er liebt die Einsamkeit, ist ein trockener Verstandesmensch, ohne Interesse für schöne Künste, dabei aber ein geschätzter, kräftiger Berufsmensch ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 2. W., 25 J., Kaufmann, angeblich unbelastet, nie schwer krank gewesen, hat nie masturbiert, vom 19. Jahr ab seltene, meist von wollüstigen Träumen begleitete Pollutionen gehabt. Vom 21. Jahr ab Coitus rarissimus, actus quasi masturbatorius in corpore feminae, sine ulla voluptate. W. behauptet, solche Versuche nur aus Neugierde unternommen und bald aufgegeben zu haben, da Bedürfnis, Befriedigung und schließlich auch Erektion fehlten. Auch für das eigene Geschlecht hat er nie empfunden. Sein Zustand berührt ihn nicht schmerzlich. In Ethik und Ästhetik bietet er keine Ausfallerscheinungen ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 3. W., 33 J. alt, kräftig, gesund, mit normalen Genitalien, hat nie Geschlechtstrieb empfunden, vergebens durch obszöne Lektüre und Verkehr mit Prostituierten seinen mangelnden Sexualtrieb zu wecken versucht. Er empfand bei solchen Versuchen nur Ekel bis zu Erbrechen, nervöse und physische Erschöpfung und selbst, als er die Situation forcierte, nur einmal eine flüchtige Erektion. W. hat nie onaniert, seit dem 17. Jahr alle paar Monate eine Pollution gehabt. Wichtige Interessen forderten, daß er heirate. Er hatte keine Abneigung gegen Frauen, sehnte sich nach Heim und Weib, fühlte sich aber unfähig, den sexuellen Akt zu vollziehen ( Krafft-Ebing).

Beobachtung 4. X., 27 J., mit normalen Genitalien, hat nie Geschlechtstrieb empfunden. Erektion gelang leicht durch mechanische oder Wärme-Reize, aber statt Libido sexualis entstand dann regelmäßig Drang zu Alkoholexzessen. Umgekehrt riefen solche auch spontane Erektionen hervor, wobei er dann gelegentlich masturbierte. Er empfand Abneigung gegen Frauen und Ekel vor Koitus ( Krafft-Ebing).

Fassen wir das kurz zusammen, was wir über die sexuelle Anästhesie des Mannes gesagt haben, so ergibt sich, daß von ihr nur dort die Rede sein kann, wo bei anatomischer und physiologischer Unversehrtheit des Sexualapparates die Libido zu welchem Sexualobjekt immer fehlt. Angeboren ist dieser Zustand äußerst selten, erworben etwas häufiger, wofür als Hauptursachen sexuelle Abstinenz und Sexualexzesse in Betracht kommen.

Die sexuelle Anästhesie der Frau, die zwar schon seit 60 Jahren in der Fachliteratur bekannt ist Guttceit, Dreißig Jahre Praxis. Wien 1873., ist doch in ihrer vollen Bedeutung jahrzehntelang kaum gewürdigt worden. Auch erfahrene Psychologen haben der Frau ein gewisses Sexualverhalten gewissermaßen vorgeschrieben und einfach nicht Notiz davon genommen, daß die Wirklichkeit nur zu oft ganz anders war als die Theorie. Wenn auch die Forschung sich inzwischen bemüht hat, das Versäumnis nachzuholen Adler, Otto, Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes. Berlin 1919. Albrecht in Halban-Seitz, Handbuch der Gynäkologie und Geburtshilfe. Wien 1924-1929., so sind völlig eindeutige Resultate bisher noch nicht erzielt worden. Begreiflich, denn die Hemmungen, die jeder Frau als Keuschheit und Schamhaftigkeit anerzogen werden, erschweren das Eindringen in alle diese Zusammenhänge ebenso wie die physiologische Tatsache, daß bei der Frau Libido und Orgasmus solcher objektiv wahrnehmbarer Zeichen wie Erektion und Ejakulation entbehren.

Bei der sexuellen Anästhesie, also dem totalen Fehlen des Geschlechtstriebs, ist besondere Vorsicht am Platze, weil sich hier jene Fehlerquellen wie Selbsttäuschung und bewußte Täuschung der Frau stärker fühlbar machen. Am richtigsten dürfte es wohl sein, nicht mehr Fälle von angeborener sexueller Anästhesie bei Frauen anzunehmen als bei Männern. Man muß dabei bloß bedenken, in wie hohem Maße gerade die Frau imstande ist, psychische Vorstellungen in Empfindungen und Gefühle umzusetzen, und in welch relativ sehr frühem Zeitpunkt ein solcher Prozeß stattfinden kann. Es ist kein ungewöhnlicher Befund, daß man im Falle einer anscheinend sichergestellten angeborenen sexuellen Anästhesie ein sehr frühes und damals zweifelsohne weder als erotisch noch als sexuell bewußt gewordenes Erlebnis im Vorleben der Kranken findet, das unlustbetont, unlustvoll genug war, um die gesamte Sexualität dauernd zu sperren.

Daraus ergibt sich schon, daß die erworbene sexuelle Anästhesie bei Frauen keineswegs selten ist. In deutlichem Gegensatz zum männlichen Geschlecht gibt es zahlreiche Frauen, die niemals in ihrem Leben sexuelle oder erotische Regungen gefühlt haben, und das auch heute noch, wo das junge Mädchen nicht mehr auf die früher in der großen Mehrzahl der Fälle einzigen Möglichkeiten zum Geschlechtsverkehr, Masturbation oder ehelicher Koitus, beschränkt ist.

Auch wer sich nicht auf psychoanalytische Basis stellt, muß die Möglichkeit zugeben, daß ein sexuelles Trauma, in welchem Zeitpunkt immer, zu einer völligen und dauernden Störung, ja Zerstörung des psycho-physischen sexuellen Zusammenspiels führen und damit die sexuelle Anästhesie einleiten kann. Die Tatsache, daß dieser Zustand beim weiblichen Geschlecht ungleich häufiger ist als beim männlichen, wird allerdings dadurch in gewissem Maße ausgeglichen, daß er hier – zumindest theoretisch – zu heilen oder richtiger rückgängig zu machen ist.

Die sexuelle Anästhesie der Frau bietet aber auch noch in anderer Hinsicht Schwierigkeiten. Es wurde früher festgestellt, daß beim Mann von diesem Zustand nur dann die Rede sein kann, wenn einerseits die Libido fehlt und anderseits der Sexualapparat in Ordnung ist, was durch Erektion und Ejakulation objektiv nachweisbar ist. Dieses Kriterium fehlt nun bei der Frau. Es ist nun nicht nur denkbar, sondern läßt sich nicht so selten auch nachweisen, daß bei einer Frau keine sexuelle Anästhesie vorliegt, sondern bloß eine Abweichung von der Norm in bezug auf das Sexual objekt. So kann angeborene Homosexualität der betreffenden Frau lebenslänglich verborgen bleiben (aus äußeren Gründen oder wenn die Libido unternormal ist), sie kann sich aber als sexuell anästhetisch fühlen, weil sie ja keinerlei Regungen für das übliche Objekt, für den Mann, aufbringt.

Schließlich ist noch ein Faktor zu berücksichtigen, nämlich die weibliche Keimdrüse mit ihrem für die Sexualfunktion so wichtigen Hormon, welches Organ sowohl eine kürzere Funktionsdauer wie eine größere Erkrankungsmöglichkeit hat als die männliche Keimdrüse.

Es ist klar, daß die durch das Klimakterium oder, was noch wichtiger ist, durch pathologische Prozesse in den Eierstöcken hervorgerufene Unfruchtbarkeit der Frau auch für die Frage der psychosexuellen Funktion, hier also der Anästhesie, von Belang ist. Von den beiden Faktoren, die bei den Männern angeführt wurden, Abstinenz und sexuelle Exzesse, kommt bei den Frauen nur der erste in Frage. Ausschweifung in geschlechtlicher Beziehung kann wohl zu einer zeitweiligen Abkehr vom Sexualakt als Folge einer Übersättigung und Überreizung führen, nicht aber zur dauernden Anästhesie.

In kurzer Zusammenfassung ergibt sich also, daß die angeborene sexuelle Anästhesie bei Frauen ebenso selten auftritt als bei Männern, daß aber die erworbene ungleich häufiger zu finden ist. Gründe dafür sind hauptsächlich psychische Insulte mit einer Sperrung der psycho-physischen sexuellen Funktion, die Keimdrüsen schädigende Erkrankungen und Klimakterium.


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