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Zweites Kapitel

Allgemeines zur Psychopathia sexualis

Überaus häufig sind die sexuellen Funktionen abnorm. Je tiefer man in das Erscheinungsbild wie in die Grundlagen dieser Funktionsstörungen eindringt, um so deutlicher erkennt man, daß es nicht angeht, die Zustandsbilder, so wie Krafft-Ebing das noch tun mußte, in periphere, spinal und zerebral bedingte Neurosen einzuteilen oder einerseits anatomische Veränderungen, anderseits rein funktionelle Zustände anzunehmen ( Moll). Das für alles menschliche Geschehen so bedeutungsvolle psycho-physische Zusammenspiel liegt allen Triebabweichungen zugrunde. Dagegen sprechen auch nicht gewisse rein organische Störungen des Sexualapparates, und zwar insofern, als sie ja nichts anderes sind als Symptome einer lokalen oder allgemeinen Erkrankung, einer Vergiftung und dergleichen. Als Beispiele dafür seien angeführt: vollständige Impotenz infolge Zerstörung des Erektionszentrums oder Unterbrechung der Leitungsbahnen bei spinalen Erkrankungen; Priapismus (gehäufte oder abnorm lang andauernde Erektionen), gleichfalls durch spinale Erkrankungen, durch Gift, wie z. B. Kantharidin, sowie auch durch Gonorrhöe verursacht. Schließlich können auch Erektions-, besonders Ejakulationsstörungen Symptome von Diabetes, Morphinismus sowie von verschiedenen Hirn- und Rückenmarkserkrankungen, besonders von Tabes und Paralyse, sein.

Schon diese sehr summarische Übersicht zeigt also, daß das Krankheitszustände und -erscheinungen sind, die mit der Psychopathia sexualis so gut wie nichts zu tun haben.

Man muß sich immer wieder vor Augen halten, daß bei den so überaus wichtigen Potenzstörungen des Mannes sowie bei der sexuellen Hypo- und Anästhesie der Frau psychische Vorgänge die Hauptrolle im psycho-physischen Zusammenspiel innehaben. Eine Betrachtungsweise, die einerseits die anatomischen Grundlagen im Auge hat, anderseits funktionelle, also seelische Vorgänge, muß unbedingt zu Irrtümern führen. Will man die Psychopathia sexualis noch enger umgrenzen, so hat man ihr nur jene Formen von Triebabweichungen zuzuweisen, bei denen die Erotik ( Moll: der Kontrektationstrieb) abnorm ist. Mit voller Bestimmtheit läßt sich das allerdings nicht durchführen, und es wird sich zumindest in den unmittelbar nachfolgenden Kapiteln zeigen, daß im Bereich der sexuellen Psychopathie auch die Sexualität im engeren Sinn ( Moll: der Detumeszenztrieb) vorwiegend abnorm sein und somit zu Triebabweichungen führen kann.

Es ist klar, daß bei der Erforschung eines so ungeheuer reichhaltigen und so außerordentlich komplizierten Wissensgebietes wie der Psychopathia sexualis eine Einteilung und Gliederung des ganzen Stoffes von großer Bedeutung ist. Die klassische Aufstellung einer solchen rührt von Krafft-Ebing her; sie wird, wenn auch nicht zur Gänze, auch hier beibehalten werden, obwohl Autoren wie z. B. Havelock Ellis andere psychologisch tief durchdachte Schemata ausgearbeitet haben. Krafft-Ebings Einteilung ist indes übersichtlicher und somit praktischer.

Man muß sich aber immer darüber klar sein, daß es bei der Erforschung und Beurteilung psychischer und psycho-physischer Vorgänge stets ebenso falsch wie gefährlich ist, Zustände oder auch bloße Symptome auf nur eine Wurzel zurückzuführen oder die Tatsache aus dem Auge zu verlieren, daß, so wie stets fließende Übergänge oft ganz unmerklich vom Normalen zum Pathologischen überleiten, auch die verschiedenen pathologischen Formen zueinander in Beziehung stehen, ineinander übergehen und sich gegenseitig in ihrer Qualität und Intensität beeinflussen. Merkwürdiger- und bedauerlicherweise wird dieser Gesichtspunkt auch in Werken nicht oder zu wenig beachtet, die sonst höchsten Rang einnehmen. Gerade die neuesten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der sexuellen Psychopathie machen es zur Pflicht, jene Zusammenhänge immer wieder nachzuweisen und zu betonen.

Es ist dies schon deshalb notwendig, weil man in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Kombinationen von Triebabweichungen findet, und zwar in der Weise, daß eine Perversion aus der ersten der im nachfolgenden aufgestellten drei großen Gruppen mit einer aus der zweiten verbunden vorkommt. Gewisse Vorsicht ist dann am Platze, wenn man versucht, hier einen kausalen Zusammenhang aufzustellen. So hat man vielfach gemeint, daß eine Hyperästhesie ein wesentliches Moment für das Zustandekommen einer Triebabweichung aus der zweiten großen Gruppe bilde. Nun, das kann zwar, muß aber nicht der Fall sein. Keinesfalls sollte man die Tatsache überschätzen, daß gewisse Formen des Sadismus eindeutig mit Hyperästhesie verbunden auftreten, oder daß in nicht wenigen Fällen von Fetischismus und Masochismus sich gleichzeitig eine Hypästhesie nachweisen läßt. Im wesentlichen handelt es sich wohl immer darum, daß der Sexualtrieb die normale Bahn verlassen hat; es ist dann weiter nicht erstaunlich, daß dort, wo das Ziel der Sexualhandlung abwegig ist, sich auch die Sexualität im engeren Sinn von der Norm entfernt.

So wie die Einteilung der verschiedenen Triebabweichungen ist auch die Begriffsbestimmung der einzelnen nicht leicht. Am wichtigsten ist es jedenfalls, Klarheit darüber zu schaffen, was man unter pervers, Perversion und unter Perversität zu verstehen hat.

Pervers ist nach Krafft-Ebing jede Äußerung des Geschlechtstriebs, die nicht den Zwecken der Natur, d. h. der Fortpflanzung, entspricht, falls Gelegenheit zu naturgemäßer geschlechtlicher Befriedigung gegeben ist.

Als Perversion bezeichnen wir das, was Krafft-Ebing Parästhesie genannt und als Erregbarkeit des Sexuallebens durch inadäquate Reize bezeichnet hat. Nach ihm ist es für die Parästhesie, also auch für die Perversion kennzeichnend, daß bei ihr Vorstellungen, die sonst sexuell gleichgültig oder sogar mit Unlust verbunden sind, lustbetont auftreten. Verknüpfen sich Vorstellung und Lust und wird dadurch Affekthöhe erreicht, so resultiert der perverse Akt, die Perversität. Dies ergibt sich um so eher, wenn entweder überhaupt keine dem Akt entgegenstehenden moralischen, ästhetischen und rechtlichen Komplexe vorliegen, oder wenn die Lustgefühle stärker sind als solche hemmend wirkende psychische Gebilde.

Es ist also festzuhalten, daß die Perversion ein Zustand ist, die Perversität hingegen eine Tathandlung, bzw. eine Reihe oder Kette von Tathandlungen. Auch Moll hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Perversion des Geschlechtstriebs nicht mit Perversität geschlechtlichen Handelns verwechselt werden darf. Nicht die Perversität, also die Tathandlung, ist dafür bestimmend, ob eine Perversion vorliegt oder nicht, denn der perverse Akt kann auch gelegentlich bei durchaus normalen Personen vorkommen, z. B. unter Einfluß von Alkohol oder aus Laune oder bei hochgesteigertem sexuellem Empfinden. Das gleiche gilt dort, wo aus äußeren Gründen (Gefangenschaft, Kasernierung usw.) der normale Geschlechtsakt nicht stattfinden kann und perverse Akte – Perversitäten – der Sexualnot entspringen.

Zur Feststellung einer Perversion bedarf es der Erkenntnis der Gesamtpersönlichkeit und der der Triebabweichung zugrundeliegenden Motive.

Wenden wir uns nun dem eigentlichen Thema des Buches, den Perversionen oder Triebabweichungen zu, so empfiehlt es sich, bei der Fülle und Vielseitigkeit der Erscheinungen und Formen, zuerst eine Einteilung zu treffen, bei der allerdings das ursprüngliche Schema Krafft-Ebings nur zum Teil beibehalten werden kann. Havelock Ellis (s. o.) hat zwei große Gruppen angenommen: den erotischen Symbolismus und die Homosexualität, wobei die erste Abteilung so gut wie alle Triebabweichungen umfaßt, für deren Zustandekommen in erster Linie die Erotik entscheidend ist. Moll gruppiert die Perversionen nach dem Ziel oder nach dem Gegenstand der Sexualhandlung, was praktisch jedenfalls empfehlenswerter ist. Noch bessere Orientierung dürfte aber ein Schema geben, das zwar Molls Einteilung zum größten Teil folgt, bei dem aber eine besonders wichtige Triebabweichung eine eigene Stelle erhält, die ihr ja schon wegen ihrer überaus großen Verbreitung gebührt.

Es resultieren also drei große Gruppen:

1. Jene, bei denen die Sexualität im engeren Sinne (der Detumeszenztrieb Molls) allein zugrunde liegt oder vorwiegend mitbeteiligt ist. Hierher gehören die psychosexuelle Anästhesie, Hypästhesie, Hyperästhesie, die sexuellen Paradoxien, also der im Kindesalter auftretende und der im Greisenalter wieder erwachende Geschlechtstrieb, ihre Ergänzungen, die Pädophilie und die Gerontophilie, dann die Zoophilie und der Autosexualismus.

2. Jene Triebabweichungen, bei denen die Erotik ( Moll: Kontrektationstrieb) abnorm sowie das Ziel der Handlung pervers ist. Also der Fetischismus, Sadismus, Exhibitionismus und Masochismus.

3. Die dritte Gruppe bildet die Homosexualität mit ihren Unterabteilungen, der Bisexualität und dem Transvestitismus.

*

Bevor wir auf die einzelnen Teilgebiete der sexuellen Psychopathie eingehen, erscheint es zweckmäßig, wenigstens die wichtigsten jener Werke anzuführen, in denen das Sexualleben des Menschen wissenschaftlich bearbeitet und dargestellt ist. Dabei wurde vor allem praktische Verwendbarkeit angestrebt; auf Vollständigkeit mußte schon deshalb verzichtet werden, weil es neben jenen Werken noch eine wahre Unzahl oft höchst bedeutsamer Einzelveröffentlichungen gibt. Wer sich eingehender mit dem ganzen Stoff beschäftigen will, findet in den nachstehend angeführten Büchern Literaturangaben aller Art.

Das gesamte Gebiet der Sexualwissenschaft behandeln:

Havelock Ellis, Werke über das Geschlechtsleben. Leipzig 1910-1925.

Fritz Kahn, Unser Geschlechtsleben. Ein Führer und Berater für jedermann. Rüschlikon bei Zürich, 1946.

Max Marcuse, Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Bonn 1925.

Albert Moll, Handbuch der Sexualwissenschaft. Leipzig 1926.

Anatomische und physiologische Angaben findet man in dem oben angeführten Kahnschen Werke sowie in den betreffenden Handbüchern, z. B. in K. v. Bardeleben, Handbuch der Anatomie des Menschen, Bd. 7, Jena 1904, oder in W. Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 2, Braunschweig 1907. Sehr wertvoll und durchaus auf der Höhe moderner Forschung ist ferner Halban-Seitz, Biologie und Pathologie des Weibes, Wien 1924-1929.

Die mit dem Geschlechtsleben zusammenhängenden Eheprobleme finden eine vortreffliche Darstellung in:

Für jene, die sich eingehender mit der Psychopathia sexualis beschäftigen wollen, kommen nachstehende Bücher in Betracht:


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