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Viertes Kapitel

Sexuelle Hypästhesie

Die ganz ungeheure Verbreitung dieses Zustandes unter allen Kulturmenschen macht es besonders wichtig, auf ihn einzugehen, obwohl hier alles strittig, alles schwankend, alles wohl nur nach persönlichem und nicht nach sachlichem Ermessen beurteilbar ist. Während die Anästhesie noch als wirkliche Triebabweichung aufgefaßt werden kann, läßt sich die Hypästhesie kaum als eine solche bezeichnen, sie ist weit eher teils ein Zeichen, teils – und das ist wichtiger – eine Wurzel anderer Perversionen.

Auf diesem Gebiet muß man vor allem zwischen der Peripherie und dem Zentrum unterscheiden, also zwischen den Organgefühlen und dem psychophysischen Zusammenspiel, zwischen rein somatischen Verhältnissen und seelischen Verhaltensweisen und Einstellungen. Hier wie dort sind Zustandsveränderungen durchaus imstande, die verschiedensten Triebabweichungen anzubahnen und herbeizuführen, und zwar bei beiden Geschlechtern. In diesem Zusammenhang sind also zwei überaus bedeutsame Zustände in erster Linie physischer, in zweiter aber doch sehr oft psycho-physischer Natur zu besprechen, die Potenzangst des Mannes und die Kälte oder Dyspareunie der Frau, die, um dies vorwegzunehmen, im Bereich der sexuellen Hyperästhesie ihre Entsprechung in der Satyriasis und der Nymphomanie besitzen.

Die Hypästhesie des modernen hochkultivierten und hochzivilisierten Mannes zeigt ein ganz typisches Bild. Es hat durchaus den Anschein, als ob es unmöglich wäre, den hochgespannten Anforderungen, die das heutige Großstadtleben an den beruflich tätigen Mann stellt, ohne Einbußen in sexueller Beziehung zu entsprechen. Ausnahmen sind höchstens jene Männer, die in freien Berufen mit irgendwie künstlerischem Einschlag stehen, wie Künstler, Ärzte und Rechtsanwälte, von denen gerade berühmte und in ihrem Fach hervorragende Persönlichkeiten mit einer Unmenge von Arbeit ein reiches Liebesleben zu verbinden wissen. Wer tiefer in die Frage eindringt, wird erkennen, daß die Tätigkeit im Beruf (und der damit verbundene Erfolg) nicht das Primäre ist und die Hypästhesie das Sekundäre, sondern daß umgekehrt zuerst eine geringe Libido da war, die es dem Mann ermöglichte, in seiner Arbeit aufzugehen. Diese Art der sexuellen Hypästhesie ist demzufolge weit seltener erworben als angeboren.

Aber noch ein anderer Faktor scheint für das Zustandekommen dieses Zustandes beim Manne verantwortlich gemacht werden zu können: die Monogamie, wobei es natürlich gleichgültig ist, ob eine gesetzlich sanktionierte Ehe besteht oder nicht.

Eine sehr beträchtliche Anzahl von Fällen und Formen von männlicher Sexualhypästhesie findet man schließlich dort, wo nicht der Geschlechtsverkehr überhaupt, sondern nur der normale Geschlechtsakt als wenig oder gar nicht lustbringend empfunden und also auch nicht begehrt wird. Das führt uns zu dem bisher viel zu wenig beachteten Begriffe der latenten Perversion. Damit ist ein Zustand gemeint, bei dem zwar eine starke Triebabweichung vorliegt, am häufigsten Fetischismus oder Homosexualität, seltener Masochismus oder Sadismus, bei dem aber den betreffenden Männern diese ihre Einstellung gar nicht bekannt ist. Sie zeigt sich ihnen nur in einer Unlust zum Koitus oder dort, wo diese Unlust wenigstens insoweit überwunden wurde, daß der Akt begonnen wurde, in einem Mißlingen des Aktes. Die Aufdeckung solcher Fälle ist nicht leicht, manchmal auch gar nicht ratsam, sie gelingt aber auch ohne Psychoanalyse, wenn man nur Jugenderinnerungen, Traumerzählungen und Wunschvorstellungen mit genügender Sorgfalt erhebt und verwertet. Manchmal scheint die Psyche geradezu eine zweckmäßige Anordnung durchzuführen, durch die eine als sündhaft, gefährlich usw. empfundene oder auch nur dunkel geahnte Triebabweichung in der Weise ausgetilgt wird, daß der Geschlechtstrieb als solcher bis zur sexuellen Hypästhesie eingedämmt oder sogar bis zur Anästhesie ausgelöscht wird.

Ein sehr bezeichnendes Beispiel entnehmen wir Moll:

Beobachtung 5. X., 34. alt, seit 5 Jahren verheiratet mit einer hübschen Dame, klagt darüber, daß er nie imstande sei, den Beischlaf auszuführen. Es stellt sich heraus, daß er noch nie den Beischlaf ausgeübt und auch nie den Trieb dazu gehabt hat. Ein Mitschüler von ihm kennt ihn von Jugend auf. Aus beider Mitteilungen, sowie aus denen seiner Frau ergibt sich, daß man es bei X. mit einem ehrenhaften Manne zu tun hat, der aber niemals eine Liebe oder Liebelei empfunden hat. Er ist einige Male in Bordelle gegangen, war aber stets so angewidert, daß er das Geld hinlegte und, ohne etwas zu tun, wegging. Schon während der Verlobungszeit fiel es seiner Frau auf, daß er so kühl bei jeder körperlichen Berührung war, daß er bei der Verlobung nicht einmal einen Kuß auf den Mund, sondern höchstens auf die Hand gab. Sie wollte damals die Verlobung rückgängig machen, weil ihr die Kühle sehr merkwürdig vorkam. Sie ist aber gar nicht unglücklich, daß sie es nicht getan hat, denn beide passen trotz dieses Mangels sehr gut zusammen und verstehen sich seelisch sehr wohl. Sie selbst hat mitunter den Geschlechtstrieb. Daß sie ihn nicht befriedigen kann, ist ihr sehr unangenehm, aber nicht Lebensbedingung. Sie hat sich mit der Kinderlosigkeit seit langer Zeit abgefunden. Das einzige, was X. selbst an sexuellem Reiz verspürt, ist folgendes: Zunächst hat er ein besonderes Interesse für hübsche Hände. Aber auch wenn er sie betrachtet oder küßt, hat er keinerlei Erektion. Er hat auch nicht etwa das Bedürfnis, solche Hände an seine Geschlechtsorgane heranzulegen. Ferner schläft er des Nachts besonders angenehm ruhig ein, wenn er seine Hand auf seine Frau legt, und diese, die hierin den einzigen Beweis einer physischen Liebe sieht, willigt gern ein. Onanie hat er nie getrieben. Pollutionen hat er des Nachts von Zeit zu Zeit, aber sehr selten auch nach den Angaben der Frau. Die Pollution verknüpft sich meistens mit einem ängstlichen Traum, z. B. will er noch zu einem Zug zurechtkommen, der gerade fortfährt. Bei dieser Angstempfindung tritt die Pollution ein. Nur selten kommt sie bei dem Gedanken an geschlechtliche Berührung eines Weibes. Erektionen sind gelegentlich vorhanden, aber sie sind nie stark genug zur Einführung. Wenn er seine Frau umarmen will, geht die Erektion schnell vorüber ( Moll).

Schon wegen der außerordentlichen Schwierigkeiten, die einer Durchforschung dieser aus rein physischen Momenten und seelischen Prozessen überaus kompliziert zusammengesetzten Verhältnisse entgegenstehen, begnügen wir uns mit dem bisher Gesagten und wenden uns einem neuen Zustand zu, dessen Bedeutung für die gesamten Triebabweichungen gar nicht zu überschätzen ist, der Potenzangst.

Es wurde bereits früher darauf hingewiesen, daß für eine normale sexuelle Betätigung des Mannes eine richtige Erektion und Ejakulation Grundbedingungen sind, und daß außerdem der Mechanismus dieser physiologischen Vorgänge außerordentlich kompliziert und somit den verschiedensten Schädigungen und Störungen ausgesetzt ist, denn zum Zustandekommen jener Grundbedingungen bedarf es sowohl einer physischen wie einer psychischen Unversehrtheit, also gesunder Genitalorgane und richtiger Hormonproduktion, dann aber auch einwandfrei funktionierender Reflexbahnen und normaler zerebraler Tätigkeit. Um das ganze Zusammenspiel zu gewährleisten, müssen Physis und Psyche, Sexualität und Erotik harmonieren.

So ist es also fast verwunderlich, daß der ganze Mechanismus Jahrzehnte hindurch funktioniert, und daß es schwerer Veränderungen körperlicher oder seelischer Natur bedarf, um ihn dauernd zu vernichten. Zeitliche Störungen indessen, die seine einzelnen Teile betreffen, treten während des ganzen Manneslebens immer wieder auf, und es ist nun von der größten Bedeutung, wie sie vom einzelnen Individuum aufgefaßt und bewertet werden. Die Bedeutung, die so gut wie jeder Mann seiner Potenz beilegt, bringt es mit sich, daß hier ein Lieblingssitz für den Minderwertigkeitskomplex gegeben ist, dessen Wichtigkeit dargestellt zu haben ein unbestreitbares Verdienst der Individualpsychologie bildet.

Wie und wann besagter Komplex im Zusammenhang mit der Potenz des Mannes auftritt, ist in verschiedenen Fällen verschieden. So ist es z. B. nicht selten, daß von Anfang an ganz übertriebene Vorstellungen sowohl in bezug auf die »normale« Größe des erigierten Penis, wie über die »normale« Häufigkeit der Geschlechtsakte selbst bestehen, und daß dann, wenn diese phantastisch übertriebenen Größen und Zahlen nicht erreicht werden, Zweifel an der eigenen Potenz auftreten. Noch häufiger ist es, daß aus oft ganz gleichgültigen Ursachen einmal die Erektion ausbleibt oder zu kurz dauert, und daß dann dieser Umstand bei der betreffenden Partnerin Vorwürfe oder Spott auslöst, die zu einer schweren Unsicherheit des Mannes führen können. Es ist selbstverständlich, daß auch verschiedene rein organische Störungen, besonders der Reizleitung, wie z. B. der vorzeitige Samenerguß (ejaculatio praecox), hier mitzuspielen vermögen.

Durchaus im Vordergrund steht aber immer die Psyche. Sie ist es, die das Entstehen einer sekundären Hypästhesie des Mannes auf dem Umweg über die Potenzangst bewirkt, denn sehr begreiflicherweise kommt es in vielen Fällen dazu, daß man dem normalen Geschlechtsakt ausweicht, weil man eben Angst hat, dabei zu versagen, sich dabei zu blamieren, und daß in weiterer Folge die Libido immer schwächer und schwächer wird.

Das kann ein Zustand sui generis sein und bleiben, das kann aber auch, wenn der Geschlechtstrieb als solcher nicht herabsinkt und wenn nur irgendwie eine entsprechende Veranlagung vorliegt, Anlaß zur Entwicklung der verschiedensten Triebabweichungen geben. Als Beispiele seien etwa angeführt: Rückkehr zur infantilen oder juvenilen Masturbation, in weiterer Folge Autosexualismus oder erotische Bindung an die eigene Person (Narzißmus). Oder: bei Vorliegen irgendwelcher masochistischer Neigungen Annehmen einer » Sklaven-Rolle«, bei der der Verzicht auf den normalen Geschlechtsverkehr, der also vermieden werden soll, sich aus der Sklaven-Situation ergibt Auf diese überaus wichtige Wurzel der verschiedenen Triebabweichungen wird bei der Besprechung der einzelnen Perversionen jeweils hingewiesen werden..

Es besteht also ein Zusammenhang, man könnte auch sagen: ein circulus vitiosus, demzufolge ein gewisses Maß von sexueller Hypästhesie für die Potenzangst empfänglich macht. Diese wiederum leitet eine sekundäre Sexualhypästhesie ein, die vom normalen Sexualleben wegführt, entweder in dem Sinn, daß dieses immer mehr eingeschränkt wird, oder so, daß – bei vorhandener Anlage – ein Abirren in die eine oder andere Triebabweichung erfolgt.

Während alle diese Tatsachen und Zusammenhänge bisher beim Mann noch kaum beachtet und noch weniger besprochen und beschrieben wurden, sind die entsprechenden Vorgänge und Zustände bei der Frau weit besser erforscht, also das, was man als Frigidität oder Dyspareunie bezeichnet. Der erste Ausdruck gilt mehr dem psycho-physischen Zusammenspiel, der zweite der organischen, hier also genitalen Reizempfänglichkeit. Es sei zuerst wiederum einmal darauf verwiesen, daß es im Bereich der sexuellen Hypästhesie besonders schwierig ist festzustellen, was früher und was später, was primär und was sekundär ist. Die Meinungen weichen hier in der Tat ab, indem die einen Autoren eine unternormale Reizempfindlichkeit der Genitalien annehmen, während andere von der psychischen Einstellung der Frau ausgehen und von einer übertriebenen Entwicklung spezifisch weiblicher seelischer Eigenschaften, wie der Schamhaftigkeit, der Keuschheit usw., sprechen.

Am richtigsten wird es wohl sein, die Analogie zu benützen, die zwischen diesem Zustand und andern Verhaltensweisen und Einstellungen der Gesamtpersönlichkeit liegt, und also anzunehmen, daß es sich um ein sexuelles Minus im psycho-physischen Zusammenspiel handelt. Nur so lassen sich die verschiedenen Widersprüche Auch auf statistischem Gebiet. erklären.

Es wurde schon früher gesagt, daß zu dem »normalen« Geschlechtsleben der Frau die Übertragung der Reizempfindlichkeit von der Klitoris auf die Vagina gehört, ein Vorgang, der bei normalem Verlauf der Dinge bald nach der Defloration eintritt. In weiterer Folge bleibt die Frau entweder sowohl klitoriell wie vaginal erregbar, oder sie verliert die klitorielle Erregbarkeit zugunsten der vaginalen. Es gibt nun eine sehr große Zahl von Fällen, bei denen der ganze Prozeß ausbleibt. Letzten Endes wahrscheinlich, weil die betreffende Frau – zumindest in dieser Beziehung – auf infantiler Stufe verharrt. Es ist nun klar, daß dann der normale Geschlechtsakt nicht zum Orgasmus führen kann, und daß dort, wo nur vaginale Reizung ausgeübt wird, die Frau sich selbst als anästhetisch oder jedenfalls hypästhetisch empfindet und auch als solche gewertet wird, weil sie natürlich ihr ganzes Verhalten im Sexuellen nach dieser Tatsache einrichtet. Selbstverständlich, und darauf sei mit Nachdruck hingewiesen, braucht dabei von vornherein keinerlei sexuelle Hypästhesie oder gar Anästhesie zu bestehen! Es kann aber auch eine solche, und hierin liegt die Analogie zur Potenzangst des Mannes, eintreten, wenn die der betreffenden Frau entsprechende (klitorielle) Reizung dauernd ausbleibt; auch hier kann also eine sekundäre sexuelle Hypästhesie resultieren.

Von großer Bedeutung ist hier ferner, daß die Wollustkurven des Mannes und der Frau verschieden verlaufen, und zwar so, daß der Mann früher den Höhepunkt erreicht als die Frau. Bei »normalem« Verkehr wird dadurch die Frau verhindert, zum Orgasmus zu gelangen. Von gleicher Wirkung kann ein Mißverhältnis der Genitalien der beiden Partner sein, und schließlich gibt es Fälle, in denen die Vagina zwar reizempfindlich ist, wo aber zur Erreichung der Wollust gewisse zusätzliche klitorielle Reize unerläßlich sind.

Mit dieser Erklärung soll indessen keineswegs der – nicht seltene – Fehler begangen werden, eine Triebabweichung einzig und allein organisch zu begründen, um so weniger als ja die sexuelle Hypästhesie besonders bei der Frau vorwiegend psychisch bedingt sein kann. Denn es können geradeso, wie das für den Mann gezeigt wurde, auch bei der Frau durchaus übertriebene, von der Wirklichkeit weit abweichende Vorstellungen über Vorgänge wie Orgasmus, Wollustempfindung und dergleichen bestehen.

Es ist keine vereinzelte Tatsache, daß in unerfahrenen Mädchen durch Erzählungen und Lektüre Anschauungen über die Erlebnisstärke beim Orgasmus hervorgerufen werden, die weit über alles hinausgehen, was da in Wirklichkeit möglich ist. Als Frauen sind dann solche Personen ständig der Überzeugung, unbefriedigt zu bleiben und »das Wahre« nie und nimmer zu erleben, obwohl bei ihnen in Wirklichkeit der entsprechende physiologische Vorgang ganz ungestört und durchaus normal verläuft.

Eine andere, rein seelische Wurzel der sexuellen Hypästhesie des Weibes fehlt indessen im allgemeinen beim Mann, nämlich die übertriebene Schamhaftigkeit und Keuschheit, Einstellungen, die früher zwar weit häufiger vorkamen, die aber auch heute noch wohl in Betracht kommen.

Ebensowenig indessen, wie nur organische Momente der Hypästhesie des Weibes zugrunde liegen, wird sie lediglich durch seelische Faktoren bedingt. Denn es hält weder die falsche Vorstellung von Wollust und Orgasmus stand, wenn dieser einmal in voller Kraft eintritt, noch vermag auch eine überstarke Schamhaftigkeit einer wirklich entwickelten Libido zu widerstehen. Die sexuelle Hypästhesie der Frau ist also als psycho-physisch bedingt zu betrachten.

Die Formen der sexuellen Hypästhesie, die bisher besprochen wurden, sind teils durch angeborene, teils durch anerzogene Zustände verursacht und wurden, wenn sie auch irgendwie auf den normalen Sexualverkehr Bezug haben, so doch nicht durch diesen hervorgerufen. Es gibt nun auch zahlreiche Fälle, bei denen man den Sexualverkehr selbst, am häufigsten den Deflorationsakt, als auslösendes Moment anzusehen hat. Jeder Arzt, der über ein größeres Material sexuell hypästhetischer Frauen verfügt, bekommt immer wieder zu hören, daß eine bis dahin durchaus normale Libido von der Brautnacht an verschwunden sei. Die Deutung solcher Befunde ist nicht ganz einfach und führt zu einer Gruppe von Frauen, die bereits bei der Besprechung der sexuellen Anästhesie erwähnt wurde, nämlich zu jenen, die eigentlich homosexuell sind, ohne daß ihnen aber diese Einstellung je bewußt geworden wäre. Es ist klar, daß dann der normale Sexualakt nicht als Lust, sondern als Gewalttat und Schrecken empfunden wird und als etwas, das weiterhin sorgfältig zu meiden und zu vermeiden sei, denn man wird kaum jemals finden, daß bei einer normalen, d. h. heterosexuellen Frau die Defloration, und sei sie ursprünglich wirklich als Trauma empfunden worden, dauernd solche Folgen hätte. Seltsamerweise ist aber dieser Tatsachenkomplex in der einschlägigen Literatur kaum gewürdigt worden. Können wir uns also auch nicht entschließen, den Geschlechtsakt oder den normalen Geschlechtsverkehr allein für das Zustandekommen der sexuellen Hypästhesie der Frau verantwortlich zu machen, so sprechen wir uns damit doch keineswegs gegen die Möglichkeit einer erworbenen Hypästhesie aus, sondern berücksichtigen im Gegenteil in dieser Beziehung eine ganze Reihe ursächlicher Faktoren.

Da muß man in erster Linie daran denken, daß der Koitus für die Frau schon deshalb seelisch und körperlich ungleich bedeutungsvoller ist als für den Mann, weil er mit Schwangerschaft und Geburt im Zusammenhang steht oder jedenfalls stehen kann. Dort also, wo die Empfängnis nicht gewünscht, sondern gefürchtet wird, kann sich diese Einstellung leicht auf den der Empfängnis vorhergehenden Akt, also auf den Koitus und überhaupt auf den ganzen Geschlechtsverkehr übertragen, und es kann bei der bekannten Fähigkeit der Frau, psychische Vorgänge ins Physische zu übersetzen, daraus nicht nur eine seelische Ablehnung des gesamten Sexuallebens entstehen, sondern auch ein sehr bedeutendes Sinken der sexuellen Reizempfänglichkeit.

Ein anderer Faktor, der schon beim Mann erwähnt wurde, bei der Frau aber ungleich wichtiger ist, ist die Monogamie, deren Bruch auch dort, wo er juristisch nicht zu fassen ist, für sie in der Regel von schwereren Folgen begleitet ist. Es ist eine unleugbare Tatsache, daß es in der Einehe früher oder später zu einem Herabsinken des Geschlechtslebens kommt, sei es durch Verringerung der Zahl der einzelnen Geschlechtsakte, sei es durch Schwächerwerden ihrer Erlebniskraft. Das ist ein für die Frau psycho-physisch nicht gleichgültiges Moment, das das Auftreten einer gewissen sexuellen Hypästhesie vorteilhaft erscheinen läßt, zumal wenn es gelingt, gleichzeitig damit andere ethisch und praktisch wertvolle Einstellungen zu entwickeln (Gemeinschaftsgefühl zu dem Mann, Liebe zu den Kindern usw.). In diesem Falle kann dann die sexuelle Hypästhesie ebensowenig als Triebabweichung betrachtet werden wie im Klimakterium.

Bei der Frau ist die Möglichkeit, daß sich im Anschluß an eine sexuelle Hypästhesie eine Triebabweichung entwickelt, in noch höherem Maße gegeben als beim Manne, dies vor allem deshalb, weil die herabgesetzte oder aufgehobene genitale, besonders vaginale Reizempfindlichkeit dort, wo gleichzeitig normale Libido besteht – und das ist sogar eine sehr häufige Kombination geradezu zwangsläufig zuerst einmal zu Perversitäten, also zu perversen Akten, und später keineswegs selten zu ausgebildeten Perversionen führt. In jeder Hinsicht am wichtigsten ist hier der Cunnilinguus, dessen Verbreitung gar nicht zu überschätzen ist. Wird er vom Gatten oder vom ständigen Partner ausgeübt, so bleibt es in der Regel bei dieser Perversität, die aber, bei entsprechender Veranlagung, das Entstehen des weiblichen Sadismus besonders begünstigt, dem man ja in Wirklichkeit hauptsächlich bei hypästhetischen Frauen begegnet. Gelingt es einer nur klitoriell reizempfindlichen Frau hingegen nicht, einen in dieser Hinsicht geeigneten männlichen Partner zu finden, so liegt dann ein Abweichen in die homosexuelle Richtung nahe, sowie die Wiederaufnahme masturbatorischer Manipulationen. Diese führen dann häufig zum Autosexualismus, zu dem der Frau ohnedies naheliegenden Narzißmus, und psychisch kann es im weiteren Verlaufe zu einem ausgeprägten Autismus kommen mit all seinen oft schwerwiegenden Nachteilen.

Es geht heute nicht mehr an, über das Schicksal aller jener Frauen, die vom normalen Geschlechtsakt unbefriedigt bleiben müssen, mit der bequemen Diagnose: Hysterie hinwegzugehen. Hat man erst einmal klar erkannt, daß in der großen Mehrzahl der Fälle durch richtige seelische und körperliche Einstellung des Mannes der ganze Zustand behoben werden kann, dann ergibt sich daraus auch die Pflicht, dieser großen Gruppe sexueller Hypästhesien abzuhelfen.


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