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Erster Teil. Einführung

Erstes Kapitel

Zur Psychologie und Physiologie des Sexuallebens

Die Fortpflanzung des Menschengeschlechts ist nicht dem Zufall oder der Laune der Individuen anheimgegeben, sondern durch einen Naturtrieb gewährleistet, der allgewaltig, übermächtig nach Erfüllung verlangt. In der Befriedigung dieses Naturdrangs ergeben sich nicht nur Sinnengenuß und Quellen körperlichen Wohlbefindens, sondern auch höhere Gefühle der Genugtuung, die eigene, vergängliche Existenz durch Vererbung geistiger und körperlicher Eigenschaften in neuen Wesen über Zeit und Raum hinaus fortzusetzen. In der grobsinnlichen Liebe, in dem wollüstigen Drang, den Naturtrieb zu befriedigen, steht der Mensch auf gleicher Stufe mit dem Tier, aber es ist ihm gegeben, sich auf eine Höhe zu erheben, auf welcher der Naturtrieb ihn nicht mehr zum willenlosen Sklaven macht, sondern das mächtige Fühlen und Drängen höhere, edlere Gefühle weckt, die, unbeschadet ihrer sinnlichen Entstehungsquelle, eine Welt des Schönen, Erhabenen, Sittlichen erschließen.

Auf dieser Stufe steht der Mensch hoch über dem Trieb der Natur und schöpft aus der unversieglichen Quelle Stoff und Anregung zu edlerem Genuß, zu ernster Arbeit und zur Erreichung idealer Ziele. Wäre der Mensch des Fortpflanzungstriebes beraubt und alles dessen, was geistig daraus entspringt, so würden so ziemlich alle Poesie und vielleicht auch die ganze moralische Gesinnung aus seinem Leben herausgerissen sein.

Jedenfalls bildet das Geschlechtsleben einen gewaltigen Faktor im individuellen und im sozialen Dasein, den mächtigsten Impuls zur Betätigung der Kräfte, zur Erwerbung von Besitz, zur Gründung eines häuslichen Herdes, zur Erweckung altruistischer Gefühle, zunächst gegen eine Person des andern Geschlechtes, dann gegen die Kinder und im weiteren Sinne gegenüber der gesamten menschlichen Gesellschaft. So wurzeln in letzter Linie alle Ethik, vielleicht auch ein guter Teil Ästhetik und Religion in dem Vorhandensein geschlechtlicher Empfindungen.

Wie das sexuale Leben die Quelle der höchsten Tugenden werden kann, bis zur Aufopferung des eigenen Ichs, so liegt in seiner sinnlichen Macht die Gefahr, daß es zur gewaltigen Leidenschaft ausarte und die größten Laster entwickle. Als entfesselte Leidenschaft gleicht die Liebe einem Vulkan, der alles versengt, verzehrt, einem Abgrund, der alles verschlingt – Ehre, Vermögen, Gesundheit.

Man kann darüber streiten, ob die Menschheit im Verlauf der letzten Jahre sittlicher geworden ist. Zweifelsohne ist sie schamhafter geworden, und diese zivilisatorische Erscheinung des Verbergens sinnlich-tierischer Bedürfnisse ist wenigstens eine Konzession, welche das Laster der Tugend macht.

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte es den Anschein haben, als ob gewisse Erscheinungen gerade des modernen Lebens dem widersprächen, wie z. B. die weitgetriebene Enthüllung des weiblichen Körpers auf der Bühne, die kultähnliche Hingabe, mit der Luft- und Sonnenbaden betrieben wird, und ähnliche Erscheinungen bei dem heute zu einem so wichtigen Faktor gewordenen Sport. In Wirklichkeit liegen aber die Dinge wenigstens im großen ganzen anders; zumindest ist die Tendenz, in der heute Menschen beiderlei Geschlechts sich zu körperlich-sportlicher Betätigung vereinen, frei von jeder sexuellen Grundlage.

Vergleicht man weiter auseinander liegende Zeitabschnitte und Kulturperioden, so kann kein Zweifel obwalten, daß die öffentliche Moral, trotz gelegentlicher Rückschläge, einen unaufhaltsamen Aufschwung innerhalb der Kulturentwicklung nimmt, und daß einen der mächtigsten Faktoren auf der Bahn des sittlichen Fortschritts das Christentum darstellt.

Selbst auf der Höhe der Gesittung kann dem Manne nicht verübelt werden, daß er im Weibe zunächst den Gegenstand für die Befriedigung seines Naturtriebes erkennt. Aber es erwächst ihm die Verpflichtung, nur dem Weibe seiner Wahl anzugehören. Im Rechtsstaat wird daraus ein bindender sittlicher Vertrag, die Ehe, und sofern das Weib für sich und die Nachkommenschaft Schutz und Unterhalt benötigt, ein Eherecht.

Wie kaum ein anderes Gebiet gesellschaftlicher und sozialer Beziehungen zeitigt die Ehe im Bereiche der Kulturmenschheit eine Fülle schwerer und schwer lösbarer Probleme. Viel Zeit und viel Arbeit in Erziehung und Selbsterziehung wird noch nötig sein, um sie zu klären; gegenwärtig zeigt schon die große, durchaus ernst gemeinte und ernst zu nehmende Literatur über diese Frage deutlich, wie weit man noch von einer befriedigenden Lösung entfernt ist.

Von großem psychologischem Wert und für gewisse später zu besprechende pathologische Erscheinungen unerläßlich ist es, auf die psychologischen Vorgänge einzugehen, welche Mann und Weib einander zuführen und aneinander fesseln, so daß unter allen andern Personen desselben Geschlechts nur der oder die Geliebte begehrenswert erscheint.

Könnte man den Vorgängen in der Natur Absicht nachweisen – Zweckmäßigkeit kann man ihnen nicht absprechen –, so erschiene die Tatsache der Bezauberung und Faszinierung durch eine einzige Person des andern Geschlechts mit Gleichgültigkeit gegen alle anderen, wie sie beim wahrhaft und glücklich Liebenden tatsächlich besteht, als eine bewundernswürdige Einrichtung der Schöpfung, um ihre Zwecke fördernde monogamische Verbindungen zu sichern.

Für den Forscher erweist sich diese Verliebtheit oder diese »Harmonie der Seelen«, dieser »Bund der Herzen« aber keineswegs als ein »Mysterium der Seelen«, sondern all das ist in den meisten Fällen auf bestimmte körperliche, unter Umständen auch seelische Eigenschaften zurückzuführen, durch welche die Anziehungskraft der geliebten Person bedingt ist.

Man spricht dann vom sogenannten Fetisch und Fetischismus. Unter Fetisch pflegt man Gegenstände oder Teile oder bloße Eigenschaften von Gegenständen zu verstehen, die vermöge verbindender (assoziativer) Beziehungen zu einer lebhaften, Gefühle oder Interesse hervorrufenden Gesamtvorstellung oder Gesamtpersönlichkeit eine Art Zauber (»fetisso«, portugiesisch) bilden; mindestens einen sehr tiefen, dem äußeren Zeichen (Symbol, Fetisch) an und für sich nicht zukommenden Vgl. Max Müller, der das Wort »Fetisch« etymologisch von factitius (künstliches, unbedeutendes Ding) ableitet., weil individuell eigenartig betonten Eindruck bewirken.

Die individuelle Wertschätzung des Fetischs durch eine von ihm gereizte und angezogene Persönlichkeit nennt man Fetischismus. Diese psychologisch interessante Erscheinung, erklärbar aus einem erfahrungsmäßig assoziativen Gesetz: der Beziehung einer Teilvorstellung zur Gesamtvorstellung, wobei das Wesentliche aber die individuell eigenartige Gefühlsbetonung der Teilvorstellung im Sinne von Lustgefühlen ist, findet sich vornehmlich in zwei verwandten psychischen Gebieten – dem der religiösen und dem der erotischen Gefühle und Vorstellungen. Der religiöse Fetischismus hat andere Beziehung und Bedeutung als der sexuelle, sofern er seine ursprüngliche Begründung in dem Wahn fand und findet, daß der als Fetisch imponierende Gegenstand oder das Götzenbild göttliche Eigenschaften besitze, nicht bloß Sinnbild sei, oder daß dem Fetisch besondere wundertätige (Reliquien) oder schutzkräftige (Amulette) Eigenschaften abergläubischerweise zugeschrieben werden.

Anders der erotische Fetischismus, welcher seine psychologische Begründung darin findet, daß physische oder auch psychische Qualitäten einer Person, ja selbst bloße Gegenstände ihres Gebrauchs und dergleichen zum Fetisch werden, indem sie mächtige assoziative Vorstellungen zur Gesamtpersönlichkeit jeweils wecken, welche überdies mit einer lebhaften sexuellen Lustempfindung jederzeit betont werden. Ähnlichkeiten mit dem religiösen Fetischismus ergeben sich immerhin insofern, als auch bei diesem nach Umständen recht unbedeutende Gegenstände (Nägel, Haare usw.) Fetisch sind und mit Lustgefühlen bis zur Ekstase sich verbinden.

Bezüglich der Entwicklung physiologischer Liebe ist es wahrscheinlich, daß ihr Keim immer in einem individuellen Fetischzauber, den eine Person des einen Geschlechts auf eine des andern ausübt, zu suchen und zu finden ist.

Am einfachsten ist der Fall, daß mit einer sinnlichen Erregung der Anblick einer Person des andern Geschlechts zeitlich zusammenfällt und dieser Anblick die sinnliche Erregung steigert.

Gefühls- und optischer Eindruck treten in assoziative Verknüpfung, und diese festigt sich in dem Maße, als das wiederkehrende Gefühl das optische Erinnerungsbild weckt, oder dieses (Wiedersehen) neuerlich sexuelle Erregung auslöst, möglicherweise bis zu Orgasmus und Pollution (Traumbild).

In diesem Falle wirkt die körperliche Gesamterscheinung als Fetisch.

Wie Binet u. a. hervorhebt, können es aber auch Teile des Ganzen, bloße Eigenschaften, und zwar körperliche oder auch bloß seelische sein, welche die Person des andern Geschlechts als Fetisch beeinflussen, indem ihre Wahrnehmung mit einer (zufälligen) sexuellen Erregung zusammenfällt oder sie hervorruft.

Daß über diese seelische Verbindung (Assoziation) der Zufall entscheidet, daß der Gegenstand des Fetischs individuell höchst verschiedenartig sein kann, daß daraufhin die sonderbarsten Sympathien (und umgekehrt Antipathien) entstehen, ist allbekannte Tatsache der Erfahrung.

Aus dieser psychologischen Tatsache des Fetischismus erklären sich die individuellen Sympathien zwischen Mann und Weib, die Bevorzugung einer bestimmten Persönlichkeit vor allen andern desselben Geschlechts. Da der Fetisch ein ganz individuelles Lokalzeichen darstellt, wird es begreiflich, daß er nur ganz individuell wirkt. Da er von höchst mächtigen Lustgefühlen betont ist, führt er dazu, über die etwaigen Fehler des Gegenstandes der Liebe hinwegzutäuschen (»die Liebe macht blind«) und eine Überspanntheit hervorzurufen, die, nur individuell begründet, andern Personen unbegreiflich, nach Umständen selbst lächerlich erscheint. So erklärt es sich, wie der Nüchterne seinen verliebten Mitmenschen nicht begreifen kann, während dieser sein Idol vergöttert, mit ihm wahren Kultus treibt, ihm Eigenschaften andichtet, welche es, objektiv betrachtet, keineswegs besitzt. So erklärt es sich, daß die Liebe bald mehr als eine Leidenschaft, bald als ein förmlicher psychischer Ausnahmezustand sich darstellt, in dem das Unerreichbare erreichbar, das Häßliche schön, das Profane erhaben erscheint, jegliches sonstige Interesse, jegliche Pflicht verschwunden ist.

Mit Recht macht auch Tarde geltend, daß nicht bloß individuell, sondern auch national der Fetisch verschieden sein kann, jedoch das Ideal der Gesamtschönheit bei den Kulturvölkern derselben Zeit dasselbe bleibt.

Binet hat sich das große Verdienst erworben, diesen Fetischismus der Liebe genauer studiert und analysiert zu haben.

Aus ihm entstehen die besonderen Sympathien. So fühlt sich der eine zu schlanken, der andere zu dicken, zu brünetten oder zu blonden Schönen hingezogen. Für den einen ist ein besonderer Ausdruck des Auges, für den andern ein besonderer Klang der Stimme oder der eigenartige Geruch, selbst ein künstlicher (Parfüm), oder die Hand, der Fuß, das Ohr usw. der individuelle Fetischzauber, der Ausgangspunkt einer komplizierten Kette von seelischen Vorgängen, deren Gesamtausdruck Liebe, das heißt die Sehnsucht nach dem physischen und seelischen Besitz des Gegenstands der Liebe darstellt.

Mit dieser Tatsache ist eine wichtige Bedingung für die Aufstellung eines noch physiologischen Fetischismus erwähnt.

Der Fetisch mag dauernd seine Bedeutung behalten, ohne pathologisch zu sein, aber nur dann, wenn er von der Teilvorstellung zur Gesamtvorstellung vorschreitet, wenn die durch ihn erschlossene Liebe als ihren Gegenstand die gesamte seelische und physische Persönlichkeit umfaßt.

Die normale Liebe kann nur Gesamtschau (Synthese), Verallgemeinerung (Generalisation) sein.

Wer nur einigermaßen darüber nachdenkt, wird zur Erkenntnis kommen, daß von wirklicher Liebe (dieses Wort wird nur zu oft mißbraucht) nur dann die Rede sein darf, wenn die ganze Person zugleich leiblich und seelisch Gegenstand der Verehrung ist.

Ein sinnliches Element muß jede Liebe haben, d. h. den Drang, den Gegenstand der Liebe zu besitzen und mit ihm vereint den Gesetzen der Natur zu dienen.

Aber wenn jemandem bloß der Körper der Person des andern Geschlechts Gegenstand der Liebe ist, wenn er bloß Sinnengenuß befriedigen will, ohne die Seele zu besitzen und ohne seelisch gemeinsam zu genießen, dann ist seine Liebe nicht echt, so wenig als die des Platonikers, der nur die Seele liebt und sinnlichen Genuß verschmäht (manche Konträrsexuale). Für den einen ist der bloße Körper, für den andern die bloße Seele ein Fetisch, die Liebe bloßer Fetischismus.

Derartige Existenzen stellen jedenfalls Übergangsfälle zum pathologischen Fetischismus dar.

Diese Annahme trifft um so mehr zu, als seelische Befriedigung durch den Geschlechtsakt als weiteres Kriterium wirklicher Liebe gefordert werden muß.

Der Standpunkt, den Krafft-Ebing sowohl bei der Problemstellung wie bei der Beantwortung der aufgeworfenen Fragen auf dem Gebiete der Sexualpsychologie eingenommen hat, gilt heute wie damals. Seit dem ersten Weltkrieg haben jedoch die Begriffe und Anschauungen des Sexuallebens, der Sexualethik und der Sexualmoral tiefgreifende Wandlungen erfahren. Die radikale Änderung der Sexualmoral, die im europäischen Kulturkreis schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert eingesetzt hat, hat die Menschen weder darauf vorbereitet, noch dafür reif befunden. So kam es, daß nicht Freie von der Freiheit Gebrauch machten, sondern daß Freigelassene sie mißbrauchten. Unfug geschah und Unglück wurde erzeugt. Es kam nicht nur zu einer bis dahin unerhörten Promiskuität, sondern es fielen auch in weitem Umfang die Hemmungen, die bis dahin den verschiedenen Perversitäten und Perversionen entgegengestanden waren. Das Umschlagen von Heroismus in Hedonismus hat sich keineswegs nur auf die Großstädte Europas beschränkt. Damals war unzweifelhaft nicht nur die Zahl der Pervertierten, sondern vor allem die der perversen Akte größer als je zuvor. Indessen, allzu lange dauerte der Spuk denn doch nicht; aus verschiedenen Gründen, deren Anführung, so interessant sie auch wäre, hier zu weit führen würde, kam es zu einem Abebben der Flut, von der sich am längsten, bis heute, eine gesteigerte Promiskuität erhalten hat.

Für das Dritte Reich war es bezeichnend, daß für seine Beherrscher das Privatleben nicht existiert hat, und der von ihnen geschaffene Begriff des »Asozialen« war insofern für das Gebiet der sexuellen Psychopathologie von unheilvoller Bedeutung, als jeder sexuell Abnorme stets fürchten mußte, sterilisiert und ins Konzentrationslager gebracht zu werden. Die dadurch erzwungene Geheimhaltung der Triebabweichungen hat natürlich die Zustände verschlimmert.

Die millionenfachen Greuel dieser Zeit, die der entsetzten Welt noch immer nicht völlig bewußt geworden sind, haben begreiflicherweise dazu geführt, daß eine bestimmte Perversion, der Sadismus, zu einem allgemeinen Begriff geworden ist, den man als nächste Erklärung jener an sich ja unfaßbaren Schreckenstaten nur allzu wahllos benützt hat und noch benützt. Es sei darum vorweggenommen, daß der Begriff »Sadismus« aus der sexuellen Psycho-Pathologie stammt und genau so exakt begründet werden muß wie jede klinische Diagnose. In Wahrheit sind bei jenen Mördern und Henkern barbarische Urinstinkte entfesselt und benützt worden, die in den seltensten Ausnahmefällen etwas mit der sexuellen Sphäre zu tun hatten.

Es ergibt sich nun die Frage, ob derzeit mehr Perverse existieren als zur Zeit Krafft-Ebings, ein Problem, das zweifelsohne von allgemeinem, zumal sozialem Interesse ist. Für die Antwort ist in erster Linie maßgebend, welche Wege zur Verfügung stehen, um von den verschiedenen Triebabweichungen Kenntnis zu erhalten. Es gibt da einerseits das Patientenmaterial der auf diesem Gebiet tätigen Ärzte, anderseits die juristisch zu erfassenden Fälle.

Das Patientenmaterial hat sich unzweideutig geändert. Eine große Gruppe von Pervertierten hat zwar Einsicht in den eigenen Zustand und ist sich des Bestehens einer Triebabweichung bewußt, ohne jedoch darunter zu leiden – eine in jeder Beziehung überaus wichtige Tatsache. Offenkundige (manifeste) oder verborgene (latente) Perversionen also, die früher die Betroffenen unbedingt zum Arzte geführt hätten, werden nicht mehr als krankhaft und schon gar nicht als behandlungsbedürftig empfunden, gehen also auch der Forschung verloren. Das mag in mancher Hinsicht bedauerlich sein; unleugbar aber werden durch diese Einstellung zahlreiche oft schwere Schuld-, Krankheits- und überhaupt Minderwertigkeitsgefühle ausgeschaltet, und nicht wenige auf dieser Basis beruhende Neurosen, die früher nur allzu häufig waren, zählen heute fast schon zu den Seltenheiten.

Dieser Ausfall, bei dem, wie gesagt, die Vorteile vielleicht die Nachteile sogar überwiegen, wird aber auf einem andern Gebiet wettgemacht. Jeder Sexualforscher war und ist mit der großen Zahl von Störungen der männlichen Potenz vertraut; es ist indessen eine Neuerscheinung, daß nunmehr auch jene Frauen, die an einer den männlichen Potenzstörungen entsprechenden sexuellen Unempfindlichkeit (Anästhesie) oder an einer Herabsetzung der Empfindlichkeit (Hypästhesie) leiden, in immer steigendem Maße Rat und Hilfe des Arztes suchen, zu dessen Kenntnis somit die mit diesen Zuständen so oft verbundenen Perversitäten und Perversionen gelangen. Es wäre falsch zu glauben, daß diese Triebabweichungen heute häufiger seien als früher, oder daß sie erst jetzt als Leiden empfunden werden, dessen Behebung gewünscht wird. Nein, der Unterschied liegt bloß darin, daß die Frauen den Mut zur Krankheitseinsicht gefunden haben und zum Entschluß, etwas gegen diesen Zustand zu unternehmen.

In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die Angst vor der Staatsgewalt hingewiesen, die in allen vom Dritten Reich beherrschten Ländern die Leidenden bis zum letzten davor zurückgehalten hat, sich einem Arzt anzuvertrauen. Ein anderes zeitbedingtes Moment, das hier erwähnt werden muß, ist darin zu erblicken, daß die im Dritten Reich von Staats wegen geförderte, ja geradezu erzwungene Erhöhung der Kinderzahl in nicht wenigen Fällen dazu geführt hat, sexuell Abnorme zur Eheschließung zu veranlassen; daraus haben sich oft die schwersten seelischen Konflikte ergeben.

Es ist daher derzeit, wo die Folgen jenes so viele Jahre währenden Terrors noch immer spürbar sind, schwerer denn je, sich ein Bild von der Verbreitung der Perversionen zu machen, fehlen doch auch die forensischen Möglichkeiten für eine solche Schätzung. In Europa ist die wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiete fast gänzlich zum Stillstand gekommen, und die einschlägige Literatur aus Übersee liegt bisher erst in Bruchstücken vor.

Alles in allem dürfte aber die Zahl der Triebabweichungen heute höher sein als zur Zeit Krafft-Ebings. Nach wie vor ist deshalb die Psychopathia sexualis eines der interessantesten und wichtigsten Gebiete medizinischer und psychologischer Forschung, denn trotz der gewaltigen wissenschaftlichen Arbeit, die zur Aufklärung ihrer Probleme bereits geleistet wurde, sind noch viele bedeutsame Fragen ungelöst.

*

Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir kurz die Physiologie des Sexuallebens besprechen.

Innerhalb der Zeit anatomisch-physiologischer Vorgänge in den Fortpflanzungs(Generations-)drüsen findet sich im Bewußtsein des Individuums der Drang vor, zur Erhaltung der Gattung beizutragen ( Geschlechtstrieb).

Der Sexualtrieb in diesem Alter der Geschlechtsreife ist ein physiologisches Gesetz.

Die Zeitdauer der anatomisch-physiologischen Vorgänge in den Sexualorganen, gleich wie die Stärke des sich geltend machenden Sexualtriebes, ist bei Individuen und Völkern verschieden. Rasse, Klima, vererbte und soziale Verhältnisse sind darauf von entscheidendem Einfluß. Bekannt ist die größere Sinnlichkeit der Südländer gegenüber den geringeren sexuellen Bedürfnissen der Nordländer. Aber auch die sexuelle Entwicklung ist bei den Bewohnern südlicher Himmelsstriche gewöhnlich frühzeitiger als bei denen nördlicher. Während bei dem Weibe nördlicher Länder die Eiablösung (Ovulation), erkennbar an der Entwicklung des Körpers und dem Auftreten periodisch wiederkehrender Blutflüsse aus den Genitalien (Menstruation), gewöhnlich erst um das 13. bis 15. Lebensjahr erscheint, beim Manne die Pubertätsentwicklung (erkennbar am Tieferwerden der Stimme, Entwicklung von Haaren im Gesicht und am Schamberg, an zeitweise auftretenden Pollutionen usw.) erst vom 15. Jahre an bemerklich wird, tritt die geschlechtliche Entwicklung bei den Bewohnern südlicher Länder um einige Jahre früher ein, beim Weibe zuweilen schon im 8. Lebensjahre.

Bemerkenswert ist, daß Stadtmädchen sich um etwa ein Jahr früher entwickeln als Landmädchen, und daß, je größer die Stadt ist, um so früher, ceteris paribus, die Entwicklung erfolgt.

Von nicht geringem Einfluß auf Libido und Potenz sind aber auch vererbte Einflüsse. So gibt es Familien, in denen neben großer Körperkraft und Lebensdauer bedeutende Libido und Potenz bis in hohe Alters jähre sich erhalten, während in andern die Vita sexualis spät sich entwickelt und vorzeitig erlischt. Bekanntlich haben sich Physiologen ( Steinach) und Chirurgen ( Voronoff) in letzter Zeit vielfach bemüht, die Potenz des Mannes zeitlich zu verlängern. Die Tierversuche schienen in dieser Beziehung unbedingt erfolgversprechend. Beim Menschen hingegen, bei dem die Verhältnisse ja schon wegen der psychologischen Wechselbeziehungen ungleich komplizierter sind, konnten bisher eindeutige und vor allem andauernde Resultate nur in Einzelfällen erreicht werden.

Beim Weibe ist die Zeit der Tätigkeit der Generationsdrüsen enger begrenzt als beim Manne, bei dem die Spermabereitung bis ins hohe Alter fortdauern kann. Beim Weibe hört die Ovulation etwa 30 Jahre nach eingetretener Mannbarkeit auf. Der Zeitraum der versiegenden Tätigkeit der Eierstöcke (Ovarien) heißt der Wechsel (Klimakterium). Diese biologische Phase stellt nicht einfach eine Außerfunktionssetzung und schließlich Schwund (Atrophie) der Generationsorgane dar, sondern einen Umwandlungsprozeß des gesamten Organismus. Die Schwankungen in der Intensität sind bei beiden Geschlechtern auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Bei normalen Individuen dürfte beim Manne die Samenproduktion, beim Weibe der Ovulationsprozeß von wesentlicher Bedeutung sein. Bekannt sind die Schwankungen des Trieblebens zu den verschiedenen Jahreszeiten, aber auch andere klimatische Einflüsse spielen sicherlich eine Rolle.

Sehr interessant sind auch die Unterschiede, die die verschiedenen Rassen in dieser Beziehung aufweisen. Daß das Sexualleben der Orientalen von dem der Abendländer wesentlich verschieden ist, ist eine sichergestellte Tatsache. Die Rasse ist dabei wichtiger als das Klima. Europäer unterscheiden sich selbst bei jahrzehntelangem Aufenthalt in den Tropen oder im Fernen Osten in sexueller Beziehung ganz bedeutend von den Eingeborenen.

Am besten sind diese Verhältnisse in Europa studiert, und es läßt sich da bei einem Überblick ein sehr interessanter Gegensatz zwischen den beiden Geschlechtern feststellen. Je weiter man nämlich von Norden nach Süden fortschreitet, um so mehr steigt die Bereitschaft zum Sexualverkehr bei den Männern an und sinkt gleichzeitig bei den Frauen. Umgekehrt wächst das Liebesbedürfnis der Frauen von Süden nach Norden an und fällt bei den Männern ab. Daß hier natürlich neben der Rasse und dem Klima auch noch andere Faktoren mitbeteiligt sind, Erziehung, soziale Momente usw., ist klar; die Tatsache ist aber doch recht beweisend.

Daneben gibt es aber noch andere Einflüsse der Umwelt auf den Geschlechtstrieb. So hat es durchaus den Anschein, als ob ihn z. B. ein Aufenthalt im Gebirge herabsetzt, ein Verweilen an der See steigert. Auch die einzelnen Stunden des Tages sind in dieser Beziehung voneinander verschieden; wohl in den allermeisten Fällen zählt Geschlechtsverkehr in den Vormittags- und Mittagsstunden zu den Seltenheiten.

Ist auch ein Zentrum des Geschlechtssinnes bisher im Gehirn nicht nachgewiesen, so haben wir ihn doch als eine Leistung der Hirnrinde anzusehen. Die nahen Beziehungen zwischen Sexualität und Geruchssinn, besonders bei vielen Tieren, legen die Vermutung nahe, daß das »Sexualzentrum« der Olfaktoriussphäre (Geruchsnerv) entweder räumlich sehr nahe liegen oder durch mächtige Assoziationsbahnen mit ihr verknüpft sein müsse.

Die Entwicklung des Sexuallebens steht in enger Beziehung zu dem Einsetzen der Funktion der Sexualdrüsen, die nach den neuesten Forschungen weit kompliziertere Organe sind, als man früher einmal angenommen hatte. Unsere gegenwärtigen Kenntnisse vom Einfluß der Geschlechtsdrüsen auf den Gesamtorganismus haben als Ausgangspunkt die Kastration: »Instinktiv ausgeführt, durch Jahrtausende fortgesetzt, repräsentiert die Kastration das erste Experiment für den ganzen, jetzt so großen Abschnitt der Physiologie, der unter dem Namen Innere Sekretion – Endokrinologie – geht und die Grundlage dieser ganzen Wissenschaft bildet« ( Knud Sand). Die männlichen und weiblichen Geschlechtsdrüsen liefern aber nicht nur die für die Schaffung eines neuen Lebewesens erforderlichen geschlechtsspezifischen Keimzellen (Samenfaden und Ei), sondern sie bedingen auch durch ihre Hormone die Entwicklung der sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale bei Mann und Frau. Während wir dem Hoden die Produktion nur eines Hormones zuschreiben, bildet der Eierstock mindestens zwei verschiedene Stoffe, das Follikelhormon und das Gelbkörper-(Corpus luteum-)Hormon, zu denen in der Schwangerschaft noch ein drittes Hormon, das der Mutterkuchen (Plazenta) ausscheidet, hinzukommt. Die Geschlechtsdrüsen sind aber, wie vor allem Aschheim, Zondek und Smith nachgewiesen haben, nicht vollkommen selbständig arbeitende Organe, sondern werden in ihrer Entwicklung und Tätigkeit vom Vorderlappen des Hirnanhangs (Hypophyse), dem eigentlichen Motor der Sexualfunktion, beherrscht.

Im Sexualleben treten nun einerseits sehr früh lokale Genitalgefühle auf, anderseits erotische Vorstellungen, wie sie, leider in überreichem Maße, durch Beobachtungen, Lektüre und dergleichen angeregt und ausgelöst werden. Solche Vorstellungen werden wiederum von erotischen Gefühlen, und zwar von Wollustgefühlen, betont, und dadurch entsteht ein Drang, Wollustgefühle hervorzurufen (Geschlechtstrieb). Es entwickelt sich nun eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Hirnrinde (als Entstehungsort der Empfindungen und Vorstellungen) und den Fortpflanzungsorganen. Diese lösen durch anatomisch-psychologische Vorgänge (innere Sekretion der Hoden, der Eierstöcke, des Hirnanhangs, Blutüberfüllung, Eiablösung) sexuelle Vorstellungen, Bilder und Dränge aus.

Die Hirnrinde wirkt durch empfangene (apperzipierte) oder wiedergegebene (reproduzierte) sinnliche Vorstellungen auf die Generationsorgane (Hyperämisierung, Erektion, Ejakulation). Dies geschieht durch Zentra für die Erektion und Ejakulation, die am Beckenboden, einander jedenfalls räumlich nahe, sich befinden. Beide sind Reflexzentren.

Das Centrum erectionis ( Goltz, Eckhard) ist eine zwischen Gehirn und Genitalapparat eingeschaltete Zwischenstation. Die Nervenbahnen, die sie mit dem Gehirn in Verbindung setzen, laufen wahrscheinlich durch die Hirnschenkel (Pedunculi cerebri) und durch die Brücke (Pons). Dieses Zentrum vermag durch zentrale (psychische und organische) Reize, durch direkte Reizung seiner Bahnen in Pedunculi cerebri, Pons, Zervikalmark (Halsteil des Rückenmarkes), sowie durch periphere Reizung sensibler Nerven (Penis, Klitoris) in Erregung zu geraten. Dem Einfluß des Willens ist es direkt nicht unterworfen.

Die Erregung dieses Zentrums wird durch in der Bahn des ersten bis dritten Sakralnerven verlaufende Nerven (Nervi erigentes – Eckhard) zu den Corpora cavernosa fortgeleitet.

Die Tätigkeit dieser die Erektion vermittelnden Nervi erigentes ist hemmend. Sie hemmen den gangliären Innervationsapparat in den Schwellkörpern, von dem die glatten Muskelfasern der Corpora cavernosa abhängig sind ( Kölliker und Kohlrausch). Unter dem Einfluß der Tätigkeit der Nervi erigentes werden die glatten Muskelfasern der Schwellkörper erschlafft und deren Räume mit Blut gefüllt. Gleichzeitig wird durch die erweiterten Arterien des Rindennetzes der Schwellkörper ein Druck auf die Venen des Penis geübt und der Rückfluß des Blutes aus dem Penis gehemmt. Unterstützt wird diese Wirkung durch Zusammenziehung des Musculus bulbocavernosus und ischiocavernosus, die sich aponeurotisch auf der Rückenfläche des Penis ausbreiten.

Das Erektionszentrum steht unter dem Einfluß von erregender, aber auch von hemmender Innervation durch das Großhirn. Erregend wirken Vorstellungen und Sinneswahrnehmungen sexualen Inhalts. Nach Erfahrungen bei Erhängten scheint das Erektionszentrum auch durch Erregung der Leitungsbahnen im Rückenmark in Tätigkeit treten zu können. Daß dies auch durch organische Reizvorgänge in der Hirnrinde möglich ist, lehren Beobachtungen an Hirn- und Geisteskranken. Direkt kann das Erektionszentrum in Erregung versetzt werden durch das Lumbalmark treffende Rückenmarkserkrankungen (Tabes, Myelitis).

Der Sitz des Erektionszentrums ist nicht vollkommen sichergestellt. Man hat früher angenommen, daß es im Lumbalmark gelegen sei, es spricht aber viel dafür, daß die Erektionen einen Sympathikusreflex darstellen, und daß ihr Zentrum somit die sympathischen Ganglienknoten am Beckenboden sind ( L. R. Müller).

Werden die (peripheren) sensiblen Nerven der Genitalien und deren Umgebung durch Reibung (Friktion), durch Reizung der Harnröhre (Gonorrhöe), des Rektums (Hämorrhoiden, Oxyuris), der Blase (Füllung durch Urin, besonders morgens, Blasensteine), durch Füllung der Samenblasen, durch infolge von Rückenlage und Druck der Eingeweide auf die Blutgefäße des Beckens entstandene örtliche Blutüberfüllung (Hyperämie) der Genitalien gereizt, so ist eine reflektorisch bedingte Erregung des Erektionszentrums möglich und häufig.

Auch durch Reizung der massenhaft im Gewebe der Vorsteherdrüse (Prostata) befindlichen Nerven und Ganglien (Prostatitis, Kathetereinführung usw.) kann das Erektionszentrum erregt werden.

Daß das Erektionszentrum auch hemmenden Einflüssen durch das Gehirn unterworfen ist, lehrt der Versuch von Goltz, wonach, wenn (bei Hunden) das Lendenmark durchschnitten ist, die Erektion leichter eintritt.

Dafür spricht auch die Tatsache, daß Willenseinfluß, Gemütsbewegungen (Furcht vor Mißlingen des Koitus, Überraschungen während des Aktes) das Eintreten der Erektion hemmen oder die vorhandene aufheben können. Die Erektion besitzt überhaupt schwankenden Charakter. Viel zu häufig werden noch aus dem Ausbleiben oder der allzu kurzen Dauer einer Erektion Rückschlüsse auf die Potenz des Mannes gezogen, die einerseits an und für sich ganz unbegründet sein und anderseits zu folgenschweren psychischen Veränderungen führen können. Es kommt zur sogenannten Potenzangst, und nicht wenige Perversionen nehmen, natürlich bei bereits vorhandener Anlage, von hier ihren Ausgang. Gerade bei höher zivilisierten Menschen, Intellektuellen, geistigen Arbeitern sind gewisse Regelwidrigkeiten der Erektion sehr häufig, ohne jedoch auf einen bestimmten Zustand hinzuweisen.

An die Erektion schließt sich bei normalem Verlauf des Geschlechtsaktes die Samenausspritzung (Ejakulation). Auch für diese besteht ein besonderes Zentrum, das nicht mit dem Erektionszentrum zusammenfällt. Dafür sprechen physiologische Experimente, aber auch zahlreiche Erfahrungen am Menschen, aus denen hervorgeht, daß die Erektion sehr wohl abklingen kann, ohne daß eine Ejakulation eingetreten ist, und daß auch nicht selten sich die Ejakulation ohne vorhergehende Erektion einstellt. Auch das Ejakulationszentrum dürfte in den sympathischen Ganglien am Beckenboden liegen.

Der eigentliche Ejakulationsvorgang ist noch keineswegs vollständig aufgeklärt. Jedenfalls ist er ein rhythmischer Bewegungsvorgang, der unabhängig vom Willen erfolgt (obwohl es auch hier Ausnahmen gibt). Man darf wohl annehmen, daß die Kontraktion der Muskulatur des Nebenhodenschweifs, des Samenleiters und der Harnröhre die Entleerung des Samens herbeiführt, während gleichzeitig die Ringmuskeln an der Blasenmündung sich zusammenziehen und dadurch ein Aufsteigen des Harnröhreninhalts nach dieser Richtung verhindern. Dieser wird dann, sofort darauf, durch rhythmische Zusammenziehungen des Musculus bulbocavernosus und ischiocavernosus kräftig und ruckartig aus der Harnröhrenmündung herausgeschleudert.

Das Ende der Erektion muß keineswegs mit dem Eintritt der Ejakulation zusammenfallen. Es kann vielmehr durch eine ganze Anzahl anderer Momente herbeigeführt werden. Solche sind im allgemeinen Gefühle negativen Charakters (Ekel, Schmerz usw.), noch häufiger aber seelische Vorgänge, wie Angst, Erschrecken, Zwangsvorstellungen usw. Auch das Sistieren sensibler Reize kann ein Aufhören der Erektion bewirken. Der Eintritt der Ejakulation selbst ist mitnichten nur durch die Quantität oder die Qualität der sensiblen Reize bedingt; gerade hier spielt wiederum die Hirnrinde eine bedeutende Rolle. Es ist möglich, durch – willkürliche oder unwillkürliche – Vorstellungen sexuellen Inhalts die Ejakulation zu verfrühen oder durch entsprechende Konzentration ihr Eintreten hinauszuschieben (coitus prolongatus).

Man hat sich in den letzten Jahren vielfach mit der Frage beschäftigt, welcher psycho-physische Vorgang bei der Frau der Ejakulation beim Manne entspricht. Sichergestellt ist jedenfalls, daß auch bei ihr ein reflektorisch ausgelöster Bewegungsakt stattfindet, der durch die Reizung der empfindlichen Genitalnerven eingeleitet wird. Dann kommt es zu einer erektionsartigen Anschwellung (Turgeszenz) des Kitzlers (Klitoris), allenfalls auch der kleinen Schamlippen, und endlich, so wie beim Mann, zu einer rhythmischen Muskeltätigkeit (Musculus constrictor cunni und levator vaginae). Der Ejakulation entspricht die bei dieser rhythmischen Muskelkontraktion erfolgende Auspressung von Drüsensekreten, vor allem aus den Bartholinischen Drüsen.

Daß die der Erektion und Ejakulation entsprechenden Vorgänge bei der Frau noch mehr als beim Mann psychischen Einflüssen unterliegen, ist in Anbetracht der ungleich engeren Verbindung zwischen Physis und Psyche, die für das weibliche Geschlecht charakteristisch ist, ohne weiteres verständlich.

Es zeigt sich eben immer wieder, daß die zentrale und oberste Instanz im sexuellen Mechanismus die Hirnrinde ist, wobei es gleichgültig ist, ob sich in ihr ein eigenes »Sexualzentrum« nachweisen läßt oder nicht. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß im Gehirn die sexuellen Gefühle, Dränge und Triebe entspringen, also alle psycho-physischen Vorgänge, die man als Geschlechtsleben, Geschlechtssinn, Geschlechtstrieb bezeichnet. Das betreffende Gebiet der Hirnrinde ist ebenso durch zentrale wie durch periphere Reize erregbar. In der Pathologie, z. B. bei Krankheiten der Hirnrinde, stellen organische Erregungen solche zentrale Reize dar. Physiologisch bestehen sie in psychischen Reizen (Vorstellungen und Sinneswahrnehmungen). Unter physiologischen Bedingungen handelt es sich einerseits um reine Hirnvorgänge, wie um Erinnerungen und Vorstellungen; sodann um optische Wahrnehmungen, weit seltener um durch das Gehör vermittelte Reize. Sehr wichtig sind zweifelsohne Geruchswahrnehmungen und Tasteindrücke.

Bei den Tieren ist ein Einfluß der Geruchswahrnehmungen auf den Geschlechtssinn unverkennbar. Althaus erklärt geradezu den Geruchssinn für wichtig bezüglich der Reproduktion der Gattung. Er macht geltend, daß Tiere verschiedenen Geschlechts durch Geruchswahrnehmungen zueinander hingezogen werden, und daß fast alle Tiere zur Brunstzeit von ihren Geschlechtsorganen aus einen besonders scharfen Geruch verbreiten. Dafür spricht ein Versuch von Schiff, der neugeborenen Hunden die Geruchsnerven entfernte und bei den herangewachsenen Tieren feststellte, daß das männliche Tier das Weibchen nicht herauszufinden vermochte. Ein entgegengesetzter Versuch von Mantegazza (Hygiene der Liebe), der an blinden Kaninchen kein Hindernis für die Begattung aus diesem Sinnesdefekt beobachtete, lehrt, wie wichtig der Geruchssinn für die Vita sexualis bei Tieren zu sein scheint.

Bemerkenswert ist auch, daß manche Tiere (Moschustier, Zibetkatze, Biber) an ihren Genitalien Drüsen haben, die scharf riechende Stoffe absondern.

Auch für den Menschen macht Althaus Beziehungen zwischen Geruchssinn und Geschlechtssinn geltend. Er erwähnt Cloquet, der auf den wollusterregenden Duft der Blumen aufmerksam machte und auf Richelieu hinwies, der zur Anregung seiner Geschlechtsfunktionen in einer Atmosphäre der stärksten Parfüms lebte.

Daß die nähere Bekanntschaft mit der Ausdünstung, dem Schweiß eines Menschen der erste Anlaß zu einer leidenschaftlichen Liebe sein kann, beweist der Fall Heinrichs II., der sich zufällig bei dem Vermählungsfest des Königs von Navarra mit Margaretria von Valois mit dem schweißtriefenden Hemd der Maria von Cleve das Gesicht getrocknet hatte. Obgleich sie die Braut des Prinzen von Condé war, fühlte Heinrich dennoch sofort eine so leidenschaftliche Liebe zu ihr, daß er ihr nicht widerstehen konnte und Maria dadurch, wie geschichtlich bekannt, höchst unglücklich machte. Ähnliches wird von Heinrich IV. erzählt, bei dem die Leidenschaft zur schönen Gabriele von dem Moment an entstanden sein soll, wo er auf einem Ball mit einem Taschentuch dieser Dame sich die Stirne getrocknet hatte.

Ähnliches deutet der »Entdecker der Seele«, Prof. Jäger, in seinem bekannten Buch an, indem er den Schweiß als wichtig für die Entstehung von Sexualaffekten und als besonders verführerisch ansieht.

Auch aus der Lektüre des Werkes von Ploß (Das Weib) ergibt sich, daß mannigfach in der Völkerpsychologie das Bestreben sich findet, durch die eigene Ausdünstung eine Person des andern Geschlechts an sich zu ziehen.

Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist eine von Jagor berichtete Sitte, die zwischen verliebten Eingeborenen auf den Philippinen herrscht. Müssen sich dort Liebespaare trennen, so überreicht man sich gegenseitig Wäschestücke des eigenen Gebrauchs, mit Hilfe derer man sich der Treue versichert. Diese Gegenstände werden sorgfältig gehütet, mit Küssen bedeckt und – berochen.

Bemerkenswert ist endlich die bei Geisteskrankheit deutlich hervortretende Übereinstimmung zwischen Geruchs- und Geschlechtsorgan, insofern sowohl bei masturbatorischen Fällen von Psychose bei beiden Geschlechtern als auch bei Psychosen auf Grund von Erkrankung der weiblichen Genitalien oder von klimakterischen Vorgängen Geruchshalluzinationen überaus häufig, bei fehlender sexueller Veranlassung überaus selten sind.

Die Frage, ob bei »normalen« Menschen Geruchsempfindungen eine wirklich wichtige Rolle für die sexuelle Erregung der Hirnrinde spielen, ist schon deshalb nicht leicht zu klären, weil sich in der Sexualpsychologie der Begriff des Normalen überhaupt schwer aufstellen läßt. Es kann aber gesagt werden, daß auch beim Fehlen irgendwelcher krankhafter Zeichen oder Stigmen Geruchsreize in dieser Beziehung sehr wirkungsvoll sein können.

Eine interessante Tatsache, angesichts dieser physiologischen Beziehungen, ist auch eine gewisse Übereinstimmung der Gewebe zwischen Nase und Genitalorganen, indem beide, ebenso wie die Brustwarzen, erektiles Gewebe enthalten.

Die sexuelle Sphäre in der Hirnrinde kann auch durch Vorgänge in den Generationsorganen im Sinne von sexuellen Vorstellungen und Drängen erregt werden. Dies ist möglich durch alle Momente, die auch das Erektionszentrum durch zentripetale Einwirkung in Erregung versetzen, wie z. B. Reiz der gefüllten Samenblasen und Nebenhoden, der heranreifenden Graafschen Follikel, irgendwie hervorgerufene sensible Reizung im Bereich der Genitalien, Hyperämie und Turgeszenz der Genitalien, speziell der erektilen Gebilde (Schwellkörper von Penis oder Klitoris), durch sitzende üppige Lebensweise, durch Plethora abdominalis, hohe äußere Temperatur, warme Betten, Kleidung, Genuß von Pfeffer und andern Gewürzen.

Vielleicht noch wichtiger ist der heute wohl keinem Zweifel mehr unterliegende Einfluß, den die innere Sekretion in dieser Beziehung hat. Und zwar handelt es sich da nicht nur um die innersekretorische Funktion der Keimdrüsen, sondern es ist heute schon sichergestellt, daß zumindest der Hirnanhang, die Hypophyse, hier eine wichtige Rolle spielt, und sehr wahrscheinlich ist auch die Schilddrüse mitbeteiligt.

Wie bereits erwähnt, gehören die Tasteindrücke zu den wichtigsten sexuellen Reizen. Bedeutsam und vor allem eigenartig ist hier die Reizung der Nerven der Gesäßgegend (durch Züchtigung, Geißelung).

Diese Tatsache ist nicht unwichtig für das Verständnis gewisser pathologischer Erscheinungen. Zuweilen geschieht es, daß bei Knaben durch eine Züchtigung auf den Podex die ersten Regungen des Geschlechtstriebes wachgerufen werden, und daß ihnen damit die Anregung zur Masturbation gegeben wird, eine Erfahrung, die sich Erzieher merken sollen.

Angesichts der Gefahren, die diese Form der Züchtigung Schülern bereiten kann, wäre es wünschenswert, wenn sie von Eltern, Lehrern und Erziehern gänzlich aufgegeben würde.

Daß passive Flagellation die Sinnlichkeit zu erwecken vermag, lehrt die im 13.-15. Jahrhundert verbreitet gewesene Sekte der Flagellanten, die, teils aus Buße, teils um das Fleisch zu töten (im Sinne des von der Kirche geltend gemachten Keuschheitsprinzips, d. h. der Befreiung des Geistes von der Sinnlichkeit), sich selbst geißelten.

Anfangs wurde diese Sekte von der Kirche begünstigt. Da aber durch das Flagellieren erst recht die Sinnlichkeit wachgerufen wurde und diese Tatsache in unliebsamen Vorkommnissen sich kundgab, war die Kirche schließlich genötigt, gegen das Flagellantentum einzuschreiten. Bezeichnend für die sexuell erregende Bedeutung der Geißelung sind folgende Tatsachen aus dem Leben der beiden Geißelheldinnen Maria Magdalena von Pazzi und Elisabeth von Genton. Jene, Tochter angesehener Eltern, war Karmeliternonne zu Florenz (um 1580) und erlangte durch ihre Geißelungen und noch mehr durch deren Folgen einen bedeutenden Ruf. Es war ihre größte Freude, wenn ihr die Priorin die Hände auf den Rücken binden und sie in Gegenwart sämtlicher Schwestern auf die bloßen Lenden geißeln ließ.

Die schon von Jugend auf vorgenommenen Geißelungen hatten aber ihr Nervensystem ganz und gar zerrüttet, und vielleicht keine Geißelheldin hatte so viel Halluzinationen (»Entzückungen«) wie diese. Während der Geißelungen hatte sie es besonders mit der Liebe zu tun. Das innere Feuer drohte sie dabei zu verzehren, und häufig schrie sie: »Es ist genug! Entflamme nicht stärker diese Flamme, die mich verzehrt. Nicht diese Todesart ist es, die ich mir wünsche, sie ist mit allzu vielen Vergnügungen und Seligkeiten verbunden.« So ging es immer weiter. Der Geist der Unreinheit aber blies ihr die wollüstigsten und üppigsten Phantasien ein, so daß sie mehrmals nahe daran war, ihre Keuschheit zu verlieren.

Ähnlich verhielt es sich mit Elisabeth von Genton. Sie geriet durch das Geißeln förmlich in bacchantische Wut. Am stärksten raste sie, wenn sie, durch ungewöhnliche Geißelung aufgeregt, mit ihrem »Ideal« vermählt zu sein glaubte. Dieser Zustand war für sie so überschwenglich beglückend, daß sie häufig ausrief: »O Liebe, o unendliche Liebe, o Liebe, o ihr Kreaturen, rufet doch alle zu mir: Liebe, Liebe!« Bekannt ist auch die Tatsache, daß Wüstlinge, um ihrer gesunkenen Potenz aufzuhelfen, zuweilen sich vor dem geschlechtlichen Akt geißeln lassen.

Vor Jahren rief ein Fall, in dem der bekannte russische Feldherr Skobeleff unter den Hieben mehrerer Prostituierten in Moskau zugrunde ging, großes Aufsehen hervor.

So groß die Bedeutung solcher taktilen Reize bei einer so weit verbreiteten Triebabweichung auch ist, so steht sie doch weit hinter der einer andern Gruppe von Reizen zurück, die gleichfalls durch Tasteindrücke vermittelt werden. Damit sind die Friktionen gemeint, die das Wesen des normalen Koitus bilden und einerseits die Vaginalschleimhaut, anderseits die Glans penis treffen, also Stellen des menschlichen Körpers, die durch eigenartige Papillen, die sogenannten Wollustkörperchen, als für solche Reize besonders empfänglich gekennzeichnet sind.

Ob und wieweit diese Stellen der Genitalorgane die normalen taktilen Reize aufnehmen und einerseits zu den Reflexbahnen, anderseits zur Hirnrinde weiterleiten, also, anders ausgedrückt, den Orgasmus herbeiführen, ist für die gesamte Vita sexualis der Individuen von größter Bedeutung. Beim Manne liegen die Verhältnisse insofern einfacher, als bei ihm in der ganz großen Mehrzahl der Fälle nur die Glans penis – und häufig auch noch die Haut der äußeren Genitalien – für diese Art der Reizung in Betracht kommt, die nun so wirkungsvoll und bedeutsam ist, daß sie allein zur Erektion, ja Ejakulation führen kann, auch wenn sonst gegen die diesen Reiz ausübende Person, sei es um ihres Geschlechts willen, sei es aus individuellen Gründen, keinerlei Sympathie, sondern sogar Haß oder Abneigung gefühlt wird. Diese Tatsache läßt sich auch dort, gewissermaßen differentialdiagnostisch, verwerten, wo z. B. beim normalen Koitus Potenzstörungen bestehen. Ergibt sich, daß die Friktion der reizempfindlichen Teile des Mannes von den physiologisch zu erwartenden Folgen begleitet wird (während der Koitus unmöglich ist oder mißlingt), so ist für diese Potenzstörung ein anderer Grund vorhanden als eine organische Schädigung, und man hat da an unbewußt gebliebene Homosexualität oder an eine andere maskierte Triebabweichung zu denken. Sonst erhellt die Bedeutung dieser taktilen Reize am deutlichsten aus der so weit verbreiteten Masturbation.

Bei der Frau liegen die Dinge komplizierter, da sie Wollustkörperchen einerseits in der Schleimhaut der Klitoris, anderseits in der Vagina besitzt. Der normale Verlauf ist nun der, daß die Frau in ihrer Jugend klitoriell erregbar ist und von der Entjungferung (Defloration) an vaginal erregbar wird, um dann entweder ausschließlich vaginal oder sowohl klitoriell wie vaginal erregbar zu bleiben. Es ist nun für das Verständnis der ganzen weiblichen Vita sexualis und besonders der Triebabweichungen überaus wichtig, daß dieser Wechsel der Erregbarkeit keineswegs gesetzmäßig auftritt, sondern sogar recht häufig unterbleibt. Solche Frauen sind also ausschließlich klitoriell erregbar, und es ist klar, daß dann, wenn bei einer Frau dieser Gruppe, die nur vaginale Reize empfängt, dieser Tatsache nicht Rechnung getragen wird, der Orgasmus nicht erreicht und die betreffende Frau in die Gruppe der geschlechtlich Kalten (Frigidität) eingereiht wird.

Diese Tatsache, daß nämlich die Frau durch taktile Reizung zweier verschiedener Körperstellen den Orgasmus erreichen kann, leitet zu einem Begriff über, der sich bei der Erkenntnis dieses ganzen Gebietes als sehr verwendbar erwiesen hat, zu den sogenannten erogenen Zonen. Damit bezeichnet man jene Körperstellen, deren taktile Reizung sexuelle Erregungen auslöst, die sich bis zum kompletten Orgasmus steigern und verdichten können. Zwei wurden bereits besprochen, die Schleimhaut der Klitoris und die der Vagina. An Häufigkeit zunächst kommen ihnen die Brustwarzen und der After (Anus). Diese Partie scheint auch beim Mann eine gewisse Rolle zu spielen, wofür vor allem die Päderastie sowie die anale Automasturbation sprechen, Verfahren, die bei beiden Geschlechtern vorkommen. (Vgl. Garnier, Anomalies sexuelles; A. Moll, Konträre Sexualempfindung.)

Die erotische Bedeutung der Brüste und vor allem der Brustwarzen ist seit jeher und allenthalben bekannt.

Titillatio huius regionis spielt in der Ars erotica eine hervorragende Rolle. Bekannt ist, daß auch die Erregung der Genitalien auf die Brüste (Mammae) rückwirkt, indem diese offenbar mit jenen in Übereinstimmung stehen, so daß wollüstige Gefühle zur Erektion der Brustwarzen führen. Ein aufmerksamer Beobachter vermag im Tanzsaal aus der Art, wie sinnlich erregbare Frauen sich an den Tänzer schmiegen, einen Rückschluß auf die individuelle Bedeutung erogener Zonen zu ziehen.

Unter pathologischen Verhältnissen (Hysterie) können auch Körperstellen in der Nähe der Mammae sowie der Genitalien die Bedeutung erogener Zonen gewinnen.

Es gibt aber auch eine nicht geringe Zahl gesunder und normaler, zu sexueller Betätigung aber in hohem Maße bereiter Frauen, die über eine ganze Reihe erogener Zonen verfügen, die man hier richtiger nicht als erogen, sondern als erotisiert bezeichnen könnte. Solche sind: die Lippen, die Ohrmuscheln, die Achselhöhlen, die Handflächen, die Innenseiten der Finger und Zehen, die Kniekehlen, die Schenkelbeugen, die Hautbezirke längs der Wirbelsäule. Von den Völkern des Fernen Ostens ist bekannt, daß sie die Erotisierung der Körperoberfläche auf eine besonders hohe Stufe getrieben haben, ohne daß dies als pathologisches Stigma angesehen werden könnte.

Der psychophysiologische Vorgang, den der Begriff Geschlechtstrieb umfaßt, setzt sich grundsätzlich aus Vorstellungen, Empfindungen und Gefühlen zusammen.

Es hat sich nun zum tieferen Eindringen in die sexuelle Psychologie und Psycho-Pathologie als so wertvoll wie praktisch verwendbar erwiesen, den Geschlechtstrieb nicht als ein einziges Ganzes aufzufassen, sondern ihn zu unterteilen, und zwar entsprechend seiner Zusammensetzung aus einerseits Vorstellungen und anderseits Empfindungen und Gefühlen. Moll spricht demgemäß von einem Kontrektationstrieb und einem Detumeszenztrieb. Mit dem ersteren Ausdruck bezeichnet er das Verlangen nach geschlechtlicher Berührung und im weiteren Sinn nach Annäherung an das Sexualobjekt überhaupt, und es ist ohne weiteres ersichtlich, daß hier vor allem psychische Vorgänge, also die Vorstellungen, die Hauptrolle spielen. Trotz gewisser Bedenken, die einem so vielfach gebrauchten, aber auch mißbrauchten Ausdruck anhängen, dürfte es wohl möglich, ja sogar vorteilhaft sein, die eine – psychische – Komponente des Geschlechtstriebes, die also etwa dem Mollschen Kontrektationstrieb entspricht, als Erotik zu bezeichnen.

Ihre Ergänzung ist dann selbstverständlich der Detumeszenztrieb Molls, die Summe der am Zustandekommen des Geschlechtstriebes beteiligten Empfindungen und Gefühle, die aber auch, zumindest aus praktischen Gründen, besser als Sexualität im engeren Sinn oder überhaupt als Sexualität bezeichnet werden möge. Damit erscheint das im allgemeinen Sprachgebrauch bereits durchaus eingebürgerte Begriffspaar: Erotik und Sexualität als die beiden Komponenten des Geschlechtstriebs dargestellt.

Dieser Sachverhalt, daß nämlich der Geschlechtstrieb aus zwei Teilen besteht, ist für die Erforschung der gesamten sexuellen Psychopathie und darüber hinaus für die Erkenntnis der Vita sexualis jedes Individuums von grundlegender Bedeutung, und es ist sehr verwunderlich, daß diese Tatsache auch dort, wo einzelne Triebabweichungen eingehend untersucht wurden, kaum berücksichtigt wird. Immer wieder wird sich nämlich bei der Besprechung der verschiedensten Perversionen zeigen lassen, daß bei ihnen ein Mißverhältnis zwischen Erotik und Sexualität besteht, daß gewissermaßen die Hirnrinde mit der Körperoberfläche und den Geschlechtsdrüsen uneins ist, so daß die von diesen ausgehenden Reize von jener in vom Normalen abweichender Weise erfaßt und umgesetzt werden.

Auch für den Geschlechtsakt selbst hängt sehr viel davon ab, wie sich die beiden Komponenten des Geschlechtstriebes zueinander verhalten. Es ist für gewisse Perversionen geradezu bezeichnend, daß es bei ihnen nur einer Komponente bedarf, um den Orgasmus herbeizuführen, und daß manchmal beim Zusammenwirken beider der Höhepunkt des Geschlechtsaktes ausbleibt. Als Beispiel seien etwa jene homosexuellen Männer angeführt, die zwar imstande sind, den Geschlechtsakt mit dem Weibe zu vollziehen (Sexualität), ohne jedoch dabei Wollust zu empfinden (Erotik).

Das Verhältnis, in dem beide Komponenten beim Manne stehen, ist in der Regel von dem verschieden, das beim Weibe zu finden ist. Beim Manne ist ja in der Norm ein gewisses Übergewicht der Psyche über die Physis festzustellen, und die daraus abzuleitende Folgerung, daß bei ihm die Erotik stärker ist als die Sexualität, wird durch die Praxis bestätigt – wobei, wie übrigens bei allen psycho-physischen Vorgängen, Ausnahmen die Regel bestätigen. Das Weib wird gewöhnlich als naturverbundener angesehen, und es ist demgemäß begreiflich, daß bei ihm die Sexualität stärker ausgeprägt ist als die Erotik. Hier wie dort mag es auch eine Rolle spielen, daß ein so schwankender und zeitlich begrenzter Zustand wie die männliche Potenz bei der Frau weder besteht noch in Betracht kommt.

Der Geschlechtstrieb ruft nun den Drang zur geschlechtlichen Befriedigung hervor ( Libido sexualis). Die Stärke dieses Dranges hängt einerseits von der Erregung zerebraler Gebiete durch bezügliche Vorstellungen ab (Erotik), anderseits von der Funktion der Keimdrüsen sowie von gewissen peripheren Reizen; in letzter Beziehung sei an die bereits besprochenen taktilen Reize erinnert.

Sind die Umstände günstig zur Ausübung des individuell befriedigenden Geschlechtsakts, so wird dem immer mehr anwachsenden Drang Folge geleistet, andernfalls treten hemmende Vorstellungen dazwischen, verdrängen die geschlechtliche Brunst, hemmen die Leistung des Erektionszentrums und verhindern den geschlechtlichen Akt.

Treibende und hemmende Kräfte sind wandelbare Größen. Verhängnisvoll wirkt in dieser Hinsicht der Alkoholübergenuß, insofern er die Libido sexualis weckt und steigert und gleichzeitig die sittliche Widerstandsfähigkeit herabsetzt.

Der eigentliche Geschlechtsakt, die Kohabitation, braucht nach allem bisher Gesagten nur kurz besprochen zu werden. Ihre Grundvoraussetzung ist die genügende Erektion beim Mann – woraus sich, nebenbei bemerkt, bereits ergibt, daß schon hierin ein Motiv für so manche Triebabweichung gegeben ist. Mit Recht macht schon Anjel darauf aufmerksam, daß bei der sexuellen Erregung nicht bloß das Erektionszentrum erregt wird, sondern daß die Nervenerregung sich auf das ganze vasomotorische Nervensystem fortpflanzt. Beweis dafür ist die Schwellung der Organe beim sexuellen Akt, die Injektion der Konjunktiva, die Vergrößerung der Bulbi, die Erweiterung der Pupillen, das Herzklopfen (durch Lähmung der aus dem Halssympathikus stammenden vasomotorischen Herznerven, dadurch Erweiterung der Herzarterien und infolge der Wallungshyperämie stärkere Erregung der Herzganglien). Der Geschlechtsakt geht mit einem Wollustgefühl einher, das beim Manne durch Eintreten von Sperma durch die Ducti ejaculatorii in die Harnröhre (Urethra) angeregt sein dürfte, welcher Vorgang in der Regel, aber nicht immer, durch sensible Reizung der Genitalien, besonders der Glans penis, reflektorisch hervorgerufen wird. In keineswegs vereinzelten Fällen, so z. B. bei einer Reihe von Triebabweichungen, manchmal aber auch durch einen bewußten Willensakt, der die mit entsprechenden Vorstellungen versehene Phantasie zu diesem Zweck heranzieht, kann der ganze Prozeß auch ohne Reizung der Genitalien verlaufen. Das Wollustgefühl tritt beim Manne gewöhnlich früher auf als beim Weibe, schwillt zur Zeit der beginnenden Ejakulation lawinenartig an, erreicht seine Höhe im Moment der vollen Ejakulation und schwindet post ejaculationem rasch.

Beim Weibe tritt das Wollustgefühl langsam ansteigend auf und überdauert meist den Orgasmus.

Der entscheidende Vorgang bei der Kohabitation ist die Ejakulation, deren Mechanismus ja bereits besprochen wurde. Es ist nun eine sehr komplizierte und noch keineswegs gelöste Frage, wie eng die Verbindung zwischen Ejakulation und Wollustgefühl ist, und ob das Wollustgefühl durch die Ejakulation ausgelöst wird oder nicht. Moll betont mit Recht, daß man diese Verhältnisse überhaupt nicht ohne Berücksichtigung der Psyche verstehen könne, wofür unter anderem spricht, daß das volle Wollustgefühl meistens nur dann auftritt, wenn der der sexuellen Einstellung entsprechende Geschlechtsakt ausgeführt wird. Es gibt Fälle genug, in denen einwandfrei die Ejakulation eintritt, ohne daß überhaupt der Gipfel der Lust erreicht wird.

Der der Ejakulation beim Manne entsprechende Vorgang bei der Frau wurde bereits besprochen, so daß hier bloß nachzutragen ist, daß natürlich auch bei ihr an gleicher Stelle ein Reflexzentrum besteht – der Reizung der Glans penis beim Manne als auslösendem Moment der Ejakulation dürfte bei der Virgo intacta eine Reizung der Klitoris, beim reifen und liebeserfahrenen Weibe eine solche der Vagina entsprechen. Anders als beim Manne ist bei der Frau festgestellt, daß der entscheidende Faktor in einer oder mehreren krampfartigen Muskelkontraktionen im Bereich der Beckenmuskulatur besteht, wodurch die Anschauung Otto Adlers gestützt wird, der auch beim Manne die Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur für wesentlich und die eigentliche Ejakulation für nebensächlich hält (sc. für den Orgasmus).

In einem Punkt unterscheiden sich beide Geschlechter: beim Mann kann, wie gesagt, die Ejakulation ohne Wollustgefühl ablaufen, beim Weibe hingegen ist jener Krampf der Beckenmuskeln (und die damit verbundene Schleimauspressung) stets mit der Wollustakme vergesellschaftet.

Mit dem vollzogenen Geschlechtsakt schwinden normalerweise Erektion und Libido sexualis, indem die psychische und geschlechtliche Erregung einer behaglichen Erschlaffung Platz macht.


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