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Fünftes Kapitel

Sexuelle Hyperästhesie

Eine der wichtigsten Anomalien des Sexuallebens ist eine abnorme Vorherrschaft sexueller Empfindungen und Vorstellungen mit daraus notwendig sich ergebenden heftigen und häufigen Antrieben zu sexueller Befriedigung.

Es ist wohl eine Frucht der Erziehung oder Züchtung durch viele Jahrhunderte, daß der zur Erhaltung der Gattung allerdings unerläßliche und bei keinem normalen Individuum fehlende Geschlechtstrieb nicht der beherrschende Ton im Zusammenklang menschlicher Gefühle ist, vielmehr, trotzdem er Zeiten von Ebbe und Flut aufweist, doch nur Episoden im Fühlen und Streben der Kulturmenschen darstellt, höhere, edlere, von der grob sinnlichen Grundlage sich entfernende soziale, sittliche Gefühle vermittelt, zu zielbewußter, die Interessen des Individuums wie der Gesellschaft fördernder anderweitiger Tätigkeit Raum läßt.

Es ist ferner ein Gebot des Sitten- und Strafgesetzes, daß der Kulturmensch seinen Sexualtrieb nur innerhalb von Schranken betätige, welche die Interessen der Kulturgemeinschaft, besonders Schamhaftigkeit und Sitten achten, und daß er unter allen Umständen jenen Trieb, sobald er in Konflikt mit uneigennützigen Forderungen der Gesellschaft gerät, zu beherrschen vermöge.

Wäre diese Forderung durch den normal gearteten Kulturmenschen nicht erfüllbar, so könnten Familie und Staat, als die Grundlagen sittlicher und rechtlicher Lebensgemeinschaften, nicht bestehen.

Tatsächlich erreicht beim normal veranlagten, geistig gesunden, nicht durch Vergiftung, Berauschung (Alkohol usw.) seiner Besonnenheit und seiner Vernunft beraubten Menschen der Geschlechtstrieb nie eine solche Höhe, daß er das ganze Denken und Fühlen in Beschlag nimmt, nichts anderes neben sich aufkommen läßt, stürmisch, brunstartig nach Befriedigung verlangt, ohne die Möglichkeit sittlicher und rechtlicher Gegenvorstellungen zu gewähren, mehr oder weniger impulsiv sich entäußert und gleichwohl, nach vollzogenem Geschlechtsakt nicht oder nur für kurze Zeit befriedigt, in der unstillbaren Begierde nach dem neuen Genuß den ihm Unterworfenen sich verzehren läßt.

In Verbindung mit Perversionen der Vita sexualis und namentlich auf Grund einer der gleichen degenerativen Quelle entstammenden moralischen Schwachsinnigkeit, vielfach noch unter Mitwirkung von Alkohol, entstehen die ungeheuerlichsten und schrecklichsten Sexualvergehen (vgl. besonders unter »Sadismus«).

Während nun die schweren und schwersten Formen sexueller Hyperästhesie gewissermaßen eine Ergänzung zur Anaesthesia sexualis bilden und dementsprechend – glücklicherweise – nicht allzu häufig sind, gibt es überaus zahlreiche hierher gehörige Fälle, die ungefähr mit der Hypästhesie korrespondieren. Für ihre Beurteilung gilt das, was dort bereits gesagt wurde: Man hat es wiederum mit fließenden Übergängen zu tun, mit Zuständen, für deren Beurteilung objektive Anhaltspunkte so ziemlich fehlen. Weiter muß auf einige gleichfalls schon im vorhergehenden mitgeteilte Tatsachen verwiesen werden, wie z. B., daß äußere Momente wesentlich zur Steigerung der Triebstärke beitragen können. Der Einfluß der Rasse, der Jahreszeiten, des Klimas, ja sogar der Witterung spielt hier ebenso eine Rolle wie der Genuß von Reizmitteln, in erster Linie von Alkohol und von verschiedenen Drogen. Eine deutliche Triebsteigerung ist auch bei manchen chronischen Erkrankungen zu verzeichnen; bekannt ist ja das starke Liebesverlangen tuberkulöser Personen. Aber auch die Lebensweise ist hier von Bedeutung. Harte Arbeit, Sport, kurz alles, was zur körperlichen und geistigen Ermüdung führt, setzen den Geschlechtstrieb herab, während Nichtstun, sehr reichliche Nahrung und dergleichen mehr ihn steigern.

Man wird indessen alle diese Momente – abgesehen vielleicht von der Tuberkulose – nicht als Grundlagen einer wirklichen, als Triebabweichung zu bezeichnenden Hypersexualität ansehen dürfen. Auch das Zustandekommen der leichteren Formen beruht unbedingt auf einer entsprechenden Veranlagung des Individuums. Die beste Möglichkeit, sich auf diesem Gebiet zu orientieren, dürfte darin liegen, daß man den Begriff der noch nicht ausgesprochen pathologischen sexuellen Hyperästhesie deutlicher umgrenzt, und zwar nach zwei Richtungen:

Sexuell oder organisch, indem man die Zahl der in einer gewissen Zeiteinheit (Tag, Woche) vollzogenen Sexualakte mit der aus dem Durchschnitt gewonnenen Norm vergleicht.

Erotisch oder psychisch, indem man die Zahl der sexuellen Bindungen und Beziehungen verwertet, gleichfalls unter Berücksichtigung der – hier natürlich ausgedehnteren – Zeiteinheit und des Durchschnittes. Diese Zweiteilung ist darin begründet, daß auch die sexuelle Hyperästhesie selbst aus zwei Komponenten zusammengesetzt ist, aus einer positiven und einer negativen, einer körperlichen und einer seelischen. Hypersexuell wird man oder ist man entweder infolge einer überaus starken Hormonproduktion der Keimdrüsen (und wahrscheinlich auch der Hypophyse) oder infolge eines Minus an normalen, der Libido entgegenstehenden Hemmungen.

Es ist sehr interessant, daß die beiden Geschlechter in dieser Beziehung verschieden sind. Beim Manne, der auf seelischem Gebiete weniger gehemmt ist, und der zum Sexualakt eine Erhöhung der inneren Sekretion nötiger braucht, ist diese wichtiger, während bei der Frau, die ja stets imstande ist, den Geschlechtsverkehr auszuüben, es weit mehr auf das Wegfallen der bei ihr wiederum kräftigeren Hemmungen ankommt. Es zeigt sich auch, daß die Hypersexualität beim Manne auch dort denkbar ist und sogar recht häufig vorkommt, wo Charakter und Persönlichkeit voll entwickelt sind, daß man aber bei der Frau jene Verringerung der Hemmungen nur bei einem mehr oder weniger unreifen kindlichen Typ findet. Auch die Dirne ist infantil geblieben oder wieder infantil geworden (Flucht zurück in die Infantilität), was für sie sogar weit bezeichnender ist als die ihr oft – fälschlich – zugeschriebene Hypersexualität.

Es muß wohl festgehalten werden, daß erst beim Nachweis beider Faktoren, also abnormer Steigerung der Geschlechtstätigkeit und abnormer Zahl der sexuellen Bindungen, von sexueller Hyperästhesie gesprochen werden kann, denn über den Durchschnitt erhöhte Geschlechtstätigkeit kann schon deshalb nicht als entartet oder krankhaft angesehen werden, weil sie ja ganz wesentlich mit einem der schönsten und bedeutsamsten Ereignisse des Menschenlebens verbunden ist, mit der echten, glücklichen Liebe. Liegt diese nun durchaus in den Grenzen des Normalen, so wird man dort, wo nur der zweite Faktor nachzuweisen ist, zwar gleichfalls nicht von sexueller Hyperästhesie sprechen können, man wird aber doch den Zustand als pathologisch oder zumindest als an der Grenze des Pathologischen stehend aufzufassen haben. Es handelt sich da entweder um eine latente Perversion (in Betracht kommen Homosexualität – der Mann, der immer neue Frauen erobert, weil ihn keine befriedigt, da ihm eigentlich ein Partner gleichen Geschlechts entsprechen würde; Sadismus dort, wo Männer Jungfrauen oder Frauen unerfahrene Knaben als Partner zum Geschlechtsverkehr suchen; Fetischismus – wobei der erste Akt mit dem neuen Sexualpartner den Fetisch bildet; schließlich sexuelle Paradoxien; daß – seltener – eine solche Perversion auch bewußt sein kann, versteht sich von selbst), oder es liegt beim Manne ein Minderwertigkeitsgefühl vor, hier in Form der Potenzangst. Männer, die an dieser Einstellung leiden, bilden einen ganz typischen Teil der Kundschaft der Prostituierten und Bordelle. Sie sind nur dort zum Sexualakt fähig, wo ihnen ein Mißlingen keine Beschämung, keine »Niederlage« bedeutet, und sind dabei doch ständig bestrebt, ihr Minderwertigkeitsgefühl durch folgendes Arrangement loszuwerden: gelingt ihnen der Sexualakt sogar dort, wo die Erotik fehlt und die gesamte Vorstellungswelt ihn erschwert, so ist damit ihre Potenz durchaus bewiesen.

Ohne praktische Psychologie, ohne Einfühlungsvermögen und ohne wohlwollendes Verständnis wird es stets unmöglich sein, sich auf diesem ganzen Gebiet zurechtzufinden. Vor allem: man hat sich sorgfältig davor zu hüten, von Hypersexualität, von »krankhafter« Liebe, von einer Verirrung und dergleichen zu reden, wo nicht ganz unzweideutige Zeichen einer wirklich pathologischen Zustandsveränderung vorliegen. Wie sehr sich Anschauung und Wertung gerade auf diesem Gebiet geändert haben, dafür sei als Beispiel und Beweis eine Krankengeschichte angeführt, die Kraft-Ebing als besonders lehrreich den psychologischen Vorlesungen von Magnan entnommen hat:

Beobachtung 6. Eine junge Dame, Mutter von drei Kindern, von tadelloser Vergangenheit, aber Tochter eines Irrsinnigen, legte eines Tages ohne alle Scham ihrem entsetzten Mann das Geständnis ab, sie liebe einen jungen Mann und werde sich umbringen, wenn man sie am intimen Umgang mit diesem hindere. Man möge sie nur sechs Monate ihrer glühenden Leidenschaft genügen lassen, dann werde sie zum ehelichen Herd zurückkehren. Jetzt seien ihr Mann und Kinder nichts gegenüber dem Geliebten. Der unglückliche Ehemann brachte seine Frau in ein entferntes Land und führte sie dort ärztlicher Behandlung zu ( Magnan).

Auch wenn man noch so sehr von der sozialen und kulturellen Bedeutung der Ehe überzeugt ist, wird man diesen Fall – zumindest beim Fehlen näherer Angaben – nicht als krankhaft auffassen können, sondern weit eher der Meinung zuneigen, daß die Offenheit, mit der jene Frau ihrem Mann ihre Liebe zu einem andern eingestand, nur auf ethischer Basis möglich ist. Es muß mit aller Klarheit gesagt werden, daß heutzutage weder das Verlassen einer Ehe, noch ein vorehelicher Geschlechtsverkehr irgend etwas für eine abnorme Steigerung des Sexuallebens oder des Sexualtriebes beweisen. Auch durchaus normale Personen können in Situationen geraten, die ihnen das Aufgeben einer vor dem Gesetz eingegangenen sexuellen Bindung unbedingt erforderlich scheinen lassen.

Auch die Bewertung sozialer Momente, die früher in dieser Beziehung eine große Rolle spielten, ist heutzutage ganz wesentlich in den Hintergrund getreten. Während es früher so manches Mal zur Feststellung einer sexuellen Hyperästhesie genügte, daß bei einer Eheschließung zwischen Stand und Stellung des einen wie des andern Teiles ein erheblicher Unterschied bestand, so denkt man heutzutage ganz allgemein freier und wird ein solches Ereignis psychologisch erklären können, auch ohne eine krankhafte Triebsteigerung anzunehmen.

Schwierigkeiten in der Beurteilung können sich indessen dann und dort ergeben, wo bei einem Menschen ständig ein normales, selbst unternormales Geschlechtsleben bestand, und wo auf einmal, gewissermaßen ruckartig, eine sexuelle Beziehung zu einer bestimmten Person plötzlich eine ganz außerordentliche Steigerung der Sexualität auslöste, bei der die Zahl der Sexualakte zunahm und eine deutliche Hemmungslosigkeit, vor allem in sozialer Beziehung, eintrat, kurzum eine Zustandsveränderung, die auf den ersten Blick pathologischen Charakter trägt. Es wird sich aber auch da grundsätzlich empfehlen, zuerst einmal keine krankhafte Störung anzunehmen, sondern nachzuforschen, ob diese Veränderung nicht vielmehr eine Art Selbstheilung darstellt, d. h. ob dem betreffenden Menschen nicht diese scheinbare Hyperästhesie psycho-physiologisch angemessen ist, während die frühere Hypästhesie ein inadäquater Defektzustand war. Eingehende Beobachtung und genaues Studium aller Begleitumstände sind gerade hier unerläßlich, um eine Fehldiagnose zu vermeiden.

Wenn wir uns jetzt der wirklich pathologischen Sexualhyperästhesie zuwenden, so muß zuerst ein alle ihre schweren Formen kennzeichnendes Symptom erwähnt werden, nämlich, daß man bei ihnen immer wieder eine unentwirrbare Wechselbeziehung zwischen Organreizen und Vorstellungen antrifft, so daß sich niemals sagen läßt, ob zuerst sexuelle Empfindungen an den Genitalien bestanden, wie Prickeln, Jucken, Brennen usw., die dann erotische oder selbst eindeutig sexuelle Vorstellungen hervorriefen, oder ob diese zuerst erlebt wurden und jene organischen Gefühle zur Folge hatten. Kennzeichnend ist immer die Verbindung beider Komponenten und ihre durch Wechselwirkung hervorgerufene gewaltige Steigerung. Wenn als Ursache der Triebsteigerung entweder nur Organreize oder nur Vorstellungen, Phantasien oder dergleichen angegeben werden, so wird sich in der Regel herausstellen, daß bei Frauen vor allem die Organreize, bei Männern besonders die Vorstellungen angegeben oder zugegeben werden. Die beste Einführung in das Gebiet der echten Triebabweichung bietet uns folgender Fall, den wir Moll und Merzbach verdanken:

Beobachtung 7. Frau X., 41 Jahre alt. Schon früh erwachte in ihr der Geschlechtstrieb mit unbezwinglicher Gewalt, so daß sie, 13jährig, ein Verhältnis mit einem Fähnrich einging, den sie in seiner Wohnung verleitete, sie zu koitieren. Das war ihr erstes sexuelles Auftreten, dem ein romanhaftes Leben folgte, das in allen seinen Schattierungen aus ihrem gewaltigen Geschlechtstrieb hervorging.

Nach verschiedenen intimen Beziehungen heiratete sie einen niedergebrochenen Offizier, dem es indes nicht gelang, von ihr in den ersten drei Monaten ihres Beisammenseins eine intime Gunstbezeugung zu erlangen. Dieser Vorgang bedeutet keinen Eigensinn, sondern eine sexuelle Hyperästhesie, die die Patientin dadurch steigert, daß sie, ein weiblicher Tantalus, ihre Begierden durch Versagen des Verkehrs mit dem damals noch geliebten Manne erhöht, dessen Werbungen und Erregungen ihr eine gewisse Befriedigung gewähren. Dieses Symptom der schmachtenden Liebe treffen wir später bei der Patientin wieder an.

Ihre Ehe, nachdem sie endlich den Werbungen des Gatten nachgegeben, ist mit vier Kindern gesegnet, von denen ein Knabe einen andern Mann als anerkannten Vater hat.

Herr X. begann bald seiner Gattin überdrüssig zu werden, verließ Deutschland und ließ die Scheidungsklage seiner Frau in der Schwebe. Ihr Schicksal lag nach Entfernung des Mannes in den Händen des Fürsten Y., der ganz seinem feinen Gefühl und edlen Charakter entsprechend für die Kinder und sie selbst sorgte. In kluger Weise wußte sie das Interesse des nicht mehr jugendlichen Herrn für sich dadurch wachzuhalten, daß sie ihm den Verkehr mit jüngeren Mädchen vermittelte, deren einem es dann mit niedrigsten Mitteln gelang, Frau X. aus des Fürsten Gunst zu verdrängen. Vorher führte beide noch der Weg nach Aachen, wo sie gemeinsam Schmierkuren gegen Lues gebrauchten, sie, wie sie versicherte, ohne jeden Anlaß, da bei ihr nach Ansicht eines Spezialarztes ein rein chirurgisches Leiden irrtümlich als Syphilis angesehen wurde.

Nach der Trennung von dem Fürsten, der noch heute für die Erziehung ihrer Kinder sorgt, nahm sie in Südfrankreich Aufenthalt, lebte vom Spiel und einer monatlichen Rente des fürstlichen Freundes.

Ihr Aufenthalt an der Riviera veranlaßte sie, mit einer ausgehaltenen Frau jene Weiber aufzusuchen, die für 20 Franken sich gegenseitig und ihren Besucherinnen alle Befriedigungen der Lingua gewähren. Aber auch dies neben dem Verkehr mit Männern gewährte ihr nicht volle sexuelle Befriedigung, sondern sie verfiel auch wiederum der Onanie, die sie jeden Tag nach dem Essen ausübte, und zwar so, daß sie durch Reizung der Klitoris mit dem Finger den Orgasmus nahebrachte, ohne ihn eintreten zu lassen, und dieses Spiel bis zur Erschöpfung fortsetzte. Deswegen suchte sie ärztlichen Rat, der zuerst nicht ohne Erfolg blieb.

Trotz der heftigsten Kämpfe mit ihrer Familie, besonders mit ihrem Schwager, kehrte sie zu dem liederlichen Leben zurück, indem sie als ältere, aber noch immer gut erhaltene, gewandte Frau die Prostitution jüngerer Damen der Halbwelt übernimmt und sie zugleich zur lesbischen Liebe anlernt.

Den Gegenstand ihrer Liebe muß sie besitzen, Hindernisse gibt es nicht bei ihr, wie folgendes (von Merzbach als Zeugen miterlebtes) Vorkommnis beweist. Bei ihm war einmal ein Leutnant wegen Lues in Behandlung, der Mund und Zunge voller plaques muqueuses (Schleimhautpapeln) hatte. Patientin ließ sich nicht abraten, ihn zu küssen, und hatte nach einiger Zeit dieselben Erscheinungen.

Eigentümlich ist die neueste Richtung, nach der sich ihr Geschlechtsleben gewendet hat. Patientin bringt ihre ganze Neigung, ihre Mittel und ihre Fürsorge einem Mann entgegen, der als Urning niemals das Gefühl für den geschlechtlichen Verkehr mit der Frau gehabt hat. Der Umstand, daß er Männer liebt, reizt sie nach ihrer Angabe namenlos, weil sie wisse, sie müsse es sich versagen, geschlechtlich mit ihm zu verkehren.

Bestand vorher noch die Möglichkeit nach freiwilliger Entsagung, den Gegenstand ihrer Leidenschaft zu besitzen, so ist jetzt die Steigerung eingetreten, daß die Wahl des geliebten Mannes von vornherein eben jede Möglichkeit eines regulären geschlechtlichen Verkehrs mit ihm ausschließt.

Patientin lebt jetzt nur noch in der Sphäre des Pervers-Sexuellen, verkehrt in öffentlichen Ball-Lokalen und liebt diesen Mann wahnsinnig, um nach nicht allzu langer Zeit eine neue Art der Befriedigung des Geschlechtstriebs zu erfinden ( Merzbach-Moll).

Dieses Beispiel zeigt aufs deutlichste, daß die sexuelle Hyperästhesie immer mit perversen Akten, gewöhnlich auch mit Perversionen verbunden ist, die aber bei beiden Geschlechtern verschieden sind. Die hypersexuelle Frau neigt vor allem zur Homosexualität, dann zu masochistisch gefärbten Akten, aber auch zum Masochismus selbst und zur Masturbation (nicht zum Autoerotismus). Beim Manne ist gleichfalls die Masturbation der häufigste perverse Akt; von Perversionen sind ziemlich gleich häufig Exhibitionismus und Sadismus, daneben auch – weiter seltener – Zoophilie und Nekrophilie (Unzucht mit Leichen), schließlich sexuelle Paradoxien. Homosexualität ist sehr selten, hingegen kann es zur Päderastie, also zu einzelnen Sexualakten homosexueller Natur kommen.

Als Beispiel für die Hypersexualität beim Mann sei folgender typischer Fall angeführt:

Beobachtung 8. P., Hausbesorger, 53 Jahre alt, verheiratet, anscheinend erblich nicht belastet. Auch lag keine Epilepsie vor, mäßiger Trinker, ohne Zeichen von Senium praecox (vorzeitigem Eintritt des Greisenalters), erschien nach den Angaben seiner Frau in der ganzen Zeit seiner mit 28 Jahren geschlossenen Ehe hypersexuell äußerst gierig, überaus potent, war unersättlich im ehelichen Geschlechtsgenuß. Beim Koitus war er »tierisch, ganz wild, zitterte am ganzen Körper, schnaubte«, so daß die etwas frigide Partnerin davon angewidert war und die Leistung der ehelichen Pflicht als Qual empfand.

Er quälte sie mit Eifersucht, verführte aber selbst schon bald nach geschlossener Ehe die Schwester seiner Frau, ein unschuldiges Mädchen, und zeugte mit ihr ein Kind. Später nahm er Mutter und Kind in seinen Haushalt auf. Er hatte nun zwei Frauen, bevorzugte die Schwägerin, was die Ehefrau als das kleinere Übel duldete. Mit den Jahren wuchs eher die Libido, wenn auch die Potenz nachließ. Er half sich oft mit Masturbation, selbst gleich nach dem Koitus, wobei den Zyniker die Anwesenheit der Frauen nicht genierte. Seit 1892 trieb er Unzucht mit seinem 16jährigen Mündel, puellam coagere solebat, ut eum masturbaret. Er versuchte sogar, mit vorgehaltenem Revolver das Mädchen zum Koitus zu zwingen. Das gleiche versuchte er mit seiner unehelichen Tochter, so daß man die beiden oft vor ihm in Sicherheit bringen mußte. Auf der Klinik verhielt sich P. ruhig, anständig. Er entschuldigte sich mit Hypersexualität. Was er getan, sei nicht recht gewesen, aber er habe nicht anders sich zu helfen gewußt. Die Frigidität der Gattin habe ihn zum Ehebruch gezwungen. Keine Intelligenzstörung, aber Darniederliegen aller ethischen Gefühle. In der 25jährigen Ehe mehrere epileptische Anfälle. Keine Degenerationszeichen ( Krafft-Ebing).

Man hat für die schweren Formen von sexueller Hyperästhesie des Mannes oder der Frau sogar eigene Bezeichnungen eingeführt und spricht dort von Satyriasis, hier von Nymphomanie. Es wird sich empfehlen, diese Begriffe nur dort zu verwenden, wo ein deutlich pathologischer Zustand anfallweise auftritt, ungefähr so wie die anfallweise Trunksucht der Quartalsäufer oder ähnlich dem alkoholischen Delir und dem epileptischen Dämmerzustand, mit welchen Erkrankungen häufiger die Satyriasis, seltener die Nymphomanie vergesellschaftet ist. Kurzum, die Aufstellung einer chronischen Nymphomanie oder einer chronischen Satyriasis ist nicht recht am Platze; beide Bezeichnungen sollten für akute Verwirrungszustände auf sexueller Basis reserviert bleiben. Dafür spricht auch der Umstand, daß die Nymphomanie nicht selten mit Menstrualphasen zusammenfällt und mit ihnen periodisch wiederkehrt. Nymphomanie wie Satyriasis sind schwere Krankheitszustände. Es sind verschiedene Fälle bekannt, bei denen die ungeheure Triebsteigerung den Charakter eines Delirs annahm und in diesem zum Tode führte. Schon Maresch hat (1871) über solche Vorkommnisse bei Männern berichtet. Moreau teilt den Fall eines jungen Mädchens mit, das nach fehlgeschlagener Heirat plötzlich nymphomanisch geworden und durch zynische Gesänge und Reden, durch laszive Gesten und Posen aufgefallen war. Sie entkleidete sich beständig, mußte im Bett von kräftigen Männern niedergehalten werden, verlangte stürmisch nach dem Beischlaf; Schlaflosigkeit, trockene Zunge, beschleunigter Puls. Nach einigen Tagen tödlicher Zusammenbruch. Hierher gehört auch ein Fall von Louyer-Villermay: 30jährige Jungfrau wird plötzlich nymphomanisch höchst erregt, maßloser Drang nach sexueller Befriedigung, obszönes Delir, nach einigen Tagen Tod durch Erschöpfung.

Nicht zur Nymphomanie, sondern zur dauernden sexuellen Hyperästhesie gehören folgende Beispiele:

Beobachtung 9. Ein junges Mädchen hatte mit der Pubertät wachsenden sexuellen Drang, den sie durch Masturbation befriedigte. Allmählich bekam die Dame beim Anblick eines beliebigen Mannes heftige sexuelle Erregung, und da sie für sich nicht gutstehen konnte, schloß sie sich jeweils in ein Zimmer ein, bis sich der Sturm gelegt hatte. Schließlich gab sie sich verschiedenen Männern hin, um vor ihrem quälenden Trieb Ruhe zu bekommen, aber weder Koitus noch Onanie brachten Erleichterung, so daß sie in ein Irrenhaus ging ( Magnan).

Beobachtung 10. Frau V. leidet seit frühester Jugend an Männersucht. Aus guter Familie, fein gebildet, gutmütig, sittsam bis zum Erröten, war sie schon als junges Mädchen der Schrecken ihrer Familie. Quandoquidum sola erat cum homine sexus alterius, negligens, utrum infans sit an vir an senex, utrum pulcher an vetus, statim corpus nudavit et vehementer libidines suas satiari rogavit vel vi et manus ei iniecit. Man versuchte sie durch Heirat zu heilen. Maritum quam maxime amavit neque tarnen sibi temperare potuit quin a quolibet viro, si solum apprehenderat, seu verso, seu mercennario, seu discipulo coitum exposceret.

Nichts konnte sie von dem Drange befreien. Selbst als sie Großmutter war, blieb sie Messaline. Puerum quondam duodecim annos natum in cubiculum allectum stuprare voluit. Der Junge wehrte sich, entwich. Sie bekam eine derbe Züchtigung durch seinen Bruder. Alles vergebens. Man brachte sie in ein Kloster. Sie war dort ein Muster von guter Sitte und ließ sich nicht das mindeste zuschulden kommen. Sofort nach der Zurücknahme begannen wieder die Skandale. Die Familie verbannte sie, warf ihr eine kleine Rente aus. Sie verdiente durch ihrer Hände Arbeit das Nötigste, ut amantes sibi emere posset. Noch mit 65 Jahren war sie rücksichtslos geschlechtsbedürftig.

Schließlich Überstellung an eine Irrenanstalt. Ihr Benehmen dort war musterhaft; war sie sich aber selbst überlassen und die Gelegenheit günstig, so traten, bis kurz vor ihrem Tode, die sexuellen Triebe zutage. Tod durch Gehirnschlag mit 73 Jahren. Vierjährige psychiatrische Beobachtung (in der Anstalt) ergab sonst keine Zeichen geistiger Abnormität ( Trélat).

Das Rasen der Triebe gefährdet die von ihnen geradezu »Besessenen« auch dort in hohem Maße, wo das Ende nicht so rasch und so tragisch ist wie in jenen tödlich verlaufenden Fällen. Einerseits besteht bei der unausbleiblichen Promiskuität die gesteigerte Möglichkeit einer venerischen Infektion, anderseits sind die verschiedensten sozialen Schädigungen unabwendbar.

Es ist ja klar, daß eine solche krankhafte Übersteigerung des Sexualtriebes es den betroffenen Personen oft unmöglich macht, sich innerhalb der Schranken von Gesetz und Sitte zu halten. Juristisch haben dabei die hypersexuellen Frauen eine günstigere Stellung; sie werden in der Regel bloß dann straffällig, wenn ihre Sexualakte sie in Konflikt mit den verschiedenen Gesetzen und Verordnungen bringen, die sich mit der Prostitution befassen. Hie und da kommt es auch zu ihrer Verfolgung wegen Verführung Minderjähriger; homosexuelle Beziehungen werden hingegen nur selten geahndet.

Wichtiger sind selbstverständlich jene Verstöße, die das soziale Leben der Frau betreffen, die in dieser Beziehung ja den üblichen Moral- und Sittengesetzen mehr unterworfen ist als der Mann. Und dementsprechend ist das Endschicksal der Nymphomanin eher das Irrenhaus, das des hypersexuellen Mannes eher das Gefängnis.

Es liegt in der gesamten Einstellung des Mannes zum Geschlechtsverkehr überhaupt begründet, daß bei ihm das Bestehen einer Hypersexualität geradezu zwangsläufig zu Konflikten mit dem Gesetz führen muß. Denn während zum Beispiel eine Frau, die einen Geschlechtsakt von irgendeinem Mann geradezu erzwingt, deswegen kaum jemals vor Gericht kommen wird, erscheint die gleiche Tathandlung beim Manne eindeutig als Vergewaltigung und wird als solche bestraft. Auch die Perversionen des hypersexuellen Mannes sind in der Regel mit strafbaren Handlungen verbunden, was sogleich erhellt, wenn man sich an die bereits früher gegebene Zusammenstellung erinnert. Exhibitionismus, nicht selten auch öffentliche Masturbation, dann natürlich Sadismus, schließlich Zoophilie oder gar Nekrophilie werden selbstverständlich vom Gesetz geahndet. Wenn auch für die eigentlichen »Sexualkatastrophen« so gut wie immer andere Perversionen entscheidend sind, so ist doch ihr Zustandekommen ohne Hypersexualität nicht denkbar.

Zwischen Mann und Frau scheint auch in anderer Beziehung ein recht interessanter Unterschied zu bestehen. Hypersexuelle Frauen gehören gewöhnlich den besseren, manchmal auch den besten Ständen an, während umgekehrt die Satyriasis des Mannes bei den sozial tiefer stehenden Schichten zu finden ist, was natürlich gleichfalls für die gerichtliche Verfolgung einzelner Akte von Belang ist. Ein gewisser Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern besteht auch in der Hinsicht, daß der hypersexuelle Mann sehr häufig Trinker ist, während die Nymphomanin weniger dem Alkohol, wohl aber nicht selten den verschiedenen Rauschgiften verfallen ist. Besonders das Kokain spielt hier eine verderbliche Rolle.

Nun mögen einige Beispiele für die krankhafte Triebsteigerung beim Manne folgen, wobei sich immer wieder die unheilvollen Folgen des Alkoholgenusses zeigen, sowie die kriminellen Fakten, zu denen die Hypersexualität den Mann unweigerlich zwingt.

Beobachtung 11. Satyriasis intermittens. Seit drei Jahren hatte der allgemein geachtete verheiratete Landwirt D., 35 Jahre alt, immer häufiger Zustände von geschlechtlicher Aufregung geboten, die sich seit einem Jahre zu wahren Anfällen von Satyriasis gesteigert haben. Eine erbliche oder sonstige organische Ursache war nicht aufzufinden.

Tempore, cum libidinibus valde afficeretur, decem vel quindecim cohabitationes per oras XXIV exegit, neque tarnen cupiditates suas satiavit.

Allmählich entwickelte sich bei ihm ein Zustand nervöser Überreiztheit mit großer Gemütsreizbarkeit bis zu pathologischen Zornaffekten und Drang zu Alkoholausschweifung, die Symptome von Alkoholismus herbeiführte. Seine Anfälle von Satyriasis erreichten solche Heftigkeit, daß sich das Bewußtsein verdunkelte und er sich in blinden Drang zu geschlechtlichen Akten hinreißen ließ. Qua de causa factum est, ut uxorem suam alienis viris immovero animalibus ad coeundum factum cum ipso filiabus praesentibus concubitum exsequi iusserit, propterea quod haec facta maiorem ipsi voluptatem afferent. Die Erinnerung an diese Ereignisse auf der Höhe dieser Anfälle, in denen die übermäßige Gereiztheit selbst zu Wutanfällen führte, fehlte gänzlich. D. meinte selbst, er habe Augenblicke gehabt, in denen er seiner Sinne nicht mehr mächtig war und ohne Befriedigung durch die eigene Frau an der nächstbesten weiblichen Person sich hätte vergreifen müssen. Nach einer heftigen Gemütsbewegung verloren sich plötzlich diese geschlechtlichen Aufregungszustände ( Lenz).

Beobachtung 12. R., 33 Jahre, Bediensteter. Mutter neuropathisch, Vater an Rückenmarkserkrankung gestorben. Von allem Anfang an mächtiger, schon mit 6 Jahren bewußt gewordener Sexualtrieb. Seit dieser Zeit Masturbation, vom 15. Jahre an in Ermangelung eines besseren Päderastie, gelegentlich sodomitische Anwandlungen. Später abusus coitus, in der Ehe cum uxore. Ab und zu perverse Impulse, Cunnilinguus auszuführen, der Frau Kantharidin zu verabreichen, da ihre Libido der seinen nicht entsprach. Nach kurzer Ehe starb die Frau, Patient verarmte und hatte nicht die Mittel zum Koitus. Nun wieder Masturbation, Benutzung von lingua canis zur Erzielung von Ejakulation. Zeitweise Dauererektionen und der Satyriasis nahe Zustände. Er war dann gezwungen zu masturbieren, damit ihm nicht stuprum passiere. Steigerung der Sexualneurasthenie und der hypochondrischen Anwandlungen führt zu Abnahme der libido nimia. Schließlich wegen Verfolgungswahn auf die psychiatrische Klinik ( Krafft-Ebing).

Die sexuelle Hyperästhesie ist bei weitem noch nicht genügend erforscht. Noch immer wird den bedeutsamen Zusammenhängen zwischen der Gesamteinstellung eines ganzen Volkes, seiner Lebenslage, seiner Bindung an religiöse und politische Ideale, seiner rassenmäßigen Zusammensetzung und andern Faktoren bei der Bewertung aller dem sexuellen Triebleben entgegenstehenden Hemmungen viel zu wenig Rechnung getragen. Die Nymphomanie und die Satyriasis gehören zu den schwersten Triebabweichungen, sowohl was das Schicksal des einzelnen Menschen anlangt, als was Ehe, Familie, Gesellschaft, kurz soziales Leben betrifft. Die Häufigkeit und die Folgenschwere der Sexualkatastrophen hat in den letzten Jahren eindeutig zugenommen und zwingt zu ernsthafter Befassung mit den großen und wichtigen Problemen der sexuellen Hyperästhesie.


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